Читать книгу Das Bildnis des Dorian Gray - Оскар Уайльд, Wilde Oscar, F. H. Cornish - Страница 5

Viertes Kapitel

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Eines Nachmittags, einen Monat später, saß Dorian Gray zurückgelehnt in einem schwellenden Sessel der kleinen Bibliothek in Lord Henrys Hause in Mayfair. Es war in seiner Art ein allerliebster Raum, bis hoch hinauf mit olivenfarbigem Eichenholz getäfelt, mit einem cremefarbigen Deckenfries und mit Stuckverzierungen und mit einem ziegelfarbigen Filzteppich, der in langen Seidenfransen auslief. Auf einem niedlichen Tischchen aus Satinholz stand eine Figur von Clodion, und daneben lag eine Ausgabe der Cent Nouvelles, die für Margarete von Valois von Clovis Eve eingebunden und mit goldenen Gänseblümchen verziert war, wie sie die Königin auf ihr Wappenzeichen gewählt hatte. Auf dem Kaminsims standen ein paar große blaue Porzellanvasen mit Papageientulpen, und durch die schmalen, bleigerahmten Rautenfelder der Fenster drang das aprikosenfarbene Licht eines Londoner Sommertages.

Lord Henry war noch nicht nach Hause gekommen. Er kam grundsätzlich zu spät, da sein Grundsatz war, Pünktlichkeit stehle einem die Zeit. Daher sah der junge Mann etwas gelangweilt aus, als er mit lässigen Fingern die Seiten einer reichillustrierten Ausgabe von Manon Lescaut durchblätterte, die er in einem der Bücherschränke gefunden hatte. Das abgemessene gleichförmige Ticktack der Louis-Quatorze-Uhr machte ihn nervös. Ein- oder zweimal machte er schon Miene, wegzugehen.

Endlich hörte er draußen einen Schritt und die Tür öffnete sich. „Wie spät du kommst, Harry!“ sagte er leisen Vorwurfs.

„Zu meinem Bedauern ist es nicht Harry, Herr Gray“, antwortete eine schrille Stimme.

Er sah sich rasch um und sprang auf die Füße.

„Ich bitte um Entschuldigung, ich glaubte – “

„Sie glaubten, es sei mein Mann. Es ist nur seine Frau. Ich muß mich schon selbst vorstellen. Ich kenne Sie aus Ihren Photographien ganz gut. Ich glaube, mein Mann hat ihrer siebzehn.“

„Nicht siebzehn, Lady Henry.“

„Schön, also achtzehn. Und dann habe ich Sie gestern abend mit ihm in der Oper gesehen.“ Während sie sprach, lachte sie nervös und beobachtete ihn mit ihren verschwommenen Vergißmeinnichtaugen. Sie war eine absonderliche Frau, deren Kleider immer so aussahen, als wären sie in einem Wutanfall gezeichnet und während eines Gewitters angezogen worden. Sie war gewöhnlich in irgend jemand verliebt, und da ihre Leidenschaft nie erwidert wurde, hatte sie sich alle ihre Illusionen bewahrt. Sie machte den Versuch, malerisch zu erscheinen, aber es gelang ihr nur, unordentlich auszusehen. Sie hieß Viktoria und hatte eine krankhafte Leidenschaft, in die Kirche zu laufen.

„Das war im Lohengrin, Lady Henry, nicht wahr?“

„Ja, es war bei dem entzückenden Lohengrin. Ich liebe Wagners Musik mehr als die irgendeines anderen. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß die Nachbarn hören, was man sagt. Das ist ein dankenswerter Vorteil. Meinen Sie nicht auch, Herr Gray?“

Über ihre dünnen Lippen kam wieder das nervöse Stakkatolachen, und ihre Finger begannen mit einem langen Papiermesser aus Schildkrot zu spielen.

