Читать книгу Das kunstseidene Mädchen von Irmgard Keun: Reclam Lektüreschlüssel XL - Wilhelm Borcherding - Страница 4
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ОглавлениеAutorin | Irmgard Keun, geboren am 6. Februar 1905 in Berlin, gestorben am 5. Mai 1982 in Köln. Sie gilt mit ihren Bestsellern Gilgi, eine von uns und Das kunstseidene Mädchen als eine der bedeutendsten und erfolgreichsten Vertreterinnen der Neuen Sachlichkeit. |
Erscheinungsjahr | 1932 |
Ort und Zeit der Handlung | Zunächst spielt der Roman in einer mittelgroßen Stadt am Rhein, möglicherweise Köln, im Spätsommer 1931. Danach geht Doris, die Hauptfigur, nach Berlin, wo sie von Herbst bis Weihnachten 1931 versucht, ein »Glanz« (S. 45) zu werden. Silvester 1931 verbringt sie obdachlos im Wartesaal des Bahnhofs Zoo; der Roman endet im Frühling 1932 am Bahnhof Friedrichstraße, wo Doris einen Entschluss fasst. |
Epoche | Neue Sachlichkeit |
Gattung | Zeitroman, Großstadtroman, Gesellschaftsroman Tagebuchroman, Moderner Frauenroman |
Aufbau | Der Roman besteht aus drei Teilen:Erster Teil: Ende des Sommers und die mittlere StadtZweiter Teil: Später Herbst – und die große StadtDritter Teil: Sehr viel Winter und ein WartesaalJeder Teil ist in eine ungleiche Anzahl von Abschnitten unterteilt, die durch Leerzeilen voneinander getrennt sind. |
Im Oktober 1931 erschien der erste Roman Gilgi, eine von uns der bis dahin unbekannten Autorin Irmgard Keun. Sie hatte zwar schon 1929 mit dem Schreiben des Romans begonnen, behauptete aber, ihn in nur fünf Monaten vollendet zu haben. Er wurde zu einem Eine junge Autorin erregt Aufmerksamkeit Bestseller und verhalf der 26-jährigen Autorin schnell zu großem literarischen Ruhm. Noch in seinem Erscheinungsjahr wurden 30 000 Exemplare verkauft; Irmgard Keun war es gelungen, unter anderem den Zeitgeschmack vieler jungen Frauen zu treffen.
Nur wenige Monate später, und noch bevor im selben Jahr die Filmversion von Gilgi, eine von uns in die Kinos kam, erschien im Juni 1932 der zweite Roman der Autorin: Das kunstseidene Mädchen. Auch er erlebte eine Startauflage von 30 000 Exemplaren und stand hinter dem finanziellen und literarischen Erfolg des Debütromans nicht zurück. Wieder identifizierten sich meist junge Leserinnen mit der 18-jährigen Hauptfigur Doris, die ähnlich wie ihre ›Vorgängerin‹ Gilgi davon träumt, sich selbst verwirklichen zu können und berühmt zu werden: Sie will um nahezu jeden Preis eine Künstlerin, ein »Glanz« (S. 45) werden.
Für eine junge Stenotypistin in einer »mittlere[n]« (S. 5) Stadt ist es nicht leicht, ihren großen Vorbildern, den Kinoheldinnen und Künstlerinnen, nachzueifern. Nach einer kurzen Phase der Arbeitslosigkeit und einem kurzen Engagement am Theater der Stadt wechselt Doris nach Erfolg in Berlin?Berlin. Sie ist fest davon überzeugt, dass die Großstadt die besten Voraussetzungen bietet, ihrem Ziel näherzukommen. Mit der Unterstützung zahlreicher ärmerer und reicherer, jüngerer und älterer Männer bemüht sie sich, ihren Lebensentwurf zu verwirklichen.
