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Drei

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Architektonisch und rein äußerlich betrachtet, ist die „Justizanstalt Josefstadt“ in der Wickenburggasse nicht hässlicher als so manch andere Wiener Gemeindebauten oder Amtsgebäude. Sogar mit dem verpfuschten Haas-Haus auf dem Stephansplatz hält sie optisch mit, die viel gerühmten Hundertwasser-Bauten sind auch nur bunter.

Ja, diese Justizanstalt ist ein stinknormaler, fantasieloser Betonklotz, der sich unauffällig in das Stadtbild fügt. Die Einfahrt mit dem Rollbalken könnte zu einem Krankenhaus gehören, der Besuchereingang zu einem Ministerium. Niemand steht hier mit Maschinengewehren davor, und von den Fenstern auf der Gassenseite sind nur wenige vergittert. Der Baum und die Hecken am Vorplatz erwachen im Frühling mit grünen Trieben, werfen im Sommer gewöhnliche Schatten und bereiten sich im Herbst mit einem farbenfrohen Blätterwirbel auf den Winterschlaf vor.

Stinknormal, alles schrecklich stinknormal.

Nur wer mit seinem Blick von der anderen Gehsteigseite das Gebäude hochschweift, entdeckt rechts über sich ein grünes Stacheldrahtgitter. Und wäre er ein Vogel, könnte er dort oben über den Gefängnishof fliegen. Und dann würde er Matthias Frerk Gradoneg erspähen, wie dieser gerade im Gefängnishof steht und von drei Justizwachebeamten umzingelt ist; wie ihm gerade vor den vielen fremden Gesichtern hinter den vergitterten Fenstern angst und bange ist. Der Boden unter ihm wankt, und wie sein verzweifelter Blick zum Himmel flüchtet. Und nun erschrickt er: So klein ist der Himmel plötzlich geworden, nur noch eine graue Plastikplane schwebt da über ihm.

Zwei Justizwachebeamte standen direkt neben Gradoneg, ein dritter marschierte etwas entfernt mit einem surrenden Funkgerät den Hof ab. Redete und lauschte und nahm dann das Funkgerät vom Ohr: „Dauert noch ein paar Minuten“, informierte er seine beiden Kollegen, die Gradoneg bewachten. „Wissen wieder einmal nicht, wo sie noch ein Bett unterbringen können. Lauter obergescheite Studierte – und haben keine Ahnung. Eventuell geben sie ihn zu den Pädophilen in den Sicherheitstrakt. Oder wir packen ihn wieder ein und liefern ihn gleich zu den geistig Abnormen auf den Mittersteig. Das entscheiden sie gerade mit dem Richter.“

Einer von Gradonegs Bewachern rief genervt zurück: „Die sollen sich gefälligst beeilen! Wär eh besser, wenn sie ihn auf den Mittersteig liefern. Rein in den Transporter und ab damit. Mir reicht schon das Theater mit dem Amokläufer. Wenn jetzt noch ein Kannibale einsitzt, stolpern wir draußen auf der Wickenburggasse nur noch über Journalisten und Fernsehkameras.“

So unverblümt unterhielten sie sich in Gradonegs Gegenwart. Als wäre er bloß ein seelenloser Wasser­hydrant, der zufällig neben ihnen stand. Seltsamerweise störte das Gradoneg nicht. Er war einfach zu erschöpft, um wieder seine Unschuld zu beteuern.

„Fällt dir was auf?“, fragte einer der Justizwachebeamten neben Gradoneg seinen Kollegen, deutete dabei mit einem Zeigefinger auf die Gesichter hinter den vergitterten Fenstern. „Wie ruhig sie plötzlich heute alle sind. Ist wie bei der Sonnenfinsternis damals … Die spüren, dass hier was nicht stimmt. Sogar die Schwarzen schmeißen ihr Essen nicht aus den Fenstern.“

„Jetzt sagst du auch schon ‚Schwarze‘“, meinte der andere Kollege beleidigt. „Dabei warst du immer einer von den Vernünftigen hier.“

„Steht so in der neuen Dienstanweisung, hast du die nicht gelesen? Ist Vorschrift, im ganzen Gebäude. Sogar in der Angestelltenkantine. Bei diesem Thema sind sie extrem sensibel.“

„Die können mir mit ihren ständigen Dienstanweisungen den Buckel runterrutschen. Ich lass mir doch nicht den Mund verbieten. Für mich bleibt ein Neger ein Neger und damit hat sich’s. So wie bei den Zigeu­nern und den Tschuschen …“

