Читать книгу Schneesturm - Norwegen-Krimi - Widar Aspeli - Страница 6
Eins
ОглавлениеAls er sie nicht ins Leben zurückholen kann, gerät er in Panik.
»Oh, Scheiße. Wach doch auf!«, schreit er und schlägt ihr mit der flachen Hand auf die Wange. Keine Reaktion. »So ein verdammter Mist!«
Er schlägt mit der Faust gegen die Wand. Der Lederhandschuh knarrt. Er spürt, wie sein Puls jagt und der Schweiß ihm die Stirn hinunterrinnt. Es ist furchtbar heiß in der Hütte. Das Radio wirft ferne Stimmen in den Raum. Ihm ist, als würden die groben Bretterwände im Wohn- und Kochbereich der Hütte jeglichen Sauerstoff aufsaugen. Der Hals schnürt sich ihm zusammen. Er muss denken. Die Panik in den Griff kriegen. Etwas tun. Die Kontrolle wiederfinden. Abhauen! Und bloß das Gebräu nicht anrühren.
Er zieht sich die Handschuhe aus und stopft sie in den Helm. Seine Finger reißen den Klettverschluss des Overalls auf, tasten herum und ziehen schließlich den Reißverschluss hinunter. Er wirft Helm und Motorradhandschuhe auf einen Sessel, schließt die Augen und versucht das Chaos von sich fern zu halten. Er zwingt sich, ganz ruhig zu atmen. Gleich wird er handeln.
Er schaut sich um. Die Tür zu der einen Schlafkammer steht offen. Das Bettzeug liegt auf dem Boden. Kleidungsstücke sind im Raum verstreut. Rote Skihandschuhe, ein Gebirgsanorak und eine Überziehhose. Skistiefel. Der Ausziehtisch quillt von Zeitungsabschnitten fast über, ein leeres Saftglas steht noch darauf, daneben eine umgekippte Weinflasche und der Laptop mit tanzendem Bildschirmschoner. Die Kamera liegt auf der Küchenanrichte. Die Kühlschranktür ist offen und wirft einen schwachen Lichtstreifen in den Raum. Ein Häufchen leerer Flaschen steht einsam und verlassen unter dem Abwaschbecken. Zwei Halbliter-Flaschen liegen auf dem Tisch. Leer! Eine halb volle Colaflasche hält sich bedrohlich schräg auf der Wolldecke, die vom Sofa hinuntergerutscht ist. Ein leeres Glas ist aus der offenen Hand gefallen. Aus der Hand, die sich steif über dem Flickenteppich emporstreckt. Er registriert die Details, aber sie dringen nicht wirklich zu ihm vor. Es ist, als hätte der leblose Körper dort auf dem Sofa nichts mit ihm zu tun. Hätte nie etwas mit ihm zu tun gehabt. Er spürt nur Wut. Und Panik.
»Diese verdammte Schnalle!«
Sie hat es getan. Fast drei Flaschen. Plus Pillen und Wein. Mit zitternden Händen schiebt er den Tisch weg und sinkt vor dem Sofa auf die Knie. Er versucht einen der Gedanken festzuhalten, die ihm durch den Kopf rasen. Sie darf nicht hier gefunden werden. Wieder schiebt sich seine Hand zu ihrer Wange hin, die Finger gleiten den Hals hinunter. Verdammtes Zittern. Zuerst meint er ein schwaches Klopfen zu spüren, aber dann begreift er, dass es das Pochen seines eigenen Bluts ist. Kein Pulsschlag bei ihr.
Er hätte ihr nicht trauen dürfen. Diese neurotische Stadttussi versucht ihn fertig zu machen. Das Einzige, was diese Dame jetzt darstellt, ist ein riesengroßes Problem. Sein Problem.
Sein Atem geht schwer und sein Körper schwimmt in dem dicken Anzug im eigenen Schweiß. In wenigen Minuten hat er ein neues Date. Er hat nicht viel Zeit. Wenn er gewusst hätte, dass sie sich nicht besser unter Kontrolle haben würde, hätte er sie nie in seine Deals mit reingezogen. Die Gedanken verhaspeln sich im Kopf. Er kommt wieder hoch, stapft im Zimmer herum. Geht zum Küchenfenster. Die Leute von der Nachbarhütte schnallen sich Skier an und werfen sich Rucksäcke über. Sie machen sich bereit für eine Nachmittagstour im Ostergebirge. Eine Sonnentour.
Da unterbricht das Radio seine hin- und herspringenden Gedanken. Eine sachlich klingende Stimme berichtet, dass Menschen im Gebirge vermisst werden. Die Worte bohren sich in seinen Kopf. Als die Musik wieder durch den Raum strömt, bleiben seine Augen an der »schwarzen Katze« hängen, dem Thundercat, der direkt vor der Hintertür steht. Der Schlitten ist angekoppelt, aber leer. Er schnappt nach Luft. Das ist die Lösung! Er dreht sich schnell um und macht sich daran, in aller Eile das Chaos auf dem Boden zu beseitigen. Den Deal muss er später abwickeln. Der Typ wird bestimmt wieder anrufen.
Also jetzt anziehen! Schwitzend schafft er auch das und ist schon auf dem Weg zur Küchentür, als er innehält. Der Toshiba steht aufgeklappt auf dem Ausziehtisch. Er bewegt die Maus. Der Bildschirmschoner löst sich auf. Das Textprogramm ist geöffnet. Einige Sekunden lang überlegt er, dann suchen seine Finger nach den richtigen Tasten, um eine Nachricht in das Gedächtnis der Maschine einzugeben.
Als er kurz darauf die Frau zur Hintertür schleppt, hört er jemanden auf der Vordertreppe und ihm fällt ein, dass er vergessen hat, draußen einen Notizzettel anzubringen.
*
Elin Helgesen fühlt sich ein bisschen zittrig auf ihrem Snowboard. Sie stellt die Bindung am linken Bein nach, holt dann tief Luft und konzentriert sich, bevor sie das Brett den leicht geneigten Hügel hinuntergleiten lässt. Sie findet ihr Gleichgewicht. Sie weiß nicht, wie oft sie hier schon gefahren ist, aber ihre Wadenmuskeln schmerzen.
