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Franz schaut hoch, da lacht der Bär

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Go melt back into the night, babe.

Bob Dylan, It Ain’t Me Babe

Bob Dylan sollte im Ostfernsehen in der Sendung »Da lacht der Bär« auftreten. Ich war gleich rot geworden, als ich das hörte, und ich erröte wirklich selten. Das konnte der doch nicht machen! Jörn Hundsalz, das alte Ferkel, hatte aber mit so was oft Recht.

»Wolf Thielmann«, sagte ich zu Jörn Hundsalz, »du meinst den Bassisten Wolf Thielmann von den HO-Spatzen!« Jörn Hundsalz beeimerte sich über die errötete Mürze, die er vor sich sah, und das war ich.

Dennoch saßen wir am 16. Oktober 1965 alle, aber auch alle irgendwo vor der Glotze. Wir wollten auf gar keinen Fall den Nichtauftritt von Bob Dylan bei »Da lacht der Bär« verpassen.

Ich saß zum Beispiel bei Tante Hertha. Das hat an dem Abend dort ausgesehen wie auf einem Foto von Kongo-Müller. Wie so eine Kopfpyramide in Belgisch-Kongo und nicht wie ein Fernsehabend in der DDR. Man muss genau hingucken auf die beiden schlechten winzigen Fotos. Die sind natürlich nicht von Kongo-Müller, sondern von Tante Erna.

Am besten hatte Tante Erna mal ihre HO-Spatzen hingekriegt. Das war’s aber auch schon mit ihrer Fotokunst! Den Abend jedenfalls, an dem Bob Dylan im Ostfernsehen auftreten sollte, hatte Erna auch fotomäßig eindeutig vermasselt. Man sieht da also einen kongolesischen Köpfebrei von ein paar Tanten, einem Kampftrinker, einem privaten Schlosser und von dieser Matrone, die die Mutti ist von der schönsten gefrosteten Brombeere auf Erden. Leider ist kaum was zu sehen von der Brombeere Marion. Rechts unten aus der Ecke grinst auch Erwin Hagedorn hervor – ja, genau der! –, und ganz links oben, zwischen Sandkisten-Evchen und Keule mit dem lächerlichen Hut, da glotzt einer mordsernst, und das bin ich, peinlich, peinlich. Wie ich meinen Hals einschnüre da mit diesem grünen Lederschlips, den ich mir extra umgehakt hatte an dem Abend! Dieses Ding mit Schlüpfergummi und Haken und Öse! Aber all das ist da kaum zu erkennen, wenn man es nicht weiß. Zu sehen sind auch nicht die beiden Einschusslöcher überm Bauchnabel in meinem Nyltesthemd. »Siehst du die Gräber dort im Tal? Das sind die Raucher von Real!« Von diesen Lullen fiel ja immer die Glut runter und brannte sich in das Nyltest.

Ein Glück, dass ich da kaum zu erkennen bin! Dass ich wenigstens nicht mehr diesen unmöglichen graugrünen Filzhut aufhabe! In dessen Hutband links steckte ja immer auch noch so ein lächerliches Sträußchen Wellensittichfedern. Mein kleiner Bruder hatte auch genau so einen Hut gewollt, und ehe gleich zwei Brüder mit so was herumgelaufen wären, hatte er dann den von mir gekriegt. So ein Hut landete übrigens viele Jahre später auf dem Kopf von Robert de Niro in »Es war einmal in Amerika«. Doch nicht deshalb sehe ich so mordsernst aus auf dem Foto. Ich war nicht mordsernst. Ich war, als Tante Erna so schlecht abdrückte, bloß schockgefrostet durch Marion.

Die Glotze von Tante Hertha ist gar nicht zu sehen. Die geballte Ladung der Zuschauer vor der Glotze war der Knipserin Erna damals wohl wichtiger gewesen.

Wie hatten denn bloß so viele Figuren in Tante Herthas Wohndose reingepasst? Und auf Ernas kleines Schwarzweißfoto mit Haifischgebiss ringsum? Hinten auf dem Fotochen steht mit Ernas winziger spitziger Schrift noch geschrieben: »Andrang bei Trude Herr!«

Mit Trude Herr hatte gleich gar keiner von uns gerechnet, bloß Erna. Am 16. Oktober 1965 herrschte noch die gute alte Tante-Erna-Zeit.

Aber noch wegen was anderem sind Tante Ernas Fotochens so wichtig. An diesem Tag, also bevor ich mit dem Großvater und der Großmutter bei Tante Hertha eintraf, war auf einmal meine Kindheit zu Ende gegangen.