Doch ihr Weg führt nicht geradewegs nach oben. Mal mehr, mal weniger erfolgreich, jagt Doris ihrem Glücksanspruch nach. Sie muss immer häufiger erkennen, dass sie ihre Vorstellungen von einer ruhmreichen Karriere und großem öffentlichen Ansehen nicht verwirklichen kann. Völlig mittellos findet sie schließlich vorübergehend Geborgenheit bei einem Mann, der von seiner Frau zuvor verlassen worden ist. Nach einigen Monaten muss sich Doris erneut damit abfinden, dass es wieder nicht zu einer Beziehung reicht und schon gar nicht zu einem ›kleinen Glück‹, wie es die Kinofilme und die unzähligen (Mode-) Zeitschriften vorgaukeln. Sie landet schließlich wieder im Wartesaal des Bahnhofs Friedrichstraße, wo einst ihr Leben in Berlin begonnen hat. Doris gelangt am Ende zu der Einsicht, dass es vielleicht doch gar nicht so erstrebenswert ist, ein »Glanz« (S. 45) zu werden. Sie war nach Berlin gegangen, um das ganz große Glück zu finden; Tag für Tag hat sie jedoch in ihrer Umgebung erfahren, wie die medial vermittelten Träume vieler junger Frauen von einem aufregenden und sorgenfreien Leben in der Großstadt geplatzt sind. Obwohl Doris am Ende völlig desillusioniert ist und nicht so recht weiß, was aus ihrem Leben werden soll, gibt sie sich niemals völlig auf. Sie hält nach wie vor an ihrer Vorstellung fest, auf keinen Fall wieder arbeiten zu gehen, weil Frauen viel zu wenig verdienen, um ihren Lebensunterhalt als Alleinstehende zu sichern. Notfalls will sie lieber auf ihr Lebensglück verzichten.
Auch der große Erfolg des zweiten Romans ließ sich erneut auf Keuns Fähigkeiten zurückführen, das am Ende der Weimarer Republik vorherrschende Lebensgefühl der Weimarer Republik Lebensgefühl der jungen Frauen genau beobachten und beschreiben zu können. Die meisten Kritiker waren von ihrer virtuosen Schreibweise fasziniert, die sich am Stil der Neuen Sachlichkeit orientierte.
Andere Kritiker erhoben Plagiatsvorwürfe Plagiatsvorwürfe gegen die Autorin, weil der Roman Formulierungen aus dem Roman eines Kollegen aufweisen sollte. Es gelang der Autorin nur bedingt, den Verdacht ihrer Kritiker auszuräumen (vgl. hier Kapitel 8).
Ihr blieb nicht viel Zeit dafür. Schon am 30. Januar 1933 gelangten die NS-Zeit Nationalsozialisten unter der Führung Hitlers an die Macht. Die beiden Romane stießen aufgrund der in ihnen beschriebenen Frauenfiguren und deren Lebenswandel auf die Ablehnung der neuen Regierung. So verwundert es nicht, dass am Tag der Bücherverbrennung, am 10. Mai 1933, wohl auch Keuns Romane dem Feuer des nationalsozialistischen ›Säuberungswahns‹ zum Opfer fielen, auf jeden Fall im Oktober 1933 verboten, beschlagnahmt und vernichtet wurden.
Irmgard Keun ging 1936 ins Exil Exil, wo sie noch einige Werke in deutschen Exilverlagen veröffentlichen konnte. 1940 kehrte sie unerkannt nach Nazi-Deutschland zurück und überlebte den Terror. Es gelang ihr jedoch nicht mehr, an die beiden großen Erfolge von 1931 und 1932 anzuknüpfen. Nach 1975 wurde Irmgard Keuns Werk von der feministischen Literaturwissenschaft Späte Rezeption wiederentdeckt, die sich für die emanzipatorischen Züge in den beiden ersten Romanen der Autorin zu interessieren begann. 2017, 35 Jahre nach Irmgard Keuns Tod 1982, kam es zu einer kommentierten Gesamtausgabe ihrer Werke.