Dorian schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich bedaure, Lady Henry, das ist nicht meine Meinung. Ich unterhalte mich nie, während man spielt – wenigstens nicht, wenn es gute Musik ist. Wenn man schlechte Musik hört, ist man freilich verpflichtet, sie durch ein Gespräch zu ertränken.“

„Ah, das ist eine von Harrys Sentenzen, nicht wahr, Herr Gray? Ich bekomme Harrys Ansichten immer von seinen Freunden zu hören. Das ist die einzige Art, wie ich sie überhaupt erfahre. Aber Sie dürfen nicht glauben, daß ich nicht auch gute Musik liebe. Ich vergöttere sie, aber ich fürchte mich vor ihr. Sie macht mich zu romantisch. Ich habe Klavierspieler geradezu angebetet – manchmal zwei auf einmal, versichert Harry. Ich weiß nicht, was es für eine Bewandtnis mit ihnen hat. Vielleicht rührt es daher, daß sie Ausländer sind. Das sind sie doch alle, nicht wahr? Selbst die in England Geborenen werden nach einiger Zeit Ausländer, nicht wahr? Es ist sehr gescheit von ihnen und für die Kunst sehr vorteilhaft. Das macht sie zu Kosmopoliten, nicht wahr? Sie waren nie auf einer meiner Gesellschaften, Herr Gray. Sie müssen einmal kommen. Ich kann mir zwar keine Orchideen leisten, aber ich scheue in der Anschaffung von Ausländern keine Ausgabe. Sie geben dem Hause ein so pittoreskes Aussehen. Aber da ist Harry. – Harry, ich kam her, um dich zu suchen, um dich etwas zu fragen – ich habe ganz vergessen, was – und ich habe Herrn Gray hier getroffen. Wir haben so entzückend über Musik gesprochen. Unsere Ansichten darüber sind die gleichen. Nein, ich glaube, unsere Ansichten darüber sind ganz verschieden. Aber er ist ganz allerliebst gewesen. Ich freue mich so sehr, ihn einmal gesehen zu haben.“

„Das ist ja reizend, meine Liebe, ganz reizend“, sagte Lord Henry, seine dunkeln geschwungenen Brauen hebend und beide mit vergnügtem Lächeln ansehend. „Es tut mir so leid, Dorian, daß ich mich verspätet habe. Ich war in Wardour Street, um mir einen alten Brokat anzusehen, und mußte stundenlang darum handeln. Heutzutage kennen die Leute den Preis von jeder Sache und den Wert von keiner.“

„Ich muß leider gehen!“ rief Lady Henry aus und unterbrach ein verlegenes Schweigen mit ihrem jähen, grundlosen Lachen. „Ich habe versprochen, mit der Herzogin auszufahren. Adieu, Herr Gray. Adieu, Harry. Du speist wohl nicht zu Hause, wie? Ich auch nicht, vielleicht sehe ich dich bei Lady Thornbury.“

„Höchstwahrscheinlich, meine Liebe“, sagte Lord Henry und schloß die Tür hinter ihr, als sie gleich einem Paradiesvogel, der die ganze Nacht dem Regen ausgesetzt gewesen war, aus dem Zimmer hinausflatterte, einen feinen Jasmingeruch hinterlassend. Harry zündete sich eine Zigarette an und warf sich auf das Sofa. „Heirate nie eine Frau mit strohgelbem Haar, Dorian“, sagte er nach einigen Zügen.

„Warum nicht, Harry?“

„Weil sie so sentimental sind.“

„Aber ich habe sentimentale Menschen gern.“

„Heirate überhaupt nie, Dorian! Männer heiraten, weil sie müde sind; Frauen, weil sie neugierig sind: beide werden enttäuscht.“

„Ich glaube nicht, daß ich heiraten werde, Harry. Dazu bin ich zu verliebt. Das ist einer deiner Aphorismen. Ich setze ihn in die Wirklichkeit um, wie alles, was du sagst.“

„In wen bist du verliebt?“ fragte Lord Harry nach einer Pause.