Ich war da schon im Gang zum Hof, stand vor der Fassade von Opas Haus im Dunkeln und leckte wieder mal den Putz ab. Opa hatte seinen nagelneuen Kirchenchoranzug an. Ich hörte ihn lange ans Wäschehaus pinkeln. Da waren vermutlich die fünf Flaschen Helles wieder, die er tagsüber in seiner Schusterwerkstatt geleert hatte.

Ich leckte am Gemäuer und es schmeckte nicht mehr. Mir fiel die älteste Dachpappenfabrik der Welt an der Bahnhofsbrücke ein, die mich angezogen hatte, seit ich laufen konnte, nur um ihre wunderbar schädlichen ätherischen Öle und Teere zu schnüffeln, und ich wusste auf einmal, ich würde auch da nicht mehr hingehen.

Ich hörte Großvater auf einmal weit über mir und so sanft wie einen gütigen Gott: »Ja! Mach nur, Fränzchen.«

»Soll ich auch die winzigkleinen Steinchen mit runterschlucken?«

»Aber ja. Da freut er sich.«

»Wer? Etwa dein lieber Gott?«

»Nein«, sagte Großvater. »Aber der Tod.«

»… igittigitt … Opa!«

»Aber in dir wohnt doch ein kleines Skelett, nicht? Das kannst du hin und wieder ruhig mal mit Kalk füttern. Es muss doch auch wachsen.«

»… igitt – das Klappergerüst!«

»Ja. Und das musst du eben füttern. Sonst klettert es für immer aus dir raus. Dann sagen die Leute, guckt mal, das ist doch glatt dem Fränzchen sein Tod.«

So war Großvater Thürk. Es gab kein wunderbareres Fleckchen auf Erden, wo man sich so unsicher geborgen fühlen konnte wie bei ihm.

Großvater war eine Luther-Eiche, aber eine, die Luther wohl selber noch gepflanzt hatte. Er war ein Riese mit einem mächtigen Bauch voller Geheimnisse. Am besten fand ich die Familienlegende über ihn, wo er von Oma 1946 nach Berlin rübergeschickt wurde, um sich einen Anzug für den Vorstand der Handwerkskammer zu kaufen. Großvater kam erst drei Tage später zurück, er hatte keinen Anzug und kam von da an nie mehr auch nur in die Nähe irgendeiner Handwerkskammer. Er hatte kein Geld mehr, dafür aber schon einen Bart und derart jugendlich strahlende Augen, als ob der Zweite Weltkrieg niemals stattgefunden hätte. Und er sagte dazu niemals auch nur ein einziges Wort. Nie. Sowie in den nächsten zwei Jahrzehnten die Rede darauf kam, schwieg Großvater, und sein Lächeln dazu wurde mittlerweile immer breiter.

Manchmal in letzter Zeit sah er mich gleich mit diesem Lächeln an, ohne dass ich ihm die Berliner Frage gestellt hätte. Und mit nachdenklich spielenden Augenbrauen dazu.

Er hatte mich mindestens eine Million Mal mit Zimmermannsbleistift auf blaurotkariertem Kontobuchpapier gezeichnet. Manche dieser Seiten hatte er herausgerissen, Fensterglas zugeschnitten und das Ganze auf Pappe geklebt und gerahmt mit schwarzem Klebeband. Mein insgeheimer Stolz und meine tiefste Freude, nämlich die völlig grundlose, wurden dadurch geprägt, dass ich dutzendmal ringsum an den Werkstattwänden mich selber inmitten von Waldteichen, Schmetterlingen und toten Spatzen in einer chaotischen Schusterwerkstatt sehen konnte.

Da stolperte man über Dreifüße und linke Schuhe oder den Pechwachswürfel, durch den die derben Schuhnähte gezogen wurden. Da war in einer ewigen Wolke aus Azeton andauernd die Gummilösung auf dem Werkstisch umgekippt. Da bildeten Nägel und Täkse und die kupfernen Kinderbelohnungsfünfer schließlich die interessantesten Bernsteineinschlüsse.

Großvater qualmte dazu aus immer ein und derselben schmurgelnden Tabakspfeife seinen billigen »Kolumbus Silber« und schluckte hin und wieder sein Bier. Luther im Himmel hatte es wohl täglich verhindert, dass der ganze Laden einfach in die Luft flog. Auf dem öfters von alleine vor sich hin schollernden Klavier hinten in der Ecke lagen ungefähr zwei Dutzend Bände von Gustav Hempels grün-goldener Goethe-Ausgabe wie frisch gehacktes Holz durcheinander und dazu noch eine verhunzte Prachtausgabe von Dantes »Göttlicher Komödie«, die so was von aus dem Leim gegangen war, dass sie eine Art Grabhügel aus lauter losen Blättern bildete, unter dem nun sämtliche Gebeine von Himmel, Hölle und Fegefeuer ruhten.

