Читать книгу Festländer und Meere im Wechsel der Zeiten - Wilhelm Bölsche - Страница 6
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ОглавлениеEs ist oft gesagt worden: der Mensch sei ein Wesen, geboren auf der Wegscheide zweier Welten. Sein Heil sollte hier ruhen oder sein Fluch, je nachdem. Man hat das metaphysisch gesagt; dem wollen wir hier nun nicht nachforschen. Aber gewiß ist, daß es in einem Sinne gesagt werden kann, über den kein Streit der Parteien möglich ist. Als natürliches Wesen gehört dieser Mensch gleichzeitig der Feste an und der Feuchte, dem luftumwehten Lande und der blauen Welle, die den Fuß dieses Landes unablässig umspült. 59 Prozent des lebendigen Menschenleibes in erwachsenem Zustande bestehen aus Wasser. Ein kleiner Pfahlbau über der Feuchte ist jede Zelle darin; ein flüssiger Strom pulst unausgesetzt durch unsern ganzen Körper; und wenn er auch nur für einen Augenblick rastet, so schläft mit ihm unser Höchstes ein, das der Einzelmensch besitzt: der Gedanke. Damit dieser Lebensbronnen in uns sprudele, muß uns ebenso unaufhörlich von außen Wasser zugeführt werden, wir verschmachten in der Wüste unseres Planeten, wir wären dem völligen Untergang geweiht auf einem Monde, wo es kein Wasser gibt. Und doch gehören wir ebenso urverwachsen auch der Feste an. Wir besitzen zu unserer Atmung nicht die Wasserkieme des Fisches, sondern jenes gemeinsame Organ aller oberen Wirbeltiere, das höchstens in der Schwimmblase oder sonst einem luftgefüllten Darmabschnitt der Fische seine Vergleichung findet: die Lunge, die auf die freie Luftatmung eingestellt ist. Nur auf sie eingestellt ist; denn wenn wir mit dieser Stelle unseres Leibes in die einheitliche Wassertiefe versenkt werden, so erlischt das Leben nach unabänderlichem Gesetz ebenso, wie wenn man uns sonst das Wasser ganz entzöge. Und kein Zweifel auch, daß der Bau unserer Gliedmaßen wie unserer Sinnesorgane diesem Dasein auf der Feste, auf dem Lande, wo nur die freie Luft weht, entspricht. An dieser freien Luft hängt wieder das Höchste, das in unserer Kultur Mensch mit Mensch verknüpft hat: unsere Sprache. An dieser Feste, ob sie nun naturgegründet aus den Wassern rage oder von uns erst als Pfahlbau oder tragende Schiffsplanken darauf gelegt wurde, haften seit alters alle unsere stofflichen Kulturhilfen: unsere Werkzeuge und unser Haus, hier brennt das Feuer, das uns groß gemacht, hier gehen aus Stein und Metall die Waffe und die Axt hervor, die uns zum Herrn der Erde erhoben haben.
Wasser und Land, Erdteile und Meere: – die große Zweiheit, in die wir nach unserm Schicksal untrennbar hineingeboren sind.
Wer aber zweien Herren angehört, der hat vielleicht einen doppelten Schutz, doch er hat auch eine doppelte Sorge. Immer muß er bedacht sein, daß diese beiden Gewaltigen über ihm sich gegenseitig die Wage halten, daß nicht der eine gegen den andern plötzlich verderbenbringend sein Machtbereich verändere und ausdehne. Und so ist das Bangen der Völker seit uralten Tagen hinter der Frage gewesen: ist der Bestand des Festlandes und des Wassers auf der Kulturerde ein dauernder, ein geregelter, mit dem wir uns einrichten können; ist die Besitztafel, die Karte, die dieses Verhältnis wiedergibt, ein grundlegende Dokument für die Ewigkeit; oder fließen diese Dinge selbst, wandeln sich im Laufe der Zeiten oder stürzen gar gelegentlich in furchtbaren Katastrophen, den Ort wechselnd, durcheinander …?
Es ist bezeichnend für die Geschichte der Menschheit, daß sie durchweg die Hauptangst dabei vor einer Verschiebung zugunsten des Wassers gehabt hat. In seiner entlegenen Ahnenschaft ist ja wohl der Mensch auch einmal ein echtes und rechtes Wassertier gewesen. Aber schon früh war sein natürlicher Stammbaum dauernd auf dem Lande weitergewachsen. Als er im engeren Sinne als »Mensch« begann, als die »Kulturgeschichte« begann, da stand er recht eigentlich mit beiden Beinen auf diesem Lande. Von Anfang an hat es ihn ziemlich gnädig behandelt, dieses Land. Der Kulturmensch ist nicht als durstendes Kind der Wüste aufgewachsen. Das erste halbwegs deutliche Stück Kulturgeschichte, das wir kennen, geht noch durch den letzten Teil der sogenannten Diluvialzeit und ihre Nachwehen. Das war eine Zeit auffällig feuchtkühlen Klimas. Verbarrikadierte es eine Weile die gemäßigten Nordgebiete mit Eis, so wirkte es umgekehrt weiter südlich als eine große Regenperiode, die auch heute trockene Länder dort sehr fruchtbar gehalten haben muß, was für die ältere Kulturgeschichte wahrscheinlich von der allergrößten Wichtigkeit gewesen ist. Nachher erlebte der Mensch dann nördlich eine Epoche allgemeiner Klimamilderung mit einem Überschwang noch an bequemen Flüssen und Seen im Binnenlande. Selbst die Grassteppe hat ihm gerade sein größtes Geschenk gegeben, nämlich den Ackerbau. Und wo er sich wirklich in die Wüste gewagt hat, da ist es erst später und mehr freiwillig geschehen. In seinen guten Stunden ist ihm seine Erde also trotz rauher Gebirge und Urwälder doch immer als ein werdender Garten erschienen. Im Ideal träumte er sie als Paradies, und er hat dieses Paradies doch nicht immer als ein verlorenes gedacht, sondern in starken Augenblicken auch als eines, das mit kluger Arbeit mehr und mehr zu erringen sei. Unheimlich aber war ihm das Wasser, wo es nicht als befruchtender Strom, sondern als graue wogende, unabsehbar endlose Meeresfläche erschien. Lange blieben ihm die großen Ozeane absolute Verkehrsgrenzen, so unüberschreitbar wie für uns heute der leere Weltraum zwischen zwei Planeten. Ganz, ganz langsam vollzog sich erst der Versuch einer mühsamen Anpassung, einer zaghaften Bewältigung auch hier mit dem Werkzeug, dem Schiff. Die homerischen Gedichte stehen schon im Zeichen einer notdürftigen Schiffahrt auf einem kleinen Binnenmeer, aber ebenso sind sie noch im Zeichen der Meeresangst; Poseidon ist der greuliche Verderber im Gegensatz zum guten Zeus, der auf Bergen und Bergwolken sitzt. Und ganz abscheulich war der Gedanke, es möchte dieses Meer eines Tages aufbäumen, in den schönen Erdengarten roh eindringen und das Land verschlingen. In seiner höchsten Steigerung lebt dieses Grauen in der Erzählung von der dämonischen Riesenflut, der Sintflut, fort.