„In eine Schauspielerin“, sagte Dorian Gray errötend.

Lord Henry zuckte die Achseln. „Ein recht landläufiger Anfang.“

„Das würdest du nicht sagen, wenn du sie kenntest.“

„Wer ist's denn?“

„Sie heißt Sibyl Vane.“

„Nie von ihr gehört.“

„Das hat niemand. Aber später einmal wird man von ihr hören. Sie ist ein Genie.“

„Mein lieber Junge, es gibt keine Frau, die ein Genie wäre. Die Frauen sind ein dekoratives Geschlecht. Sie haben niemals etwas zu sagen, aber sie sagen es entzückend. Die Frauen bedeuten den Triumph der Materie über den Geist, wie die Männer den Triumph des Geistes über die Sittlichkeit.“

„Harry, wie kannst du?“

„Mein lieber Dorian, es ist aber wahr. Ich beschäftige mich gerade mit der Analyse der Frauen, daher muß ich das wissen. Das Thema ist nicht so verwickelt, wie ich glaubte. Ich finde, daß es schließlich nur zwei Arten von Frauen gibt, die einfachen und die geschminkten. Die einfachen Frauen sind sehr nützlich. Wenn du als ehrbarer Mensch gelten willst, mußt du nur eine von ihnen zu Tisch führen. Die andern Frauen sind zum Entzücken. Aber sie begehen einen Fehler. Sie schminken sich, um jung auszusehen. Unsere Großmütter schminkten sich, um geistreich zu plaudern. Rouge und Esprit gingen Hand in Hand. Das ist jetzt alles vorbei. Solange eine Frau zehn Jahre jünger aussehen kann als ihre Tochter, ist sie gänzlich zufrieden. Was die Konversation betrifft, so gibt es in ganz London höchstens fünf Frauen, mit denen sich's zu reden lohnt, und zwei davon sind in anständiger Gesellschaft nicht möglich. Aber genug, erzähl' mir was von deinem Genie! Wie lange kennst du sie?“

„Ach, Harry, deine Ansichten erschrecken mich!“

„Mach' dir darum keine Kopfschmerzen. Wie lange kennst du sie also?“

„Ungefähr drei Wochen.“

„Und wo hast du die Entdeckung gemacht?“

„Ich will dir's erzählen, Harry, aber du mußt nicht häßlich darüber reden. Übrigens wär's gar nicht dazu gekommen, wenn ich dich nicht kennengelernt hätte. Du hast mich mit einer wilden Begierde, alles im Leben kennenzulernen, angefüllt. Noch viele Tage, nachdem ich dich zuerst gesehen hatte, schien in meinen Adern etwas zu rumoren. Wenn ich im Park spazierte oder Piccadilly hinunterschlenderte, schaute ich jeden an, der mir entgegenkam, und wollte mit einer tollen Neugierde herauskriegen, was für eine Art Leben die Leute alle führten. Einige von ihnen fesselten mich. Andere erfüllten mich mit Schauder. Es schwamm ein verführerisches Gift in der Luft. Mich hatte eine Leidenschaft nach Erlebnissen gepackt… Eines Abends also gegen sieben beschloß ich, mich auf die Suche nach einem Abenteuer zu begeben. Ich hatte solch Gefühl, daß unser graues, riesenhaftes London mit seinen vielen Hunderttausenden schmutzigen Sündern und seinen schillernden Sünden, wie du dich mal ausdrücktest, irgend etwas für mich in Bereitschaft halten müsse. Ich erfand mir tausenderlei Dinge. Schon die bloße Gefahr schenkte mir einen gewissen Genuß. Ich erinnerte mich an das, was du mir sagtest an dem wunderbaren Abend, als wir das erstemal zusammen speisten: daß nämlich das Suchen nach Schönheit das eigentliche Geheimnis des Lebens sei. Ich weiß nicht, was ich erwartete, aber ich ging drauflos und wanderte nach dem Osten, wo ich meinen Weg bald in einem Wirrwarr von rußigen Straßen und schwarzen, graslosen Plätzen verlor. Gegen halb acht kam ich an einem kleinen, schnurrigen Theater mit großen, flackernden Gasflammen und grellen Plakaten vorbei. Ein widerlicher Jude, in dem erstaunlichsten Rock, den ich mein Lebtag gesehen habe, stand an der Tür und paffte eine stänkrige Zigarre. Er hatte fettige Peies, und ein riesiger Brillant glitzerte auf seiner schmutzigen Hemdenbrust. ‚Eine Loge, Herr Baron?‛ fragte er mich und nahm seinen Hut mit grandioser Unterwürfigkeit ab. Er hatte etwas an sich, Harry, was mich belustigte. Er war das reine Monstrum. Du wirst mich auslachen, ich weiß schon, aber ich trat wirklich ein und erlegte ein Zwanzigmarkstück für die Proszeniumsloge. Ich kann mir noch heute nicht erklären, warum ich das tat; und doch – wenn ich's nicht getan hätte – bester Harry, ich wäre um das größte Ereignis meines Lebens gekommen. Ja, lach du nur. Es ist häßlich von dir.“

