Читать книгу Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. - Wilhelm Bölsche - Страница 3

Zweites Capitel.
Willensfreiheit

Оглавление

Ich will als Dichter einen Menschen, den ich in eine bestimmte Lage des Lebens gebracht habe, eine Handlung begehen lassen und zwar diejenige, welche ein wirklicher Mensch in gleicher Lage wahrscheinlich oder sogar sicher begehen würde.

Ich will als Kritiker einer Dichtung beurtheilen, ob eine bestimmte Handlung, die ein bestimmter Held dieser Dichtung unter bestimmten Umständen begeht, wirklich richtig, das heisst den Gesetzen der Wirklichkeit entsprechend, erfunden ist.

In beiden Fällen werde ich beim geringsten Nachdenken auf die allgemeine Frage der Willensfreiheit geführt.

Diese Frage aber ist weder eine dichterische, noch eine philosophische, sondern eine naturwissenschaftliche. In ihr kreuzen sich die sämmtlichen Grundfragen der wissenschaftlichen Psychologie, und sie ist meiner Ansicht nach die erste und wichtigste Frage, mit der sich die Prämissen der realistischen Poesie und Aesthetik zu befassen haben.

Die oberflächlichste Anschauung der wahren Dinge in der Welt lehrt, dass die menschliche Willensfreiheit nicht ist, was das Wort nahe legt: eine absolute Freiheit. Wir sehen nicht nur die Macht des Willens physikalisch beschränkt, sondern gewahren auch in dem eigenthümlichen Gefüge und Bau der Gedanken, die den Willen zu irgend etwas schliesslich als äussern Act entstehen lassen, beständig sehr eigenthümliche, subjective Factoren, die in uns sofort das Gefühl eines eingeschränkten Laufes der Gedankenketten entstehen lassen. Genau dieselbe Thatsache erweckt im Geiste verschiedener Menschen verschiedene Gedankenreihen, die oft den genau entgegengesetzten Willen hervorrufen. Eine unbewacht gelassene Casse ruft in einem Gewohnheitsdiebe den Gedanken und in directer Fortsetzung die Handlung des Stehlens, in einem seiner bisherigen Lebensbahn nach durchaus rechtlich gesinnten Menschen höchstens den Gedanken an eine Sicherung und Bewachung zur Verhütung eines Diebstahls hervor. Eine grosse Anzahl von Menschen ist zwar geneigt, gerade den Umstand hier für allgemeine Freiheit zu halten, dass der Eine so, der Andere anders handelt. Der Naturforscher wird sich sagen müssen, dass die gleiche äussere Sache nur einen verschiedenen innern Effect haben kann, weil sie offenbar in dem Innern der beiden geistigen Individuen auf eine ungleiche Disposition trifft, etwa wie in der Physik derselbe Funke, je nachdem er in eine Pulvertonne oder in ein Wasserfass fällt, sehr verschiedene Kräfte auslöst.

Damit ist ein erster, roher Anhaltspunct für die Auffassung psychologischer Vorgänge gewonnen. Wenn ich als Dichter Menschen in Berührung mit äusseren Erscheinungen bringe, so wechselt nicht nur der Wille in den Handlungen der Person je nach den äusser'n Impulsen, sondern er ist auch subjectiv bei den Einzelnen verschieden je nach der Disposition des Geistes, die der Impuls bei Jedem findet.

Die Physiologie giebt uns nun als nächsten Fortschritt über diesen ersten Punct weg die Thatsache an die Hand, dass jede Disposition des Geistes zugleich eine Disposition des stofflichen Untergrundes, des Gehirns, bedeutet.

Die Frage, in welchem Causalitätsverhältniss diese Doppelerscheinungen der geistigen und stofflichen Disposition unter sich wohl stehen möchten, ob der Geist als solcher existire oder bloss eine subjective Rückansicht desselben Dinges sei, das wir äusserlich als Stoff, respective mechanische Kraft uns gegenüber stellen, geht uns hier als eine erkenntniss-theoretische, wissenschaftlich nicht lösbare gar nichts an. Was wir mit Händen greifen können, ist das Zusammenfallen jeder psychischen Erscheinung mit einer molecularen, jedes Gedankens mit einem ganz bestimmten physiologischen Ereignisse innerhalb des nervösen Centralorgans. Dieses leugnen, hiesse rundweg das Gehirn leugnen und die ganze überwältigende Masse künstlicher wie unfreiwilliger Beeinflussungen des psychischen Apparats, die man bei vivisecirten Thieren und verwundeten oder gehirnkranken Menschen durch stoffliche Umwandlungen in der Gehirnmasse hat entstehen sehen. Die Thatsache steht also unbezweifelbar fest: wir können behaupten, wenn bei einer bestimmten Person ein bestimmter äusserer Impuls eine bestimmte Disposition im Gedankengange des Betreffenden vorfindet, so ist diese Disposition zugleich etwas Stoffliches, eine Curve, Furche, reihenweise Gruppirung kleiner Theilchen, Schwingung der Molecüle nach einer bestimmten Richtung oder was man sich sonst denken will in der greifbaren Masse des Gehirns. Das oben gebrauchte Beispiel mag das zur Deutlichkeit nochmals illustriren. Gleicher äusserer Impuls: eine offene Casse. Erfolg bei dem einen Menschen unmittelbar und ohne Wahl eine moralisch verwerfliche Gedankenkette, die endigt mit der Handlung des Stehlens, bei dem andern ebenso unmittelbar eine gute, die ausläuft in die Handlung des Bewachens. Grund: der erste Mensch ist gewöhnt, schlecht zu handeln, seine Gedankenkette schlägt sofort eine bestimmte Richtung ein, die körperlich einem durch Gewohnheit tief ausgefahrenen Geleise entspricht, in das ein neu ankommender Wagen stets mit mechanischer Nothwendigkeit wieder hineinrollt; umgekehrt bei dem gewohnheitsmässig moralischen Menschen geräth die Ideenverbindung unmittelbar in eine ganz entgegengesetzte Linie, die schliesslich den umgekehrten Effect auslöst.

