Читать книгу Käpp'n Smidt - Wilhelm Ernst Asbeck - Страница 7
II.
ОглавлениеSchulschluss! Heini packte seine sieben Sachen.
„Mensch,“ ruft Thedje „Hannes muss doch nachsitzen; Du kannst doch nicht einfach abhauen!“
„Ich muss zum ‚Alten mit dem Backenbart’!“
„So, so, ich denk, den wolltest Du schon gestern auf’n Pott setzen?“
Edje mischt sich ins Gespräch: „Bist woll auf der Treppe umgekehrt?“
„Lass Dir man keine ’runterlangen! — Ich bange? — Vor wem soll ich woll bange sein? He?“ Heini schwillt bei diesen Worten die Brust zusehends vor Heldenmut.
Aber Edje ist halsstarrig. Hartnäckig erwidert er: „Warum bist Du denn gestern nich hingegangen?“
Jetzt bläht sich aber Heini vor Stolz und männlicher Würde: „Weil er zu mir gekommen ist, wenn Du es so genau wissen willst!“
Das Ansehen des Führers steigt in steiler Kurve.
Darauf fragt Thedje, aber im Ton schon erheblich ehrerbietiger: „Was wollt er denn von Dir?“
Heini antwortet: „Mir meine Plünnen zurückbringen, wie sich das gehört.“
„Donnerwetter!“ rufen die Jungen wie aus einem Munde.
Jetzt kommt Heini ins richtige Fahrwasser: „Der ist ein feiner Kerl, kann ich Euch man sagen! Der wusste gar nicht, was er alles für uns tun wollte. Gelebt haben wir wie die Fürsten, obendrein hat’s ’ne Menge Geld gegeben, und dann schenkte er mir einen Matrosenanzug, wenn ich damit spazieren geh, erkennt Ihr mich überhaupt nicht wieder!“
Das hat gesessen! — Thedje ist starr vor Staunen: „Und das alles hat er Dir selbst ins Haus gebracht?“
„Ja,“ entgegnet Hein Smidt „vor dem Mann muss man den Hut abnehmen. Und nun muss ich laufen, dass ich zu ihm komme, wir wollen nämlich über meine Zukunft sprechen; er will gern, dass ich Käpp’n auf einem seiner vielen Schiffe werde.“ — Ein Ruck, der Ranzen fliegt über den Rücken, und wie ein geölter Blitz schiesst Heini zur Tür hinaus.
Kaum ist er fort, so stecken die Jungen die Köpfe zusammen. Zum ersten Mal steigt etwas wie Neid und Missgunst in ihnen hoch. — Besonders Thedje meint: „Der soll sich man bloss nich’ so aufspielen!“
Edje grinst: „Der und Käpp’n! — Jawoll, auf’n Alsterdampfer vielleicht!“
„Oder auf’m Dom, auf’m Schiffskarussel!“ höhnt Adje.
Hannes, der Nachsitzer, der sich von Heini im Stich gelassen fühlt und daher der am meisten verbitterte ist, schlägt vor: „Wir nennen ihn ab heute bloss noch ‚Käpp’n Smidt’!“
Die Bengel stossen vor Freude über diesen Einfall ein Indianergeheul aus, und einstimmig wird der Vorschlag angenommen. — —
So schnell ist Heini noch nicht nach Hause gekommen, so lange er zur Schule geht. Das Mittagessen hinunterstürzen und dann, immer drei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinunterrasen sind das Werk einer unglaublich kurzen Zeit. — Nun steuert er über den Scharmarkt am Hasen entlang mit vollen Segeln auf sein Ziel los.
Dann steht er wieder im Kontor. Der kleine Stuppen mit dem Federhalter hinter dem Ohr trudelt von seinem hohen Drehbock herunter und fragt, ob er Heini Schmidt sei. Allerhand Achtung, so eine angesehene Person ist er bereits! Heini bejaht lebhaft.
„Wollen Sie bitte näher treten?“ sagt der Stift und geht mit feierlicher Miene in seinem schwarzen Konfirmationsanzug vorauf. Dann öffnet er die Tür zum Privatkontor.
Auf dem Tisch des Reeders liegen die Papiere zu Bergen hochgetürmt, und jetzt bringt der neugierige Dreikäsehoch noch einen ganzen Stapel Briefschaften.
Der Kaufherr ist aufgestanden, hat Heini die Hand gegeben, ihm einen guten Tag gewünscht und ihn zum Platznehmen aufgefordert.