Beitostølen brodelt zu Ostern. Es wimmelt von kunterbunten Skianzügen und sonnengebräunten Köpfen. Braune Gesichter mit weißem Lachen, die jeden einzelnen Sonnenstrahl vom blauen Himmel gierig aufsaugen. Aber niemand kann Elin Helgesen gegenüber behaupten, das hier wäre ein Idyll. Beitostølen ist nichts als ein Kaff, das versucht mit der Natur zu konkurrieren. Der Ort liegt wie ein größenwahnsinniger Wächter vor dem Reich der Bergriesen. In den Ferien ist er kurz vorm Explodieren und ganz besonders in dieser Woche. Mietshütten, Wohnungen, Hotels und Restaurants zwängen sich um die Reichsstraße und versuchen gemütlich, anheimelnd und Gott weiß wie noch auszusehen. Schön findet Elin das Ganze jedenfalls nicht. Und am schlimmsten ist das Beito-Hochgebirgshotel, das wie ein missratener Legoklotz aussieht.
Elin beschließt, dass dies jetzt ihre letzte Fahrt wird – wenn sie sie schafft, ohne auf die Nase zu fallen. Sie fährt nicht gern mit dem Snowboard. Aber die Abmachung ist schon in Ordnung. Heute ist sie mit dem Brett auf dem Hügel dabei. Jørn, Trude und Audun, die drei anderen aus der Band, machen dafür morgen bei einer Skiwanderung mit. Eigentlich wollte sie das Snowboardfahren ganz ausfallen lassen, aber der Typ beim Skiverleih hatte einfach nicht locker gelassen.
»Aber logo, das musst du versuchen. Eine Fahrt und du bist bekehrt«, hatte er behauptet und die Ausrüstung herausgeholt. »Übrigens gehe ich davon aus, euch Samstag wieder zu sehen«, hatte er weiter gemeint und jedem einen Flyer in die Tasche gestopft. »Ein Super-DJ. Echt stark!«
Aber Elin hat so ihre Zweifel, ob sie wirklich zu der »Gigaparty« am Samstag in der Beitohalle gehen sollen. Express ist schließlich vor allem deshalb auf Hüttentour, um für den Landeswettbewerb in Trondheim im Mai zu üben.
Die ganze Zeit muss sie darauf achten, das Gewicht auf den vorderen Fuß zu verlagern, aber jedenfalls fällt sie nicht hin. Das Brett gleitet spielerisch einfach durch den Schnee, fliegt den präparierten Hang hinunter. Elin geht in die Knie und verlagert ihr Gewicht, spürt zufrieden, dass sie in die Kurve geht. Und wieder zurück. Genau. Die Geschwindigkeit nimmt auf dem kleinen Steilhang zu. Sie spannt die Muskeln an und wirft sich herum. Einhundertundachtzig Grad. Sie schafft einen Hundertachtziger! Nach all den Bruchlandungen, die sie vorher hingelegt hat!
Wieder verlagert sie das Gewicht und gleitet weiter. Ihre Gedanken wollen die Band nicht verlassen. Trude hatte diese Übungswoche in der alten Hütte ihrer Eltern vorgeschlagen. Express muss dringend ihr Spiel perfektionieren, wenn sie in Trondheim eine gute Figur machen wollen.
Jetzt sind sie seit zwei Tagen in Beitostølen. Und Trude hat sie alle total beeindruckt, als sich herausstellte, dass sie den Schneescooter fahren kann, den sie brauchten, um ihre Musikausrüstung in die Hütte zu bringen.
»Ich bin schon vorher mal gefahren. Mein Vater hat ’ne Fahrerlaubnis«, hatte sie erklärt und war den Hügel hochgebrettert.
Seitdem haben sie schon ein paar Mal zusammen geprobt, aber irgendwie swingt es nicht so, wie es soll. Elin fürchtet, dass Jørn sich etwas verrennt. Er ist felsenfest überzeugt von seinen selbst komponierten Stücken und dem norwegischen Text. Und bemerkt das Stöhnen der anderen gar nicht.
Außerdem vermisst sie ihren Freund Joachim. Er hätte mitkommen können, alle anderen fanden das vollkommen in Ordnung, aber er wollte nicht.
»Was soll ich denn da? Die Saiten der Gitarre auswechseln? Ich habe mit der Band nichts zu tun. Ich stehe da doch nur im Weg«, hatte er gesagt.
»Du Dummkopf«, hatte Elin erwidert und ihm die Wange gestreichelt. Sie weiß, dass etwas anderes dahinter steckt. Joachim steckt der Zusammenstoß mit dem Elch im letzten Herbst noch in den Knochen.
Da hört sie hinter ihrem Rücken Rufe. Automatisch dreht Elin den Kopf, fällt hin und rutscht auf dem Bauch den Hügel hinunter. Sie erkennt die drei Skiläufer vom Palast oberhalb ihrer Hütte wieder. Die führen sich auf, als würde ihnen das ganze Gebirge gehören. Grinsen tagsüber mit ihren bronzefarbenen Gesichtern auf den Pisten herum und feiern die Nächte durch. Letzte Nacht ist Elin von dem Lärm aufgewacht. Als sie wütend zur Palastveranda hochschaute, sah sie gerade noch, wie ein Schneescooter aus der Doppelgarage dröhnte und zur wilden Nachtfahrt über die Hügelkuppen davondonnerte. Jørn hat die Nachbarn gleich Sondrejungs getauft, nachdem ihr »Chef« sich als Sondre Wikdahl vorgestellt hatte.
Jetzt braust das Dreigespann in voller Fahrt auf Elin zu, die immer noch auf den Knien hockt. Die Jungs fahren parallel nebeneinander und halten sich an einer langen Stange fest. Sie grölen sich Kommandos zu, wenn sie die Richtung ändern wollen, und das nimmt ihre Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch, dass sie viel zu spät bemerken, dass da jemand auf dem Boden hockt. Elin schreit. Drei Paar Augen öffnen sich erschrocken unter den Filzhüten. Der Rechtsaußen schreit »Links« und springt um die Richtung zu wechseln, aber die anderen beiden fahren weiter ihren rechten Bogen. Der Äußere lässt die Stange los, schert aus und prescht direkt an Elin vorbei, die gerade noch den Stahlkanten seiner Skier ausweichen kann. Kalter Schnee fliegt ihr ins Gesicht. Sie wirbelt herum und setzt sich erschrocken auf den Boden, das Snowboard vor sich. Der rechte Sondrejunge hat angehalten. Die anderen beiden wechseln in den linken Bogen ohne den Abfahrtsläufer zu sehen, der auf Slalomskiern von der anderen Seite des Hügels heransaust. Die Sondrejungs schreien »Rechts«, werden aber auf den Rücken geworfen, als der Rennfahrer ihre Stange trifft und seinerseits zurückprallt. Elin starrt auf den Schneewirbel, der langsam zu Boden sinkt. Der Slalomfahrer liegt unbeweglich da. Seine Bindungen haben sich gelöst und die Skier rasen weiter in einsamer Fahrt auf die Schlange vor dem Lift zu.