In alten Tagen soll das Wasser einmal so hoch gestiegen sein, daß es die ganze bewohnbare Erde überschwemmte; so hoch zuletzt, daß sogar die Gipfel der Berge überflutet wurden; wenn Bewohner des Landes damals dieser Flut entkommen sind, so konnten sie es nur mit Hilfe eines Schiffs, das so lange auf den Wogen trieb, bis die Wasser sich wieder zurückzogen. In ungefähr dieser Form fand und findet sich die Sage bei den verschiedensten Völkern. Uns ist sie am geläufigsten in dem biblischen Bericht, der sie mit dramatischer Anschaulichkeit schildert. Im alten Babylon läßt sie sich in auffällig ähnlicher Form bis ins dritte Jahrtausend vor Christus zurück verfolgen. In einer auch von hier beeinflußten Gestalt dauerte sie noch bei den antiken Griechen fort. Sie klingt an in den indischen Veden und der nordischen Edda und tritt selbständig stark auf im alten Persien. Fast gar nicht bekannt bei den Negervölkern Afrikas, beschäftigt sie um so lebhafter heute noch die Phantasie fast aller Südseeinsulaner. In Amerika lebt sie in ungezählten Varianten von den Eskimos im höchsten Norden an durch alle Indianerstämme durch bis tief nach Südamerika herab, und die verklungenen Kulturstaaten von Mexiko und Peru hatten sie so genau in ihrer Geschichts- und Religionsbibel wie die Babylonier oder Hebräer.
Vielgestaltig ist ihre Einkleidung je nach dem Glaubenskreise und sonstigen Weltmythus so verschiedenartiger Völker. Im altpersischen Bericht trifft die ungeheure Flut noch auf keine Menschen, sondern rafft nur dämonische Ungetüme, die das böse Prinzip geschaffen hat, dahin. In der Edda berührt sie nur die vormenschliche Zeit der Riesen, von denen sich ein Paar in einem Boot rettet. Bald ist sie nur ein chaotischer Naturspuk, bald wieder wird sie aufgenommen in die sittlichen Erzählungen, mit denen eine moralische Wahrheit im anschaulichen Gleichnis beigebracht werden soll; die schreckliche kommt, weil die Menschen böse waren, und nur der Gute überlebt; in diesem ethischen Kleide geht die Sintflut (als »Sündflut«, wie man das deutsche Wort später darauf anspielend umgeändert hat) in der Bibel; aber die Idee eines Strafgericht kehrt beispielsweise auch bei den Fidschiinsulanern in einer offenbar dort ganz ursprünglichen Form wieder. In dem älteren babylonischen Bericht steht hinter dem schauerlichen Todesurteil eine Vielheit von Göttern; in dem jüngeren biblischen hat nur der eine Gott die ganze Tragödie des Untergangs und der Errettung in seiner allmächtigen Hand. An vielen Stellen tritt der Bericht uns entgegen im Gewande eines mehr oder minder anmutigen kleinen Volksmärchens, oft mit humoristischen Zügen; daneben aber stehen die dichterischen Ausgestaltungen schon im Kunstepos wie in der babylonischen Erzählung oder in der mexikanischen Legende. Gern kehren gewisse kleine Züge auch an den entferntesten Ecken wieder: so daß das rettende Schiff (die Arche der Bibel) an einem hohen Berggipfel landet, oder daß, wie die Taube der Bibel, Tiere ausgesandt werden, um das Fallen der Gewässer zu erkunden. In manchen Fällen ist ja hier ohne Absicht in die Dinge hineingemogelt worden: Missionare haben z. B. heutigen Naturvölkern aus dem biblischen Text erzählt, das ist weitergegeben, mit echter Volksüberlieferung vermischt und bei anderer Gelegenheit einem andern Missionar oder Forscher, der einheimischen Sintflutsagen nachfragte, ganz gemütlich als alt und echt aufgetischt worden. Aber nicht alle Übereinstimmungen lassen sich so erklären.
Läßt man den ethisch-religiösen Lehrinhalt und die ersichtlichen dichterisch-mythischen Ausschmückungen beiseite, so hat das Interesse lange und bis heute immer wieder bei der Frage verweilt, ob nicht im Kern der Sintflutsage die Erinnerung an ein wirkliches naturgeschichtliches, ein geologisches Ereignis stecken könne: die Erinnerung an eine erdumspannende Wasserkatastrophe, die im Morgenrot der Völker tatsächlich noch einmal unsern ganzen Planeten betroffen hätte.
Unsere Wissenschaft auf ihrem heutigen Stande muß die Möglichkeit in dieser Form mit ruhiger Gewißheit verneinen.