Ja, und nun sitzt Heini Herrn Timm gegenüber und fühlt sich furchtbar unbeholfen. Er findet kein passendes Wort, er muss nur immer denken: das ist der Mann, der Dir und Deinen Eltern so viel Gutes getan hat; und als er sieht, welche Berge von Arbeit dieser Mann zu erledigen hat, und dann bedenkt, dass er das alles liegen liess, um ihm und den Seinen eine Freude zu bereiten, da packt ihn die Rührung mit einem Male, packt ihn so gewaltig, dass er dem Alten um den Hals fällt und heult, — — heult wie ein kleiner Junge.
Karl Timm wartet geduldig, bis die Gemütsbewegung sich legt. — Dann löst er behutsam die Arme. Er blickt den Jungen an, und in seinen stahlgrauen Augen liegt plötzlich eine Welt von Güte und Menschlichkeit.
Heini reisst sich zusammen. — O, wie er sich jetzt schämt! — Er will männlich erscheinen und sagt: „Ich weiss nicht, woran es liegt, aber immer, wenn ich mich sehr freue, muss ich weinen.“
„Merkwürdig!“ entgegnet der Alte trocken.
„Ja,“ fährt Heini fort „und was ich noch sagen wollte, wenn ich Ihnen einmal helfen kann, dann tu ich es gern. — Na, Sie wissen woll, wie ich es meine?“
Der Reeder lacht nicht etwa über die Worte des Knaben; er blickt eine Weile sinnend zum Fenster hinaus und sagt dann mit seltsam weicher Stimme: „Ja, mein Junge, ich weiss, wie Du es meinst; und niemand kann wissen, wie sonderbar das Leben manchmal spielt.“
Einen Augenblick ist es ganz still in dem Raum, dann fordert er Heini unvermittelt auf, nach oben zu gehen; er werde dort schon erwartet. Ein Händedruck, und Hein Smidt steht plötzlich an der Tür. Er geht aber nicht hinaus sondern dreht verlegen die Mütze hin und her. Jetzt soll doch erst die Hauptsache kommen, und so nimmt er sich ein Herz und fragt, ob man sich nicht auch ein wenig über seine Kapitänslaufbahn unterhalten könne.
Ein gutmütiges Lächeln geht über des Reeders Gesicht. Er erwidert: „Ganz so schnell, wie Du es Dir vorstellst, läuft der Hase nicht; aber Du kannst mir morgen einmal Deine Schulzeugnisse mitbringen.“
Aus! — — Da steht der Heini nun wieder auf der grossen Diele; aber sein froher Mut ist gesunken. Nein, so etwas! Seine Zeugnisse zu verlangen! Das hatte noch gerade gefehlt! Wenn er das gewusst hätte, kein Wort würde er von der Sache erwähnt haben! Zu dumm! Und aus dem grossen Seefahrer ‚Käpp’n Smidt’ ist mit einem Male wieder ein kleiner, dummer Junge geworden. — —
Unser Held ist aus allen Himmeln gestürzt. Einen Augenblick besinnt er sich, dann hat er seinen Entschluss gefasst. Er vergräbt die Hände tief in den Hosentaschen und will sich sachte aus dem Staube machen. Da hört er seinen Namen rufen, und auf den obersten Stufen der Wendeltreppe steht die hübsche, blasse Frau und winkt ihm freundlich zu. Sie hat so liebe Augen und eine so wohltuende Stimme. Sie ist wie ein Magnet, wenn man auch noch so gern fort möchte, es hilft nichts, man wird gegen seinen Willen angezogen. —
An der Kaffeetafel sitzen die Drei, die Mutter, der ‚Piepjochen’ und Heini. Das hübsche junge Mädchen mit der weissen Haube bedient. Alle Menschen sind so gut zu ihm; die Umgebung ist so anheimelnd, und der schöne Kuchen obendrein, — — man muss nur versuchen, das dumme Schulzeugnis zu vergessen.