Elin befreit sich von ihrem Snowboard und läuft zu dem Verunglückten hinunter.
Jørn Haugen sitzt auf der Anhöhe über der Funbox der neuen Snowboardanlage von Beitostølen. Er hat Pudding in den Beinen, öffnet seine Stiefel und lässt sich zu einer Gruppe in den Schnee fallen, die sich ebenfalls einen Moment ausruhen will. Den letzten Trick habe ich ganz gut geschafft, denkt Jørn und seine Augen wandem zur Halfpipe hinunter. Jetzt fehlt nur noch ein Run dort unten.
Die Bedingungen sind perfekt. Beitostølen liegt schon seit mehreren Tagen in strahlendem Sonnenschein. Ein bisschen nächtlicher Schnee hat eine Puderzuckerschicht auf die präparierten Hügel gelegt und für geradezu ideale Schneeverhältnisse gesorgt. Auf dem Brett zu stehen gibt Jørn jedes Mal einen Kick. Und alle Anfängerstürze werden sich lohnen für das Gefühl, irgendwann mal einen perfekten Dreihundertsechziger hinzukriegen. Aber bis dahin ist es noch weit. Jørn wird ganz flau im Magen, wenn er Trude auf dem Snowboard sieht. Sie ist einfach spitze, legt sogar einen Fünfhundertvierziger hin.
»Guck dir den mal an«, meint einer von den anderen zu Jørn. Jørn kennt den Typen zwar nicht, aber beim Snowboarden läuft alles ziemlich locker ab und da ist es schon in Ordnung, sich ein paar Minuten mit jemandem zu unterhalten.
Der Fahrer zeigt eine schnelle Serie die Pipe runter, nimmt nochmal an Fahrt zu und setzt zum letzten Trick an, findet aber nicht den richtigen Absprung und rast die Pipe auf dem Rücken runter.
»Guter Versuch. Nächstes Mal schafft er es.«
Jørn nickt. Das ist mit das Tollste, dass keiner ausgelacht wird, denkt er. Man wird respektiert, wenn man etwas versucht, und es ist nicht nötig, dass man der Beste ist. Es ist nicht mal peinlich, vor einer Horde Mädchen in den Schnee zu fliegen.
Jørn hat ein paar Mal Abfahrtsski versucht, aber nach der ersten Proberunde mit dem Snowboard war für ihn alles klar. Und im Lauf des Winters hat er schon einige Stunden auf dem Hügel verbracht.
»Bahn frei!«
Alle drehen sich um und gucken, wer da schreit.
»Hau ab, du Schmalspurheld!«
Ein Abfahrtsläufer krümmt sich zusammen, springt schräg ab und kommt in rasender Fahrt auf die Funbox zu. Er trifft auf den Cooping, den Rand, und macht einen hohen Spagatsprung, bevor er weiter zu den Skilifts saust.
»Wir sollten Seile gegen solche Arschlöcher haben! Die haben auf diesem Teil des Hügels nichts zu suchen!« Jørn massiert seine Beinmuskeln. Seine Gedanken wandern zu Express. Werden wir hier genug Zeit zum Üben haben?, überlegt er. Bei so einem Wetter sieht es damit natürlich schlecht aus. Aber wir müssen das Proben an erste Stelle setzen. Es ist ziemlich wichtig, dass wir in Trondheim eine gute Figur machen.
Der Anruf kam schon drei Tage nach dem öffentlichen Vorspiel, aber richtig glauben konnten sie es erst, als der Brief kam und bestätigte, dass Express ausgewählt worden war, den Distrikt Oppland bei dem Landeswettbewerb zu vertreten. Jørn nimmt an, dass sie aus zwei Gründen weitergekommen sind: Zum einen, weil sie Originaltitel gespielt haben, und zum anderen, weil sie ganz einfach gut gespielt haben. Nicht nur schnell, laut und eifrig! Nach Ostern wird es zwei Treffen der Opplands-Leute geben, bevor sie dann mit dem Bus nach Trondheim fahren. Mit viel Üben wird es schon klappen. Jørn weiß, dass ihn selbst das alles ziemlich nervös macht. Aber er muss den anderen auch zugestehen, dass ihnen die Musik nicht ganz so viel bedeutet wie ihm. »Wollen wir das wirklich in Trondheim spielen?«, hatte Trude bei der ersten Probe nach der guten Nachricht gefragt.
»Was meinst du damit?«
»Na ja ... wir haben das ja schon eine Zeit lang gespielt. Die Melodie ist okay, aber ich habe langsam keine Lust mehr, immer das Gleiche abzuspulen. Vielleicht könnten wir es ein bisschen entwickeln, noch mehr Ausdruck reinbringen?«
Sie hatten eine Weile darüber nachgedacht. Hatten neue Ideen verworfen und waren dann doch zu dem Schluss gekommen, dass sie sowieso nichts dabei zu verlieren hatten, wenn sie es mal versuchten. Und da hatte Trude die Idee gehabt, einen Workshop in der Hütte ihrer Eltern in Beitostølen zu machen.
»Dann können wir alles miteinander kombinieren, nicht wahr: Snowboardfahren und proben und Saus und Braus.«
»Na ja, Beitostølen ist ja nicht gerade die Traumadresse für Jugendliche.«
»Aber dieses Jahr haben sie viel Neues vor«, hatte Audun widersprochen.
»Außerdem ist eine tolle Snowboardanlage an einem Hang gebaut worden«, hatte Trude erzählt. »Und sie planen extra einen Supersamstag für die Jugend. Nicht nur so ’ne Disco im Schnee, sondern ’ne richtig fetzige Fete am Abend. Wir müssen nur zusehen, dass wir die Schlagerabende für die Alten umschiffen. Und DJ Cooljuice soll einfach affengeil sein.«
Sie hatten hin und her diskutiert und waren sich dann einig geworden zuzuschlagen. Aber nach ersten Proben sollte heute und morgen das Gebirge dran sein. Heute der Snowboardhügel und morgen mit den Brettern über die Hochebene.
Wenn das nur nicht auf Kosten des Spiels geht! Die anderen müssen sich ein bisschen zusammenreißen, denkt Jørn jetzt und spürt, wie die Kälte langsam durch seinen Hosenboden dringt. Noch eine Runde in der Funbox, beschließt er, und dann werde ich eine kleine Serie in der Pipe hinlegen.