„Stimmt eh... Ich will halt in der Arbeit meinen Frieden, das ist alles. Und außerdem hab ich dir von der Sonnenfinsternis erzählt … Ich wollte ja nur sagen, dass damals bei der Sonnenfinsternis auch alle so ruhig waren.“

„Da muss ich auf Urlaub gewesen sein, wann war das?“

„So um die Jahrtausendwende, im Sommer … Das weiß ich noch, weil ich mit jemandem gewettet hab, ob man dazu ‚komplette Sonnenfinsternis‘ oder ‚totale Sonnenfinsternis‘ sagt. Alle sind an den Fenstern gestanden und haben ihre Pappn gehalten. Eigentlich traurig: Ich bin seit dreißig Jahren da und hab nur zwei ruhige Tage in der Arbeit erlebt. Eine Sonnenfinsternis und einen Kannibalen.“

Währenddessen lief ihr dritter Kollege mit dem Funkgerät weiter eifrig den Hof ab. Stöhnte und seufzte zwischendurch, weil ihm wohl das surrende Gerät nichts Neues verriet. Schließlich blieb er mit einem zufriedenen Grinser stehen:

„Er kommt auf die Krankenstation.“

„Der ist doch pumperlgsund“, rief sein Kollege empört zurück. „Die schinden nur Zeit und schicken uns im Kreis.“

Der Justizwachebeamte mit dem Funkgerät war dennoch zufrieden.

„Ist für ein ‚Zuckerl‘ wie bei den Schneescheißern. Eigentlich eh logisch, dass man bei einem Menschenfresser auch nachschaut.“

„Gut, ein ‚Zuckerl‘ ist was anderes“, schienen sich seine beiden Kollegen ebenfalls zu freuen. „Na, dann ab mit uns“, packten sie Gradoneg an den Schultern und führten ihn vom Hof fort.

„Die ‚Schneescheißer‘ sind übrigens auch in der neuen Dienstanweisung verboten“, meinte ein Justizbeamter, „zu denen darf man höchstens noch ‚Drogendealer‘ sagen.“

***

Gradoneg traute seinen Augen nicht.

Kein Fremder hätte in diesem Untersuchungszimmer seinen Augen getraut.

Der Raum war von oben bis unten gekachelt. Mit unzähligen quadratischen Fliesen übersät, die vielleicht weiß oder grau sein mochten, im gelben Neonlicht aber wie mit Eiter beschmiert wirkten.

„Nein! Ich mach das nicht!“, wehrte sich Gradoneg. „Ausgeschlossen! Nein! Das kommt nicht infrage! Ich will mit meinem Anwalt sprechen, sofort!“

Natürlich hatte er ja keinen Anwalt, diesen Spruch kannte er nur aus Filmen.

Wie auf einen Geist deutete er auf den Toilettenstuhl in der Mitte des Raumes. Ein altes Ding aus der Urzeit der Medizin mit einer zerkratzten Toilettenbrille und einer Blechschüssel darunter. An den Seitenlehnen hingen breite Bänder, mit denen man jemanden fixieren konnte.

„Das könnt ihr mit mir nicht machen! Schluss jetzt mit diesem Wahnsinn! Ich dreh durch, wenn nicht sofort mein Anwalt kommt!“, schrie Gradoneg den Krankenpfleger an, der ihn in dieses Untersuchungszimmer gebracht hatte.

„Stellen Sie sich bitte nicht so an … Ihnen passiert nichts, versprochen“, versuchte ihn der Krankenpfleger zu beruhigen. „Ist völlig harmlos … ein harmloses Abführmittel, und schneller vorbei, als man denkt. Einmal schlucken, ein Glas Wasser … mehr nicht“, breitete der Krankenpfleger seine Handfläche aus und zeigte Gradoneg eine centgroße Tablette. Schwarz und oval, ein bisschen erinnerte diese an einen vertrockneten Käfer.

„Weder Nebenwirkungen noch sonst was. Klar, ich verstehe Sie sehr gut … Für Sie ist das hier ein Schock, aber für uns ist es der Alltag. Ich mach das jetzt seit fünf Jahren, und glauben Sie mir: Noch nie ist bei einer Stuhlprobe etwas passiert. Nicht einmal ein Kollaps.“

„Ich rühr dieses Scheißzeug nicht an, kapiert!“, brüllte Gradoneg aus Leibeskräften.