Heini findet jetzt Gelegenheit, den ‚Piepjochen’ in Ruhe zu betrachten. So bei Licht besehen macht er gar keinen üblen Eindruck. Er musste daran denken, wie Karl unter einem Berg von Decken begraben lag, und wie ihm trotzdem die Zähne klapperten. Die Mutter schien seine Gedanken zu erraten und sagte: „Der Unart hat ordentlich schwitzen müssen; aber das geschah ihm ganz recht, so hatte er ausser dem Schrecken doch wenigstens eine kleine Strafe!“ — Plötzlich fügte sie in ganz mildem Tone hinzu: „Na, nun ist er Gott sei Dank ganz wieder hergestellt, und Dir, Heini, werden wir Deine mutige Tat nie vergessen, dessen darfst Du sicher sein!“
Da reicht ihm auch schon Karl die Hand und spricht: „Ich danke Dir auch von ganzem Herzen!“
Heini versteht nicht, wie man um etwas, was in seinen Augen eine Selbstverständlichkeit ist, so viele Worte verlieren kann. Ihm beginnt diese Dankbarkeit lästig zu werden, und er macht kein Hehl daraus: „Hört bloss endlich mit Eurer Dankerei auf; wenn einer zu danken hat, so bin ich es!“
Darauf sagt Karl: „Aber gute Freunde lass uns sein!“
Hein Smidt ist jedoch kein Diplomat; er redet, wie er im Herzen empfindet, und nimmt kein Blatt vor den Mund. So antwortet er treuherzig: „Das kann ich Dir heut noch nicht sagen; erst müssen wir uns mal ordentlich kennen lernen.“
Frau Timm lächelt. Sie liebt aufrichtige, schlichte Menschenkinder.
Nach der Kaffeetafel geht es dann ins Spielzimmer. — Nein, so etwas; das ist ja ein richtiger Spielwarenladen! — Alles ist fein säuberlich in Schränken und Borten aufgestellt, und mitten im Raum befindet sich ein riesiger Ausziehtisch.
Heini soll wählen, aber er weiss nicht, wofür er sich bei allen den schönen Sachen entscheiden soll. Da holt Karl eine Anzahl Schachteln hervor und beginnt etwas Grossartiges aufzubauen. Erst fügt er Schiene an Schiene, dazwischen kommen Weichen und Kreuzungen, bis alles ein buntes Gewirr bildet, das neben und durch einander läuft und fast den ganzen Tisch bedeckt. Dann werden Wärterhäuser, Bahnübergänge mit Schranken, ein grosser Tunnel und zwei Bahnhöfe aufgestellt. Zuletzt kommt noch ein Personen- und ein Schnellzug hinzu.
Das gibt ein Gaudium!
Mit grossen Schlüsseln ziehen sie die Uhrwerke auf, und dann geht’s los! Von jedem Tischende ein Zug. Hallo, wie die vorüberflitzen, an Stationen vorbei, durch den Tunnel hindurch; erst laufen sie kreuz und quer, dann eine Zeitlang neben einander, und dann gibt es einen Zusammenstoss! — Bums! — Die Lokomotive vom Personenzug schlägt um und mit ihr alle Wagen. — Diese Eisenbahnkatastrophe war das Schönste am ganzen Spiel!
So herrlich hatte Heini noch nie gespielt. In strahlender Laune kam er im Hause an; vergessen waren Kapitäns- und Zeugnissorgen!
Heini ist fuchsteufelswild!
Wo er sich in seiner Klasse blicken lässt, ruft man ihn ‚Käpp’n Smidt’ zu, und seine ‚Jakobiner’ sind darin nicht einen Deut besser als die ‚Semiolen’.
Mit Gewalt ist bei der Übermacht nichts auszurichten. So lässt er die dummen Bengel gewähren; aber wenn er erst einmal ein Mann geworden ist und die meisten dieser Idioten es zu nichts gebracht haben, so werden sie schon zu hören kriegen, dass er Käpp’n geworden ist, aber nicht auf einem Alsterdampfer oder gar Schiffskarussel! Oho! Er wird ihnen den Beweis liefern, dass Hein Smidt das Ziel erreicht, das er sich gesteckt hat! — —
Heini hat sich auf Grund seiner traurigen Erfahrungen von den ‚Jakobinern’ losgesagt und schloss mit den ‚Semiolen’ Frieden; jetzt soll nachsitzen, wer Lust dazu hat, er nicht!
Heute ist unser Held erbeblich weniger siegesbewusst ins Privatbüro hineingegangen als gestern.
