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Ostermontag

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Kriminalkommissarin Lisa Luft blätterte in der Samstagsausgabe des »Hohenloher Tagblatts«. Sie und ihr Kollege Heiko Wüst hatten sich inzwischen gut eingelebt in dem kleinen Einfamilienhäuschen in Tiefenbach bei Crailsheim mit schönem Garten, das sie zur Miete bewohnten. Heiko biss in sein Erdbeermarmeladenbrot – in Hohenlohe »Breschdlingsxälzbrood« genannt.

»In Langenburg ist Ostermarkt«, erklärte Lisa und nahm einen Schluck aus der Kaffeetasse, während sie sich eine Strähne ihres langen blonden Haares aus dem Gesicht strich.

Garfield, ihre rotgetigerte Katze, sprang auf ihren Schoß, richtete sich schnurrend dort ein und taxierte Heiko mit einem bösen Blick. Gedankenverloren streichelte Lisa die zuckenden Katzenohren. Sita, Heikos Rauhaardackel, bettelte winselnd um ein Stück Xälzbrood. Im Gehege in einer Ecke des Raumes scharrte Alfred, der Deutsche Riesenschecke, den sie bei ihrem ersten gemeinsamen Fall vom Sohn des Mordopfers bekommen hatten, energisch in der Einstreu. Er war heute schon ausgiebig gestreichelt worden, dabei legte er die eleganten nachtschwarzen Ohren immer eng an und duckte sich, um möglichst lang zu sein und viel Streichelfläche abzugeben. Inzwischen hatten Lisa und Heiko einige Mordfälle zusammen gelöst, und die Westfälin Lisa hatte die Hohenloher kennen und lieben gelernt – vor allem Heiko, mit dem sie seit zwei Jahren zusammenwohnte. »Und, was meinst du?«, hakte sie nach.

Heiko, der immer noch kaute, ließ sein charakteristisches »Hm« vernehmen, ein Laut, der je nach Intonation wirklich alles ausdrücken konnte. Inzwischen war Lisa recht geübt im Verstehen der tatsächlichen Bedeutung dieser Lautäußerung, und dieses »Hm« klang wenig begeistert.

»Ach, Bärchen, da ist es doch immer schön in Langenburg! Denk doch nur mal an die Gartentage!«, erklärte Lisa nun mit einem kleinen Lächeln.

Heiko seufzte schwer. »Für Frauen vielleicht. Da kann man ja so gut einkaufen!« Heiko dachte mit Schaudern an seine Muswiesen-Erlebnisse, wo Lisa ihn zu stundenlangen Shopping-Exzessen gezwungen hatte. Anschließend hatte man tütenweise Zeugs mit heimgeschleift, das kein Mensch brauchte – die Krönung war eine Schaufel gewesen, die doppelt nutzlos war, weil jemand in ihr Blatt ein bezauberndes Gartenmotiv gelasert hatte und sie zudem völlig verrostet war. Das hässliche Ding steckte seit der letzten Muswiese in ihrem Beet und rostete fröhlich weiter vor sich hin. Witzigerweise fiel ihm gerade das Lied des Hohenloher Mundartsängers Kurt Klawitter ein, in dem er die Qualen der Männer während der »Langenburger Gartentage« besang. Wie überaus passend!

»Wir müssen ja nichts kaufen!«, schlug Lisa vor, aber alles, was sie Heiko damit entlockte, war ein missbilligendes Schnauben. Ihr Zugeständnis war ganz einfach unglaubwürdig.

»Ach komm schon, Bärchen.«

Heiko aß den letzten Bissen seines Brotes, nicht ohne zuvor ein Stück in Sitas begeistert klappendes Hundemaul zu werfen. Er streichelte den glücklich kauenden Hund, dann gab er sich geschlagen: »Wenn es sein muss.«

»Oder willst du lieber nach Bartenstein? Da ist auch Ostermarkt.«

Heikos Miene hellte sich auf. »Ja, da ist Flohmarkt, das finde ich viel besser!«

»Also gut, dann gehen wir nach Bartenstein«, zeigte sich Lisa kompromissbereit.

»Bardastoa«, korrigierte Heiko.

»Ja. Bahrtastooh.«

Und keiner der beiden hätte gedacht, dass sie an diesem Tag letztendlich doch in Langenburg landen würden.

Während Lisa und Heiko nach einer Weile auf der Landstraße durch Rot am See, Blaufelden und dann weiter in Richtung Schrozberg unterwegs waren, cruiste eine Gruppe Motorradfahrer, die zu den MFHC – den Motorradfreunden Hohenlohe-Crailsheim – gehörten, gerade auf der schmalen Landstraße, die sich an der Jagst entlangschlängelte. Sie ließen es ruhig angehen, keiner raste. Viel zu groß war die Euphorie über das wunderschöne Wetter, zu überwältigend die Landschaft. Sattgelb leuchtete der Löwenzahn auf den Uferwiesen, die Zweige der Weiden strahlten in grellem Hellgrün. Sie passierten Obstbaumwiesen, in Hohenlohe »Booma­ländle« genannt. Einige der knorrigen Baumbestände trugen nur zartgrüne Blätter, andere hingegen waren von Blüten überzogen wie von federleichten großen Schneekristallen. Einzelne dieser Blütenblätter regneten dann und wann auf die Motorradfahrer herab. Allerdings spürten sie die zarten Berührungen nicht, denn sie alle trugen Schutzkleidung, einige stylische Lederkluft, je nach Philosophie. Sie passierten die kleine Wirtschaft in Elpershofen, bogen rechts ab in Richtung Hürden und dann weiter nach Großforst, wo sie sich kein bisschen über die auf der angrenzenden Weide umherstolzierenden Strauße und die weidenden Lamas wunderten – die »Jagsttalranch« war einer ihrer beliebten Treffpunkte, und auch heute machten sie hier eine Pause, um einen Kaffee zu trinken und hervorragende Straußeneiwaffeln zu verzehren.

»Unglaublich, jetzt wohne ich seit vier Jahren in Hohenlohe, aber hier war ich noch nie«, stellte Lisa fest, als sie dem BMW M3 entstieg, den Heiko entgegen aller Bedenken ihres Chefs Schorsch auch als Dienstwagen nutzte.

Sita hüpfte begeistert aus dem Wagen, auch der Rauhaardackel schien sich über das schöne Wetter zu freuen. Heiko hatte das Auto an einer Straße geparkt, die zwar offiziell eine Landstraße war, auf der jedoch keine zwei Fahrzeuge aneinander vorbeikämen – beide mussten bei einer Begegnung auf das Bankett der von Obstbäumen gesäumten Straße ausweichen. Sie ließen die Scheunen eines Hofs links liegen und wanderten die Straße entlang, bis sie nach etwa 200 Metern zum Ortseingang gelangten. Leute kamen ihnen entgegen, die bereits auf dem Rückweg waren und die die typische Flohmarktbeute trugen – alte Bilder, Kleinmöbel, Lampen, Gruscht aller Art.

»Wir waren schon ewig nicht mehr auf einem Flohmarkt«, fiel Heiko ein, als er seine Hand in Lisas schob. Es fühlte sich gut an, er war gern mit ihr zusammen. Und erst neulich hatte seine Mutter ihn wieder gefragt, wann er seine Lisa, diese Traumfrau, denn endlich heiraten würde. Aber Heiko war der Meinung, dass man das gar nicht unbedingt musste. Er liebte sie, und sie liebte ihn. Und zusammen mit den Tieren waren sie doch bereits jetzt eine kleine Familie. Das reichte vollkommen aus, dazu brauchte es keinen solchen Romantikkram. Und Lisa selbst verlor kein Wort darüber, deshalb nahm er an … Verdammt, jetzt hatte er nicht aufgepasst, und Lisa hatte ihn zu einem Tisch mit Schmuck gezogen, den sie ausgiebig studierte. Heiko wechselte einen Blick mit Sita, die dem Graffel wohl ebenso wenig abgewinnen konnte wie er.

Lisas blaue Augen streiften hingegen die Art-Déco-Broschen. »Hübsch«, fand sie und langte nach einer, die ungefähr die Farbe ihrer blonden Haare hatte. »Was soll die denn kosten?«, fragte sie den Mann hinter dem Tapeziertisch. Dem Verkäufer fehlten vorne zwei Zähne und trotz der relativen Wärme trug er einen blauroten Fleecepulli mit Rollkragen. Seine grauen Haarsträhnen wackelten, als er antwortete. »Für Sie, meine Hübsche, nur einen Zehner!«

Lisa schenkte dem Mann ein Lächeln und bot an: »Für einen Achter nehme ich sie mit!«

Der Mann grinste. »Aber nur, weil Sie es sind!«

Nach einer knappen Stunde war die Gruppe der Motorradfreunde Hohenlohe-Crailsheim wieder aufgesessen und folgte der Straße weiter, passierte die »Mosesmühle«, ein hervorragendes Restaurant an der kleinen Jagstinsel in Bächlingen, und bog endlich in die Serpentinenstraße ein, die der legendäre Walter Röhrl bei den »Langenburg Classics« einst unzählige Male in atemberaubender Geschwindigkeit bezwungen hatte. Endlich gelangten sie nach Langenburg, wo sie zu ihrer Verwunderung alle einen Parkplatz vor dem Schloss des Fürsten Philipp bekamen. Philipp zu Hohenlohe-Langenburg war nun, da Meghan ihr erstes Kind bekommen hatte, nur noch auf Platz 190 in der englischen Thronfolge – das bedeutete, dass man 189 Leute umbringen müsste, damit ein Hohenloher den englischen Thron besteigen könnte. Das wäre womöglich vernünftig, denn Hohenloher waren einfach vernünftige Leute. Allerdings dachte Richard Wengert nicht im Geringsten daran, irgendjemanden umzubringen; im Gegenteil, er freute sich einfach über den schönen Tag mit seiner Motorradtruppe und mit seiner Frau, und auch darüber, dass die Susi mit ihrer langen schwarzen Mähne heute mal wieder besonders scharf aussah. Für einen Moment dachte er daran, wie ihn diese Mähne neulich gekitzelt hatte, als sie sich mit ihrem gertenschlanken Körper auf ihm gewunden hatte. Dann schob er seine Hand in die von Christine.

In der Zwischenzeit wanderten Lisa und Heiko durch den Flohmarkt in der Bartensteiner Hauptstraße und erreichten endlich das Schloss.