Ich habe das Beispiel so nackt gewählt, wie möglich, – ohne jeden Conflict, was nicht ausschliesst, dass es täglich so vorkäme. Wer oft gestohlen hat, stiehlt wieder; wer in moralischem Denken aufgewachsen ist, kommt für gewöhnlich gar nicht auf den Gedanken, zu stehlen; die Ideenkette lenkt ohne Ablenkungen besonderer Art, die ich hier vernachlässige, stets in dieselben Geleise ein. Das Wort Geleise dürfen wir unbedenklich anwenden, da ja ein stofflicher Vorgang stets mit unterläuft. Geschaffen hat die Geleise, wie sich Jeder schon zur einfachsten Erläuterung dazu sagt: die Gewohnheit. Jede Minute unseres Lebens bringt uns Beweise dafür, – das Wort Gewohnheit, das uns beständig auf der Zunge schwebt, ist eben nur der Ausdruck des Factums, dass die mehrmals aufgestellten Gedankenketten sich ein derartig festes Bett in unserm Denkorgane graben, dass gewisse, nur entfernt daran gemahnende Impulse sie jedesmal mit zwingender Nothwendigkeit wieder hervorrufen und dieselbe Handlung als schliesslichen Effect daraus entstehen lassen. Je ausgefahrener die Geleise nach und nach werden, desto rascher und damit dem Bewusstsein desto undeutlicher saust der Gedanke hindurch, desto unmittelbarer lösen sich Impuls und Willenseffect ab, bis schliesslich der Gedanke gar nicht mehr bewusst wahrgenommen wird und die Handlung sich als rein mechanischer Reflex des Impulses darstellt, – Erscheinungen, die wir täglich am Menschen beobachten können und die beim Thiere, dem die wenigen Eindrücke seines Lebens durch ihre regelmässige Wiederkehr fast alle in der genannten Weise constant und zur Quelle reiner Reflexhandlungen werden, die Regel bilden.

Wenn es auf Grund eines ungeheuren Fortschrittes mikroskopischer Forschung möglich wäre, ein vollkommenes Bild eines beliebigen menschlichen Gehirns, das zu seinen Lebzeiten Gedanken gehegt hat, zu entwerfen, so würde man, wie immer das wahre Antlitz der Sache sich gestaltete, stets auf das schematische Bild einer Ebene kommen, die von Linien ungleicher Dicke durchkreuzt wird, von denen eine Anzahl nur matt angedeutet und halbverwischt, eine gewisse Zahl dagegen äusserst scharf und deutlich erschiene, und der Beschauer würde unmittelbar das Gefühl haben, dass es sich hier um ein Strassensystem handle, bei dem dasselbe obgewaltet, wie bei menschlichen Verkehrswegen: irgend ein äusserer Umstand hat mehrmals die Verkehrenden auf dieselbe Strasse geführt und, einmal ausgetreten, hat diese nun Alle, die nur entfernt nach derselben Richtung wollten, veranlasst, ihrer Linie und keiner andern zu folgen.

Thatsächlich sind wir ja so weit nicht. Das Gehirn, welches wir kennen, bietet uns, was das unmittelbare Sehen anbelangt, ungefähr so viel Anhaltspuncte zur Kenntniss seiner innern Processe, wie dem Astronomen die Oberfläche des Planeten Mars. Wir erkennen auf dieser Länder und Meere, Canäle, die das Festland durchschneiden, atmosphärische Vorgänge, Wolken, Schnee, Eismassen am Pol; das Alles aber kommt so wenig über den groben Umriss hinaus, dass Objecte von der Grösse der Victoria-Nyanza noch gerade als Puncte wahrnehmbar sind.

Unsere Anschauungen vom Wesen der ganzen Gedankenthätigkeit müssen wir, unfähig, die Maschine in ihre Rädchen auseinander zu nehmen und im todten Material zu studiren, abstrahiren aus dem Erfolge, aus der regelmässigen, positiv zu beobachtenden Wiederkehr gewisser gewohnheitsmässiger Gedankenreihen in uns selbst und den Handlungen, die wir täglich bei uns als Folgen dieser zwangsweisen Ideenketten wahrnehmen und bei Andern als solche voraussetzen dürfen. Immerhin ist diese Art der Beobachtung ein vollkommen guter Ersatz für jene.