An diesem mit lauter Erscheinungen zusammengeballten 16. Oktober 1965 hatte ich nachmittags auf Großvaters Werktisch ein neues, bereits gerahmtes Bildchen liegen sehen. Er hatte lange keines mehr gemacht. Er hatte seine zehntausend Mal gebissene und gewickelte Stummelpfeife gezeichnet, nichts weiter. Beunruhigend war nur, es kam kein Rauch mehr raus. Schlimmer noch, die Piepe lag jetzt dort oben auf dem Dante-Hügel.

Und mir schmeckte auf einmal mein sechster Wandschlitz nicht mehr. Ich hörte da hinten im Dunkeln was, das längst nicht mehr nach der Ausgießung des heiligen Eberswalder Hells klang. Konnte es sein, dass die Dunkelheit ganz leise weinte? Jäh war mir bewusst, dass bald einer von uns sterben würde. Und vermutlich war das nicht ich.

Schnell war ich am Wäschehaus und ertastete mir von der Dunkelheit ein Stückchen, nämlich vom neuen schwarzen Stoff, in dem prall mein Großvater steckte.

»Fränzchen!«, rief Großvater ganz leise und verzweifelt, »ich krieg ihn einfach nicht mehr rein!«

»Opa?«

»Der schitt Reißverschluss. Früher hatten Sängerhosen noch ehrliche Knöppe! Hol ma Oma!«

Aber da war sie schon, ich roch es am winzigen und bei ihr seltenen Wölkchen von Tosca, ich trat beiseite – eben erstmals gealtert und traurig –, weil sich nämlich in der Zukunft, die immer gerade beginnt, wirklich ein Abgrund befindet, in den wir alle, alle nacheinander fallen oder auch gestoßen würden, Großväter, Großmütter, Nymphen, selbst Kinder, die noch gar nicht richtig gelebt haben.

Dann ging es nach der sachkundigen Befreiung des eingeklemmten Dingens von Großvater doch noch los, die drei Häuser weiter zu Tante Hertha, zu »Da lacht der Bär«. Ich weiß nicht, was mich damals noch einmal umkehren ließ zu meinem Leckschlitzen in der Wand.

»Wann bin ich endlich kein Kind mehr, Opa?«

»Wünsch dir das man bloß nicht allzu sehr. Es ist so: Dein Kindheitsengel steigt auf in den Himmel, aber das merkst du gar nicht, Fränzchen. Dann kappt er einen von den beiden Fäden am Lenkdrachen. Auf einmal fühlst du dich schwerer. Und dann solltest du mal ein Bandmaß nehmen und deine Größe messen. Diesen Tag lang bist du, obwohl nun erwachsen, nämlich genau drei Zentimeter kleiner.«

»Quatsch, Opa. Und der andre Faden vom Lenkdrachen? Opa?«

»Den hältste einfach feste, Fränzchen.«

»Wie lange denn?«

»Na, bis deine Nymphe kommt … Wenn se kommt.«

»Ich will aber keene Nümpfe, Opa. Die gehn mir auf ’n Keks!«

»Wirste schon sehn«, hatte Großvater damals, lang lang her, gesagt und mit seinem merkwürdigen Berliner Strahleblick hoch in die Ferne geschaut und dann unverständlich leise was in seine Bartstoppeln gemurmelt.

Ich glaube, es war der Vers von Dante, der aus dem »Paradies«: »Hier unten sind wir Nymphen, oben Sterne.«

Es war meine Nasenspitze, die meinen sechsten, meinen jüngsten Spalt im Mauerputz antippte. Ich musste auf einmal, hätte ich lecken gewollt, meinen Hals recken.

Ich war schwer beeindruckt, sauer und traurig. Ich mochte all diese Spielchen und augenzwinkernden Großvaterwunder nicht mehr sonderlich. Und ich wollte nicht wahrhaben, dass ich an jenem dunklen Oktoberabend längst um Großvater Thürk zu trauern begonnen hatte. Vielleicht ist es ja genau das, was man so »Erwachsenwerden« nennt?

Was sollte ich nun überhaupt noch bei »Da lacht der Bär«? Ich wusste doch hundertprozentig, dass Bob Dylan niemals auftreten würde in einer Sendung, wo der Berliner oder auch der russische Bär so tun, als ob sie lachen würden.

Als ich kurz vor Tante Herthas Haustür als frischester Erwachsener der Welt noch über all das nachdachte, spürte ich drei kleine Piekser in meinem Rücken.

»Hallo, Effeff!«, sagte Erwin Hagedorn, der Klassenkamerad meines Bruders, »Hartmut hat gesagt, ich darf mitkommen zu Popp Tilly!«

Damals war Erwin fast noch ein puttenhafter Knabe mit einem Igel, besser gesagt mit einem Stachelschwein. Er konnte nicht nur gewinnend, sondern manchmal sogar besiegend lächeln. Er griff sich beidhändig unters Hemd und zog aus seinem Hosenbund zwei nagelneue »Jerry Cottons« hervor. Ich staunte, hatte ich doch die vier schon ziemlich zerlesenen Micky-Maus-Hefte vermutet, die ich ihm gestern an unserer Haustür in einem Anfall von Gönnerhaftigkeit geschenkt hatte.