»Das ist schon faszinierend, dass hier in jedem Dörflein ein Schloss steht, einfach so«, wunderte sich Lisa, als sie neben Heiko vor dem gelben Barockgebäude stand. »Da würde ich auch gern wohnen«, setzte sie hinzu und warf einen sehnsüchtigen Blick auf den opulenten Bau.

»Und dann würdest du gern so Prinzessinnenkleider anziehen wie alle kleinen Mädchen, oder?«, grinste Heiko und zupfte neckisch an einer von Lisas blonden Haarsträhnen.

»Aber natürlich!«, versicherte Lisa grinsend. »Das würde ja absolut dazugehören! Und du könntest dann so ein Königskostüm aus blauem Samt mit weißen Hermelin-Puffärmeln anziehen, eine Krone tragen und auf einem weißen Pferd herumreiten.«

»So weit kommt’s noch!«, wiegelte Heiko ab.

»Des Schloss können Sie fai mieten«, meldete sich plötzlich jemand neben ihnen.

Lisa entdeckte einen älteren Mann mit Spazierstock und Hut, der sie anerkennend musterte. »Ach, tatsächlich?«, vergewisserte sie sich, und Heiko runzelte die Stirn. So ein Quatsch, sie hatten doch ein schönes Häuschen in Tiefenbach, das war vollkommen ausreichend!

»Der Fürst Maximilian von Hohenlohe-Bartenstein vermietet eine der Wohnungen«, informierte der Mann weiter und deutete mit seinem Stock unbestimmt in Richtung des Schlosses. »Also ii briiechds etz net, weil ii wouhn ja in Bardastaa. Aber wenn mer etz net in Bardastaa wouhnt, noa wär des also eine Möglichkeit, dass mer amole in am echta Schloss wouhna kennt, und noch derzua in Bardastaa!«

»Sousou!«, machte Heiko.

»Das könnten wir direkt mal machen, meinst du nicht, Bärchen?«, fragte Lisa. »Also, ich fände das cool!«

Der Motorradclub, der soeben über die Jagsttalstraße nach Langenburg gefahren war, erlebte derweil ein ganz ähnliches Szenario. Während Richard und Manfred sowie die vier Jungen Timo, Simon, Max und Jan sich etwas zurückfallen ließen, umschwirrten die Damen wie Kolibris auf der Suche nach Nektar die Stände, an denen Körbe, allerlei Osterkitsch, von guatemaltekischen Bauern handgenähte Taschen, von nepalesischen Strickerinnen handgestrickte Pullover und von hohenlohischen Bienen gesammelter Honig angeboten wurden. Auch Bernulf Schlauch hatte einen Stand mit seinem selbstgemachten Holundersekt und seinem berühmten Hutzellikör, den sie leider nicht probieren konnten, da sie ja noch fahren mussten. Einzig Susi interessierte sich wenig für die Auslegeware, sondern positionierte sich vor hübschen Locations wie dem schön dekorierten Osterbrunnen, um ein Duckface zu ziehen und ein heißes Foto für ihre 5.478 Instagram-Follower zu schießen.

Max Wengert, der genau wie sein Vater ein begeisterter Biker war, ließ Susanne die ganze Zeit über nicht aus den Augen. Vor fünf Jahren hatten sie einmal was miteinander gehabt, damals, sie waren ja fast noch Kinder gewesen. Und die Susi war sich ihrer Schönheit, ihrer Anziehungskraft, die sie auf die Männer ausübte, noch gar nicht bewusst gewesen. Sie hatte die lange Mähne meistens zu einem Pferdeschwanz gebunden und war in Schlabberpullis herumgelaufen. Jetzt aber, jetzt wusste sie, wie schön sie war. Längst hatte sie ihren Augenaufschlag perfektioniert, die nachlässige Geste ihrer Hand, mit der sie sich scheinbar zufällig falsch gefallene Haarsträhnen aus dem Gesicht strich. Das abschätzige Schürzen der vollen Lippen, wenn sie nachdachte. Ach, wie es gewesen war, diese Lippen zu küssen, damals, vor fünf Jahren! Weich und samtig waren diese Lippen. Wunderschön! Heute waren sie Freunde, das war okay. Ging schon. Außerdem hatte sie ja einen neuen Freund, und mit dem wollte sich Max nun wirklich nicht anlegen.

Auch Jan, der eine quasi selbstgebastelte Kutte trug, weil er fand, dass zu einem Motorradclub eine Kutte gehörte, hätte sich niemals mit Susis neuem Freund angelegt, obwohl er die Susi wirklich extrem scharf fand. Außerdem war er ja mit Lydia zusammen, der schönen, aber ein bisschen braven Lydia. Die studierte in Leipzig und war nur einmal im Monat da. Sie war ein Rohdiamant, durchaus, sie konnte ein bisschen geschliffen werden bei Bedarf, er musste sie nur dazu kriegen, den Motorradführerschein zu machen, dann könnte sie der Susi das Wasser reichen, beinahe jedenfalls.

Die beiden Jungs beobachteten nicht nur Susi. Ihre Blicke folgten auch argwöhnisch jeder Bewegung von Timo, der als Einziger im Club eine ältere Moto Guzzi fuhr. Denn Timo war es, der gerade mal wieder die Susi zum Lachen brachte, mit einer hingeworfenen Bemerkung aus seinem von einem Hipster-Bart umrundeten Mund. Die geschleimte Frisur darüber passte zum Look, genau wie die genietete Lederjacke. Er war die Sorte Mann, bei der man sich fragte, ob der Betreffende nicht vielleicht doch schwul war – womöglich, ohne es selbst zu wissen. Jedenfalls ärgerte es die anderen beiden, dass die Susi jetzt ein Selfie mit dem Hipster schoss, wahrscheinlich für ihren Instagram-Account. Obwohl sie sich das Posten in dem Fall eventuell verkneifen würde, denn das würde garantiert ihr Kerl sehen, und vor dem hatten sie, wenn sie ehrlich waren, alle ein bisschen Schiss. Der war nämlich …

»Wie wär’s mit einem Kuchen?«, schlug Manfred plötzlich vor.

»Ich liebe Wibele-Torte!«, stimmte Ulrike, seine Frau, zu.

Wenige Minuten später ergatterte die Gruppe einen Platz auf der begehrten Sonnenveranda des Café Bauer, von der aus man eine überwältigende Aussicht ins Tal Richtung Bächlingen hatte. Diejenigen von den MFHC, deren Bikes nicht über ein Case verfügten, hatten ihre Helme an der Garderobe gelassen, und alle genossen die wärmenden Strahlen der Sonne, denen man hier voll ausgesetzt war. Und noch ein bisschen später hatten sich alle ein Stück dieser leckeren Torte bestellt, für die das Café Bauer berühmt war, knusperten Wibele dazu und tranken Kaffee.

Christine beobachtete die Susi. Die schöne, tolle Susi, hinter der sie alle her schmachteten. Die Susi. Die blöde Schlampe, die alle Männer verrückt machte. Dabei war sie liiert, man munkelte, mit einem von den ganz Großen. Aber das genügte der schönen Susi nicht, sie brauchte mehr. Christine bezweifelte, dass sie die Heerschar der älteren sabbernden Kerle, die sie beständig angierten, tatsächlich ranließ. Und natürlich war ihr nicht entgangen, wie Richard dieses Weib mit Blicken verschlang. Ungeniert anstierte, auch in ihrer Gegenwart, das war ihm scheißegal. Oder er hielt sie für zu blöd, es zu bemerken. Beides war gleich beschissen. Ein Lachen perlte von den sinnlichen Lippen der schönen Susi, weil der bedauernswerte junge Schönling Timo, der ihr hoffnungslos verfallen war, wohl irgendeinen dümmlichen Witz gemacht hatte. Und das, obwohl der auch eine Freundin hatte, eine ganz nette. Die Susi konnte sie alle haben, anders als sie, Christine. Sie sah zwar auch nicht schlecht aus und war eigentlich ganz zufrieden mit sich. Aber an die schöne Susi kam sie nicht heran, denn die war einfach eine Sexbombe. Und das war okay, es gab solche Frauen und würde sie immer geben. Aber wenn die einmal ihren Richard anfassen würde, dann gnade ihr Gott.

Lisa und Heiko schlenderten unterdessen weiter Hand in Hand durch das sonnenbeschienene, frühlingshafte Bartenstein, und Sita wartete ebenso geduldig wie Heiko, wenn Lisa irgendeinen Krempel anschauen oder kaufen wollte. Irgendwann fand Heiko auch mal was, einige Fossilien aus dem Jagsttal, Hohenloher Muschelkalk und roten Jaspis für seine Mineraliensammlung im Büro. Und schließlich beschlossen sie, eine Pause zu machen und einen Kuchen zu essen.

Die Gruppe der MFHC hatte fast zwei Stunden lang die Aussicht über das Jagsttal Richtung Bächlingen genossen, im Westen lag das Fürstenschloss und im Osten das Mawell, »Mayer’s Wellness«, wo die Hohenloher in einem Wellness-Park entspannen konnten. Es war traumhaftes Wetter, und man beschloss, gemeinsam weiterzufahren, in Richtung Braunsbach.

Richard nahm seinen Helm von der Hutablage, genau wie einige andere. Kurze Zeit später hatten sie wieder den Parkplatz zwischen dem Automuseum und dem Hohenloher Kunstverein erreicht. Richard Wengert strich sich eine Strähne seines lockigen mittelbraunen Haares zurück, setzte seinen Helm auf und wunderte sich nur kurz über den etwas seltsamen Geruch. Wirklich ekelhaft, er würde mal wieder ein Reinigungsspray anwenden müssen.

Zwei Minuten später saßen alle auf, er warf Christine einen letzten freundlichen Blick zu, den sie nickend erwiderte. Dann schielte Richard noch einmal verstohlen zur schönen Susi, die soeben ihre lange vorhangartige Wallemähne unter ihrem rabenschwarzen Helm zu bändigen versuchte. Sie sah ebenfalls zu ihm her, erlaubte sich ein kleines, vielleicht etwas spöttisches Lächeln und zwinkerte ihm zu, was Christine Gott sei Dank vollkommen entging. Wie ihr sowieso das meiste entging, aber so war das nun mal nach 20 Jahren Ehe. Richard nagte an seiner Unterlippe, seine Zungenspitze schoss kurz hervor, ach Gott, die Susi war ja so heiß!