Da bremst ein Brett neben ihm und spritzt ihm Schnee in den Nacken. Er schaut auf.
»Das ist ja der Specht!«
Jørn spürt, wie ihm das Blut ins Gesicht steigt. Was um alles in der Welt macht denn Harald »die Hacke« Andersen hier in Beitostølen?
*
Audun guckt zu Nummer 16 hoch. Die Hütten liegen wie einförmige Klötze an den parallel angelegten Wegen. Er schaut auf die Uhr. Es ist schon fünf Minuten später als verabredet. Wie lange soll er noch auf den Schneider warten? Andererseits findet er es ganz in Ordnung, hier in der Sonne zu sitzen. Jedenfalls besser als noch mehr Runden auf dem Brett. Eigentlich hängt ihm dieses ganze Osterarrangement zum Hals heraus.
Das Üben auch. Er hat keine Lust, immer wieder die gleichen Bassgriffe zu wiederholen. Jørn ist sowieso nie zufrieden. Das werde ich jetzt ändern, denkt er. Bald wird es swingen wie noch nie zuvor. Die Telefonnummer kannte Audun schon lange, bevor ihnen der Flyer heute Vormittag in die Tasche gestopft wurde. Aber nach der nervigen Probe gestern Abend hatte er sich entschieden und den anderen heute Morgen beim Frühstück den Vorschlag gemacht:
»Ich weiß, was wir brauchen.«
»Und was?«
»Meine Güte. Express klingt doch wie ein hinterwäldlerisches Alte-Herren-Orchester. Ich kenne eine Wunderkur gegen schlaffes Dahindudeln. Die Inspirationsspritze überhaupt! Etwas zusätzlichen Pepp. Spezialgemischtes Hausgebräu.«
Sie hatten ihn ins Kreuzverhör genommen, aber Audun hatte sich geweigert, etwas zu verraten.
»Probiert es erst mal. Dann seid ihr schlauer.«
Jedenfalls haben wir unseren Frust ein bisschen beiseite schieben können, denkt Audun und wirft noch einmal einen irritierten Blick auf die Uhr. Sogar Jørn hatte schließlich zugeben müssen, dass sie mit ihrer Musik auf der Stelle treten.
»Vielleicht sollten wir einfach aufhören«, hatte Trude endlich vorgeschlagen.
»Aber wir brauchen die Proben«, hatte Jørn widersprochen, sichtlich genervt.
»Schließlich fahren wir doch sowieso nach Trondheim. Muss denn alles hundert Prozent sein?«
Jørn hatte nur die Augen verdreht und einen längeren Vortrag über die Möglichkeiten gehalten, die sich ihnen bieten würden, wenn sie eine gute Figur beim Wettbewerb machen würden. Trude hatte abgewunken.
»Ist ja richtig. Aber es hat doch keinen Sinn, Express um jeden Preis zu puschen. Wir müssen das zum Fetzen bringen, was wir sowieso spielen. Und außerdem war doch auch geplant, dass wir uns hier vergnügen, oder?« Das hatte das Fass zum Überlaufen gebracht und Jørn hatte nachgeben müssen: »In Ordnung. Aber drei gegen einen, das ist feige.« Es war ein Versuch, den Streit locker wegzustecken, doch Jørn hatte nicht verbergen können, dass ihm die Situation nicht gefiel.
Vielleicht bringt das Hausgebräu ja die Steigerung, denkt Audun jetzt und schaut sich um. Er begreift nicht, wieso der Schneider in einer der Mietshütten dealen will, aber das ist ja nun nicht seine Sache. Er ahnt sowieso nicht, wer das eigentlich ist. Hat nur übers Telefon mit ihm gesprochen. Und das Wichtigste ist schließlich, dass er von dem Gebräu was kriegt. Das wird Express schon ordentlich auf die Beine bringen. Damit kriegen wir in null Komma nichts einen neuen Song hin, denkt er.
Das Gebräu gibt unglaublich Energie. Er hat die Mischung schon mal auf einer Fete probiert. Ist damals wie eine Lichtwelle durch den Abend geflogen. Und er fand in sich Kräfte und Gedanken, von denen er gar nicht ahnte, dass er sie besaß. Heute Abend will er einen Happydrink mixen. Und alles zum Swingen bringen. Mal sehen, was dann passiert!
Audun sieht nochmal auf den Zettel. Da gibt’s keinen Zweifel:
Es ist niemand zu sehen. Sicher sind alle draußen und amüsieren sich. Ob er einfach reingehen soll? Audun geht zur Treppe, trampelt sich den Schnee von den Stiefeln und klopft an. Niemand antwortet. Er überprüft noch einmal, ob es auch die richtige Hütte ist. Klopft ein zweites Mal an, wartet, aber niemand öffnet.
Hinter der Hütte hört er einen Schneescooter starten und wegfahren, ansonsten ist es ganz still. Und menschenleer. Nicht einmal ein kläffender Hund. Er hat keine Lust noch länger zu warten, die Abmachung war ja wohl klar. Audun legt seine Hand auf die Türklinke. Drückt. Die Tür ist offen.
»Hallo?«
In der Hütte ist es brütend heiß, aber niemand antwortet.
»Ist jemand hier?«
Er muss über sich selbst lachen. Natürlich ist keiner da.
Sonst hätte ja wohl jemand geantwortet.
Der Schneider hat sich bestimmt nur verspätet. Er muss sicher eine Menge Fäden in der Hand behalten. Audun zögert kurz, dann geht er hinein. Er schnappt nach Atem. Die Luft ist schwer und abgestanden, völlig überheizt. Hier hatte es aber jemand eilig, denkt er. Kleider und Wolldecken liegen überall auf dem Boden herum. Zeitungen und leere Flaschen dazwischen verstreut. Zerknüllte Papiere leuchten noch im Kamin. Auf dem Ausziehtisch steht ein offener Laptop, dessen Bildschirmschoner verkündet, dass alle ihre »Hände weg« lassen sollen. Alte Zeitungsausschnitte liegen wie zerrissene Puzzleteile auf dem Tisch. Eine Kamera und mehrere Objektive liegen auf der Küchenanrichte.
Da entdeckt er die nassen Flecken auf dem Boden. Und die weißen Teilchen. Schnee, der noch nicht geschmolzen ist. Es kann noch nicht lange her sein, dass jemand hier war. Direkt vor der Hintertür liegt ein roter Skihandschuh. Aber die Hütte ist leer. Einen Moment werde ich noch warten, denkt Audun und lässt sich auf einen Sessel fallen.