In der Sintflutsage kommt schon Schiffahrt vor. Das deutet auf eine gewisse Höhe der Kultur. Die allgemeine Wasserbedeckung aller Erdteile müßte also mindestens seit Beginn der menschlichen Kulturgeschichte stattgefunden haben. Die geologische Beschaffenheit der Erdoberfläche lehrt uns aber genau die Dinge kennen, die innerhalb dieser Zeit auf dem Lande gewirkt und verändert haben. Eine Unmenge geologischer Ereignisse hat sich da noch vollzogen. Die großen Gletscher der Eiszeit sind heruntergetaut, Schwemmgrund und Staubmassen haben sich gehäuft, Gestein ist zu Schutt verwittert, Ströme haben ihr Bett verändert oder eingeschränkt, Tropfstein ist in Höhlen gewachsen und hat uraltes Kulturmaterial überdeckt, Vulkane haben ausgeworfen, Seen haben ihren Wasserspiegel niedriger gelegt, Korallentiere haben an ihren Riffen gebaut und so viel anderes mehr. Doch keine leiseste Spur verrät eine allgemeine Überflutung aller Länder durch den Ozean. Aus dem Bestand und der Verbreitung der Tiere und Pflanzen während dieser Zeitspanne aber können wir den durchaus sicheren Beweis führen, daß eine solche Überschwemmung nicht stattgefunden haben kann. Auch wenn überhaupt bei solcher allgemeinen Flut sich wunderbarerweise irgendwo Landtiere und Landpflanzen erhalten hätten, so würde die geographische Verbreitung der Arten seither doch eine grundlegend andere sein müssen, als sie tatsächlich ist. Es war eine Frage, die schon in den Tagen des strengsten biblischen Sintflutglaubens bei den Kirchenvätern und wieder dann nach der Entdeckung von Amerika öfter erörtert worden ist: wie sich nach Landung der Arche in Asien die geretteten Landtiere, die doch nicht Ozeane durchschwimmen konnten, wieder bis auf die einsamen Inseln im Weltmeer hätten verbreiten können; die einen meinten, Noah habe sie besonders übergesetzt, eine etwas umständliche Sache; die andern nahmen für diesen Fall ein Neuentstehen durch eine Art Urzeugung ohne Archenanschluß an, wobei man aber fragen konnte, warum überhaupt Noah Tiere mitnahm, wenn das möglich war. Es ist aber gar nicht nötig, daß man einem ehrwürdigen Dokument der Menschheit in dieser Form einzeln zusetzt; denn die naturgeschichtlichen Tatsachen lassen nach dieser ganzen Seite überhaupt nicht die allermindeste Ungewißheit mehr darüber, daß eine derartige Sintflut als Gesamtkatastrophe nicht stattgefunden hat.
Wenn also in der Völkersage eine echte geologische Erinnerung stecken soll, so könnte sie nur auf ein räumlich beschränktes Ereignis gehen, irgendeine böse Hochflut, die ein gewisses Küstenland oder Inselgebiet einzeln einmal betroffen hätte. Man hat daran gedacht, daß alle Rassen, alle Völker der Menschheit doch wohl in sehr alten Tagen von einem einzigen bestimmten Fleck Erde ausgegangen wären, und daß sie noch vor ihrer Zerstreuung an diesem Fleck eine solche lokale Wassersnot erlebt hätten, die ihnen allen spät noch nach ihrer Zerstreuung sagenhaft in der Erinnerung fortgezittert hätte. Das wäre geologisch wenigstens möglich. Wir wissen von dem großen Geheimnis der Rassenzerspaltung und Urheimat der Menschheit so wenig, daß es nichts verschlüge, hier noch ein paar Geheimnisse mehr ins Vordunkel zu legen. Inzwischen ist aber merkwürdig, daß dann nicht alle Völker die Sage besitzen und besaßen. Die Neger, denen sie so auffällig fehlt, müßten zur Zeit ihrer Begründung schon nicht mehr im Ursitz dabei gewesen sein. Selbst so schwindelt einem aber noch bei der Vorstellung, wie alt die Sage sein müßte, wenn sie überhaupt bis hinter Rassentrennungen reichen soll. Und man kann jedenfalls niemand verdenken, wenn er einfacher durchzudringen versucht.
Die Sage könnte zwar an eine örtliche Überschwemmung anknüpfen, aber solche Überschwemmung könnte öfter in alten Kulturtagen an weit verschiedenen Stellen erfolgt sein und sehr verschiedene Völker könnten durch ähnliche Ereignisse der Art zu einer ähnlichen Überlieferung unabhängig voneinander gekommen sein. Die ähnlichen Einzelzüge würden sich dann aus der Gesetzmäßigkeit erklären, die schließlich auch im Fabulieren und Ausschmücken herrscht, sowie aus gewissen sachlichen Notwendigkeiten, die der gleiche Naturanlaß überall zeitigen mußte. Bei jeder grimmen Flut müssen Schiffe, wenn sie da waren, eine Rolle gespielt haben; Klippen, wo ein solches Schiff zuerst landete, müssen immer wieder im Bericht vorgekommen sein; einen Vogel auf gefährlicher Meerfahrt mitzunehmen und auf Kundschaft fliegen zu lassen, ob er die Landrichtung finde und den unschlüssigen Schiffern weise, ist ein uralter Brauch, der auch sonst in antiken Sagen und alten Reiseberichten seine Rolle spielt; noch von Kolumbus wird berichtet, daß er sich aus einem zufällig vorbeifliegenden Zug Papageien vergewisserte, ob in der Wasserwüste vor ihm Land liege oder nicht. Und ebenso mußte der Schreck über das schauerliche Abenteuer sich in der Rückschau immer wieder zu dem moralischen Schluß auswachsen, daß hier ein Strafgericht waltete für die Verlorenen, ein Gnadengeschenk für die Geretteten. Solche Dinge würden also nicht den Zusammenhang all der Flutsagen beweisen, sondern nur bestätigen, daß vor ähnlichen Ursachen die verschiedensten Menschen immer das gleiche tun, glauben und hinzudichten seit Urtagen. Man ist allgemein heute in der Völkerkunde mehr geneigt, Übereinstimmungen in Sitten und Gedanken so zu erklären, anstatt gleich zu kühnen Verwandtschaftshypothesen seine Zuflucht zu nehmen.