»Ein Sarg hat keinen Notausgang!«, sagte Erwin triumphierend. »Schiffe, Schätze, scharfe Schüsse!« Er streckte mir die Hefte entgegen. »Und obendrauf noch ›Kradschützen im Kosakenland‹!« Das Landser-Heft war schon bleich und lasch und in der Mitte tief eingerissen.

»Das kannste am besten gleich übern Russenzaun schmeißen«, sagte ich. »So ein scheiß Zeug handle ich erst gar nicht.«

Erwin schlug »Kradschützen im Kosakenland« auf und las mit einer plötzlich unvermutet tiefen und überzeugenden Stimme: »Wir stecken bis über die Radnaben fest im fetten schwarzen Dreck, den die hier gern ›Heimaterde‹ nennen. Hier wären aber selbst die berittenen Kosaken zu schiefen Reiterstandbildern erstarrt.«

»Behalte die ›Jerry Cottons‹ auch nach Mitternacht bei dir und zeig sie keinem«, sagte ich. »Her mit dem Landserheft, das wird gleich entsorgt. Wenn du mit mir zusammenarbeiten willst, dann lass dir nie wieder so ein Ding andrehen, verstanden?«

»Du hältst mich wohl auch für blöd«, sagte Erwin, ließ es aber geschehen, dass ich ihm seine »Kradschützen« entriss. Die waren mal was, um Fritze Henke, den Damenfriseur gegenüber meiner Straße, zu ärgern. Der war nämlich Muttis neue kleine blonde bleiche Flamme, und Fritze war angeblich, sagte Mutti, auch Kradschütze im Krieg gewesen.

»Na, mal sehn«, sagte ich. »Klingle in ein paar Tagen bei mir damit, dann unterhalten wir uns weiter. Noch was. Das sind ganz gute Stücke, diese ›Jerry Cottons‹, die knickt man nicht hinterm Hosenbund.«

Kaum jemand ahnte, dass ich der vielleicht größte Schmökerhändler meiner Heimatstadt war, weil mich vor allem meine Großtanten Ursel und Lilo mit dem Zeug so gut versorgten.

»Pass uff, Franzilein!«, hatte Lilo eines Tages auf Besuch zu mir gesagt, »Landser jibt’s nich, Bastei Heimat jibt’s nich, Western jibt’s nich, Butler Parker und John Kling jibt’s nich.«

»Silbern klingend heiter schlug die kleine Uhr – Mitternacht, als …«, hatte ich nämlich den Anfang eines John Klings mit dem Titel »Das Skelett im Wandschrank« zitiert.

»Kofferweise Micky Mäuse – dit ja«, ergänzte Ursel.

»Und ›Jerry Cotton‹ und den ›Kommissar X‹ – wat andres krichste nich«, sagte Lilo.

Die beiden Großtanten konnte man wirklich immer nur zu Boden knutschen. Wenn ich vor dem Mauerbau bei ihnen in Westberlin gewesen war, auch mal einen Tag allein, dann stellten wir immer was an – früh um acht gleich zum Schlammcatchen aufs Tempodrom, danach zu »Kranzler« und ins Kino am Zoo zu Disneys »Schneewittchen«. Einmal hatten wir sogar den Platzwart vom Olympiastadion mit zehn Mark bestochen. Meine Großtanten und Kriegerwitwen hatten ihre Röcke gerafft und mein jubelnder Beifall hatte sie die ganze Zeit begleitet, die sie brauchten auf ihrer Ehrenrunde mit ihren saukomisch trippelnden dürren Beinchen.

Meine Großtantensympathie war an dem Abend jedenfalls auf Erwin übergesprungen. Ich konnte, fand ich, eine rechte Hand beim Geschäft gebrauchen. Jetzt waren wir wohl bereits eine Mini-Mafia.

Der Ritzer und Schlitzer im noch zarten Alter von zwölf Jahren kaute dann ziemlich siegesgewiss Tante Hertha ein Ohr ab. Das sieht man jedenfalls noch auf dem Foto Nummer zwei von Tante Erna.