Für die Freiheit des Willens, von der wir ausgegangen sind, ist jedenfalls – mögen wir nun physiologisch oder psychologisch zu unsern Resultaten gekommen sein – in dem Bestehen der durch Gewohnheit gegrabenen Gedankenstrassen ein bedenkliches Hinderniss gegeben. Der Wille ist Endergebniss eines nicht gestörten, bis zu einer gewissen Intensität angeschwollenen Gedankens, – wenn der Gedanke aber in seinem Flusse sich in den meisten Fällen einem gegrabenen Bette anschmiegen muss, so kann in allen diesen von einer Freiheit des endlichen Willens keine Rede mehr sein, und man braucht noch gar nicht auf jene oben erwähnten, ganz reflectorisch gewordenen Willensacte zurückzugehen, um auf Schritt und Tritt diesen einfacheren hemmenden Einflüssen zu begegnen.

Die wichtigste Frage scheint also, um hier Klarheit zu schaffen, die nach der Natur der Gewohnheit zu sein. Es gilt festzustellen, was sich unter diesem Begriffe, der die Willensfreiheit in so frappanter Weise bedroht, für einzelne Factoren verstecken und ob in dem einen Worte, das der Gebrauch selbst geschaffen, nicht Verschiedenartiges sich birgt. Gewohnheit ist, so haben wir physiologisch definirt, langsame Einprägung einer bestimmten Furche (psychologisch: Denkrichtung) im Gehirn, die durch eine längere Folge gleichartiger Wahrnehmungen erzeugt wird. Woher kommt eine derartige Gleichartigkeit der Wahrnehmungen? Zunächst aus der Einrichtung der Natur, die uns trotz der unendlichen Fülle ihrer Erscheinungen doch gewisse Phänomene in ewiger Regelmässigkeit wiederkehren lässt, die beständig gleiche Wahrnehmungen in uns hervorrufen. In zweiter Linie aber aus einem Umstande, der den Culturmenschen mit verschwindenden Ausnahmen fest und unerbittlich umklammert hält: der Erziehung. Wir sind nicht neu geschaffene Wesen, die bloss die Natur sich gegenüber haben. Wir gehören einer Gesellschaft an, die ebenfalls aus Menschen mit einem, dem unsern ähnlichen Denkapparate besteht. Wir sind jung, die Tafel unseres Gehirnes ist noch kaum beschrieben. Jene Menschen, die vielleicht unsere Erzeuger, jedenfalls als Erwachsene unsere Meister sind, sind in ihrem Denken bereits erfüllt mit jenen festen Linien, jenen Geleisen des Gewohnten, und sie fühlen sich wohl dabei. Ihr Bemühen geht dahin, in unser Gehirn dieselben Linien zu prägen. Unfähig, unmittelbar zu wirken, beschreiten sie den Umweg durch die wiederholten Wahrnehmungen, aber in der Weise, dass sie bestimmte Wahrnehmungen – eben jene, die ihren Gedankenlinien die bequemen sind – auswählen und uns so lange einseitig vorführen, bis sich in unserm Gehirn die gleiche Linie, wie bei ihnen, gebildet hat und wir ihre wahren geistigen Kinder sind. Mit andern Worten heisst das: wir erhalten die grosse Masse unserer gewohnheitsmässigen Gedanken durch Unterricht, durch Schulung. Der Werth dessen, was uns vermittelst derselben im Gehirn eingeritzt wird, ist dabei ganz gleichgiltig, es kann die höchste Moral oder die äusserste Unmoral sein: von einem gewissen Puncte ab ist die Gedankenübertragung gelungen, die Linie angelegt, und es bedarf fortan nur der leisesten Aehnlichkeit in einer Wahrnehmung mit jenen früheren, um sofort den ganzen Gedankenapparat nach der eingeprägten Richtung hin in Thätigkeit zu setzen.1

1

Sehr lehrreich für das ganze Gebiet der Gedankenübertragung sind die hypnotischen Experimente, die gewiss auch für den Dichter ein gewisses Interesse haben müssen. Ganz energisch aber ist zu verlangen, dass jeder Verwerthung derartiger Erscheinungen ein kritisches Verständniss und Studium vorausgehe. Es handelt sich hier durchaus nicht um ein Stück jener behaglichen Mystik, bei der alle Menschen, denen einmal etwas Unerklärliches vorgekommen, den Beruf fühlen, mitzusprechen, sondern um exacte wissenschaftliche Gegenstände, die, eben weil sie von der grössten Tragweite sind, auch die vorsichtigste Behandlung erfordern. Wen der Schleier des Unbegreiflichen allein verlocken sollte, der wird bei sorgfältiger Kenntnissnahme dann schon von selbst merken, wie wenig seine Neugier belohnt wird.

Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie.

Подняться наверх