„Ich lache nicht, Dorian, wenigstens nicht über dich. Aber du solltest es nicht das größte Ereignis deines Lebens nennen. Sage lieber, das erste Ereignis deines Lebens. Du wirst immer geliebt werden, und du wirst in die Liebe immer verliebt sein. Die grande Passion ist das Vorrecht aller Leute, die nichts zu tun haben. Das ist der einzige Nutzen, den die Tagediebe eines Landes bringen. Habe keine Angst! Himmlische Dinge warten noch deiner. Das ist der bloße Anfang.“

„Hältst du meine Natur für so oberflächlich?“ rief Dorian Gray gekränkt.

„Nein, ich halte sie für so tief.“

„Wie meinst du das?“

„Mein lieber Junge, die Leute, die nur einmal im Leben lieben, das sind in Wirklichkeit die Oberflächlichen. Was sie Anstand und Treue nennen, nenne ich entweder die Trägheit der Gewohnheit oder Mangel an Einbildungskraft. Treue ist im Gefühlsleben dasselbe, was Konsequenz im Geistesleben ist, nichts als das Zugeständnis von Schwäche. Treue! Ich muß ihren Begriff später mal analysieren. Freude am Besitz liegt darin. Welche Menge von Dingen würden wir wegwerfen, wenn wir nicht fürchten müßten, andere könnten sie auflesen. Aber ich möchte dich nicht unterbrechen. Erzähle weiter.“

„Ich saß also in einer schauderhaften kleinen Loge, und ein ordinärer Vorhang starrte mir gerade ins Gesicht. Ich schaute hinter der Gardine vor und sah mich im Hause um. Es war ein schäbig-elegantes Ding, gestopft voll mit Amoretten und Füllhörnern, wie auf einem Hochzeitskuchen billigster Sorte. Galerie und Stehparterre waren leidlich voll, aber die zwei Reihen schmieriger Fauteuils vorne waren ganz leer und auf dem Platze, den sie vermutlich ersten Rang titulierten, saß kaum ein Mensch. Weiber gingen mit Orangen und Ingwerbier herum, und eine unglaubliche Masse von Nüssen wurde verknackt.“

„Es muß ganz wie in der Glanzzeit des britischen Dramas gewesen sein.“

„Ganz so, vermute ich, und sehr niederdrückend. Ich begann, zu überlegen, was um Himmels willen ich da anfangen sollte, als mein Blick auf den Theaterzettel fiel. Was glaubst du, was sie spielten, Harry?“