Gleich würde noch Streusandkisten-Evi auftauchen und sich neben mich auf die Lehne des Sofas und also ganz oben in die Zimmerecke hocken, und zwar ziemlich krumm, denn wir Sofalehnensitzer mussten bereits aufpassen, nicht mit den Köpfen an Tante Herthas Zimmerdecke zu stoßen. Evi ist schon fast so groß wie ich, wenn sie auch erst zwölf ist. An meiner anderen Seite ist wie schon gesagt auf Ernas Foto Nummer eins Keule zu sehen, mein viel mehr als nur anderthalb Jahre jünger als ich wirkender Bruder Hartmut, der aber hinter meinem Rücken schon an der Pulle »Eberbräu« nuckelt, die uns Dreien Heinz Spelinski augenzwinkernd zugesteckt hatte. Mit Keule teilte ich einige unter altersmäßig so nahen Brüdern auch ein bisschen peinliche Erfahrungen mit Streusandkisten-Evi, oft erworben im Reigen mit anderen Teilhabern der kindlichen Doktorspiele aus dem Stadtteil Westend.

Evi hatte dieses Spiel nicht Doktorspiel, sondern immer »Adam und Evi« genannt. Beim ersten Mal – und das glücklicherweise allein mit ihr – hatte Evi ein Kastanienblatt dabeigehabt. Wenn ich mich traute, dieses »feige Blatt«, wie Evi es nannte, am Stiel mit dem Mund wegzunehmen, durfte ich gleich da unten bleiben und ganz schön gucken und rummachen.

Ich hatte allerdings mit elf, als das geschah, noch geglaubt, das Ding, worauf es alle menschlichen Männchen absahen, wäre unter dem Bauchnabel angebracht, schon weil mein großer Bruder Tücki statt »ficken« lieber »nageln« sagte. Das fand ich fast ebenso furchtbar wie das, was sie mit Großvaters Christus gemacht hatten. Ich staunte nicht schlecht, dass Evis »Schlitz mit Katscher«, wie wir Kinder das nannten, erst einmal scharf um die Ecke nach hinten abbog, ehe es bei ihr rein ging. Evis streusandkühles und schräges Sesam erschien mir trotzdem gleich als die lieblichste Missbildung der Natur, die ich bis dahin gesehen hatte, wenn auch nur mit meinem Mittelfinger.

Ganz vorne im Bild haben mein Großvater Thürk und seine Luise natürlich die beiden Fernseh-Ehrensessel bekommen, nachdem wir zusammen mit Erwin als Letzte bei Tante Hertha eingetroffen waren. Meine Tante Hertha und ihre Freundin Erna, eine ewige Jungfer, die wir der Einfachheit halber auch gleich zur Tante ernannt hatten, sitzen auf der Liege. Das erkennt man auf dem Foto daran, dass neben Tante Hertha die einzige Lücke zu sehen ist, die durchs Fotografieren entstandene Ernalücke.

Vor Tante Hertha liegt ohne Kissen Heinz Spelinski, der hagere Maurer, Tante Herthas Wer-weiß-was, den mein Bruder Hartmut und ich seltsamerweise nur beim Skaten »Onkel Heinz« nannten und der sich stur saufend stets das Unglück erspart hatte, die Bauwerke des Sozialismus mit nüchternen Augen betrachten zu müssen, etwa seinen Russenflughafen Werneuchen, den er mehr mitgekleckert als -geklotzt hatte, mit schönen lang anhaltenden Mauscheleien im Gefolge bis in alle Kommandanturas weit und breit. Sein Bier hatte Heinz natürlich in der Hand, den Kasten in Griffnähe.

Neben den Tanten sitzt der Schlossereiinhaber Sitzlack, der auch eine Skathalle mit vielen dort frei herumfliegenden Papageivögeln besaß, weshalb die Skatspieler sich Gummimäntel von der kahlen Wand nehmen konnten gegen die Kackegeschosse. Deshalb gab es das Bier auch nur in Flaschen mit Schnappverschluss. Sitzlacks Bernhardiner Asbach vom Dreikanthof ist mit nur einer Pfote zu sehen. Ich weiß noch, dass er die einzige Person war, die nicht in die Glotze stierte, sondern auf uns alle, und zwar mit einem schönen Wechselspiel kritisch erhobener Augenbrauen. Der Hund hielt uns alle eindeutig für so blöd wie wir ihn für niedlich.

Auf die Couch hatten auch noch die drei Dudas gepasst. Aber wo, bitte schön, ist Nora? Sie schien damals noch so unscheinbar und farblos, dass bestimmt einer von den vorlauten Dersinskis auf ihr sitzt, ohne es zu merken. Und natürlich ohne einen Mucks von Nora.

Ich möchte gar nicht mehr glauben, wer da so alles reingepasst hat in Tante Herthas Bude, nur weil damals dort zwischen den beiden Fensterchen der Superwestfernseher von Grundig stand, den, wer sonst, Ursel und Lilo spendiert hatten, die in Westberlin Haus und Hof ihrer im Krieg gefallenen Gatten ganz langsam und gemütlich verprassten.