Der alte Reeder hat erst lange Zeit die Schulzeugnisse angesehen, dann hat er Heini lange Zeit angeguckt und schliesslich gemeint: „Mit solchen Zeugnissen kannst Du es vielleicht zum Schiffsjungen, auch bis zum Leichtmatrosen bringen — weiter aber nicht!“
Darauf hat Heini mit verbissenem Tone geantwortet: „Ich will aber Kapitän werden!“
„Gut,“ entgegnete der Reeder „dann setze Dich aber auf Deinen Hosenboden und lerne. Wenn ich Dein nächstes Zeugnis vor Augen habe, können wir weiter darüber reden.“
Der Junge freute sich, so leichten Kaufs davongekommen zu sein. Er atmete erleichtert auf, als er diesen schweren Gang hinter sich hatte. Den Weg vom Kontor zum ersten Stockwerk pflasterte er mit guten Vorsätzen.
Heute war es wie gestern. Es wurde Kaffee getrunken, und dann ging es ins Spielzimmer.
Dieses Mal bauten sie mit dem Ankersteinbaukasten eine grosse Burg mit Türmen, Mauern, einem breiten Tor, sogar eine Zugbrücke fehlte nicht, und ringsherum wurde Silberpapier gelegt, das sollte den Burggraben darstellen.
Dann holte Karl grosse Schachteln mit Zinnsoldaten hervor, Ritter, Landsknechte, Indianer, Neger, Franzosen mit roten Hosen, Engländer, Deutsche und viele andere Völker lagen hier in trauter Harmonie bei einander.
Heini bekam den Löwenanteil, denn er war der Feldherr, der die Burg belagerte. Karl benügte sich mit einer kleinen Anzahl, die hinter Mauern und Schiessscharten aufgestellt wurde oder auf den Türmen hinter den Zinnen. Dafür hatte er aber drei kleine Kanonen, die wurden mit ‚Piepmantsches’ geladen. Zündete man so ein Ding an, so sagte es ‚tscht’, und es fuhr ein kleiner Feuerstrahl aus dem Rohr. Ausserdem besass er noch ein Geschütz, das wurde mit Erbsen geladen.
Heini erhielt eine ganz grosse Kanone; die hatte eine besonders starke Feder, und als Geschosse wurden Eisenstücke benutzt.
Als er nun seine Heerschar aufgestellt hatte, forderte er den Herrn der Feste auf, sich freiwillig zu ergeben, denn Widerstand gegen eine so vortreffliche und zahlreiche Truppenmacht zu leisten, sei zwecklos.
Karl war indessen anderer Ansicht, er liess erst seine drei kleinen Geschütze ‚tscht’ sagen und Feuer speien, und dann schoss er eine Erbse in den dichtesten Heerhaufen, worauf eine ganze Anzahl der Belagerer umfiel.
Nun eröffnete Heini das Feuer. Es entbrannte eine furchtbare Schlacht. Die Soldaten sanken zu Boden wie die Fliegen, und Tore, Türme und Mauern stürzten mit grossem Gepolter zusammen. Schliesslich wurde die Burg im Sturm genommen, und Heini war sehr stolz auf seinen Sieg.
Als er fortgehen wollte, schlug die hübsche, blasse Frau vor, die Jungen sollten doch ihre Schularbeiten künftig gemeinsam machen.
Heini musste seine Ansicht, dass Karl ein ‚Piepjochen’ sei, mehr und mehr zu dessen Gunsten abändern. Neulich fragte er ihn, wie er denn eigentlich in die Elbe habe fallen können; und da erfuhr er, dass der Junge seinen Spass daran gehabt hatte, an den Rändern der Ladeschuten entlang zu laufen und von einer zur anderen zu springen. Er habe darin schon eine meisterhafte Sicherheit erlangt, aber irgendetwas Glattes, wahrscheinlich grüne Seife oder so etwas Ähnliches, sei ihm unter die Füsse gekommen und habe den Sturz verschuldet.
„Mensch,“ sagte Heini „und denn kannst Du nicht mal schwimmen?“
„Doch, aber als ich plötzlich so unerwartet im kalten Wasser lag, hatte ich es vor Schreck ganz vergessen.“
„Pass mal auf,“ erwiderte Heini „so musst Du Arme und Beine bewegen, dann kannst Du einfach nicht untergehen!“ Und dabei legt er sich mit dem Bauch auf einen Stuhl und macht es ihm vor.
Karl gibt sorgfältig acht, dann legt er sich auf den anderen Stuhl und ahmt die Bewegungen seines Kameraden nach.
„Grossartig,“ ruft Heini „und morgen fahren wir zur Veddel, und dann sollst Du mal sehen, wie fein Du schwimmen lernst!“
Etwas Unglaubliches hat sich ereignet!