„Ich vermute, der ‚kleine Kretin‛ oder ‚Blödsinnig, aber unschuldig‛. Unsere Väter liebten diese Art Stücke, glaube ich. Je länger ich lebe, Dorian, je stärker fühle ich, daß alles, was für unsere Väter gut genug war, für uns noch lange nicht gut genug ist. In der Kunst wie in der Politik les grandpères ont toujours tort.“

„Das Stück war gut genug für uns, Harry. Es war ‚Romeo und Julia‛. Ich muß zugeben, daß mich der Gedanke, Shakespeare in einer so elenden Spelunke zu sehen, ärgerte. Und doch interessierte es mich irgendwie. Jedenfalls entschloß ich mich, den ersten Akt abzuwarten. Es spielte da ein schauderöses Orchester, das ein junger Hebräer dirigierte, der an einem schnarrenden Klavier saß, mich beinah zum Davonlaufen brachte; aber schließlich ging doch der Vorhang in die Höhe und das Stück fing an. Romeo war ein hahnebüchener älterer Herr mit dick gemalten Brauen, einer versoffenen Tragödenstimme und einer Falstaffgestalt wie eine Biertonne. Mercutio war fast ebenso arg. Er wurde vom Komiker gespielt, der Mätzchen eigener Improvisation einstreute und in der verwandtschaftlichsten Beziehung zur Galerie stand. Sie waren beide genau so grotesk wie die Szenerie, und die sah aus, als käme sie vom Jahrmarktsrummel. Aber Julia! Harry, stell dir ein Mädchen vor, kaum siebzehn Jahre alt, mit einem blumenhaften Gesichtchen, einem schmalen griechischen Kopf mit dunkelbraunen Zöpfen, mit Augen, wie veilchenblaue Brunnen heißer Leidenschaft, mit Lippen wie Rosenblätter. Das entzückendste Geschöpf, das ich je im Leben gesehen habe. Du sagtest mal zu mir, Pathos ergreife dich nicht, aber Schönheit, keusche Schönheit an sich, könnte deine Augen wohl mit Tränen füllen. Ich sage dir, Harry, ich konnte dieses Mädchen kaum sehen, von dem Tränenflor über meinen Augen. Und ihre Stimme – ich habe so eine Stimme nie gehört. Zuerst sehr leise in tiefen, vollen Molltönen, die langsam und jeder für sich allein ins Ohr zu träufeln schienen. Dann etwas lauter und erklingend wie eine Flöte oder eine ferne Hoboe. In der Gartenszene hatte sie jene zitternde Inbrunst, die man hört, wenn die Nachtigallen singen vor Tag und Tau. Es gab dann Augenblicke, wo ihre Stimme die verhaltene Leidenschaftsglut von Geigentönen hatte. Du weißt, wie eine Stimme einen erschüttern kann. Deine Stimme und die Stimme von Sibyl Vane, die beiden werde ich nie vergessen. Wenn ich meine Augen schließe, höre ich sie, und jede von ihnen sagt etwas anderes. Ich weiß nicht, welcher ich folgen soll. Warum sollte ich sie nicht lieben? Harry, ich liebe sie. Sie ist alles in meinem Leben. Abend für Abend gehe ich hin, um sie spielen zu sehen. An einem Abend ist sie Rosalinde, am nächsten Imogen. Ich habe sie im Düster eines italienischen Grabgewölbes sterben sehen, wie sie das Gift von den Lippen des Geliebten trinkt. Ich bin ihrer Wanderung durch die Ardennen gefolgt, wie sie als hübscher Knabe mit Hose, Wams und einem kleinen Barett verkleidet war. Sie war wahnsinnig und ist vor einen schuldbewußten König hingetreten und ließ ihn Rauten tragen und bittere Kräuter kosten. Sie war unschuldig, und die schwarzen Hände der Eifersucht haben ihren zarten Hals zusammengepreßt. Ich habe sie in jedem Jahrhundert und in jeder Tracht gesehen. Gewöhnliche Frauen sagen unserer Phantasie nichts. Sie sind in ihre Zeit hineingebannt. Kein Zauber kann sie umwandeln. Man kennt ihren Geist ebenso schnell wie ihre Güte. Man kennt sie immer heraus. Es gibt kein Geheimnis in ihnen. Sie reiten morgens in den Park und schnattern nachmittags beim Tee. Sie haben ihr stereotypes Lächeln und ihre eleganten Modemanieren. Aber eine Schauspielerin! Wie anders solche Schauspielerin! Harry! Warum hast du mir nicht gesagt, daß nichts geliebt zu werden verdient als eine Schauspielerin?“