Ich möchte auch gar nicht so recht den Tante-Erna-Bildchen vertrauen. Sie existieren nämlich gar nicht mehr. Wir haben sie wohl zu oft in die Hände genommen und abgegriffen, schäbig und knickrig gemacht, und dann, von wem auch immer, sind sie achtlos verlegt oder sogar weggeschmissen worden. So verschwindet das Allerallermeiste von der Welt, samt Fotos und Fotografinnen, und vielleicht sollten wir alle wieder lernen, Platz zu machen auf Erden für das, was kommt. Aber in meinem Kopf spuken diese Fotochens noch herum. Zuweilen ist wohl da mehr drauf auf den Fotochens in meinem Kopf, als überhaupt einmal da gewesen war. Ebensogut könnte aber auch was fehlen. Und noch was: Meine Erinnerung macht nur Farbfotos, und zwar in 3D, mit Ton und Geschmack und mit dem Tastsinn auch. Deshalb kann sie auch Schmerzen bereiten. Aber das Gegenteil davon natürlich auch.

Schließlich war noch Platz gewesen für die herumfuchtelnde und unendlich quarzende dicke Dame Kandula vom DFD-Kreisvorstand, die ihre angekettete Riesenbrille oft von ihrer Nase auf die gepanzerten Titten stülpte, als ob die auch mal den Mist ringsrum in der noch nicht so recht sozialistisch sein wollenden Welt gucken sollten. Die Dame Kandula war nicht auf Ernas Fotochens drauf gewesen, aber sie war damals da, das weiß ich noch genau!

Die Dame Kandula hatte werweißwas mit Tante Hertha oder auch Erna zu schaffen. Ihr Töchterlein Marion jedenfalls schien dort so was von fehl am Platz. Marion hatte wunderbare Augen, was man auf Ernas Gespensterbildchen nun gar nicht mehr sehen konnte, wie soeben reif gewordene Brombeeren mit lauter Stacheln ringsrum im Raureif, wenn das Thermometer um dreißig Grad gefallen ist unter einem Froststern, den man fünf Minuten früher noch ahnungslos für die Sonne gehalten hätte. Die wusste wohl schon, was uns Hüpferlinge juckig machen konnte! Sie stand plötzlich mit verschränkten Armen im Türrahmen und verstand hervorragend das Kunststück, ihre Blicke schweifen zu lassen, ohne auf eins der anderen siebzehn Augenpaare zu treffen. Auch nicht auf meins.

Aber an meinem rechten Fuß war noch eine Lücke für einen kleinen Hintern, den eine Hose aus Großrundstrick wohl nicht im Mindesten daran hindern konnte, zugleich fest und sahneweich zu sein.

Aus dem Fernseher krähte und näselte gerade ein Heiterkeits-Onkel aus dem Friedrichstadtpalast auf uns ein. »Nee, der Gerd Schäfer wieder!«, rief Vater Dersinski, und der Inhaber Sitzlack fügte mehr für sich hinzu: »und schon wieder in seiner Rolle als Arschloch«. Marion setzte sich tatsächlich mit ihrem so schutzlosen Hintern auf meinen Fuß!

Evi, Hartmut und ich hatten als Sofalehnensitzer unsere Schuhe natürlich draußen vor der Tür gelassen, und wohin so schnell mit dem rechten Fuß, wo der große Onkel durch die tausendmal gestopfte Ringelsocke lugte? Mein großer Onkel tat so, als sei er plötzlich hervorragend gestopft und verhielt sich wohlig stille. Aber ein bisschen aufrechter als seine anderen vier Brüder stand er schon herum in dieser schönen Gegend, wo Blinde auf einmal sehend werden.

Ich langte verstohlen nach unten zu meiner linken großen Zehe und war bemüht, den gepanzerten Kugelhintern von Marions Mutter dabei nicht zu streifen. Ich musste doch prüfen – weil Rabenmutti bei mir auf rein gar nichts guckte –, ob ich nicht wieder mal Klauen wie Dracula dran hatte. Es ging aber so, und ein bisschen hervorragende Härte konnte ja vielleicht sogar ganz gut sein, wie auch die kleine runde Härte der beiden Zigarettenglutlöchlein in meinem Nyltesthemd, denn in das Löchlein unter meinem Bauchnabel schlüpfte etwas hinein und wuselte da herum, ein schlimmer kleiner Finger, der aber leider nicht Marion, sondern dem Sandkasten-Evchen gehörte.

Doch dem stocksteifen Dummkopf da unten mit seinen immer ganz plötzlichen 40 Grad Fieber war es wohl piephahnegal, zu wem ein Fingerchen und ein »Schlitz mit Katscher« gehörten. Auf einmal gab es eine Art Shakehands da unten in Marion. Und dann gleich noch einmal. Mein Zeh bedankte sich und guckte schon mal irgendwie über irgendeine Hausschwelle, von wo es allmählich bis ins Herz von Marion ging.