Der Schneider kocht. Der Schweiß läuft ihm den Rücken hinunter, als er den Thundercat die Hügel hoch fährt. Er schlängelt sich zwischen den Hütten durch und fährt auf die Westseite des Beito, biegt dann schräg auf den Hauptweg ein und fährt weiter hoch, auf Gardli zu. Dann gibt er Gas Richtung Osten. Er weiß gar nicht so recht, wo er eigentlich hin will, nur, dass er ins Gebirge auf der Ostseite der Straße fahren muss.
Sein Sichtschutz beschlägt, aber er traut sich nicht ihn hochzuschieben. Es könnte ihm ja jemand entgegenkommen und er will nicht, dass der sich dann Gedanken macht, warum er hier draußen herumfährt. Jetzt darf es nicht an einem Zufall scheitern.
Die Kettenbänder fressen sich gierig die Hügel hinauf. Die Katze hat keine Probleme damit, den Schlitten hinter sich her zu schleppen. Er gibt noch mehr Gas. Die neunhundert Kubik donnern und scheinen die Steigung förmlich zu genießen. Der Scooter ist einfach wahnsinnig stark. Sein wassergekühlter Dreizylindermotor schnurrt wirklich wie eine Katze und Thundercat ist superschnell. Oben auf der Valdresflya hat er es schon auf 170 Stundenkilometer gebracht. Und gleichzeitig ist der Thundercat wie maßgeschneidert für unwegsames Gelände. Die Gasstoßdämpfer lassen Unebenheiten kaum spüren. Aber natürlich nur, wenn man fahren kann. Und der Schneider ist ein Meister auf dem Scooter. Vielleicht war es das, was der Schneescooterclub nicht vertragen konnte?
Oben auf der Ebene vor Gardli zieht der Schneider die Geschwindigkeit hoch. Er sieht auf dem Tachometer, dass er fast bei 75 km/h liegt. Jetzt ist das Schlimmste geschafft. Es geht nur noch darum, einen geeigneten Platz zu finden, um seine Last loszuwerden.
Urplötzlich holen ihn seine Gedanken wieder ein. Er spürt, wie sich ihm der Magen umdreht, wie die Übelkeit in ihm rumort. Aber es gibt keinen anderen Ausweg. Er muss doch die Spuren verwischen. Oder wäre es etwa besser gewesen, sie da liegen zu lassen? Nein, geschehen ist geschehen. Und die Sache muss jetzt zu Ende geführt werden. Der Schneider fährt die letzte Steigung hoch und geht vom Gas. Jetzt muss er sich entscheiden. Er hält an und holt die Karte heraus, stellt fest, dass er noch ein paar Kilometer weiter fahren muss, um wirklich auf der sicheren Seite zu sein. Er muss die am häufigsten benutzten Loipen hinter sich lassen, wegkommen von den Freizeitsportlern. Er überlegt hin und her, entscheidet sich schließlich für die Hügel südlich des Gravholskampen. Der Name, der Grabhöhlenfels, lässt ihn kurz grinsen. Er beschließt, der präparierten Spur noch eine Weile zu folgen, dann auszuscheren und abzuladen. Gerade als er die Karte zusammenfaltet, fängt sein Handy an zu piepen. Er kann jetzt nicht rangehen, fährt los, nach Nordosten hin.
*
»Nur gut, dass die Kinder das nicht getrunken haben«, sagt Anne-Marit Johansen, während sie den Inhalt der Halbliter-Flasche untersucht. Sie steht in einer Schneeburg zwischen zwei der älteren Hütten unterhalb vom Panorama, im Volksmund »zur Palasslia«, zur Palastwiese, getauft.
»Was ist das?«, fragt Landpolizist Knutsen neugierig. »Ich weiß nicht. Das muss erst analysiert werden. Das muss nach Oslo.«
Knutsen nickt. Die Antwort hat er erwartet.
»Kein Problem, wir schicken eine Probe mit Express. Dann ist sie in vier Stunden in Oslo.«
»Gute Idee. Ich rufe Bjørn Tore von der Chemischen an. Er ist mir noch einen Gefallen schuldig«, nickt Johansen und schaut zu Martin Klausen hinüber, der mit seinen Kindern ein Stück entfernt wartet. Die Kinder hatten die Flasche in der Schneeburg gefunden. Klausen arbeitet bei einer Brauerei und ist sich hundertprozentig sicher, dass der Inhalt nicht aus einem normalen Zapfhahn stammt.
»Ich bin nur froh, dass ich entdeckt habe, was die Kinder da gefunden haben, bevor sie was trinken konnten«, erklärt er.
»Wahrscheinlich ist die Colaflasche von einem der Mieter hingeworfen worden. Wir müssen auf der Hut sein. Wenn es das ist, was ich denke, dann gibt es mehr davon. Viel mehr. Und dann werden wir unsere Nasen da reinstecken«, erklärt Johansen.
Sie bedanken sich bei Klausen für die Hilfe, nehmen die Flasche mit und gehen zurück zu ihrem Schneescooter. Polizist Knutsen musste nicht lange überlegen, als ihm eine Sonderschicht zusammen mit Anne-Marit Johansen angeboten wurde. Der provisorische Polizeiposten ist eingerichtet worden, damit sich nicht über Ostern die Kräfte aus dem übrigen Distrikt nur um Beitostølen kümmern müssen. Es war klar, dass extra Leute gebraucht werden, wenn Beitostølen von Touristen überschwemmt wird. Zumal dieses Jahr, wo so viel mit neuen Angeboten und einem bunten Jugendprogramm geworben wird, das seinen Höhepunkt in der Raveparty in der Beitohalle am Samstagabend haben soll.
»Da werden wir wohl unsere Augen und Ohren offen halten müssen«, hatte Johansen gesagt, als sie die verschiedenen Veranstaltungen durchsprachen. »Auch wenn die Berichte in der Presse über diese neue Droge bis ins Hysterische übertrieben werden, haben wir allen Grund wachsam zu sein.«
Knutsen war neugierig auf die Nachfolgerin von Lars-Erik Gundersen gewesen und hatte beschlossen erst einmal abzuwarten, bis er sich ein Bild machen konnte, wer die neue Kollegin eigentlich war. Aber schon nach einer Stunde in einem Raum mit Anne-Marit Johansen war das Eis geschmolzen. Im wahrsten Sinn des Wortes. Sie hatte bei der Drogenfahndung in Oslo Dienst gemacht und konnte Knutsen über die neuen Drogen informieren, die mehr oder weniger getarnt in den Jugendmilieus kursieren.