„Geh bitte … ich mach ja nur meinen Job.“

„Was wollt ihr denn noch von mir?! Reicht euch nicht die Freiheitsberaubung, wollt ihr mich jetzt auch noch umbringen?! Bin ich vielleicht so ein aus­tralisches Krokodil, das ihr aufschlitzt, weil’s angeblich einen Fischer gefressen hat! Und … und“, bemerkte Gradoneg die Kamera an der Wand, schnappte empört nach Luft, „… und ihr schaut mir dabei auch noch zu?! Ihr Schweine!“

Seltsamerweise ließ sich der Pfleger von Gradoneg nicht aus der Ruhe bringen.

„Aber, wir schauen Ihnen doch nicht zu, wirklich. Gibt bessere Programme im Fernsehen als eine Kloschüssel. Ist eine reine Sicherheitsvorkehrung, mehr nicht. Diese Kamera ist nur zu Ihrem eigenen Schutz.“

Der Pfleger ging zur Wand, verschob den Winkel der Kamera, sodass die Linse nach oben zeigte. „Sehen Sie, mehr als Ihr Kopf wird da nicht drauf sein. Außerdem haben wir gerade Mittagspause … beim Essen schaut sowieso niemand hin.“

„Nein! Ich will hier raus, sofort!“, schüttelte Gradoneg den Kopf. „Irgendein Recht werde ich ja noch haben, oder haben uns über Nacht die Russen überfallen?!“

„Wie Sie meinen …“, steckte der Pfleger die Tablette wieder ein, streifte seine Plastikhandschuhe ab. „Selbstverständlich respektieren wir Ihre Rechte, wo wären wir denn sonst … Und wenn Sie mich fragen, ich glaub Ihnen. Ja, ich glaub Ihnen. So viel Menschenkenntnis hab ich. Nur ein Jahr im Gefängnis, und Sie kennen sich bei den Menschen aus. Ich erwarte mir in Ihrer Schüssel keine Leiche, bestimmt nicht. Das hier ist wirklich nur zu Ihrem Besten. Die besorgen sich ja so oder so eine Stuhlprobe von Ihnen. Dann kommen Sie eben in die Zelle mit dem vergitterten Klo. Ist alles nur eine Frage der Zeit. Gibt Dealer, die holen sich lieber einen Darmverschluss, als dass sie sich wo drauf setzen. Dann weiß man’s halt nach dem Darmverschluss. Verstehen Sie, ich mein es wirklich gut mit Ihnen. Und für Ihre Vernehmung beim Haft- und Rechtsschutzrichter wäre es ebenfalls wichtig. Sehen Sie, das habe ich beinahe vergessen: Angeblich ist der Herr Richter schon unterwegs. Und das heißt bei dem was, ist fast schon ein Wunder. Sonst geht das nämlich nicht so schnell. Das mit den 48 Stunden bis zur ersten Einvernahme steht nur im Gesetz. Bei einem Haft- und Rechtsschutzrichter dauert eine Stunde gleich einmal einen Tag. Ich kenn Untersuchungshäftlinge, die sind rasiert bei uns reingekommen und dann bei der ersten Einvernahme auf ihren eigenen Bart getreten. Ich mein, je besser man mit so einem Richter kooperiert, umso besser stehen die Chancen. Und wenn man ohnehin nichts zu verbergen hat, muss man sich auch für nichts schämen.“

Keine Frage, dieser Krankenpfleger war die Ruhe in Person und hatte gute Argumente.

Und Gradoneg? Was sollte Gradoneg tun?

Er öffnete seinen Mund und schluckte das Abführmittel. Ließ tatsächlich seine Hosen runter und setzte sich auf diesen schrecklichen Folterstuhl der menschlichen Scham. Wehrte sich kein bisschen, als der Krankenpfleger seine Handgelenke an den Seitenlehnen fixierte. Zuckte kurz zusammen, als der Toilettenstuhl in der Halterung auf dem Boden einklickte. Verabschiedete sich aber freundlich, als der Krankenpfleger das Untersuchungszimmer verließ.

Wieder saß er in einer Falle …

Ängstlich sah er zur Kamera an der Wand hoch. Jetzt verstand er den miesen Trick und wusste, dass ihn der nette Krankenpfleger reingelegt hatte: Die Kamera war ferngesteuert und bewegte sich nun langsam nach unten. Sein Magen grummelte. Er begann die Fliesen zu zählen. Nur so konnte er seinen Blick von der Kamera lösen. Er zählte und verzählte sich. Immer weiter zählte er, immer öfter verzählte er sich. Unter dem gelben, eitrigen Neonlicht waren die Fliesen grau, sah er nun. Nur die Fugen dazwischen waren noch grauer.

Er war ja im Grauen Haus.

TodesGrant

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