„Weil ich so viele von ihnen geliebt habe, Dorian.“

„Oh, gewiß, gräßliche Geschöpfe mit gefärbten Haaren und geschminkten Gesichtern.“

„Schmähe nicht gefärbtes Haar und geschminkte Gesichter. Es liegt zuweilen ein ganz besonderer Reiz darin“, sagte Lord Henry.

„Ich wollte, ich hätte dir nie etwas von Sibyl Vane gesagt.“

„Du hättest gar nicht anders können, Dorian. Dein ganzes Leben lang wirst du mir alles sagen, was du tust.“

„Ja, Harry, ich glaube, es ist so. Ich bin geradezu gezwungen, dir alles zu sagen. Du hast eine seltsame Macht über mich. Wenn ich je ein Verbrechen beginge, käme ich gleich zu dir und beichtete es dir. Du würdest mich verstehen.“

„Menschen wie du – die kühnen Sonnenstrahlen des Lebens – begehen keine Verbrechen, Dorian. Aber ich danke dir trotzdem für dein Kompliment. Und nun sag' mir – bitte gib mir mal die Streichhölzer herüber; danke – wie sind deine wirklichen Beziehungen zu Sibyl Vane?“

Dorian Gray sprang mit geröteten Wangen und blitzenden Augen auf. „Harry! Sibyl Vane ist mir heilig.“

„Nur heilige Dinge sind wert, sie anzurühren, Dorian“, sagte Lord Henry mit einem merkwürdigen pathetischen Ton in seiner Stimme. „Aber warum fühlst du dich verletzt? Ich vermute, sie wird dir eines Tages gehören. Wenn man verliebt ist, fängt man immer damit an, sich selbst zu betrügen, und hört immer damit auf, andere zu betrügen. Das nennt die Welt eine Liebesgeschichte. Auf jeden Fall denke ich, du kennst sie?“

„Natürlich kenne ich sie. Schon am ersten Abend im Theater kam der gräßliche alte Jude nach der Vorstellung in meine Loge und bot mir an, mich hinter die Kulissen zu führen und ihr vorzustellen. Ich war wütend und sagte ihm, daß Julia seit Hunderten von Jahren tot sei und daß ihr Körper in einem Marmorgrabe zu Verona liege. Nach dem bestürzten Ausdruck in seinem Gesicht vermute ich, daß er glaubte, ich hätte zuviel Champagner oder Ähnliches getrunken.“

„Kein Wunder!“

„Dann fragte er mich, ob ich für irgendeine Zeitung schreibe. Ich sagte ihm, daß ich nicht mal eine lese. Das schien ihn furchtbar zu enttäuschen, und er vertraute mir an, alle Theaterkritiker hätten sich gegen ihn verschworen und jeder einzelne von ihnen wäre käuflich.“

„Es sollte mich nicht wundern, wenn er ganz recht hätte. Andererseits aber, nach ihrem Aussehen zu schließen, können sie meistens gar nicht teuer sein.“