»Willst du fahren?«, fragt er jetzt und zeigt auf den Lynx, seinen Luchs.
Anne-Marit Johansen schüttelt den Kopf.
»Nur wenn ich muss. Das ist nichts für mich. Außerdem müssen wir uns wohl beeilen, wenn die Flasche noch mit dem Bus mit soll«, sagt sie.
Knutsen nickt, startet den Motor, verlagert das Gewicht auf den einen Ski, stellt einen Fuß auf den Boden und wendet so den Scooter um hundertachtzig Grad. Er stellt zufrieden fest, dass er seine Kollegin beeindruckt hat.
»Es ist schlichtweg unmöglich, mit diesem lahmen Gefährt schnell zu sein«, erklärt er.
»Tu dein Bestes«, lacht Anne-Marit und setzt sich hinter ihn auf den Sattel.
*
Jørn schaut zu Hacke hoch, der sein Brett auf dem Hügel hin und her schwingt. Selbstsicher wie immer. Genau so ein Großmaul wie damals, als er Chef von Hacke und die Spechte war, der Band, in der Jørn spielte, bevor er im letzten Sommer nach Valdres zog. Hacke bestimmte absolut alles in der Band, es gab keinerlei Spielraum neben ihm, auch nicht für die Ideen der anderen Spechte.
»Na, und wie läuft es mit dem Zitherspiel?«
»Okay«, murmelt Jørn und muss feststellen, dass Hacke die gleichen Vorurteile gegenüber dem Musikleben im Norden hat, wie er sie noch vor einem Jahr selbst hatte. Aber er musste schnell seine Meinung ändern. Die Bands hier oben, Express eingeschlossen, brauchten sich ganz und gar nicht hinter den Jugendbands zu verstecken, die er aus Oslo kannte. Eher im Gegenteil. »Spielst du noch?«
Sieh an, denkt Jørn, Hacke ist also neugierig.
»Ja. Wir haben ’ne Band.«
»Echt? Nun ja ... schade, dass du nicht mehr in Oslo wohnst. Dann hättest du mit uns spielen können. Wir gehen bald auf Tournee.«
»Auf Tournee? Wohin denn?«
Jørn spürt den Neid im Bauch zwicken.
»Nach Trondheim«, erklärt Hacke zufrieden grinsend.
»Und wann?«
»Im Mai.«
»Ey, das ist ja Klasse. Dann treffen wir uns bestimmt dort.«
Hacke fällt der Unterkiefer herunter und verblüfft starrt er Jørn an.
»Wieso?«
»Ich nehme an, du meinst den Landeswettbewerb?« Hacke nickt. Aber jetzt nur noch schwach.
»Express wird da auch spielen.«
»Express?«
»Ja. Meine Band.«
Er hört es schon, als er es ausspricht. Meine Band! Der Magen zieht sich ihm zusammen, als er sich daran erinnert, wie Hacke über die Spechte herrschte und wie sauer er selbst war, weil die Band keinen Raum bot, eigene Ideen auszuprobieren. Laufen sie jetzt mit Express Gefahr, den gleichen Fehler zu machen? Drückt er einfach seine Sachen durch? Vielleicht ist das der Grund, dass die Probe gestern Abend so den Bach runter ging? Kommen sie deshalb nicht weiter? Er hört gar nicht mehr Hacke zu. Sieht nur, wie sich dessen Lippen bewegen. Da boxt Hacke ihm gegen die Schulter.
»Sag mal, du kannst ja wohl immerhin antworten, oder?«
»Hä? Was hast du gesagt?«
»Was spielt ihr denn?«
Jørn spürt wieder, wie sich alles in ihm zusammenzieht. Er hat zwar einige Ideen, fand sie früher auch ganz toll, aber plötzlich ist er sich nicht mehr so sicher.
»Ich weiß nicht, wir haben uns noch nicht entschieden.«
»Wir? Ist das denn nicht deine Band?«
»Wir sind zu viert.«
»Und welche Instrumente?«
»Gitarre, Keyboard, Schlagzeug und Bass. Wir wohnen über Ostern in der Hütte der Schlagzeugerin. Um zu üben.«
»Geil«, meint Hacke. »Das klingt nicht schlecht. Was meinst du, ist es okay, wenn ich mal bei euch vorbeischaue? Wir wohnen auf Beito. Und da ist es stinklangweilig. Die Alten kleben nur an dem offiziellen Programm und ich habe einfach keinen Bock, meine Abende mit sinkenden Sternchen vom norwegischen Schlagerhimmel zu verbringen. Vielleicht könnten wir ’ne kleine Session zusammen machen?«
Jørn denkt über Hackes Vorschlag nach. Hacke und die Spechte wird auch in Trondheim spielen. Er hat das Gefühl, dass diese Nachricht irgendwie einen Schatten auf seine Freude über ihre eigene Teilnahme wirft. Hacke wohnt auf Beito ... will ’ne kleine Session machen ... »Whow, sieh dir das mal an«, ruft Hacke in diesem Moment und zeigt zur Anhöhe oberhalb der Funbox. »Megacruising!«
Jørn nickt und lächelt zufrieden. Den Anorak kennt er. Der Snowboarder holt richtig Schwung. Er kreuzt im Puderschnee zwischen den Krüppelbirken. Macht ein paar geile Flatgroundtricks und springt über kleine Buckel. Dann hält er auf die Öffnung der Pipe zu.
»Guck mal!«
Jørn lächelt. Er weiß, der Fahrer wird auf den Beinen bleiben.
»Das ist unsere Schlagzeugerin.«
*
Mehr Fahrt! Die Beine arbeiten mit dem Untergrund. Der Abhang sorgt für Tempo. Trude fährt genau auf die Öffnung zu. Das Snowboard rutscht wie Seide über den Neuschnee. Ihre Konzentration ist spitze. Sie trifft den Absprungspunkt perfekt, gewinnt rasant an Höhe und zieht einen Hundertachtziger Backside Air eins achtzig durch.
Es ist einfach toll, auf der Piste zu sein. Die Anspannung lässt nach. Dass die Band nicht hundertprozentig funktioniert, bedeutet nicht alles. Außerdem hatte ihr etwas davor gegraut, wieder in der Hütte zu schlafen, denn seit dem Unglück war sie nicht mehr dort gewesen. Umso froher war sie, als die Jungs gleich das Zimmer mit den Etagenbetten in Beschlag nahmen.