Und dann starteten sie, drehten das Gas hoch, und wie immer war es ein erhebendes Gefühl, im Pulk Motorrad zu fahren, als Gruppe, welche die Leute zwar nicht fürchteten, wohl aber ein klein bisschen respektierten. Sie schwenkten nacheinander mit eleganten fließenden Bewegungen nach rechts in die kleine Steige in Richtung Bächlingen ein, über die sie auch gekommen waren, denn die Strecke war einfach wunderschön. Alle hatten sie unterschiedliche Maschinen, es war alles dabei – Allrounder, Tourer, Chopper, Enduros. Ein paar Meter, die mit einiger Steigung nach unten verliefen.

Plötzlich fühlte Richard auf seinem grellblauen Tourer Übelkeit in sich aufsteigen. Er wunderte sich – das konnte doch nicht sein, er hatte nicht mehr spucken müssen, seit er sich vor zehn Jahren auf dieser blöden Kreuzfahrt das Norovirus eingefangen hatte. Irritiert runzelte er die Stirn unter seinem hellblauen Helm mit dem silberfarbenen Blitz, spürte, wie ihm die Wibele-Torte wieder hochkam, die war aber doch gut gewesen? Krampfhaft bemühte er sich, trotz seines aufsteigenden Brechreizes die Lenkstange ruhig zu halten beziehungsweise im richtigen Winkel zu den Kurven der unerbittlichen Serpentinen. Die Strecke erforderte höchste Konzentration, und da würde er …

Richards Sicht trübte sich, er bekam Herzrasen, der Schweiß brach ihm unvermittelt aus und rann salzig in seine Augen. Gleichzeitig sprudelte ein Schwall Erbrochenes in seinen Helm. Wengerts Organismus pumpte Unmengen Adrenalin in seinen Körper, in sein explodierendes Herz, das bei dem rasenden Tempo kaum mehr mitzuhalten vermochte. Nach ein paar Sekunden kapitulierte es, setzte einfach aus, erst einen Schlag, dann einige weitere. Er schaffte es noch, korrekt auf die S-Kurve zuzusteuern, aber dann fuhr er einfach geradeaus weiter. Das Motorrad bäumte sich an dem kleinen Hang auf, schanzte augenblicklich nach oben, schleuderte Richard Wengert vom Sitz, und das Letzte, was er in seinem Leben wahrnahm, waren ein blühender Obstbaum und der wolkenlose Hohenloher Himmel, bevor er sich beim Aufprall am Baumstamm das Genick brach.

Sebastian Werner war einer der Polizisten, die zum Unfallort gerufen worden waren. Wie es der Zufall wollte, handelte es sich um ebenjenen Polizisten, der eine Woche zuvor beim Motorradgottesdienst vor der Haller Michaelskirche zur Vorsicht im Verkehr gemahnt hatte, denn ein jeder Verkehrstoter war eine schwere Belastung für ihn und die Kollegen, auch psychisch. Und natürlich war ihm bewusst, dass das müßig war, dass die Leute fuhren, wie sie wollten. Und dass sie nicht wirklich damit rechneten, dass ihnen etwas passieren könnte. Weil die schweren Unfälle ja immer nur den anderen passierten. Obwohl es bisher seines Wissens keinen einzigen Biker-Gottesdienst gegeben hatte, bei dem die Gläubigen ein Jahr später noch in derselben Besetzung gewesen waren. Irgendeinen erwischte es halt immer.

Sebastian Werner seufzte schwer, er hätte es wirklich begrüßt, wenn es dieses Jahr noch ein klein wenig gedauert hätte. Nun gut, immerhin hatten er und seine Kollegin es hier wohl leicht, die Sache war eindeutig: Kontrollverlust in der Kurve. Das Übliche, vor allem, wenn die Kerle getrunken hatten. Vorbei an den vollkommen schockierten Bikern, die wie Ölgötzen am Wegrand neben ihren Maschinen standen, ging Werner die paar Schritte über die blühende Wiese auf die Leiche zu. Eine hemmungslos schluchzende Frau beugte sich über den grotesk verrenkten Leichnam und ein junger Mann kniete ebenso fassungslos daneben. Der Polizist murmelte beruhigend auf die Frau ein, als wäre sie ein scheues Pferd, und bat sie, ihn einen Blick auf den Toten werfen zu lassen. Er winkte zwei der Sanitäter herbei, der eine fasste die Frau mit sanfter Gewalt am Arm, der andere kümmerte sich um den jungen Mann, und die beiden wurden in Richtung des Krankenwagens geführt. Sebastian Werner wandte sich wieder der Leiche zu, schnupperte, zog die schmale Nase kraus und wunderte sich. Er beschloss, dass es wohl doch besser wäre, den Staatsanwalt anzurufen. Und der meinte, dass sich das schon so anhören würde, als solle man da mal die Kripo und die Spurensicherung hinschicken, nur so zur Sicherheit.

Sita, Lisa und Heiko waren bei einer Heidelbeer-Sahne-Torte und einer Limonade der Eico-Quelle aus Wallhausen sowie einer Schale Wasser für den Hund vor dem schön geschmückten Brunnen auf dem Dorfplatz in Bartenstein auf einer Bierbank gesessen, als der Anruf sie erreicht hatte. Der Kollege hatte einigermaßen schockiert geklungen, es handelte sich wohl um einen Motorradunfall, bei dem er sich über die Umstände wunderte. Genaueres hatte er am Telefon nicht verlauten lassen, sondern nur darum gebeten, dass sie so schnell wie möglich herkämen. Eigentlich war es Glück gewesen, dass der Anruf Heiko überhaupt erreicht hatte, denn in Bartenstein gab es nicht immer Netz, Internet konnte man jedenfalls vergessen. Heiko beendete das Gespräch, seufzte verdrossen wegen des verdorbenen Feiertags, stopfte sich mit einigem Bedauern den letzten Bissen Torte in den Mund und spülte mit Kaffee nach. Lisa hatte ihren Kuchen schon gegessen, und wenige Minuten später waren sie auf dem Weg über Riedbach, wo sich das »Franken Bräu« befand, und das fußballbegeisterte Billingsbach und dann weiter nach Bächlingen.

Inzwischen hatten die Kollegen die Bächlinger Straße abgesperrt, und Heiko manövrierte den M3 um die Barriere herum die Straße hinauf zur dritten Kurve. Hier war eine Gruppe von Bikern versammelt, die mit ihren überwiegend schwarzen Anzügen auf den ersten Blick wirkten wie eine Kolonne riesiger Ameisen. Heiko parkte den Wagen am Wegrand, und die Kommissare stiegen aus. Den Hund ließen sie zähneknirschend im Auto, und Heiko musste beruhigend auf Sita einreden, damit sie es sich im Fußraum bequem machte. Ein Krankenwagen stand mitten auf der Straße, Sanitäter in der üblichen weiß-roten Kluft eilten zwischen den Mitgliedern der Gruppe umher. Heikos Blick schweifte nach links oben in Richtung Langenburg, und er bemerkte zahlreiche Schaulustige, die sich an der östlichsten Ecke der Veranda des Café Bauer versammelt hatten und von dort aus auf das Geschehen hinunterstarrten, als sei dies eine Opernaufführung und das Langenburger Traditionscafé der obere Rang. Allerdings war die Menschenmenge von hier aus nur als undefinierbarer Pulk zu erkennen, Langenburg war einfach zu weit weg. Heiko fluchte innerlich, weil er von hier unten nichts gegen die Gaffer unternehmen konnte, allerdings gab es gerade auch Wichtigeres.

»Das ist doch der Kollege«, meinte Lisa und deutete auf einen blonden Hünen mit den feingeschnittenen Gesichtszügen, der soeben seine Mütze in den Händen drehte, um sie neu aufzusetzen.

»Hallo, Herr Werner«, grüßte Heiko, wobei er sich mit dem Siezen ein bisschen schwertat. Immerhin war er etwas älter als der Kollege, und in Hohenlohe duzten sich sowieso fast alle. Im Pressler musste man während der Muswiese sogar eine Runde Schnaps zahlen, wenn man es wagte, sein Gegenüber zu siezen. »Wüst und Luft von der Kriminalpolizei«, stellte er sich und Lisa vor.

»Ach ja«, sagte der Kollege und erklärte dann: »Ich bin der Sebastian.«

Heiko atmete auf, das würde die Sache vereinfachen.

»Heiko und Lisa«, informierte Lisa, während der Kollege sie zur Leiche führte.

»Wieso rufst du denn da uns an?«, wunderte sich Heiko. »Ist das kein normaler Motorradunfall?«

Sebastian schürzte die Lippen. »Natürlich sieht das erst einmal so aus.«

Sie waren bei der Leiche angekommen, einem gut trainierten Mann Anfang 50 im Lederdress, der wie eine verrenkte Puppe neben einem blühenden Obstbaum zum Liegen gekommen war. Das Genick war gebrochen, das war deutlich zu sehen, obwohl er den hellblauen Helm mit dem silberfarbenen stilisierten Blitz noch trug, denn der Kopf war auf unnatürliche Weise nach hinten überstreckt.

»Genickbruch, oder?«, fragte Lisa.

Unbemerkt war Uwe von hinten an sie herangetreten, er trug einen weißen Overall der Spurensicherung. Die Haller waren noch nicht anwesend, sie würden aber sicherlich gleich kommen. Zu Mordfällen wurden nämlich auch immer Kollegen der Haller Spurensicherung hinzugezogen, quasi zur Verstärkung.

»Hallo, Lisa, hallo, Heiko«, grüßte er und schloss zu ihnen auf.

»Ach, dr Kolleech«, grüßte Heiko zurück. »Was sagst du denn dazu?«

»Natürlich hat der einen Genickbruch. Aber das ist noch nicht alles.«

»Sondern?«, fragte Lisa nach, während Heiko innerlich die Augen verdrehte. Er hasste es, wenn Uwe sich derartig bitten ließ. Allerdings legte Lisa immer eine stoische Geduld an den Tag, wenn es darum ging, Informationen aus dem Crailsheimer Spurensicherer herauszukitzeln. Geduld – eine Eigenschaft, die Heiko als echtem Hohenloher definitiv fehlte.

Uwes haarloser Kopf mit dem kleinen Bärtchen und den dunklen Augen ruckte in die Richtung von Sebastian Werner. »Dem Kollegen ist was Komisches aufgefallen«, führte er weiter aus.