Verschiedene der einzelnen Flutberichte enthalten auch die deutlichsten Anzeichen einer Katastrophe, wie sie lokal nur dort möglich war, wo heute noch das betreffende Volk sitzt. Was man in chinesischen Chroniken als Sintflutbericht bezeichnet hat, ist nichts anderes als die unverkennbare Beschreibung von besonders verheerenden Ausbrüchen des Stromes Hoangho durch Risse seiner natürlichen Uferleisten aus sogenanntem Lößstaub; solche Ausbrüche kommen dort heute noch vor. Und wenn bei den Kordilleren-Indianern Südamerikas in ihrer Sintflut Erdbeben und Vulkanausbrüche mitspielen, so fühlt man ebenso den Heimatboden. Selbst für die berühmteste Gestalt der Sage, die babylonisch-biblische, hat aber schon vor Jahren der große Wiener Geolog Eduard Sueß den ansprechenden Beweis versucht, sie auf ein durchaus örtliches Ereignis in der mesopotamischen Niederung am Euphrat und Tigris zu beziehen. Der ältere babylonische Bericht scheint in der Tat noch eine ganze Reihe erkennbarer naturgeschichtlicher Lokalfarben zu geben. Die Erde habe gezittert, die Wasser (Brunnen) der Tiefe seien ausgebrochen, Sturm und Finsternis seien über das Land gekommen, und der Wogenschwall sei vom Meer heraufgestürmt. Das alles würde für ein furchtbares Erdbeben im Gebiet des persischen Meerbusens sprechen, bei dem das Grundwasser aus Bodenspalten brach und mit dessen höchster Steigerung sich, wie so oft, ein gewaltiger Zyklon oder Wirbelsturm im Meer verband, der die Wassermassen tief ins Land hineintrieb. Wenn sich bei den ersten Vorstößen des Bebens Menschen auf Schiffe gerettet hatten, so mußten diese Schiffe dabei weit nordwärts über die ganze Niederung bis an die begrenzenden Berge verschleppt werden, wo sie ganz wie die Arche des Berichts stranden konnten. Wir brauchen nicht ins Sagenland zu gehen, um die zerstörenden Wirkungen solcher vom Meere kommenden Zyklone und Erdbebenfluten kennen zu lernen.
Schließlich wäre sogar möglich, daß die Menschheitskultur auf einer sehr frühen Stufe durch eine Zeitlage durchgegangen wäre, die solchen lokalen Überschwemmungen allgemein besonders günstig war. Wenn die Geologie auch nichts von einer Wasserbedeckung der Erde weiß, so lassen sich doch wohl Spuren merken einerseits, wie erwähnt, von einer großen Regenzeit (Pluvialperiode), die über die äquatornäheren Gebiete der Erde parallel zu der nordischen diluvialen Eiszeit hingegangen ist, andrerseits von einem mächtigen Anschwellen der Flüsse und Binnenseen, das im Gefolge des wiedereintretenden Schmelzens dieser großen Eismassen sich vollzogen haben muß. Werden diese ganzen Vorgänge sich auch über Jahrtausende verteilt haben, so mag im einzelnen doch in ihnen ein häufigerer Anlaß zu bösen örtlichen Katastrophen gelegen haben, und daß der frühere Kulturmensch diese Dinge noch miterlebt hat, ist gewiß. Wenn man die Sage also durchaus für sehr alt halten will, mag man wenigstens diese geologische Urerinnerung noch hineinbringen. Auch sie kann aber schon an den verschiedensten Stellen und von getrenntesten Völkern unabhängig erworben sein.
Doch wie das alles nun sei: auch in ihrer strengsten, starrsten und abenteuerlichsten Form, wie die Sintflutlegende geglaubt worden ist, hat sie für einen bestimmten Fortschritt des menschlichen Wissens und wahren Naturerkennens einen ganz unschätzbaren Gewinn gehabt. Während sie nämlich die Phantasie der Menschen unterhielt mit dem Schauergemälde einer schwarzen Riesenflut, die einst die ganze Menschenerde überschwemmt habe, schuf und schärfte sie ganz in der Stille den Kulturmenschen den Blick für eine ganz andere, sozusagen geräuschlose Art, wie in langen langen Zeiträumen wirklich Wasser und Land, Feste und Meer im weitergehenden Maße auf dieser Erde sich verwandelt, miteinander abgewechselt und einander abgelöst haben mußten.
In den Tagen des fröhlichsten Glaubens an die echte Sint- und Sündflut, wie sie im Buche stand, geschah es im wachsenden Kulturlande Europa immer öfter, daß sinnende Köpfe bei dem verweilten, was in der Praxis längst Kinder und Wilde gewußt hatten und was selbst den uralten steinzeitlichen Diluvialmenschen, deren Schmuck und Werkzeug wir heute noch ausgraben, schon durchaus geläufig gewesen sein muß: nämlich der Tatsache, daß selbst tief drinnen im Binnenlande (in Gegenden, wohin bei heutiger Sachlage der Dinge schlechterdings niemals auch der größte Zyklon vom Meere her Ozeanwasser verschwemmen könnte) aus dem harten Fels, der unsern altvertrauten Heimatswald trägt oder neben unserm Acker ansteht oder bei unserm Steinbruchbetrieb tief heraufkommt, die Schalen und Reste meerbewohnender Muscheln und anderer Seetiere versteint, aber doch noch im Umriß unzweideutig erkennbar gelegentlich zutage treten. Stellenweise sehen solche Schälchen trotz ihrer Versteinerung noch so nett aus, daß z. B. jene Diluvialmenschen in ihren Höhlen sie schon mit besonderer Liebe als Schmuck zusammengesucht und bewahrt hatten. Der Sintflutgläubige mußte darin zunächst ja den greifbarsten Beweis seiner Sintflut selber sehen, die eben auch bis hierher gelangt sei und ihre Austern oder Seeigel verfrachtet hätte; gelegentlich mögen Flutsagen sogar bei ihrer Entstehung unmittelbar schon durch solche Funde angeregt und beeinflußt worden sein. Und wenn der Gläubige gar hoch im Alpengebirge solche ansehnliche Muschel aus dem harten Stein brach, so erschien ihm schier leibhaftig zunächst das biblische Bild von den Wassern, die angeblich viele Ellen hoch bis über die höchsten Berggipfel hinaus gestiegen waren. Im 18. Jahrhundert gibt es einen spaßhaften Streit, in dem der Freigeist Voltaire die Sündflut anzweifelte, weil er allgemein die Autorität der Bibel nicht mehr gelten lassen wollte, die Anhänger aber eben auf diese Muscheln in den Alpen verwiesen; da bestritt Voltaire