»Sing ein Lied, sing ein Lied, little Banjo-Boy«, sangen im Fernseher gerade Jan und Kjeld, die Banjo-Boys aus Kopenhagen, und mein Zeh wiegte sich schon ein bisschen zu der Melodie, obwohl nicht so recht davon begeistert. Da herrschte dann erst einmal eine etwas beleidigte Stille im Vorraum zur prickelnden Fabrik von Rundstrickhausen.

Evi neben mir kicherte. Sie hatte sich vorgebeugt und reimte sich wohl ihrs zusammen. Der Marion oberhalb ihres Hinterns war aber nichts anzumerken. Sie saß tadellos aufrecht da und zündete sich elegant und im Nu eine »Carmen« ohne Filter an. Sofort fuhr ihre Mutti herum, entriss ihr die Lulle, meckerte laut »Danke!« und quarzte das Ding selber weiter, indem sie ihre erst halb aufgerauchte »Duett« in den Schleuderascher quetschte, den ihr Tante Erna hinhielt.

Da rückte Marions Großrundstrickbrigade erst recht zusammen um meinen nun eher lauschenden statt erzählenden Großonkel. Ich konnte von Glück sagen, dass ich die engen Bluejeans mit dem zu knöpfenden Hosenstall trug, die ich von meinem großen Bruder Tücki geerbt hatte. Mein Dummkopf rammelte laufend an die Wand, aber kam nicht durch durch den besten Stoff der Welt.

»Erna!«, rief Tante Hertha, »wirste ma da weg? Sieht ja keiner was!«

Erna schlüpfte wie eine Muräne zurück in jenen Spalt, den sie sonnabends und sonntags an der Seite einer Fernsehbesitzerin wie Hertha gefunden hatte. »Guck, Hertha, da kommtse runter! Mann! Sie isses wirklich …«

»Kullerbunze«, brummte Heinz Spelinski maurerlaut unten auf dem Teppich. Was haben Bob Dylan und Trude Herr gemeinsam? Ihre Namen bestehen aus drei Silben. Ansonsten hatte seit seiner ersten, der Septembersendung von 65, der Bremer Beat-Club die Straßen und Landschaften von Jugendlichen leergefegt und endgültig alles verändert, vielleicht ja sogar im Osten die Sendung »Da lacht der Bär«?

Tante Erna oder Rabenmutti aber brauchten diese Prismen aus Schlagertränen, um sich zu trauen, ihr eigenes Leben anzuschauen. Noch dankbarer waren sie, wenn da eine kleine Ulknudel wie Trude Herr daherhüpfte und »Ich kann weinen, weinen, weinen wie ein Wasserfall, wenn ich nicht kriege, was ich haben will« röhrte.

Trude Herr aber sang natürlich im Ostfernsehen jenen Hit, den wir alle längst kannten. Hartmut und Evi und da unten zumindest Tante Erna sangen die Strophe gleich mit: »Ich ging doch neulich auf den Rummel, und ich kaufte auch ein Los. Ich hab auch wirklich was gewonnen! Doch die Enttäuschung, die war groß, ich gewann doch einen Teddy aus Schokolade, Marzipan, den warf ich wütend in die Menge und schrie den Losverkäufer an …«

»Ruhe beim Jungvolk da oben auf den billigen Plätzen!«, rief der Inhaber Sitzlack in unser Gegröle. Sein Bernhardiner Asbach vom Dreikanthof sah uns erhobenen Hauptes und kritisch an, als Evi, Hartmut und ich uns beim Refrain zu Krummmonstern unter der Tante-Hertha-Decke erhoben, wobei dem wohl immer noch vorhandenen Kind in mir auch leider, leider, leider der große Onkel folgen musste und mir selbst noch Evis kleiner Finger verlorenging.

Ich musste mich gleich umso enttäuschter zu der Stelle an der dunklen Haarflut von Marion herabbeugen, wo gewiss ein ganz schönes etwa siebzehnjähriges Ohr war. Von unten sah ich auch noch Erwin zu mir heraufgrinsen. Und nun grölte ich Idiot und Sofalehnenprolli auch noch den Refrain mit: »Ich will keine Schokolade, ich will lieber einen Mann, ich will einen, den ich küssen und um den Finger wickeln kann!«

Aber Streusandkisten-Evi, dieses kleine Aas, war es, die noch zwei Refrains mit Trude Herr hatte, trotz Ermahnung von Oma, Hertha, Erna, Sitzlack und von jeweils zwei Dudas und Dersinskis. Statt »um den Finger wickeln« krähte dieses Eichelhäherkind »um die Zehe wickeln«. Auch, dass ich sie mehrmals derb kniff, störte das Streusandkisten-Evchen kein bisschen.