Werner nickte. »Ja, und zwar ist da viel Erbrochenes.«

Nun beugten sich die beiden Crailsheimer Kommissare über die Leiche, und tatsächlich, aus dem Visier des Helms sickerte eine arg unappetitliche grünliche Brühe mit nicht näher definierbaren Brocken. »Kann das nicht sein, dass der brechen musste, weil er so schockiert war, dass er neben rausfährt?«, schlug Heiko vor.

Uwe schüttelte den Kopf. »Es ist verdammt komisch, dass er es nicht geschafft hat, rechts ranzufahren. Normalerweise kann man das Brechen ja kurz zurückhalten.«

»Auch, wenn man betrunken ist?«

»Nach Aussagen der Mitfahrer hatte er nur Kaffee und Limonade intus. Er sei diesbezüglich sehr pedantisch gewesen.«

»Hm.« Lisas Blick blieb an einem bläulichen Schmetterling hängen, der sich neben der Leiche aus dem Gras erhob und in den wattewolkigen Himmel aufstieg.

»Also, mir war es jedenfalls ein bisschen suspekt«, meinte Werner, »und lieber einmal zu oft die Kripo geholt als einmal zu wenig. Denn immerhin könnte der ja auch vergiftet worden sein, wer weiß?«

»Das ist eine Vermutung«, stellte Heiko fest. »Nicht mehr.«

Uwe nickte. »Ja. Aber du wirst mir ja zustimmen, dass man da lieber eine Obduktion macht. Für den Fall der Fälle. Und fasst den Kerl bloß nicht an!«

Zur gleichen Zeit schoss »Ridewithflitzi« einige Fotos für seinen Instagram-Account. Er hatte die Dachterrasse des Café Bauer kaum betreten, als ihm sofort die Menschenmenge aufgefallen war, die den Unfall beobachtete. Und sogleich hatte er ein paar Leute ausgefragt, einfach, weil es ihn interessierte. Anscheinend hatte es ein bisschen gedauert, bis die Leute es kapiert hatten, denn es war sozusagen ein »leiser« Unfall gewesen. Quasi ein leiser Knall. Markus erwischte sich dabei, wie er den Unfall irgendwie cool fand, wie er ihm ein wohliges Gruseln verursachte. Wie in einem Horrorfilm, den man selbst erlebte, in dem man der Protagonist war. Er hatte der Versuchung widerstanden, ein paar Fotos zu knipsen, obwohl die Kamera seines Handys verdammt gut war, sie war ja sein Arbeitsgerät. Er hatte bereits jetzt über 11.000 Follower, was für die hiesige Gegend gar nicht schlecht war. All seine Posts taggte er mit so vielen Hashtags, wie ihm einfielen, das war heutzutage das Wichtigste, um Aufmerksamkeit zu erzielen. Er bekam schon Anfragen von Firmen, die wollten, dass er ihre Produkte promotete. Aber für seinen Geschmack waren immer noch zu viele schwarze Schafe dabei, bei denen er die Sachen erst mal kaufen sollte, und das war ja nun nicht Sinn der Sache. Er wollte ein Star werden, der Influencer im Bereich Motorcycling. Und er würde es schaffen, da war er sich ganz sicher. Auch, wenn es genügend Hater gab, die ihn mobbten, weil sie neidisch waren oder weil sie ihn einfach lächerlich fanden. Die würden sich noch umgucken, wenn er Millionen scheffeln würde. Okay, Millionen waren wohl tatsächlich nicht ganz realistisch. Hunderttausende schon. Immerhin war er keine Frau, wie die scharfe »Biker-Suzy«, die er früher am Tag beim Rumlaufen entdeckt hatte und die er vom Instagram kannte.

Markus Unger zückte sein Handy, richtete die coole Lederjacke und machte ein Selfie in Richtung Bächlingen, um Minuten später zu posten: Saugeiler Tag heute in #Langenburg, wo ich mit dem #Bike unterwegs bin. Gewohnheitsmäßig fügte er noch circa 20 andere Hashtags hinzu wie #motorcycle, #motolifestyle, #bikersofinstagram, #superbikes, #2wheelslovers, #bikers, #bikewars, #motorcyclelife, #featureme, #motorradliebe, #hohenlohe oder #nakedbikes. Er dachte kurz nach, bevor er ergänzte: #unfall #ostermontag #bächlingen #crash #todesopfer #verkehrstote #verkehrssicherheit #unfälle #wasistpassiert #todesfall. Denn das würde sicherlich ein paar Follower mehr bringen.

Der zierliche, etwas durchgeistigt wirkende Sanitäter hatte den Kommissaren schlichtweg verboten, sich mit der Frau und dem Sohn des Opfers zu unterhalten, die beide auf Pritschen im Krankenwagen saßen. Die seien definitiv nicht in der Lage dazu, den Kommissaren Rede und Antwort zu stehen. Heiko sah zu der eigentlich hübschen Frau mit der blonden Kurzhaarfrisur hin, die jetzt arg verheult wirkte, und zu dem jungen, ebenso blonden Mann um die 20, dessen Gesicht absolut ausdruckslos war. Sebastians Partnerin stand dabei und kümmerte sich um die Versorgung der vollkommen schockierten Angehörigen.

»Tja, da kann man wohl nichts machen«, stellte Lisa fest.

»Ist ja auch wirklich verständlich.« Heiko nickte und zückte seine Kippenschachtel.

Ausnahmsweise protestierte Lisa einmal nicht, als er sich mit fahrigen Fingern eine anzündete. In letzter Zeit nervte sie ihn sehr mit dem Aufhören. Aber auf den Schreck einer Leiche hin war es wohl durchaus legitim, eine zu rauchen. Er schloss die Augen, sog tief den Rauch in seine Lungen ein, der brannte gut.

»Reden wir mit den anderen?«, schlug Lisa vor.

Heiko zog noch einmal an der Kippe, nickte und schnippte sie in den Graben, der in entgegengesetzter Richtung zur Leiche lag, um Uwes Spurensicherungs-Zorn nicht auf sich zu ziehen.

Sie erreichten nach wenigen Schritten den Pulk Menschen, die ihre Helme abgenommen hatten und augenblicklich verstummten, als die Kommissare zu ihnen traten. Es handelte sich um sechs Biker aller Altersklassen. Zwei davon waren Frauen, die eine Ende 50, die andere etwas über 20 und ausnehmend hübsch.

Heiko räusperte sich, was eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre, denn alle sechs sahen zu ihm hin. »Wüst und Luft von der Kriminalpolizei«, begann er.

Allgemeines Nicken.

Er fuhr fort: »Sie sind mit dem Mann in der Kolonne hier runtergefahren?«

Wieder allgemeines Nicken.

»Wer war denn direkt hinter ihm?«, schaltete sich Lisa ein.

Ein junger Kerl etwa Mitte 20 hob die Hand. Er trug das aschblonde Haar lang und hatte es mit einem Gummi im Nacken zu einem dünnen Pferdeschwanz gebunden. Seine stämmige, etwas untersetzte Figur steckte in einer Lederhose mit Nieten und einer ledernen Kutte mit diversen Aufnähern. Heiko konnte eine Spinne erkennen. Er straffte sich, als Heiko das Wort an ihn richtete. »Wie heißen Sie denn?«

»Bullinger, Jan.«

»Also, Herr Bullinger, ist Ihnen irgendwas aufgefallen?«

Der Mann zuckte die Achseln und meinte mit einer Stimme, die eigentlich zu hoch für ihn schien: »Komisch geschwankt hat er schon die ganze Zeit. Aber ich dachte, der macht das mit Absicht.«

»Wieso das denn?«, wunderte sich Lisa.

»Na ja, ab und zu so ein kleiner Schwenk ist doch was Schönes«, meldete sich ein zweiter Biker zu Wort, ebenfalls ein Jüngerer, der allerdings einen supergepflegten Hipster-Vollbart und zu einer schwungvollen Welle gegeltes Haupthaar zum nietenbesetzten Lederdress trug und einen chromglänzenden Helm unter den Arm geklemmt hatte.

»Und Ihr Name ist?«, wollte Lisa wissen und lächelte dem jungen Mann freundlich zu, etwas zu freundlich für Heikos Geschmack.

»Timo Laukenmann«, informierte der gutaussehende Biker.

»Sie haben das auch gesehen?«, vergewisserte sich Heiko.

Laukenmann nickte. »Ich war hinter dem Jan. Und ich hab mir auch nichts dabei gedacht.«

»Wo waren Sie denn vor dem Unglück?«, fragte Heiko weiter.

Nun war es der Älteste in der Runde, der antwortete. Ein weißer Schnurrbart und längeres, ebenso helles Haupthaar umrahmten sein Gesicht. Seine stechend blauen Augen verliehen ihm eine Aura von Terence Hill. Allerdings passte die stattliche Figur nicht dazu. Er hatte seinen recht voluminösen Leib in einen orange-anthrazitfarbenen Kevlaranzug gezwängt. Vom Modernsten, Feinsten und Teuersten, wusste Heiko. »Ich bin der Vorsitzende von den MFHC, der Manfred Hofmeister. Und das ist meine Frau Ulrike, und hier mein Sohn Simon.« Er wies auf die Frau neben sich, die in seinem Alter war und das mittelbraune Haar zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengefasst hatte. Sie trug den gleichen Anzug wie er, natürlich die Damenversion. Auch sie war etwas üppiger. Und auf den dunkelhaarigen, eher unscheinbaren, hageren und großen jungen Mann, dessen Anzug noch teurer aussah als der seines Vaters und der darüber noch eine Weste trug. Das Ganze sah ein bisschen so aus wie eine moderne Ritterrüstung, fand Lisa. »Das hier war unsere Feiertagsausfahrt, und wir waren auf dem Ostermarkt in Langenburg. Genauer gesagt, als Letztes waren wir im Café Bauer.«

»Ach. Und dort haben Sie auch was gegessen?«, erkundigte sich Lisa.

»Ja. Alle das Gleiche. Eine hervorragende Wibele-Torte.«

»Wibe-was?«, hakte Lisa nach.