auch die natürliche Herkunft dieser Muscheln selber und meinte, sie seien wohl einst von den Hüten vorbeiziehender Pilger, die sich gewohnheitsmäßig mit Mittelmeermuscheln schmückten, verloren worden. Der tapfere Kämpe hatte in diesem Falle sachlich unrecht, die Muscheln stammten wirklich aus dem Stein. Aber auch die Sintflutler hatten deshalb nicht recht. Denn diese Muscheln entstammten nicht einer mythischen Allgemeinflut aus Menschentagen, sondern sie deuteten mit dem Gestein, das sie umschloß und das selber nichts anderes war als versteinter uralter Meerschlamm, auf Zeiten, länger als alle bisherige Menschenahnung und älter als alle Menschenüberlieferung. Und sie deuteten dort auf ein uralt fortwaltendes Geheimnis, wunderbarer eigentlich noch als der plötzliche Ruck und Schreck einer dahinbrausenden und sich wieder verlierenden einzelnen Sintflut. An dieser Stelle, die jetzt tief im Binnenlande oder durch noch seltsamere Verwandlung gar hoch auf dem wolkenragenden Gebirge lag, hatte einst wirklich der Ozean geblaut, lebendigen Seeigeln und Pilgermuscheln ihre natürliche Wohnstätte darbietend. Zur gleichen Zeit aber war an Stellen, wo heute dieses Meer blaut, damals hochragendes Land gewesen, auf dem Palmen wachsen und lungenatmende Landtiere leben konnten. In unfaßbaren Zeiten, gegen die auch die allerlängsten Zusammenschlüsse menschlicher Geschlechterfolgen wie flüchtige Sekunden zusammenschmolzen, hatten diese Dinge ganz, ganz allmählich sich dann wieder verschoben. Fortgewandert, ausgetrocknet, bis auf letzte versteinende Schlammkrusten und abgestorbene Muschellager völlig verschwunden war hier das Meer, um jetzt nicht sintfluthaft räuberisch einbrechend, sondern ganz, ganz langsam erobernd drüben die Scholle zu besetzen, zu überfluten, endlich hoch zu bedecken und dort mit Muscheln und Seeigeln zu bevölkern, wo voreinst der Schmetterling über Blüten geschwebt hatte. Einmal hatten sich die Dinge so verschoben, aber nicht bloß einmal. In der unermeßlichen Länge der Zeiten war dieser Wechsel von Land und Wasser, Ländern und Meeren öfter erfolgt. Wie eine große Wandeldekoration hatte es sich langsam über unsern Planeten dahin geschoben, rastlos in nicht endender Wühlarbeit die große Erdkarte immer wieder um- und umarbeitend. Bis das Bild stand, das der Mensch fand, – das heute uns umgibt, – das wir unsern kleinen Knaben beibringen als die wahre Karte in der Geographie. Aber schon ist an kleinen Anzeichen merkbar, daß auch hier keine Rast der Dinge sein kann. Das Wandelbild gleitet still unter uns weiter. Mit einer unhemmbaren Elementarkraft, die zuletzt wenn nur die Zeit gegeben ist, tatsächlich großartiger und stärker ist, als der wildeste im Augenblick verheerende Zyklon, – stärker selbst als die mythische Regenwolke, die vierzig Tage und vierzig Nächte regnete; denn diese Wolke hätte nur zerstören können, diese Urkraft aber baut. Sie tieft Land zu Meer und türmt neue Erdteile aus den Wassern, sie wirft das Gebirge in den Ozean, aber sie baut im gleichen Zeitenraum ein neues bis hoch über die Grenze des Himmelsschnees; sie hat das Leben nicht vernichtet oder bloß in armen Spuren mit einer Arche auf dem Bestand erhalten; rastlos hat sie auch ihm immer neue Bedingungen eröffnet, immer neue Möglichkeiten, an denen es sich in eigener Folgerichtigkeit ohne Überstürzung selbst wandeln und steigern konnte. Nicht vom zerstörenden Fluß der Sintflut kündet die Muschel im Stein; sondern vom Fließen der Karte in Urwelt, Gegenwart und Ferne.
Abb. 1. Wagerecht aufeinander geschichtete Gesteinsmassen in einem Steinbruch bei Gingen a. F. in Württemberg, die in der Juraperiode so abgelagert wurden.
Nach dem Besinnen über diese seltsamen Muschelfunde war es die größte nächste Erkenntnis, die zur Grundlage hier einer wirklichen Wissenschaft führte: daß man sich allmählich überzeugen mußte, man stände vor Geschehnissen, die zum Teil jedenfalls noch vor allem Menschendasein auf der Erde lägen. Mit dieser Erkenntnis ist recht eigentlich die Geologie im heutigen Sinne begründet worden. In einen Abgrund der Erdgeschichte lernte man sehen, der erst unter, erst vor aller sogenannten menschlichen »Geschichte« gähnte. Anfangs erschien es noch als eine Möglichkeit, wenigstens dort hinunter einen Abglanz der alten Mythe fallen zu lassen: man träumte von plötzlichen wüsten Katastrophen, die den großen Wandel der Land- und Wassergestaltung mindestens damals noch beherrscht haben sollten, wobei allerdings nicht mehr von Strafgerichten die Rede sein konnte, denn der Mensch war ja noch gar nicht dabei. Auch das erwies sich aber nach kurzer Herrschaft als ein geologische Märchen. Auch vor der Zeit des Kulturmenschen hatten keine jähen Sintfluten, keine die ganze Erde von einem Tag zum andern grob verwüstenden Schrecken gelegen. In langsamem Werden war auch dort immer eine der alten Erdperioden in die andere übergegangen, und langsam, im Schritt dieser allgemeinen Entwicklung, hatte sich auch jene Veränderung der Karte vollzogen.
Als man aber das sicher erfaßt hatte, da war die Bahn frei zu einer bedeutsamsten dritten Erkenntnis, die erst ins Herz der ganzen Sache traf. Dieser geheimnisvolle geschichtliche Wechsel der Land- und Meerverteilung, der so durch die Jahrmillionen ging, war jedenfalls in gewissem Sinne nicht bewirkt worden durch besondere, erst neu zu entdeckende Vorweltskräfte der Natur, sondern es arbeiteten durchweg in ihm Naturvorgänge, die wir noch heute ganz genau auf der Erde beim Werk beobachten können, wenn auch dieses Werk in dem kurzen Maßstab, den wir erst anlegen, nur ganz gemächlich dabei vorschreitet, – vielfach so gemächlich, daß der ungeübte Blick sich leicht darüber täuschen kann, als rücke es überhaupt nicht vor.
Wehrli A.-G., phot.
Abb. 2. Das Matterhorn.