Mit der Morgenpost ist ein Brief eingetroffen! — Ein Brief! An Herrn Adolf Schmidt adressiert. Er steckt in einem blauen Geschäftsumschlag und ist in Hamburg zur Post gegeben.
Adje dreht ihn zwischen den Fingern hin und her, aber er findet nicht den rechten Mut, ihn zu öffnen. Da nimmt Stine eine Schere zur Hand, schneidet die Hülle auf und liest:
Sie wollen sich heute nachmittag zwischen 4 und 5 Uhr bei mir vorstellen. Zeugnisse sind mitzubringen.
Hochachtungsvoll
Karl Timm.
Lange Zeit sitzt Adje am Tisch, den Kopf in die Hände gestützt, und liest immer und immer wieder das kurze und doch so inhaltsschwere Schreiben.
Endlich erhebt er sich langsam in seiner schwerfälligen Art und schaut in den Spiegel. So kritisch hat er sich noch nie betrachtet. Herrgott, haben wenige Jahre ihn entstellt; und wie alt er geworden ist!
Stine steht hinter ihm: „Hab man Mut!“ sagt sie.
Er schüttelt den Kopf: „Zu spät, Stine!“
„Dieses Mal wird es etwas!“ entgegnet sie, und in so hoffnungsfreudigem, zuversichtlichem Ton, dass ein Funke von ihrer Zuversicht auf ihn überspringt.
Am Messberg liegt der grüne Hafendampfer ‚Senator Kirchenpauer’. Eine Menge Kinder, alle ein Bündel unterm Arm sind ausgestiegen, und ein grosser Haufe steht schon wieder wartend da. Nun entsteht ein Schieben und Schupsen, ein Drängen und Lärmen; das trennende Tau ist gefallen, und die Horde stürmt das Schiff. Mitten im dichtesten Knäuel befinden sich Heini und Karl. — Feine Sache! Für zwei Pfennige hin und zurück zur Veddel, direkt am Fuss der Elbbrücke. — —
Nun ist man angelangt.
Wie ein Heuschreckenschwarm ergiesst sich der Strom der Kinder über den Landungssteg, und dort steht schon wieder eine ebenso grosse Schar und wartet auf die Heimfahrt. —
Es ist Ebbe. — Die Nichtschwimmer patschen durch schwarzen Morast.
Karl ist und bleibt doch ein ‚feiner Pinkel’, muss grossspurig eine Kabine haben; als ob es im Freien nicht viel schöner wäre als in so einer engen Stinkbude. Aber Heini muss mit hinein, ob er will oder nicht.
Hein Smidt springt als erster hinaus, er rennt über den Strand, dann über die Bohlen geradenwegs auf das Sprungbrett zu. Schade, vom Riesensprungbrett darf er heute nicht hinunterspringen, weil Ebbe ist und daher Gefahr besteht, bei einem Kopfsprung das Genick zu brechen.
Der Junge schaut weder nach rechts noch nach links, mit einem Satz ist er im Wasser. So ein ganz klein wenig Schadenfreude kann er sich nicht verkneifen, wenn er daran denkt, wie das Reedersöhnchen jetzt bis an die Waden im schmierigen Mudd umherspaziert. Gerade taucht Heini auf und will tief Atem holen, als direkt hinter ihm ein Körper ins Wasser klatscht. Gleich darauf steigt prustend und schnaubend ein Kopf vor ihm auf. — Karl!!
„Mensch, bist Du verrückt? Meinst Du, ich habe Lust, Dich zum zweiten Male ans Land zu bugsieren?“
Karl lacht. Ruhig und sachlich macht er die Schwimmbewegungen. Er hatte schon früher grössere Strecken geschwommen, aber als er neulich so unerwartet vom Schutenrand in die Elbe fiel, hatte der Schreck ihn alles vergessen lassen; jetzt dagegen ist er vorbereitet. Er dachte gar nicht daran, hinter seinem Gefährten zurückzustehen.
Kunst- und Wettschwimmen war es ja gerade nicht, und der Bademeister schielte verdächtig zu ihm hinüber; er liess sich aber durch nichts aus der Ruhe bringen, und erst als er das Bassin in seiner ganzen Breite hin und zurück durchschwommen hatte, stieg er ans Land.
Heini sagte nichts; aber immer mehr kam er zu der Überzeugung, dass sein neuer Kamerad doch ein ganzer Kerl und durchaus kein ‚Piepjochen’ sei.