Heiko grinste. Das war Hohenloher Spezialwissen. Und er war sicher, dass er Lisa schon mal von den Wibele erzählt hatte, offenbar hatte sie es vergessen. »Se Wibele are se trädischonel Biskwit of Hohenlohe Country«, wisperte er und fügte hinzu: »Erklär ich dir später.«

Lisa nickte, jetzt war wohl kaum der richtige Zeitpunkt für derlei Ausführungen. »Jedenfalls haben Sie alle das Gleiche gegessen?«

»Ja, warum?«, fragte Manfred Hofmeister zurück.

»Nur so«, antwortete Heiko frech, das brauchte Hofmeister nicht zu wissen, das würde noch früh genug herauskommen. Gleichzeitig verwarf er seine Idee von der Lebensmittelvergiftung, denn niemand aus der Truppe hatte spucken müssen. »Schlecht ist auch niemandem von Ihnen?«, setzte er nach, um allerletzte Zweifel auszuräumen.

Kollektives Kopfschütteln.

»Ach, und vorher waren wir noch auf der ›Jagsttalranch‹ in Großforst«, fügte Hofmeister hinzu. Heiko nickte und machte sich gedanklich Notizen.

»Jetzt kennen wir alle außer Ihnen!«, richtete Lisa das Wort endlich an die geradezu ätherische Schönheit mit den langen schwarzen Haaren im knallroten Lederanzug, die sich soeben mit einem silbernen Feuerzeug eine dünne Zigarette anzündete.

»Susanne Schneider heiß ich«, stellte sich die Frau vor und zog an der Kippe, blies mit einer ruckenden Bewegung des Kopfes Rauch aus und sah Lisa aus grünen Augen herausfordernd an.

Heiko räusperte sich und beendete damit den direkten Blickkontakt zwischen den beiden Damen. »Sie dachten also, dass der ein bisschen hin- und herschwenkt mit der Maschine, um Spaß zu haben.«

Wieder nickten alle.

»Zumindest die, die hinter ihm gefahren sind. Wir waren ja vor ihm und haben gar nichts mitgekriegt, genau wie die Susi und seine Familie«, präzisierte Manfred.

Heiko brummte, das machte Sinn. »Aber den Unfall haben Sie alle mitbekommen«, vermutete er.

»Der war nicht zu überhören, ja.«

»Richard ist plötzlich geradeaus weitergefahren und über den Hang geschanzt, dann vom Moped gefallen und in hohem Bogen gegen den Baum geknallt«, erklärte Jan.

»Den Luxemburger Bratbirnenbaum«, präzisierte Timo. »Mit so was kenn ich mich aus.«

»Aha«, machte Heiko und sah zu dem betreffenden Obstbaum, den er mit seinem Halbwissen gerade noch als Birnbaum und eben nicht als Apfelbaum identifiziert hätte.

Sie wussten noch nicht definitiv, ob es sich um Mord handelte. Deswegen war es jetzt auch müßig, die Leute allzu genau auszuquetschen, vielleicht sogar kontraproduktiv, falls der Mörder sich unter ihnen befinden sollte. Falls!, denn Heiko zweifelte ja immer noch, ob der Kerl nicht einfach erbrochen hatte, vielleicht doch besoffen, und dann einfach weggetreten war. Vielleicht hatte er Drogen intus gehabt, von denen die anderen nichts wussten. Eine Medikamentenunverträglichkeit wäre ebenso möglich. »Die Kollegen haben Ihre Daten aufgenommen?«, vermutete Heiko. Und Manfred, der Anführer, der Leader of the Gang, nickte. »Mir sinn sowieso alle bei den MFHC.«

Nachdem sich Lisa und Heiko eine weitere Abfuhr bei den Sanitätern abgeholt hatten – die Ehefrau und der Sohn hätten beide einen schweren Schock –, beschlossen sie, nach Langenburg hochzufahren. So wie die Sache aussah, konnte man hier sowieso nicht von einem Tatort sprechen, selbst dann nicht, wenn es sich tatsächlich um Mord handeln sollte. Wenn es sich um einen Mord handeln würde, wäre die ganze Sache unglaublich kompliziert.

»Schauen wir am besten mal ins Café Bauer, wenn die da als Letztes waren. Vielleicht ist ja jemandem was aufgefallen. Und außerdem will ich mal den blöden Gaffern Bescheid geben«, verkündete Heiko.

»Die sind doch längst weg, bis wir da sind!«, glaubte Lisa.

Heiko schnaubte. »Die Hartnäckigen bleiben, bis alles rum ist. Und da oben haben die ja einen Logenplatz.«

Sie waren schon gemeinsam in Langenburg gewesen, natürlich, denn Lisa wohnte jetzt seit vier Jahren in Hohenlohe. Trotzdem war es von Crailsheim aus nicht gerade ein ständiger Zielort. Sie hatten einmal das Schloss besichtigt, das wohl eines der wenigen war, dieeinen offiziellen Hundefriedhof am Fuße ihrer Mauern hatten. Dort parkte Heiko den M3, was nur deshalb möglich war, weil sich am späten Nachmittag die Besucher des Ostermarktes nach und nach gelichtet hatten. Diesmal durfte Sita wieder mit, zum ersten Mal war sie bei einer Ermittlung dabei, und schwanzwedelnd rannte der Dackel voraus. Zahlreiche Menschen kamen ihnen entgegen, die alles Mögliche mit sich schleppten – Heiko kam sich fast wie auf der Muswies vor. Da hatte es auch schon einen Todesfall gegeben, er erlebte sozusagen ein doppeltes Déjà-vu. Sie passierten den Kunstverein und überquerten die Straße in Richtung Altstadt. Heiko zog Lisa von all den Ständen fort, mit der Begründung, dass sie zu tun hätten. Ein angenehmer Nebeneffekt ihrer Ermittlung war natürlich, dass er gleich in den Genuss eines Kaffees und der hervorragenden Wibele-Torte des Café Bauer kommen würde.

Lisa und Heiko erkletterten die teppichbelegten Stufen des Langenburger Traditionscafés. Das andere, das Café Dürr, stand dem »Bauer« in nichts nach. Allerdings mussten sie nun im »Bauer« ermitteln. Und sie würden die wunderschöne Aussicht genießen können, denn die Dachterrasse im »Bauer« bot einen fantastischen Blick über das gesamte Jagsttal in Richtungen Bächlingen, von den Hohenlohern nur »Bächli« genannt. Und tatsächlich hatten sie Glück. Nachdem sie das etwas antiquiert, aber überaus stilvoll in Rosatönen eingerichtete Café, das von schweren, alten Art-Déco-Messinglampen illuminiert wurde, durchquert hatten und hinaus auf die lichtdurchflutete Terrasse getreten waren, standen soeben zwei ältere Damen an der Wand auf, und Lisa und Heiko konnten den Tisch in Beschlag nehmen.

Die Bedienung, eine junge blonde Dame mit kessem Pferdeschwanz und sehr schlanker Figur, räumte eilfertig die beiden Eiscafébecher weg und wischte den Tisch ab, um ihnen anschließend mit aufforderndem Lächeln zwei Speisekarten hinzulegen. Nachdem sie sich bedankt hatten, fixierte Heiko die Tische direkt an der Brüstung, wo sich die Leute mit etwas zu trinken und dem einen oder anderen Tortenstück so postiert hatten, dass sie einen hervorragenden Blick auf das Tal hatten. Nach wie vor saßen die Menschen am kleinen Erker, der über den Rest des Geländes ragte, dichter gedrängt als auf dem Rest der Veranda. Nicht alle gafften offensiv, aber kaum einer linste nicht alle paar Sekunden verstohlen hinüber, um zu sehen, ob es neue Entwicklungen gab und vielleicht endlich die Leiche abtransportiert wurde, denn das wäre eine willkommene Abwechslung im manchmal so tristen hohenlohischen Alltag.

»Und hier haben die also – wie heißt das noch mal – Wibele-Torte gegessen?«, fragte Lisa.

»Ja, Wibele sind das Langenburger Nationalgebäck – allräddi entschoid bei Her Mädschesty Kwiin Victoria«, erläuterte Heiko.

»Und wieso redest du jetzt auf einmal Englisch?«, wunderte sich Lisa.

»Weil es da eine ganz kultige Rede von 1961 gibt, in der der Langenburger Bürgermeister der frisch inthronisierten Queen Elisabeth Wibele schenkt. Dabei konnte der arme Mann gar kein Englisch, und die Queen hat’s vor Lachen fast verrissen.«

»Echt? Das müssen wir mal anschauen. Gibt’s das online?«

»Klar, man muss nur ›Queen‹ und ›Langenburg‹ eingeben, dann findet man’s.«

»Soso.«

»Ja, und Prinz Philipp soll anschließend gesagt haben: ›Hätte er Deutsch gesprochen, dann hätte ich ihn verstanden.‹ Dabei hat der Bürgermeister die Rede extra vom Schuhleerer übersetzen lassen und das Ablesen mehrfach geübt.«

»Von wem?«

»Vom Englischlehrer. In Hohenlohe ›Schullehrer‹ genannt. Hört sich aber meistens eher wie ›Schuhleerer‹ an.«

»Aha.« Lisa grinste und wunderte sich dann: »Und was macht die Queen in Langenburg?«

»Ich glaube, Philipp ist der Bruder von Fürst Krafts … Mutter?«

»Kraft?«

»Der Vater des jetzigen Fürsten.«

»Ach so.«

»A reechder Mou!«

»Wer?«

»Der Fürst. Fürst Philipp.«

»Ach so. Na, dann essen wir doch mal so eine Wibele-Torte, oder?«, schlug Lisa vor und visierte die Bedienung an, die augenblicklich mit einem gezückten Tablet erschien und mit leicht hochgezogenen, perfekt gezupften Augenbrauen nach ihren Wünschen fragte. Lisa und Heiko bestellten die Wibele-Torte, Heiko einen Kaffee dazu und Lisa einen Latte Macchiato.

»Und, was denkst du? War es Mord?«, wollte Lisa wissen und riss Heiko, der wieder sinnierend in Richtung Tal geschaut hatte, damit aus seinen Gedanken. Der hohenlohische Kommissar zuckte die Achseln und fuhr sich mit der großen Hand durchs Haar, das ehemals beinah schwarz gewesen war, nun aber deutlich von grauen Stellen durchzogen wurde – immerhin gingen sie beide inzwischen auf die 40 zu.