„Einerlei, sie schienen über seine Mittel zu gehen“, sagte Dorian lachend. „Inzwischen aber wurden die Lichter im Theater ausgedreht und ich mußte fort. Er bat mich noch, einige Zigarren zu probieren, die er mir sehr warm empfahl. Ich dankte. Am nächsten Abend ging ich natürlich wieder hin. Als er mich sah, machte er eine tiefe Verbeugung und versicherte mir, ich sei ein edelmütiger Kunstmäzen. Er ist eine höchst abstoßende Kreatur, obwohl er eine außerordentliche Leidenschaft für Shakespeare hegt. Er erzählte mir mal mit einem Anflug von Stolz, seine fünf Bankrotte verdanke er nur dem ‚Barden‛; so nannte er nämlich hartnäckig Shakespeare. Er schien das für ein Verdienst zu halten.“

„Es ist ein Verdienst, lieber Dorian – ein großes Verdienst. Die meisten Leute werden bankrott, weil sie zuviel in der Prosa des Lebens angelegt haben. Sich mit Poesie ruiniert zu haben, ist eine ehrenvolle Auszeichnung. Aber wann hast du Fräulein Sibyl Vane zum erstenmal gesprochen?“

„Am dritten Abend. Sie hatte die Rosalinde gespielt. Ich mußte hinter die Bühne gehen. Ich hatte ihr ein paar Blumen zugeworfen, und sie hatte zu mir hingesehen, wenigstens bildete ich es mir ein. Der alte Jude war beharrlich. Er schien entschlossen, mich mit nach hinten zu nehmen, und so gab ich nach. Es war sonderbar, daß ich sie nicht kennenlernen wollte, nicht wahr?“

„Nein, ich glaube nicht.“

„Warum, lieber Harry?“

„Ich erkläre dir das ein andermal. Jetzt möchte ich gern von dem Mädchen hören.“

„Von Sibyl? Oh, sie war so schüchtern und lieb. Sie ist noch fast wie ein Kind. Ihre Augen öffneten sich in einem allerliebsten Staunen, als ich ihr sagte, was ich über ihr Spiel dachte, und sie schien sich ihres eigenen Könnens gar nicht bewußt zu sein. Ich glaube, wir waren beide recht nervös. Der alte Jude stand grinsend an der Tür der staubigen Garderobe und hielt theatralische Reden über uns beide, während wir uns wie Kinder anstarrten. Er bestand darauf, mich ‚Herr Baron‛ zu nennen, so daß ich Sibyl versichern mußte, ich sei nichts der Art. Sie sagte in ganz schlichter Weise zu mir: ‚Sie sehen mehr wie ein Prinz aus. Ich will Sie Prinz Märchenschön nennen‛.“

„Mein Wort, Dorian, Fräulein Sibyl versteht es, Schmeicheleien zu sagen.“

„Du verstehst sie nicht, Harry. Sie betrachtete mich nur wie eine Figur in einem Theaterstück. Sie weiß gar nichts vom Leben. Sie wohnt bei ihrer Mutter, einer verblühten, ältlichen Frau, die am ersten Abend in einer Art türkisch-rotem Schlafrock die Lady Capulet spielte und den Eindruck machte, als hätte sie bessere Tage gesehen.“

„Ich kenne diese Art, auszusehen. Sie stimmt mich unbehaglich“, sagte Lord Henry mit verhaltener Stimme und betrachtete seine Ringe.

„Der Jude wollte mir ihre Lebensgeschichte erzählen, aber ich bemerkte, sie interessiere mich nicht.“

„Da hattest du recht. Die Tragödien anderer Leute haben immer etwas unglaublich Gewöhnliches an sich.“

„Sibyl ist das einzige, um das ich mich kümmere. Was geht's mich an, woher sie stammt? Von ihrem kleinen Kopf bis zu ihrem kleinen Fuß ist sie ein himmlisches Wesen. Jeden Abend, den ich erlebe, gehe ich hin, um sie spielen zu sehen, und jeden Abend ist sie entzückender.“

Das Bildnis des Dorian Gray

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