Adje Schmidt hat sich in Kluft geworfen, Kragen und Schlips umgebunden und macht jetzt einen ganz manierlichen Eindruck. Wenn nur das vom Suff aufgedunsene Gesicht nicht gewesen wäre! —
Zeugnisse? — Ja, er hatte eins, darin war ihm bescheinigt, dass er viele Jahre in der Fabrik tätig gewesen sei und es durch Fleiss und Pflichttreue bis zum Vorarbeiter gebracht habe. — Das klang gewiss recht schön und gut, aber weshalb er dann trotzdem entlassen worden sei, darüber stand kein einziges Wort in dem Zeugnis. Zudem lag es schon so weit zurück. Damit war sicher nicht viel Staat zu machen. Gleichwohl, es war verlangt, und Adje steckte es zu sich.
Zwischen 4 und 5 Uhr sollte er sich vorstellen.
Stine, seine rechtschaffene, kluge Stine, die nicht irgendetwas daherredete, hatte ihm Mut zugesprochen.
Den ganzen Morgen befand er sich im Zustand nervöser Unruhe; er kam sich vor wie ein Kind am Weihnachtsabend, das die Stunde nicht erwarten kann, da der Tannenbaum angezündet wird.
Schliesslich hält es ihn im Hause nicht länger. — Schon um 2 Uhr geht er fort.
Ziellos schlendert er durch die Strassen. Über den Messberg führt ihn sein Weg durch die steile Fischertwiete in die Niedernstrasse. Und da steht er plötzlich vor Hein Schachts Destille. Er blickt hinein. Wie manches Mal hat er hier an der Theke gestanden, und wie viele Taler durch die Kehle gegossen!
Er erinnert sich der Geschichte vom alten Hein Schacht, die, wenn vielleicht auch nicht wahr, so doch dafür umso treffender erfunden war: Der Alte sass eines schönen Morgens mit einem Bekannten auf einer Bank am Glockengiesserwall; da kamen einige ‚Hopfenmarktslöwen’ vorüber, grüssten ehrerbietig und riefen: „Hein, giw een ut!“ Schacht griff in die Tasche und warf ihnen eine Handvoll Silbermünzen hin. Der andere Herr wunderte sich über diese Freigebigkeit; Schacht aber sagte lachend, bevor er im Hause sei, befinde sich das Geld schon wieder in seiner Kasse.
„Hallo Adje, wo kumms Du denn her?“ fragt eine versoffene Bassstimme, und schon schiebt sich ein Arm unter den seinen und will ihn in die Destille ziehen.
„Nee, nee, ich muss mich heute vorstellen!“
„Na, wenn das kein Grund ist, einen zu genehmigen, dann möchte ich wissen, was ’n Grund ist! — Adje, alte Seele, Du musst Dir doch Mut zutrinken!“
Und Adje, die alte Seele, ist dicht genug daran, seinem alten Kumpan vom Hopfenmarkt zu folgen. Wie von einem Magneten fühlt er sich zur Kneipe hingezogen, und er weiss ganz genau, wenn er erst einen nimmt, so bleibt es nicht dabei. Nein, dann ruht er nicht eher, als bis die Mark, die er in der Tasche trägt, bis auf den letzten Pfennig durch die Kehle gespült ist.
Von wem hast du denn die Mark? fragt er sich. — — Von deinem Jungen! Und der hat sie sich verdient, indem er unter Lebensgefahr ein anderes Kind rettete. Es ist ja wahr, Adje schämte sich, und hat das Geld nicht annehmen wollen, aber schliesslich hatte er es doch getan!
Und dann sieht er plötzlich Stine, wie sie ihm beim Fortgehen die Hand drückte, so fest und voll gläubigen Vertrauens.
Mit einem Ruck reisst er sich aus der Umgebung los; dann rennt er, rennt, als seien tausend Teufel hinter ihm her, und die Leute bleiben stehen und gucken ihm kopfschüttelnd nach.
Durch die enge Altstädter Fuhlentwiete läuft er und macht erst an der Ecke der Steinstrasse halt. Einige Kinder sind ihm gefolgt. Es droht einen Auflauf zu geben. Er geht daher ruhig über den Fahrdamm zu den kleinen Häusern hinüber, sieht sich die Auslagen des Bandagisten Stohp an, schaut bei Prien ins Fenster und bewundert anscheinend Betten und Aussteuerartikel. Als die Kinder feststellen, dass sich nichts mehr ereignet, zerstreuen sie sich wieder. Adje geht nun um die Häuser herum und steht vor der altehrwürdigen St. Jakobikirche.