»Rein vom Bauchgefühl her, meinst du?«

»Ja. Nur so.«

»Dann … inzwischen … irgendwie ja. Ich weiß nicht, warum. Ist nicht das Naheliegendste, aber könnte sein.«

»Wir werden sehen«, meinte Lisa und folgte mit Blicken der Bedienung, die erst an einem anderen Tisch einen Kaffee abstellte und anschließend zu ihnen kam und die Tortenstücke und Getränke lieferte. »Das sieht ja toll aus«, fand Lisa und betrachtete begeistert die cremefarbene Köstlichkeit mit den knusprigen Wibele als Krönung. Zwei kakaodunkle Böden mit einer Schokolade-Wibele-Creme dazwischen, darüber ein heller Bisquit, alles mit mehreren Schichten Sahnecreme, Schokosoße, Sahne und natürlich Wibele als Topping. Über Kalorien sollte sie da nicht nachdenken, wollte sie kein schlechtes Gewissen bekommen. Sie hatte ein paar Kilo zugenommen, seit sie hierhergezogen war. Aber sie ging immer noch als schlank durch und gefiel sich.

»Sie, entschuldigen Sie bitte«, bremste Heiko die Bedienung aus, die schon wieder den Rückzug antreten wollte.

»Ja?«, erwiderte die Dame, bemüht freundlich – sie war offenbar im Stress.

»Vor ungefähr zwei Stunden war hier eine Gruppe Biker«, begann Heiko.

Die Dame tat gar nicht erst so, als wüsste sie nicht, was Heiko meinte. »Ist einer von denen da unten verunglückt?«, fragte sie zurück, flüsternd und irgendwie ehrlich schockiert.

Heiko nickte. »Ja.«

»Und welcher?«

»Ein Mann um die 50.«

»Mit Schnurrbart?«

»Nein, ohne. Erinnern Sie sich?«

Die Bedienung dachte kurz nach und meinte dann: »Ja. Aber der mit Schnurrbart hat mehr Trinkgeld gegeben.«

Heiko biss sich auf die Lippen, um sich sein innerliches Grinsen nicht anmerken zu lassen. So wurde man von Servicefachkräften in Erinnerung behalten.

»Sie glauben gar nicht, wie viel Gewese manche um zehn Cent machen!«, erläuterte die Bedienung, die offenbar seinen Gedankengang erraten hatte. »Da freut man sich eben über ein anständiges Trinkgeld.«

»Hm«, machte Heiko. »Können Sie sich sonst noch an was erinnern, bei der Gruppe?«

»Eine ausnehmend Hübsche war dabei. Hat wie ein Model ausgesehen.«

»Ach, tatsächlich?«, wunderte sich Lisa, obwohl Heiko sofort klar war, dass damit Susanne Schneider gemeint sein musste.

»Ja, und die vier jüngeren Kerle haben die die ganze Zeit zu unterhalten versucht, aber die hat meistens auf ihrem Handy rumgedrückt und zwischendurch so ziemlich allen heiße Blicke zugeworfen.«

»Wirklich allen? Auch dem mit dem wenigen Trinkgeld?«

»Wenig war es ja nicht«, relativierte die Servicefachkraft. »Nur weniger.«

»Ach so, ja«, erinnerte sich Heiko. »Jedenfalls – dem auch?«

Die junge Frau zuckte die Achseln, bevor sie antwortete: »So genau hab ich das nicht mitgekriegt. Aber die anderen beiden Damen waren, glaub ich, nicht so gut auf die zu sprechen. Die haben sich nur miteinander unterhalten.«

Wie ungewöhnlich!, dachte Lisa sarkastisch. Kein Wunder, wenn man eine solche Erscheinung im Motorradclub hatte. Da war die Konkurrenz ja uneinholbar. Die Kommissare begannen nebenbei, ihre Torte zu essen und den Kaffee zu trinken, alles schmeckte ganz wunderbar.

»Wir müssten auch noch die Gäste befragen«, erklärte Heiko der jungen Frau, die jetzt etwas unschlüssig ihr Tablet in den Händen drehte.

»Da muss ich die Geschäftsleitung fragen«, meinte sie unbestimmt.

»Das müssen Sie nicht«, widersprach Heiko, »wir befragen die Herrschaften so oder so. Aber wir versprechen, diskret vorzugehen.«

Die Bedienung stieß Luft durch die gespitzten Lippen aus, war offenbar etwas ratlos, drehte weiter das Tablet. Dann wurde sie an einen anderen Tisch gerufen und verschwand beflissenen Schrittes.

»Unglaublich, was die in so kurzer Zeit über diese Motorradler rausgekriegt hat«, fand Lisa und betrachtete ein Wibele, um die eine Hälfte abzubeißen und den vanilligen Zuckerschaum zu genießen. Die andere Hälfte landete in Sitas Maul.

»Manche haben halt eine gute Beobachtungsgabe«, erklärte Heiko und nahm einen Schluck aus seiner Tasse.

»Und wie sollen wir jetzt weiter vorgehen? Denkst du, die Familie ist heute Abend ansprechbar?«, überlegte Lisa.

»Das können wir probieren. Der Uwe wird ja seine Ergebnisse nicht vor morgen haben.«

»Wenn der Kerl wirklich vergiftet worden ist, dann ist das da unten auch kein Tatort«, machte Lisa weiter.

»Dann haben wir ein Problem«, seufzte Heiko. »Aber das wäre nicht unser erster komplizierter Fall. Denk mal an den Klingler, der lag ja schon zwei Wochen im Holzboden.«

»Ja, das war nicht schön«, stimmte Lisa zu und dachte voller Schaudern an den damaligen Leichenfund zurück.

Später befragten sie noch die Gäste, vor allem die Gaffer, die sämtlich ahnungslos taten, aber niemand konnte etwas Brauchbares zum Fall beitragen.

Es war Nacht am Degenbachsee, einem kleinen See bei Alexandersreut in der Nähe von Weipertshofen. Der silberne Mond spiegelte sich im Wasser, und der See wäre recht ruhig und friedlich dagelegen, hätte hier nicht ein weiteres Motorradtreffen stattgefunden. Hier ging es allerdings nicht so gediegen zu wie in Langenburg, keines der Mitglieder der »Tarantel« wäre dazu zu bewegen gewesen, auf den dortigen Ostermarkt zu gurken und dort Kaffee und Kuchen in sich hineinzustopfen, bevor man brav und gutbürgerlich wieder nach Hause fuhr, um nach dem Sandmännchen oder vielleicht noch der Tagesschau artig ins Bett zu gehen. »Kaffeefahrt« nannten sie verächtlich das, was manche Vereine in der Gegend veranstalteten, hochgradig lächerlich war das. Nein, die »Tarantel« war ein richtiger Motorradclub, nicht so ein Pussy-Verein wie die MFHC, das fanden die Mitglieder zumindest. Im Gegensatz zu den MFHC hatten die »Taranteln« eine Kutte, wie es sich gehörte. Eine lederne, echte, mit einem Tarantelaufnäher. Taranteln waren gefährliche Tiere, unberechenbar, und das passte. Es war noch zu kalt zum Baden, aber einige hatten trotzdem ihre Shirts ausgezogen und wärmten die noch winterlich blasse Haut mit mal mehr und mal weniger Haaren am Feuer, das sie gemacht hatten. Die normalen Leute hatten sich längst vom See verzogen. Überhaupt wurde der Degenbachsee um diese Jahreszeit höchstens von ein paar Verrückten besucht, die die Freibadöffnung nicht abwarten konnten und unbedingt in der freien Natur schwimmen mussten.

Sven Kochs alter Gewerbeschullehrer, dem sie beim Betreten des Geländes begegnet waren, war einer von diesen Spinnern. Sven hatte ihn eigentlich immer ganz gut leiden können. Er hatte ihn vergleichsweise nett gegrüßt, und der Herr Streng hatte den Gruß freundlich erwidert. Allerdings würde der alte Lehrer nicht gutheißen, was Sven alles trieb. Damit konnte Sven aber leben, denn er hatte ein gutes Leben.

Er sah wieder auf die Uhr, die Susi hatte noch kommen wollen. Die hirnlosen Schlampen, die Heinz mitgebracht hatte und die Alex schon mehrfach zum Aufstöhnen gebracht hatten, begannen, ihm auf die Nerven zu gehen. Er hatte es übertrieben gefunden, dass Heinz den Damen Shirts mit dem Aufdruck »Property of Tarantel Hohenlohe« gemacht hatte, welche die sogar brav trugen. Seine Susi war da ein ganz anderes Kaliber. Die war nicht nur schön. Auch, wenn er es niemals zugegeben hätte: Es reizte ihn, wenn Frauen selbstständig dachten. Und die Susi würde sich niemals so ein Shirt anziehen, denn sie sah sich nicht als sein Besitz, auch, wenn er das schon irgendwie gut gefunden hätte, es wäre einfach. Und natürlich ließ er in seinen Beziehungen niemals einen Zweifel daran, dass er der Chef war, ganz klar. Auch und vor allem im Bett. Aber die Susi forderte ihn heraus, die ließ sich nicht alles gefallen. Das war gar nicht schlecht. Anders als den vielen anderen zuvor hatte er ihr auch noch nie eine geklebt, er mochte sie einfach viel zu sehr.

»Svennnn!«, grölte Florian, einer, der noch nicht allzu lange dabei war, sich aber ganz gut machte, vor allem im Verticken von Sachen auch gar nicht schlecht war.

»Hey!«, meinte der »Tarantel«-Boss und fuhr sich durch den perfekt getrimmten Bart, bevor sie beide vom guten Crailsheimer Engel-Export tranken, das hier neben dem ebenso guten Riedbacher Franken Bräu in mehreren Kästen bereitstand.

»Kommt die Susi heut nicht?«, lallte er, und Sven konnte ein gieriges Leuchten in seinen Augen sehen.

Sein Blick verfinsterte sich, und er packte den verdutzten Florian am Shirt, um ihn nah zu sich heranzuziehen, extrem nah. »Du läsch die Finger von ihr, gell!«, drohte er und sah den rotblonden Mann schlucken. Er schubste ihn ein klein wenig nach hinten, mit gerade so viel Energie, dass der Angetrunkene sich noch fangen konnte.