Wenn in wilder Sturmnacht das Meer brüllt und die Wogen Stoß um Stoß gegen die Deiche rennen wie Sturmwidder gegen eine Festung, dann ergreift auch uns ja heute, so fern uns die alten Völkersagen allmählich liegen mögen, etwas Revolutionsangst vor der Natur. Aber die Nacht vergeht, und die Meeresfläche ruht feierlich still in ihrem Blau unter der Sonne: wie stark erscheint der Gegensatz des Naturfriedens in diesem Bilde! Und wir wandern an solchem frischen Morgen landeinwärts, über uns gehen ein paar schöne weiße Wolken, geisterhaft schwebend und zerfließend in ihrem Himmelsazur, mit, neben uns rinnt ein Bächlein leise singend durch den Wiesenplan, uns vertraut in dieser lieben Heimlichkeit seit Kindertagen. Tauperlen glänzen noch in der Frühsonne von den grünen Halmen. Fern lösen sich zarte Nebelschleier, das violette Gebirge wird hell mit ein paar Schneegipfeln. Die Ahnen unseres Volkes sind schon über diese Pässe gezogen, wie heute lag damals bereits der Schnee, wie heute drängten die Wolken herauf gleich Herden weißer Schäfchen und zerstiebten wieder zu wesenlosem Schein, während die uralten Granitriesen in unerschütterlicher Herrlichkeit ragten, ein Bild der Ewigkeit. Friedlich wie ein murmelndes Bächlein scheint über solche Landschaft auch der gewohnte Kreislauf der Natur hinzuziehen. Man denkt an das Bibelwort, das diesem Kreislauf so schön als die ewige Friedensverheißung hinter den Sintflutschrecken setzt: »So lange die Erde steht, soll nicht aufhören Samen und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.«
Merkwürdig aber, wie der Standpunkt wechseln muß. Der Naturforscher, der sich wenig um die Sintflut sorgt und selbst der wildesten Sturmflut der Küste doch nur eine untergeordnete Rolle in jenem großen Wandel des Geologischen beimißt, weiß, daß eine der nachhaltigsten Revolutionen unserer Erdoberfläche sich fort und fort gerade in diesen scheinbar idyllischen Naturbildern vollzieht. Nur der langsame Gang, mit unsern Menschenmaßen des Alltagslebens gemessen, verschleiert das dämonisch Ungeheure des Ereignisse hier. Könnten wir unsern Zeitblick ändern, Jahrhunderttausende in einem Augenblick sehen: wir würden ein Schauspiel erleben, das sich mit jeder Sintflut messen könnte, ja sie überböte. Von diesem sonnenhellen blauen Meeresspiegel stiege es unsichtbar herauf wie ein geheimnisvoller Zauber gegen dieses ganze Land, zu diesen Bergen. Und von ihm berührt, zerbrächen die Berge, lösten sich auf, rasselten in unermeßlichen Trümmern und Scherben flutend ins Flachland herab. Das Land selber aber höhlte sich allenthalben, sänke ein, zerbröckelte, während es gleichzeitig wie eine teigartige Masse in das Wasser hinausquölle.
In Wahrheit ist der Zauber, der da waltet, aber auch nichts anderes als Wasser selbst. Es ist das Wasser des Ozeans, das allerdings nicht in einer schwarzen Schauernacht über die Lande aufbäumt, das aber unablässig, Tag um Tag, Jahr um Jahr, Jahrtausend um Jahrtausend unsichtbar in Gestalt wassergetränkter Luft auf diese Feste heraufkriecht und hier in dem allbekannten Kreislauf vom höchsten Fels bis zum tiefsten Tal alles durchfeuchtet, durchrieselt, durchströmt, um endlich wieder heimzukehren in seinen großen Urschoß. Diese »geheime Sintflut« braucht nicht plötzlich zu kommen, sie ist beständig über uns, um uns. Um unsere Ahnen floß sie schon, und sie hat höher, als die Bibel weiß, bereits über allen Bergen der Erde gestanden, lange ehe der Mensch mit seiner Kultur begann. Ihr Kommen kündigt sich nicht mit Finsternis an, sondern recht eigentlich gerade ein Kind der Sonne über dem blauen Meer ist sie ihrem innersten Ursprung nach.
Wenn die Sonne die Flächen des Ozeans erwärmt, so befreit sich still ein Teil des Wassers dort von seinem gewöhnlichen Zustande und steigt als feiner Dunst, feiner Wasserschwaden in die Lüfte empor. Dort bald verdichtet, fällt ein großer Teil dieser wandernden Wasserstäubchen allerdings wieder in den Mutterschoß zurück. Aber ein anderer Teil breitet sich in diesem freien Spiel weit aus allen Meeresgrenzen hinaus auch über die Lande aus, er verschwebt bis zu den fernsten Bergen, und wenn er dort jetzt auch zur Verdichtung kommt, so erscheint er inmitten der Feste als Feuchte, die scheinbar vom Himmel fällt. Sie sinkt herab als Tau und als Regen, als Hagel, Reif und Schnee. Viel von ihr verdunstet sogleich neu in die Luft hinein. Aber nicht alles kann so bewältigt werden. Regentröpfchen vereinigen sich zu feinsten Wasseräderchen; die verschmelzen zu Bächlein, der Bach wird zum Fluß. Vieles senkt sich zunächst in die Tiefe des Bodens, durchfeuchtet die innere Feste, bricht aber wieder als Quell vor. Immer aber auch auf der oberen Fläche folgt die rieselnde Welle dem Zwang nach der Tiefe, als Tröpfchen wie als Strom zuletzt rinnt sie abwärts, vom Gebirge zum Flachland, bis sie endlich die eigene Heimat, das Meer, wieder erreicht hat, mit dessen Verdunsten und Verdampfen im Sonnenkuß das rastlose Spiel neu beginnt.
Nun aber diese Kreisbahn, die vom Standpunkt des Wassers doch immer nur wie eine einfache Wanderschaft erscheinen könnte, die die Dinge im Fluß hält, aber zuletzt nichts ändert, ist von der schier unfaßbar einschneidendsten Bedeutung für das Land selbst. Wie jeder Pilger mit dem Tritt seines Fußes Teilchen von dem Boden abschürft, den er überschritten hat; wie man sagt, daß jeder Heimkehrende etwas Staub der Fremde an den Sohlen mitbringt: so gräbt auch jedes wandernde Wassertröpfchen seine Spur ein und so schleppt auch jedes Tröpfchen sein Stäubchen mit fort. Der fallende Tropfen höhlt zuletzt den Stein. Der Kreislauf der Tropfen aber vom Ozean bis zur Regenwolke, vom Bach bis zum Strom und vom Strom wieder ins Meer, über Jahrhunderttausende immerzu fallend, grabend und fortkarrend, wäscht zuletzt ein ganzes Gebirge zu Tal und trägt die Trümmer als Sand ins Meer.