Trude landet fakie, macht eine Drehung und fährt weiter runter zur Pipe. Sie will fahren, dass es nur so funkt! Die Pipe liegt wie eine riesige, weiß gescheuerte Dachrinne unter ihr. Ihre Beine pumpen noch mehr Geschwindigkeit rein. Sie schneidet schräg nach oben an und macht die erste Figur: einen Tweak Indie frontside. Sie schwebt hoch über der Wand. Grabbt mit der rechten Hand und streckt die linke aus. Yeah! Das ist technisch perfekt!
Die Schwerkraft zieht sie wieder nach unten und das Brett landet in einem Bogen. Sie beschleunigt erneut und legt einen schnellen Trick auf jeder Seite hin. Einen backside und einen frontside. Hat gute Fahrt drauf und macht einen Air bei jedem Buckel. Sie konzentriert sich auf den letzten, denn der muss richtig sitzen. Im Körper spürt sie bereits die Bewegungen. Ihre Muskeln sind vollkommen angespannt. Trude pumpt ein letztes Mal und krümmt sich zusammen, während sie in voller Fahrt frontside fährt und einen schönen Anschnitt den Bogen hinauf kriegt. Sie wartet auf den richtigen Moment. Jetzt!
Sie beginnt mit der Rotation und macht einen astreinen Fünfhundertvierziger. Trude landet weich in der Kurve und fühlt sich völlig berauscht, während sie aus der Pipe fährt. Sie kreuzt hinunter zum Lift und macht spielerisch ein paar einfache Flatgroundtricks, um sich abzureagieren. Spürt dabei, wie die Realität und die Band langsam wieder näher an sie herankommen, je weiter der Uhrzeiger rückt. Vielleicht war es doch ein Fehler, intensive Übungstage zu planen? Sie schaut auf ihre Uhr und stellt fest, dass sie noch eine Runde schaffen kann, bevor sie sich treffen wollen.
*
Audun studiert den Flyer mit der Handynummer. Soll er es nochmal versuchen? Den Schneider fragen, wo er bleibt? Schließlich muss er halten, was er den anderen in der Band versprochen hat.
Er winkt Elin zu, die unterwegs ist um ihr geliehenes Brett zurückzubrlngen. Er mag sie, aber irgendwie ist sie unzugänglich. Lässt ihn nicht an sich heran. Er weiß ja, dass sie mit Joachim Jensen zusammen ist und dass sich alles nach dem Verkehrsunfall letztes Jahr ziemlich zugespitzt hat. Eigentlich ist Audun Express scheißegal, doch er hat das Gefühl, dass er es Jørn einfach schuldig ist, ihn jetzt nicht im Stich zu lassen. Außerdem kann eine Tour nach Trondheim ja vieles bieten. Nicht zuletzt hinsichtlich der Damenwelt.
Aber jetzt ist jetzt. Er schafft es noch, kurz zu telefonieren, bevor Elin zurück ist. Sie wollen sich mit Jørn und Trude unten beim Svingen-Pub treffen. Audun springt von der Mauer, geht aber etwas in Deckung, um vom Lärm wegzukommen. Solche Bestellungen gibt man nicht gerade in aller Öffentlichkeit auf. Er tippt die acht Ziffern ein und wartet. Die Zentrale arbeitet, verbindet. Es klingelt am anderen Ende. Niemand geht ran. Er wird mit dem Anrufbeantworter verbunden.
»Hallo. Hier ist Audun. Ich war um Viertel nach vier in Hütte 16. Wie verabredet. Wo warst du? Ich brauche maßgeschneiderte Ware für heute Abend. Ruf mich zurück.«
Erst nachdem er die Verbindung unterbrochen hat, kommt ihm der Gedanke, dass es vielleicht nicht besonders klug war, seinen Namen zu sagen. Aber geschehen ist geschehen. Scheiß drauf!
*
Der Schneider schwingt den Schneescooter schräg aus der Spur. Überall um ihn herum erstreckt sich weiße Hochebene. Kein Mensch zu sehen. Perfekt. Ein bisschen Wind und Neuschnee werden die Scooterspur schnell verdecken. Er peilt die Kluft im Osten an und gibt Gas. Der Scooter schiebt sich mit dem angehängten Schlitten auf dem alten Schnee hoch. Er muss jetzt härter arbeiten.
Auf dem Gipfel des Hügels bleibt der Schneider stehen und schaut zurück. Immer noch niemand zu sehen.
Im Westen zeigen sich die bläulichen Bergspitzen, eine hinter der anderen. Mit weißen Mützen drauf. Die Sonne steht niedrig über dem Horizont. Sie wärmt noch, aber zur Nacht hin wird es sicher kälter werden. Er dreht sich um und schaut in die andere Richtung. Im Südosten kann er eine dunkle, schwere Wolkenbank am Horizont erkennen. Sie ist zu weit entfernt um bedrohlich zu sein. Zumindest für heute. Aber es wäre das Beste, wenn die Wettervorhersage für die nächsten Tage eintreffen würde. Ein Schneesturm würde alle Spuren beseitigen, bis der Schnee schmilzt.
Der Schneider schiebt den Sichtschutz wieder hinunter und steuert auf die schmale Kluft zu. Er fährt vorsichtig. Weiß von der Lawinengefahr hier. Der Scooter schlängelt sich hindurch und auf der anderen Seite wieder hinaus. Der Schneider hält an. Atmet schwer. Schwitzt. Dreht sich um und guckt zum Schlitten. Es gibt keinen Weg mehr zurück. Er muss das zu Ende bringen. Also tritt er in den Schnee und sinkt sofort bis zum Schritt ein. Er beugt sich nach hinten und löst die Skier vom Schlitten, nimmt den einen, presst die Spitze gegen den Schlitten und zerbricht den Ski. Die Glasfiberteile splittern. Er wirft die Skispitze weg. Dann löst er die Plane. Sie liegt noch genauso still da. Er schluckt. Schiebt Gefühle beiseite. Jetzt darf er nicht zögern. Er ist safe. Die Nachricht auf dem Bildschirm dürfte klar genug sein. Sie hat nur eine kleine Skitour gemacht. Und wer sich im Gebirge nicht auskennt, kann das Wetter nicht richtig einschätzen und kann sich verlaufen. Und keiner kann viel tun, wenn das Wintergebirge sein Maul aufreißt – am wenigsten so eine Städterin!
Er zieht sie herunter und schleppt den Körper ein paar Meter vom Schlitten weg. Unter eine Schneewehe. Der Skianzug sieht aus wie ein Blutfleck auf dem weißen Schnee. Er schaut den Abhang hinunter. Das Dominoprinzip. Das müsste klappen. Wenn er nur selbst davonkommt.