»Aber, Sven, wo denksch du nou!«, grinste er. Als er seine Kutte wieder gerichtet und einen weiteren Schluck aus der Bierflasche genommen hatte, fügte er hinzu: »Nur gugga!«

Sven sah ihn für eine Sekunde ernst an, schließlich grinste er und prostete ihm zu. »Gugga deffsch du, soulang du moochsch! Aber net noulanga!«

Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr, sie war katzenartig, und kurz war er irritiert, aber dann erschien sie ihm allzu vertraut. So bewegte sich nur eine. »Susi, meine Wildkatze!«, grüßte er sie auf Hochdeutsch. »Da bist du ja endlich, Baby! Wir haben grade von dir gesprochen.«

Die Angesprochene legte ihren Helm auf einem größeren Stein ab. Sie trug ihre rote Lederkluft, und das machte ihn heiß, wahnsinnig heiß. Er würde sie nachher richtig rannehmen, von hinten, und sie dabei an den langen Haaren ziehen, denn das turnte sie richtig an.

»Hey, Boss«, grüßte sie ihn mit einem Augenzwinkern. Er wusste, dass sie das hochgradig ironisch meinte, doch das schnallten die meisten seiner Jungs gar nicht, und sie tat ihm den Gefallen, um seine Position zu stärken. Er war der Anführer, bei ihm liefen die Fäden zusammen, bei ihm …

Sie drückte ihm einen Kuss auf den Mund, warm und feucht, und ihr Haar fiel wie ein Vorhang um sein Gesicht. »Hast du mich vermisst?«, fragte sie mit ihrer rauen, leicht kehligen Stimme.

»Kaum«, meinte er mit gespielter Ablehnung. »Du bist heute fremdgegangen«, tadelte er und gab ihr einen Klaps auf den kleinen, runden, festen Po. Das mochte sie, auch im Bett.

Susi schenkte ihm einen Augenaufschlag. »Hast du schon das mit dem Richard mitgekriegt?«, erkundigte sie sich und nahm mit kleinem huldvollem Nicken eine Bierflasche an, die Florian ihr hinhielt.

»Wer ist Richard?«, fragte Sven zurück und legte seine große Hand auf ihren runden Arsch. Dann brachte er seinen Mund ganz nah an ihr Ohr und leckte mit seiner Zunge ihr Ohrläppchen. »Ist das dein Neuer? Du weißt doch, wenn du mich jemals bescheißt, Baby, dann bring ich euch beide um.«

Susi lachte glockenhell. »Lass den Scheiß, Sven«, mahnte sie und trat einen Schritt zurück. »Das ist nicht witzig. Der ist tot.«

»Der Wengerts Ritschie?«, riet Sven, und Susi nickte. »Scheiße«, fluchte er. »Was ist denn passiert?«

»Unfall, bei Bächlingen.«

»Warst du dabei?« Weiber vertrugen so was nicht gut, das wusste er. Aber seine Susi war vergleichsweise hart im Nehmen.

»Ich bin vor ihm gefahren«, antwortete seine Freundin.

»So, dann hat er dir ja die ganze Zeit auf den Arsch schauen können, du kleine Schlampe!« Wieder ein Klaps auf den Po, diesmal ein stärkerer Protestschrei von Susi.

»Sven! Das ist echt nicht witzig.«

Der »Tarantel«-Boss leckte sich die Lippen. Da hatte Susi ganz recht, die Sache war überhaupt nicht witzig. Und vor den Toten musste man ein klein bisschen Respekt haben, selbst er, der sonst vor nichts und niemandem Respekt hatte. »Hey!«, brüllte er, und als er bemerkte, dass er das allgemeine Grölen nicht übertönt hatte, versuchte er es noch mal lauter: »Hey!«

Schlagartig verstummte alles, selbst die Vögel und die paar ersten Sommergrillen, es waren nur noch ein leises Plätschern vom See her und das Prasseln der Flammen ihres Lagerfeuers zu hören.

»Schweigeminute für Richard Wengert, der heute nach Walhalla eingezogen ist«, forderte Sven seine Getreuen auf.

Alle gehorchten, senkten die Köpfe, so lange, wie er es wollte, das war klar.

Nach ungefähr 30 Sekunden befahl er: »So, und jetzt feiern wir weiter.« Jemand, der seiner Susi so ungeniert auf den Arsch stierte, wie es der Ritschie immer getan hatte, der verdiente nicht mehr als eine halbe Schweigeminute, auch als Toter nicht. Und hätte er noch gelebt, hätte er eher eins in die Fresse oder einen ordentlichen Leberhaken verdient.

Das hohenlohisch-westfälische Ermittlerteam stand um dieselbe Zeit vor einem Reihenendhaus im Sauerbrunnen, einem der zentralen Crailsheimer Stadtteile. Der akkurat gepflegte Vorgarten strahlte gutbürgerlichen Charme aus, ebenso wie ein metallenes Türschild mit dem Namen der Familie Wengert und die Fußmatte, die mit einem Hollywood-Boulevard-Stern verziert war und ebenfalls den Familiennamen trug.

Ein dezentes Surren ertönte, als Heiko die mit Computer beschriftete Klingel drückte.

Die Gegensprechanlage klackte, und ein leises »Ja?« erklang.

»Wüst und Luft von der Kriminalpolizei«, meldete Heiko und bückte sich dabei ungeschickt hinab.

Als Antwort surrte der Türöffner, und die schwere weiße Haustür schwang auf.

Lisa und Heiko betraten die helle Wohnung, die überwiegend in Weiß und Chrom eingerichtet war. Im Flur erwartete sie mit verschränkten Armen Max, der Sohn des vermeintlichen Mordopfers. Er trug einen dunkelblauen Jogginganzug und wirkte angemessen verstört, aber gleichzeitig so aufmerksam, dass Heiko sofort wusste, dass er mit ihm würde reden können.

»Nochmals unsere Anteilnahme«, begann Lisa, die so etwas deutlich besser konnte als Heiko. Sie reichte Max die Hand, der sich aus seiner starren Haltung löste und ihren Händedruck kräftig erwiderte.

»Von mir auch«, beeilte sich Heiko und fügte hinzu: »Ist denn Ihre Mutter auch da? Und ist sie jetzt in der Lage, mit uns zu reden?«

Max nickte und führte die Kommissare ins Wohnzimmer. Das Erste, was einem in diesem Raum auffiel, war ein riesiges Aquarium mit fünf seltsamen, grimmig dreinblickenden und relativ großen Fischen, die von blauem Licht angestrahlt wurden. Wenige Pflanzen wuchsen im Becken, das von Moorkienwurzeln und einigen flachen Steinen dominiert wurde.

»Sind das …«, begann Heiko.

»… Piranhas, ja. Ein Hobby meines Vaters«, vollendete Max.

»Die gucken aber böse«, stellte Lisa fest.

»Ich würde da auch nicht unbedingt den Finger reinhalten. Obwohl eigentlich nur was passieren dürfte, wenn man blutet«, erklärte der Sohn des mutmaßlichen Mordopfers.

»Ritschie hat die Piranhas geliebt«, tönte es vom Sofa, wo die Frau des Toten saß, vor sich ein Glas Wein. Sie stand auf und zwang sich zu einem Lächeln. »Die hatten sogar Namen, aber mir fällt partout nicht ein, welche. Ich überlege schon die ganze Zeit.«

»Ich weiß es«, half der Sohn nach. »Sylvester, Arnold, Vin, Jason und Bruce. Eigentlich waren es sieben, aber Chuck ist an Altersschwäche gestorben und Steven war eines Morgens einfach nicht mehr da.«

Heiko biss sich auf die Lippen, um nicht laut loszulachen. Dass ausgerechnet Chuck Norris an Altersschwäche gestorben war, musste definitiv ein Fehler in der Matrix sein. Steven Seagal war in seinen Augen hingegen mit Abstand der schlechteste dieser Schauspieler, kein Wunder, dass die anderen ihn nicht duldeten. Und gerade jetzt guckten die Piranhas wie Actionstars, die, ohne mit der Wimper zu zucken, kaltblütig morden würden, wenn es nötig wäre.

»Ihr Vater war Filmfan?«, vermutete Lisa.

»Leidenschaftlich. Er hat eine umfangreiche DVD- und VHS-Sammlung. Noch alte Schule, nix mit Pay-TV.«

»Wieso seid ihr denn hier?«, erkundigte sich Christine Wengert endlich. »Es war doch ein Unfall, ein schrecklicher, tragischer Unfall?«

Lisa drückte auch der frischgebackenen Witwe ihre Anteilnahme aus, bevor sie korrigierte: »Das wissen wir noch nicht sicher. Wir müssen die Obduktion abwarten.«

Es war besser, zu diesem Zeitpunkt noch etwas vage zu bleiben. Denn im Extremfall waren die Ehefrau und der Sohn ebenso verdächtig wie alle anderen, die beim Ausflug dabei gewesen waren.

»Reine Routine«, versicherte Heiko mit einem Lächeln.

»Ach so«, meinte die Frau und ließ sich mit etwas mattem Blick zurück in den Sessel fallen.

»Für alle Eventualitäten wäre es auf jeden Fall wichtig zu wissen, wer mit Ihrem Mann ein Problem gehabt hat. Beziehungsweise mit Ihrem Vater«, erklärte Heiko.

Max stieß ein Schnauben aus, das wohl Ahnungslosigkeit suggerieren sollte.

»Es gibt keinen Menschen auf der Welt, der noch nie mit irgendjemandem Streit hatte«, behauptete Lisa. »Auch der Verstorbene nicht, mit Verlaub. Denken Sie also bitte gut nach, alles könnte hilfreich sein.«

Die beiden sahen sich auf eine Art an, dass Heiko sofort wusste, dass es sich um eine stumme Absprache handelte. »Ich nehme an, Ihnen ist gerade etwas eingefallen? Ihnen beiden?«

Drei der Piranhas waren zur linken Ecke des Aquariums geschwommen und schienen die Szene genau zu beobachten.

Christine räusperte sich und meinte unbestimmt: »Nun, mein Mann hat durchaus polarisiert.«

»Können Sie das konkretisieren?«, bat Lisa und lächelte der Frau aufmunternd zu.

Es war Max, der weitersprach. »Der Manfred ist meinem Vatter neulich mal an den Karren gefahren, weil er sich von ihm verarscht gefühlt hat.«

»Inwiefern?«, hakte Heiko nach.