Im alltäglichen Naturbilde weiß das jeder: daß jeder Regen Risse in den weichen Boden kerbt und Erdreich mitschwemmt; daß der Bach und der Fluß sich ihr Bett durchweg selber gegraben haben; daß sie Gestein und Schlamm abwärts verfrachten, Steine zu Sand zermahlen und den Sand endlich in unabsehbaren Flächen in ihrem untersten Lauf häufen, bis die Meereswelle ihn zuletzt verschlingt. Wer sich den Blick aber einmal hier geübt hat und ins Gebirge kommt, der muß gewahren, daß auch unsere höchsten Gebirge von heute eigentlich verfallende, zerbrechende Ruinen sind. Von diesen »Ewigkeitszeugen« herab ziehen sich allenthalben die wüsten Schutthalden. Die himmelragenden Zinken sind nahe besehen nur noch verwitterte Restzacken wie an hohlen Zähnen. Die Schneekoppe unseres Riesengebirges, die vor dem Wanderer fern im Tal auftaucht wie ein blauer Dom der Unvergänglichkeit, entpuppt sich beim Aufstieg als ein einiger Scherbenberg, zertrümmert wie ein Lager Töpfe, in das eine übermächtige Faust geschlagen. Das ungeheure Matterhorn in der Schweiz, das aussieht, als habe mit ihm die Schöpfung angefangen, erweist sich nahe auf seine Schichtung geprüft als ein letzter noch stehengebliebener Pfeiler eines ehemaligen kolossalen Gewölbesattels, den das abschätzende Auge sich noch ganz gut in der blauen Luft hinzu ergänzen kann; in Wahrheit liegt er bis auf die eine Zahnecke zermalmt, zermahlen als Schutt im Tal, als Sand im Meer … Keine Hunnen und Vandalen haben so zerstören, keine Kanonen solche Burgen der Natur zerschießen können; aber einer hat es vollbracht: der Wassertropfen. Und nicht nur das Gebirge verfällt ihm so. Wer in der sächsischen Schweiz je durch die schmalen Klammen gewandert ist, in deren Spalt man den Himmel nur noch wie ein dünnes Streifchen erblickt; wer in Adelsberg die schwarzen Wasser sich in unergründlicher Grottentiefe hat verlieren sehen: der ahnt, was auch in der Feste unter unsern Füßen sich abspielt, wie auch dort der Schutt dabei ist, uns zuletzt den Boden fortzuziehen; er ahnt, daß eine Macht der Zerstörung auch den Sockel der Länder annagt, zerschneidet und durchfrißt. Und auch das ist der Wassertropfen, der an allen Wänden der Klamm als Feuchte ausschlägt und in der finstern Grotte von jeder Tropfsteinspitze heruntertickt. Er schürft und karrt nicht bloß. Er sprengt auch, indem er in den Spalten gefrierend sich ausdehnt. Und mit Kohlensäure beladen, schmilzt er den Kalkstein fort wie Salz, zersetzt er chemisch selbst den Granit.
Man muß eben in jener Adelsberger Karstgegend sehen, was die Kohlensäureschmelzung des Kalks neben der einfachen Schwemmung, Unterwühlung und Spaltung dort nach unten im bodenbildenden Kalkgestein vollbracht hat. In Trichtern senkt sich allenthalben die Bodenfläche ein, in Trichtern bis fast zu Kilometerbreite, schaurige Schlote stürzen senkrecht von ihnen ab, in der Tiefe ist die ganze Feste durchlöchert wie ein Schwamm und unendliche Labyrinthe spinnen sich darin hin, in denen die wühlenden Wasser unablässig schmelzend, nagend, fressend und fortschleppend weiter rauschen. Diese »Brunnen der Tiefe« brauchen nicht heraufzusprudeln, um die Menschen als Sintflut zu verschlingen: unmerklich lösen sie in rastloser Arbeit den Boden selber unter ihnen fort, bis ab und zu bald dieses, bald jenes Haus spurlos von der gähnenden Leere des Abgrundes eingesaugt verschwindet. Oder man muß hoch oben im Granitgebirge der Leidensgeschichte dieses trotzigsten Titanen folgen. Wie die stolzen reinen Züge seiner edeln Stirn verwitternd zu den humoristischen Fratzen abschmelzen, die der Volksmund nicht müde wird, mit Tier- und Teufels- und Gespensternamen zu begaben. Wie er zu losen Kugeln zerfällt, die in ungeheuren Felsenmeeren zu Tal branden gleich Riesenkieseln der leibhaftigen Sintflut und in Wahrheit doch auch nur das Geröll dieser viel zäheren Dauersintflut des fressenden Wassertropfens sind. Bis endlich Ton und Sand die letzte Spur des alten Wolkenwanderers andeuten, wie es in der Dichtung von dem toten Cäsar heißt, daß er, Staub und Lehm geworden, eine alte Wand verklebt.
Abb. 3. Verwitterung des Granits am sogenannten Mittagsstein auf dem Kamm des Riesengebirges. (Dr. E. Mertens & Cie., phot.)