»Tschau«, sagt er und rollt sie weiter. Dann fallen ihm die Skier ein. Er befestigt den heilen an einem Fuß und den zerbrochenen am anderen. Die Skispitze liegt eigentlich zu weit weg. Aber das ist jetzt auch egal. Er stapft zurück zum Scooter, stellt den Motor an und legt den Rückwärtsgang ein. Das Differentialgetriebe arbeitet zuverlässig. Er hält an und ändert noch einmal die Fahrtrichtung. Sieht sich genau die Schneewehe an. Jetzt kommt es darauf an. Wenn es nicht klappt, steht er dumm da.
Der Schneider gibt voll Gas und zieht eine scharfe Kurve dicht unter der Schneewehe, während sein Körper sich gegen den Abhang legt, um das Gleichgewicht zu halten. Dann wendet er in einer engen Kurve und steuert schräg den Hang hinunter. Zuerst hört er das Donnern. Tief, fern, murmelnd. Dann kommt das Knacksen und nur eine Sekunde danach spürt er, wie der Scooter seitlich auf der Schneeunterlage reitet. Bald hat er es geschafft. Er gibt voll Gas, zieht den Scooter noch etwas weiter nach unten und brettert auf ihm so schnell er kann davon. Unten auf der Ebene angekommen, hält er an und schaut zurück. Eine hübsche kleine Lawine. Der Blutfleck ist verschwunden. Er gibt Gas, fährt zwischen die Hügel und hinunter zur Loipenspur, die am Olevatn vorbeiführt.
*
Jørn guckt gespannt zu Hacke, während Trude den Hügel oberhalb der Funbox herunterkreuzt, hin- und herschwingt und dann bei ihnen abbremst.
»Saustarke Serie«, sagt er und nickt zum Gruß.
Sie zuckt mit den Schultern, als würde ihr das gar nichts bedeuten, und schaut Jørn an.
»Wir müssen los.«
Jørn schaut auf die Uhr. Nickt. Wendet sich Hacke zu. »Wir wollen die anderen beim Svingen-Pub treffen. Vielleicht sehen wir uns nochmal?«
Hacke springt auf die Füße, jetzt ganz eifrig. »Vielleicht? Aber auf jeden Fall! Es wäre klasse, euch mal spielen zu hören.«
Jørn schnalzt mit der Zunge. Er will das nicht. Er will nicht, dass Hacke was mit Express zu tun hat. Jedenfalls nicht jetzt.
»Ich weiß nicht... wir sehen uns doch in Trondheim.«
»Nun zier dich doch nicht. Ich werde schon keine Griffe klauen. Ist das denn so schlimm?«, fragt er und wendet sich Trude zu.
»Ich weiß nicht, wovon ihr eigentlich quatscht.«
Jørn holt tief Luft und erklärt, dass Hacke in der Band spielt, bei der er in Oslo auch dabei war, und dass die Spechte auch nach Trondheim fahren werden.
»Vielleicht können wir zusammen mal eine Abendsession machen?«, bohrt Hacke weiter.
Trude wirft Jørn einen Blick zu.
»Das wäre bestimmt super, aber ich glaube, wir brauchen die Abende hier, um selbst zu üben«, sagt sie.
»Aber ich kann doch wohl mal bei euch vorbeischauen. Glaubt mir, es ist nicht besonders witzig, die ganze Zeit an dem Rockzipfel der Alten zu hängen. Und bis Samstagabend passiert ja nichts Geiles. Ihr kommt doch zur Fete?«
Jørn zuckt mit den Schultern.
»Wie bitte? Ihr habt hier im Kuhland nicht so oft die Gelegenheit DJ Cooljuice zu erleben. Und wenn ihr einen Muntermacher braucht, dann kann ich den besorgen.«
»Ich hätte schon Lust, na ja, wir werden sehen. Aber jetzt müssen wir zum Pub«, erklärt Trude und stößt sich ab. Und fährt.
»Svingen-Pub. Superidee«, lächelt Hacke und zieht seine Bindung fest. Er guckt zu Jørn hoch.
»Bist du bereit für ein Double die Pipe runter?«
Jørn spürt, wie seine Muskeln in alle Richtungen zerren und zupfen. Er ist zusammen mit Hacke zu rein gar nichts bereit. Nur dazu, ihn möglichst bald loszuwerden. Aber er sieht ein, dass das nicht so einfach sein wird.
»Okay. Also dann los!«
Jørn bemüht sich genügend Fahrt zu kriegen. Er hört Hacke hinter sich keuchen, verlagert sein Gewicht nach hinten, schneidet einen sauberen Bogen und fährt front-side zum Rand hoch, macht eine Drehung und fährt backside hinunter, jetzt wieder schneller. Er konzentriert sich auf den Trick, spannt die Muskeln an, trifft den Absprung und zieht einen Dreihundertsechziger mute Grab. Er landet in einem Bogen, fährt schräg hinunter und sieht gleichzeitig aus den Augenwinkeln Hacke, der in voller Fahrt die Pipe hinuntersaust, direkt auf ihn zu. Crashkurs! Jørn flucht und reißt das Brett zur Seite, verliert das Gleichgewicht und fällt hin, während Hacke die Pipe weiter hinunterbrettert.
»Wir sehen uns beim Pub, Rotspecht«, johlt Hacke und verschwindet aus der Pipe, ohne einen einzigen Trick hingelegt zu haben.
*
Elin geht zusammen mit Audun zum Svingen-Pub hinunter.
»Und, hast du deinen Express-Saft organisiert?« Sie ist gespannt, was für ein Wundermittel Audun wohl aus dem Ärmel ziehen wird.
»Nein, noch nicht. Aber ich werde ihn vor der Probe haben.«
Sie überqueren die Straße und begeben sich in das »Sehen-und-gesehen-werden-Gewühle« vor dem Pub.
Elin und Audun können sich eine Cola beschaffen und setzen sich hin, um auf die anderen zu warten. Als Trude, Jørn und Hacke kommen, berichtet Jørn Audun erst einmal, wer Hacke ist, und noch bevor sonst jemand etwas sagen kann, hat Audun Hacke schon den Weg zu ihrer Hütte erklärt. Kurz danach kommt Sondre Wikdahl zu ihnen und lädt sie für diesen Abend zu einer Feier oben im Palast ein.
»Garantiert dufte Stimmung. Bringt eure Fiedeln mit und schaut mal rein. Ich organisiere Power für die Schlaffis!«