»Ich weiß es gar nicht genau, es ging wohl um den Papagei.«

»Um was?«

»Den Papagei. Das war ein Motorrad, das der Manfred selbst lackiert hatte. Ihr erinnert euch vielleicht an diesen Flickenteppich-Polo aus den 90ern? Wo jedes Blechstück in einer anderen Knallfarbe lackiert war?«

»Dunkel«, gab Heiko zu, und die hintersten Windungen seines Hirns ließen tatsächlich ein Bild dieser Geschmacksverirrung vor seinem inneren Auge entstehen.

»So ein Motorrad hatte der Manfred, und da war irgendwas, was ihm nicht gepasst hat. Ich kann aber nicht sagen, was genau. Weißt du da mehr?« Die Frage war an seine Mutter gewandt, die aber den Kopf schüttelte.

Heiko bemerkte, dass sie inzwischen von vier Piranhas beobachtet wurden. Er fragte sich, wie man die Viecher wohl unterscheiden konnte.

»Da müsstet ihr den Manfred fragen«, riet Max Wengert und fuhr sich durch das blonde Haar, das er von seiner Mutter geerbt hatte.

Auch der letzte Piranha stierte sie nun durch das Glas an. Es war, als fänden die Fische das Gespräch spannend.

»Und dann war da noch dieses latente Gefrotzel«, ergänzte Max nach einem sanften, nachgerade zärtlichen Lächeln in Richtung der Haustiere seines Vaters.

»Von wem?«, erkundigte sich Heiko.

»Nein, er hat gefrotzelt. Das konnte er gut.«

»Und wen denn?«

Max leckte sich die Lippen und zuckte die Achseln. »Och. Mal den einen, mal den anderen. Den Simon, den Sohn vom Manfred, weil er so ein pedantischer Sicherheitsheini ist. Den Jan, weil er ein Möchtegern-Rocker ist. Den Timo, weil er ein Schönling ist. Und so weiter und so fort.«

»Nun gut«, meinte Heiko und dachte bei sich, dass das nicht unbedingt Mordmotive waren. »Hatte er sich auf irgendjemanden besonders eingeschossen?«

Max tauschte erneut einen Blick mit seiner Mutter, die erneut die Achseln zuckte. »Nicht wirklich«, befand er. »Aber wer weiß, den einen oder anderen hat das vielleicht mehr geärgert, als er zugegeben hat.«

»Möglich«, glaubte Lisa und fuhr mit einer etwas heikleren Frage fort. »Entschuldigen Sie, Frau Wengert, dass ich das frage, aber«, die Actionstar-Piranhas waren jetzt vollzählig und so nah an der Scheibe, als wollten sie sich durchbeißen, »war Ihre Ehe in Ordnung?«

Christine errötete und senkte den Kopf, nickte dann aber. »Schon okay, das müsst ihr ja fragen. Ich denke, wir hatten eine ganz normale Ehe. Nicht besonders gut, aber auch nicht schlecht. Normal eben.«

Heiko beobachtete Max. Die Miene des jungen Mannes blieb absolut neutral – irgendwie seltsam. »Und was hat Ihr Mann denn gearbeitet?«, fragte Heiko weiter.

»Sein Onkel hat eine Kfz-Werkstatt. Da war er Meister. Mit dem Onkel hat er sich aber immer gut verstanden«, informierte die Frau. Die Fische wandten sich nacheinander scheinbar enttäuscht ab, und nur einer, womöglich Sylvester, harrte noch aus.

Obwohl es schon neun gewesen war, hatten die Kommissare nach dem Besuch bei Familie Wengert noch beim MFHC-Vorsitzenden in Altenmünster geklingelt. Allerdings war niemand zu Hause gewesen, und da keine Gefahr im Verzug war, hatten die beiden ihre Befragung auf morgen verschoben. Mit etwas Glück wüssten sie dann schon mehr, wenn die Ulmer Gerichtsmedizin, wo die Hohenloher Leichen immer hinkamen, die Obduktionsergebnisse lieferte.

Jan Bullinger ärgerte sich, er ärgerte sich sogar sehr. Er sollte nicht hier sein, nicht hier in seiner kleinen Wohnung in einem Block in den Riedwiesen in Altenmünster. Er gehörte hier nicht hin, nicht heute Abend. Saumäßig gerne wäre er woanders. Obwohl das vielleicht pietätlos wäre, an einem solchen Tag. Er musste zugeben, dass ihn das schon ein bisschen mitgenommen hatte, dieser Unfall, auch, wenn der Richard ein blödes Arschloch gewesen war, ein Angeber vor dem Herrn. Trotzdem, ein solches Ende wünschte man niemandem. Wie er so verdreht dagelegen hatte, wie eine Marionette, deren Schnüre irgendeiner abgeschnitten hatte. Aber gut, es war nun einmal so. Und tot war tot. Er hingegen, Jan Bullinger, lebte noch, und er wäre heute gerne wirklich woanders gewesen, zehn Kilometer weiter südöstlich, am Degenbachsee, um genau zu sein, beim Treffen der »Tarantel«.

Jan stand im Schlafzimmer vor dem Spiegel. Er war kein Narzisst, ganz bestimmt nicht, und ihm war durchaus bewusst, dass er nicht der Schönste war. Nicht so schön wie der Timo zumindest. Aber das wollte er auch gar nicht sein. Vielmehr wollte er respektiert werden. Ein bisschen cool wirken. Vielleicht könnten die Leute ein klein wenig Angst vor ihm haben, manche zumindest, das würde überhaupt nicht schaden. Und dann wäre er vielleicht auch mal für die »Taranteln« interessant, die ihn bisher immer hatten abblitzen lassen.

Grübelnd betrachtete er das Patch auf seiner Kutte, dessen Bedeutung sich nur Eingeweihten erschloss. Er hoffte, irgendwann einmal als Prospect, als Probemitglied, akzeptiert zu werden. Bisher sah er sich als Supporter, als einen Unterstützer, der sich danach sehnte, der »Tarantel« beizutreten. Natürlich war er nicht auf offiziellen Wegen an das Patch gekommen, also hatte er seine Oma gebeten, es mit ihrer Hightech-Nähmaschine für ihn zu sticken. Seine Oma hatte ihm alles eingescannt, es von der Maschine sticken lassen und dann die einzelnen Teile auf die Kutte genäht. Oben stand als Top Rocker »Taranteln Hohenlohe«, darunter prangte neben dem »MC« für »Motorcycle Club« eine stilisierte und äußerst gefährlich aussehende Spinne. Das Clublogo, das sogenannte Colour, wie Jan wusste, denn er kannte sich aus. Unterhalb davon prangten die Buchstaben »T.F.F.T.« – »Tarantel forever, forever Tarantel«. Unten, am Bottom Rocker, stand »Sacrum Hohenlohe«. Und zwischen den beiden Worten war eine kleine Raute mit »1 %« angebracht, deren Bedeutung sich wiederum nur Insidern erschloss. Zunächst konnte man ein Prozent für den Inbegriff der Unzulänglichkeit halten. Aber in Wahrheit war es ein Ritterschlag. Der Begriff hatte eine Geschichte: Als nämlich im amerikanischen Hollister im Jahr 1947 ein Bikertreffen ziemlich aus dem Ruder gelaufen war und die Biker sich auf ganzer Linie danebenbenommen hatten, bezeichnete der Amerikanische Motoradfahrerverband 99 Prozent aller Motoradfahrer als friedliebende und gesetzestreue Bürger. Das übrige eine Prozent galt demnach als das Gegenteil. Gewissenlose Schläger und Verbrecher. Die »Bad Guys« sozusagen, und er, Jan, war ein böser Junge.

Er drehte sich wieder um, zog seine Kutte mit einer energischen Bewegung enger um seinen massigen Körper und fuhr sich durchs Haar. Das hatte cool ausgesehen! Er ließ seine Hand nachgerade unauffällig zu seiner hinteren Hosentasche gleiten. Eine echte »Tarantel« hatte ein Taschenmesser. Gut, jeder echte Kerl hatte ein Taschenmesser, in Hohenlohe sowieso. Aber nicht so eines. Er zückte mit einiger Schnelligkeit ein chromglänzendes Butterflymesser und genoss das Geräusch, das entstand, wenn man es aufklappte. Er war gut darin, nicht mal eine halbe Sekunde brauchte er dafür. Viermal machte es »klack«, klack klack klack klack, dann war die kleine Waffe einsatzbereit. Er hielt sich das Messer dicht vors Gesicht, drehte die Klinge nach vorn, so wie es neulich der Seagals Steven in einem seiner Filme gemacht hatte. Saucool hatte das ausgesehen. Und Jan Bullinger fand, dass er dem Seagals Steven im Moment gar nicht so unähnlich war, zumindest so von der Attitüde her.

Susanne Schneider war heute nicht mit zu Sven nach Hause gegangen, ihr war nicht danach gewesen, nach einer Nacht mit ihm, der sehr fordernd sein konnte und dem Ritschies Tod offensichtlich einigermaßen egal war. Sie musste für sich sein, nur heute, nur dieses eine Mal. Nach einem solchen Tag und nach dem Abend am Degenbachsee. Sie hatte sich splitternackt ausgezogen, war in ihr Bett gekrochen und war nahezu sofort in einen tiefen, zunächst traumlosen Schlaf gefallen. Später in der Nacht träumte sie dann doch. Von seinen warmen sehnigen Händen, die ihren Körper gierig berührten. Von seinem Blick, der Bewunderung zeigte, als sie sich auf ihm wand. Und sie genoss es ebenfalls – denn er machte gut, was er da tat, es war schön mit ihm, und sie wölbte ihm ihren Unterleib entgegen. Er streichelte ihr Haar andächtig, küsste sie hingebungsvoll, ach Gott, er betete sie an! Und zusammen bewegten sie sich so lange, bis die Wellen der Lust über ihnen zusammenschlugen und sie entkräftet liegen blieben.

Mit einem kleinen Schrei erwachte Susanne und brauchte eine Sekunde, um festzustellen, dass sie daheim war und nicht in jener kleinen Pension im Westen Hohenlohes. Sie blinzelte, und eine Träne rann ihr über die Wange, als sie gewahr wurde, dass es nie wieder so sein würde, dass seine kundigen Hände sie nie wieder streicheln würden, nie wieder irgendeine Frau streicheln würden, nicht einmal seine eigene. Susanne hob ihre schmale Hand, um die Träne wegzuwischen, und zog die Nase hoch. Schlimm, durchaus tragisch. Aber unbestreitbar hatte das Ganze auch seine guten Seiten.

Die letzte Kurve

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