Wenn man sich dazu nun noch vergegenwärtigt, daß die Tropfen sich an der Erdoberfläche vielfältig selber zu Riesen auch an wirklicher Größe vereinigen, Ströme und Seen von unabsehbaren Uferweiten bilden; daß sie als Niagara so über den Fels stürzen und mit ganzer Kraft dieses Niagara sich rückwärts in jenen Fels einschneiden; daß der Frost nicht bloß mit Wasserhilfe den Stein sprengt, sondern auch vom Gebirgsschnee den Gletscher herabschiebt, der für sein Teil wieder wie ein enormer Pflug das härteste Gestein bearbeitet, Berge bricht und anderswo häuft und mehr als hausgroße Blöcke auf seinen Eisschultern zu Tal trägt, als sei es ein Kinderspiel; daß immerhin auch die Brandungen und Fluten des Ozeans selbst, von Sturm oder Mondgezeiten bewegt, von den Küsten aufwärts in die Hand arbeiten, indem auch sie den steilen Uferfels höhlen, Blöcke wälzen, Uferland fortreißen; daß eine Masse anderer Zerstörungsfaktoren des Festlandes, steinzersprengende Temperaturgegensätze der Wüste, Wind, der den Staub aufwühlt und weithin verwirbelt oder selber das Gestein höhlt, anschneidet und ausbläst, Pflanzenwuchs, der seine Wurzeln als zähe Keile in jede Steinspalte drängelt, von sich aus wirkend dem Wasser helfen; und wenn man bedenkt, daß dieser Kreislauf des Wassers heute keine Sekunde rastet und nie gerastet hat, seit große Wasserflächen auf der Erde sind, von Urwelten zu Urwelten bis auf diesen Tag beim Werk ist, und daß auch nur der jüngste dieser Urweltsabschnitte schon Jahrhunderttausende umfaßt, während dahinter vielleicht hundert und mehr Millionen von Jahren liegen: so muß klar werden, daß es sich hier wirklich nicht mehr wie bei jenen Sintfluterklärungen bloß um örtlich ändernde Vorgänge handeln kann, sondern daß es um alle Kontinente, alles Festland der Erde überhaupt zuletzt gehen muß – um die Gestalt der Erdkarte im ganzen – um Dinge, die heute wie seit je an dieser Karte rütteln.
Die Arbeit, wie sie hier skizziert ist, hat aber in der Tat zweifellose Sintfluttendenz. Sie arbeitet gegen das Land. Wohl kann ja das Wasser die Bestandteile der Feste nicht wirklich einschlucken im Sinne einer Vernichtung. Es kann ein Gebirge zu Sand reiben und den Sand bis in den Ozean tragen, aber endlich muß er doch wieder sich irgendwie ablagern. Den Kalk, den es in sich aufgelöst, muß es gelegentlich wieder irgendwie absetzen; was es davon bis ins Meer schleppt, das ziehen dort Tiere heraus, die sich Schalen davon bauen, die als solche wieder eine große Widerstandsfähigkeit gegen erneute Zersetzung haben und nach dem Tode ihrer Bewohner gehäuft ebenfalls wieder kalkiges Gestein bilden helfen. Eine tüchtige Menge Wasser geht auch bei dem Kreislauf immer verloren. Es ist nicht so, daß bloß das Wasser Stein fräße, es gibt auch Steine genug, die Wasser fressen. Eben bei jenem kühnsten Verwitterungsangriff, dem selbst der Granit erliegt, schluckt immer der übrigbleibende Ton ein ganzes Teil Wasser für sich ein, das zunächst nicht wieder in den Kreislauf kommt. Auch feuchtet sich zuletzt alles Gestein in die Tiefe abwärts allmählich durch, und wenn die Erdkugel im ganzen eine trockene und mäßig kühle Masse bis zum Mittelpunkte wäre, so läge hier auf die Dauer eine nicht unbedenkliche Wasserfalle für den ganzen Kreislauf der Oberfläche.
Aber für diesen letzteren Punkt ist der wahre Sachverhalt, daß wir eben aus diesen großen Erdentiefen unterhalb des gewöhnlichen Quellenkreislaufs beständig auch Wasser erhalten. Wir wissen ja heute noch nicht genau, wie es im eigentlichen Kern unserer Erde aussieht. Gewiß aber ist, daß in einer bestimmten Tiefe nicht einfach die Gesteine in Kellerfeuchte weitergehen, sondern daß dort eine starke Hitze herrscht. Gerade von hier aber beobachten wir nun ein eigentümliches Emportreiben von Wasser. Man könnte denken, daß es das äußerste versickernde Oberflächenwasser selbst wäre, das beständig an der Zone der Erdhitze zur Umkehr, zum Wiederaufdrängen genötigt würde; jedenfalls bliebe dann der Kreislauf nach dieser Seite gedeckt. Die größere Wahrscheinlichkeit ist aber sogar, daß wir aus dieser Tiefenzone fortgesetzt Wasser nach oben hinzubekommen, wirklich neues Wasser, das bisher noch niemals im Kreislauf der oberen Gewässer mitgelaufen ist. Man denkt sich, daß unsere Erde aus ihren ältesten Bildungstagen da unten noch eingeheimste Wasserbestandteile bis heute bewahre, die langsam erst entbunden werden. Juveniles, noch jungfrisches Wasser hat man dieses geheimnisvolle Tiefenerzeugnis unseres Planeten also benannt. Solches juvenile Wasser dampft und regnet beständig aus den ungeheuren Gasgemischen und Lavaeruptionen unserer tätigen Vulkane, die, einerlei wie tief sie nun ihrem eigentlichen Herde nach in der Erde wurzeln mögen, jedenfalls Material unseres Planeten heraufwerfen, das eine Schicht tiefer gesessen hat, als aller gewöhnliche Regenwasserkreislauf. Da aber Vulkane seit den ältesten Tagen der Erdgeschichte, die wir kennen, immerzu gespien haben, muß die Masse des Wassers, das so ins obere Spiel hinzugebracht worden ist, geologisch auch stets eine höchst beträchtliche gewesen sein. Auch von einzelnen warmen Quellen nimmt man wohl mit Recht an, daß sie unmittelbar juveniles Wasser führen, so interessanterweise von dem heilkräftigen Karlsbader Sprudel. Natürlich läßt sich die Ziffer nicht genau herausrechnen, wieviel an solchem Zuschußwasser unser Planet im ganzen beständig liefert. Aber die Möglichkeit kann nicht abgelehnt werden, daß sie sich mit der (im Genaueren natürlich auch unbekannten) Ziffer des beständigen Wasserverlustes durch jenes Wasseraufsaugen und Wasserbinden der Gesteine deckt. Dann wäre aber das Wasser in gleicher Kraft und Arbeitsbereitschaft, so weit wir geologisch zurückblicken können, und es müßte bei ebensolcher Kraft verharren auch in alle Zukunft hinein, solange Vulkanismus und juvenile Quellen dort dauern; von einer Abnahme dieser beiden Erderscheinungen kann einstweilen aber wahrlich keine Rede sein.