Drei dumpfe Schläge hallen vom Turm hernieder, zittern noch einige Zeit durch die Luft.
Adje geht weiter, recht gemächlich; er hat ja noch eine volle Stunde Zeit. — Auch sie wird vorübergehen.
Dann ist er endlich am Ziel. — Ihm klopft das Herz zum Zerspringen.
Alles geht im Hause Timm seinen geregelten Gang. Der blasse Knirps mit dem Federhalter hinter dem Ohr rutscht vom Bock herunter und meldet ihn an.
Adje sitzt auf dem einsamen Stuhl hinter der Barriere, aber niemand nimmt Notiz von ihm.
Es vergehen fünf Minuten, es vergeht eine Viertelstunde. Er sitzt, den Kopf gesenkt, und starrt auf das Futter seines Sonntagshutes. — Niemand kümmert sich um ihn. Hat man ihn vergessen?
Von irgendwoher ertönen zwei Glockenschläge. Sie werden vom Michel kommen. Es ist halb fünf!
Plötzlich steht der Stift vor dem Träumenden und sagt: „Wollen Sie bitte nähertreten!“
Jetzt steht der armselige, verkommene Adje dem reichen, mächtigen Reeder gegenüber.
Er fühlt sein Gewissen so belastet, dass er vor lauter Demut ganz klein und unscheinbar wird.
Platz soll er nehmen. Er rutscht auf der äussersten Kante des Stuhles umher. Sein Gegenüber sieht ihn an. Die stahlgrauen Augen scheinen bis auf den Grund seines Herzens zu dringen.
Der Kaufmann liest das Zeugnis mit Bedacht durch. Dann stellt er Frage auf Frage, bis er ein lückenloses Bild über des Bewerbers Lebenslauf hat. Nichts versuchte der Mann zu beschönigen. Das stimmt den Alten milder. Er fühlt recht gut, dass jener ein anderer werden möchte, und so sagt er, nachdem er sich einige Zeit besonnen hat: „Ich will es versuchen; Sie können morgen bei mir antreten. Sie helfen am Kai beim Entlöschen der Schiffe.“
Und Adje erwiderte: „Ich danke Ihnen, Herr Timm; Sie sollen sich über nichts zu beklagen haben.“
Der Reeder fügt hinzu: „Ich will es hoffen; denn, alter Freund, wenn Sie auch nur ein einziges Mal betrunken zur Arbeitsstelle kommen, sind Sie entlassen; merken Sie es sich gut, entlassen für immer!“
Der Mann würde Wort halten; da gab es keinen Zweifel. —
Als Adje aus dem Hause trat, kommen Karl und Heini mit ihren Badebündeln gerade die Treppe hinauf. Er will sich beiseite drücken, aber sein Junge begrüsst ihn mit lauter Freude, und Karl zieht höflich die Mütze. Also man schämt sich seiner nicht mehr! Schön! Sein Junge soll sich auch in Zukunft seines Vaters bestimmt nicht wieder zu schämen brauchen! —
Kaum waren die beiden Jungen im Spielzimmer angelangt, so holte Heini seine Schularbeiten hervor. Mit Feuereifer fiel er darüber her. — — Aber zwischen Wollen und Vollbringen liegt ein weiter Weg. Ja, ja, mein lieber Heini, mit ein paar Stunden Aufmerksamkeit und etwas gutem Willen ist noch nichts weiter getan als ein winziges Ziegelsteinchen zum Bau deines stolzen Lebensgebäudes herbeigetragen; und wer weiss, ob es so stolz wird, wie du es dir in deinen Jugendträumen vorstellst?
Karl, der kleine Kerl, beugt sich über die Schulter des Kameraden, schaut interessiert in die Schulaufgaben hinein und sagt, die möchte er mal so zum Spass machen. — Na, na, denkt Hein Smidt im stillen, speel di man nich opp; aber nein, dieser Junge kann wirklich mehr als Brotessen. Er löst die geheimnisvollen Rechenaufgaben, als sei es gar nichts; er überträgt das Deutsche ins Englische, als sei es die einfachste Sache der Welt, und sagt dann obendrein, Heini möge nur nicht böse sein, dass er ihm so naseweis bei seinen Sachen gegangen sei, aber es habe ihm eine unbändige Freude bereitet.