Der Rest des Abends entglitt mir dann völlig. Ich versuchte beim allgemeinen Aufbruch der Nichtangehörigen draußen im Flur vor dem Klo noch Marion zu erwischen. Drinnen hustete ihre Mutti überdrüssig. Marion sah mich erstmals im Leben an, und ich hatte das heute schon einmal frisch erprobte Gefühl, dass es auch das letzte Mal war. Sie sah mich ohne jede Kälte oder Wärme an, was noch viel unangenehmer war als ihr intensiver Frost. Nach all dem Geschehen mit meinem rechten Onkel und ihr dachte ich trotzdem: Wenn ich ihr jetzt einen Kuss rauben könnte, würde alles wieder gut sein.

Ich sah auch bereits herrliche Lippen, die sich öffneten. Doch plötzlich hatte ich eine getachtelt gekriegt, wie sie es nur von ihrer Panzermutter mit Sehschlitz gelernt haben konnte. Und weg war sie, rummps! Aus dem Klo schritt ihre Mutter, die mich mit einem Seitenblick ebenfalls kurz und eben mal so aufschlitzte.

Da stand ich. Ich mochte auch nicht mehr reingehen. Und ich trug fünf Striemen davon, einer davon blutete sehr. Ich dachte da schon für einen Moment, ich würde heulen statt bluten. Dann stand Evi vor mir.

»Weißt du eigentlich überhaupt, wie ich heiße?«, fragte ich sie. »Mal ehrlich, weißt du’s?

»Blutbacke«, sagte Evi ohne Zögern. »Halt ma still!«

Und sie leckte meine Wunde ganz langsam von unten nach oben, drei mal – und weg war die Wunde.

Das war das zweite Wunder an diesem Tag.

»Ach, Evi«, sagte ich.

Evi sagte: »Wenn du bei der nachhaken würdest, würdeste Herzblut zu saufen kriegen. Und dein eignes auch gleich wieder.«

Ich sah vor mir auf einmal eine überall wunderbar farblose, aber dennoch feinstgesprenkelte Spätsommergrille mit verbogener randloser Brille, die wahrscheinlich noch aus der Kaiserzeit stammte, und ich sagte wohl zärtlicher, als mir als frisch Erwachsenem einem Kind gegenüber erlaubt ist: »Pfui, Evchen! Aber bleib wenigstens immer mein Blutstiller, Schätzchen.«

»Okay, mach ich!«, rief Evi, und schon war sie davongehüpft in die Nacht und in ihre arme arme Grillenstube zu ihrer bestimmt auch nicht ganz richtig tickenden Mutter in der benachbarten Straße.

Und schon wieder piekste mich gleich dreimal was in den Rücken.

»Bis morgen, Alter!«, rief Erwin noch und mir ein bisschen zu vertraulich. Er ließ seine Hand grüßend hoch oben im Straßenfunzeldämmer stehen.

»Mach so was nicht ein drittes Mal!«, rief ich ihm ärgerlich hinterher. »Ich bin außerdem die nächste Woche über im Kuhstall!«

»Ach jaaa!«, hörte ich Erwin noch. »Das fetzt! Du lernst ja Cowboy! Brate mir mal ein Rinderherz mit!«

Ich hatte gerade selber einen verdammten Vampirdurst, nämlich nach Herzblut mit Brombeergeschmack. Aber mein Sehnsuchtsopfer war längst schon auf und davon an der Seite dieser Kettenbrille für Augen und Titten. Marions Blicke sollten schmelzen, und zwar Blicke nur für mich, und ihre kühlen süßen Küsse wollte ich, und ich wollte, worum es den Männchen der Menschen seit einer Million Jahren immer geht. Jetzt gleich!

Wirklich? Wollte ich das? Ich war seit vier Stunden und zehn Minuten anscheinend erwachsen, aber nach was sehnte ich mich denn noch so schrecklich herrlich in dieser Nacht? Eine Rückwärtssehnsucht in die Kindheit war das nicht. Auch keine nach jemandem, der alles für einen macht, während man selber alle Viere wohlig von sich streckt. Es war schon gar nicht die saubere Zukunft »Für Frieden und Sozialismus, seid bereit!« mit ihren Waschlappen Genosse Untenrum und Genosse Obenrum.

Und wieder sah ich meinen Großvater vor mir, über mir, darüber nur noch das Sternenzelt und die Milchstraße mit ihren unzähligen Hausnummern. Da lachte der Bär. Der Große Bär lachte und der Kleine erst recht. Seit dieser Nacht zwinkern mir wohl manchmal auch die Nymphen zu. Falls überhaupt ich gemeint bin und nicht Jerry Cotton.

Das bisschen Zeug zur Ewigkeit

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