Nein, Heini war nichts weniger als böse. Er schrieb ab, was der andere ausgerechnet und übersetzt hatte, und nun versuchte er, die Aufgaben aus eigener Kraft zu lösen. Es glückte nicht auf den ersten Hieb; aber er war zähe und unermüdlich, bis er die Sachen begriffen hatte und fehlerfrei beherrschte. Seine Achtung vor dem noch vor kurzem so überheblich über die Schulter angesehenen ‚Piepjochen’ stieg immer mehr; und wie taktvoll der Kleine war, es kam ihm gar nicht in den Sinn, sich mit seiner Überlegenheit zu brüsten. Ganz klein kam Heini sich vor.
Konnte das Leben wirklich so viele märchenhaft schöne Tage bringen, wie sie jetzt folgten? — Ach, die Familie Schmidt war ja seit Jahren nicht mehr vom Schicksal verwöhnt worden, und was andere Leute für sich als ihr gutes Recht beanspruchen zu können glaubten, wussten sie als eins köstliche Gabe zu schätzen.
Als Heini, von einer Zentnerlast befreit, mit seinen Schulaufgaben nach Hause kam, sah er gleich, dass auch dort etwas Gutes geschehen sein müsse. Mutter sang! O, wie lange war es her, dass er seine Mutter hatte singen hören! Und wie lustig es klang! Es mochten wohl einige verkehrte Töne dazwischen sein, auch gab es gewiss bessere Stimmen, aber was hatten diese Nebensächlichkeiten zu bedeuten gegen die Fröhlichkeit, die mit ihrem Gesang den Raum erfüllte?
Nachher kramte Vater in seiner Hosentasche, und heraus zog er ein feines Messer, das hatte eine grosse und eine kleine Klinge, und beide waren so blank, dass man sie fast als Spiegel benutzen konnte. Das bekam Heini geschenkt — — es war für die Mark gekauft, die er seinem Vater gegeben hatte. „Bewahre es gut auf als Erinnerung an den Tag, an dem ich wieder Arbeit gefunden habe!“ sagte Adje zu seinem Sohn.
Monate vergingen.
Heini und Karl sind längst unzertrennliche Freunde geworden. Treu und brav machen sie gemeinsam ihre Schulaufgaben. Sonderbar, früher waren solche Hein Smidt als ein Greuel erschienen, jetzt freute er sich darauf, weil er selbst spürte, wie es vorwärts ging. Karl stand ihm nach wie vor helfend zur Seite, aber immer seltener brauchte Heini ihn um Rat zu fragen. Allmählich kam er seinem Freunde an Kenntnissen immer näher, ohne allerdings zu ahnen, dass der alte Reeder sich laufend über seine Fortschritte unterrichten liess.
Stine, die kluge Frau, steckte ihrem Adje jeden Morgen zwei Groschen in die Tasche, die durfte und sollte er für Getränke anwenden, denn sie verstand sehr wohl, dass er sich nicht mit einem Schlage entwöhnen konnte, zudem sollte er auch eine kleine Freude haben; und dieser grosse Junge fühlte sich hiermit glücklich und zufrieden, denn wenn er nicht mehr Geld bei sich hatte, konnte er auch nicht mehr ausgeben. Nur Sonnabends machte er einen grossen Bogen um seine Stammkneipe, wenn er nämlich seinen Wochenlohn in der Tasche trug, denn den lieferte er bis auf den letzten Pfennig im Hause ab. Dafür stand dort aber auch eine Flasche Steinhäger auf dem Tisch, und er konnte sich dann auch einen extra erlauben. —
Adje selbst hatte es gewünscht, dass seine Frau die Verwaltung des Geldes in die Hand nähme, denn er wusste wohl, es sei dort am besten aufgehoben. Anfangs machte sie noch Kontore rein — die Flickarbeiten hatte sie gleich, nachdem ihr Mann in Stellung war, aufgegeben, — sobald er aber festen Fuss auf seinem Arbeitsplatz fasste, hatte er darauf gedrungen, dass sie sich künftig nur noch ihrer Häuslichkeit widmete. — — —
Heini hatte allmählich bessere Umgangsformen gewonnen und sich mehr und mehr von seinen Schulkameraden zurückgezogen. Anfangs hatten sich seine ‚Jakobiner’ grosse Mühe gegeben, ihn als Führer zurückzugewinnen. Dann hatten sich die ‚Semiolen’ ernstlich um seine Gunst beworben und ihm sogar die Häuptlingswürde angeboten, aber er hatte alles Verständnis dafür verloren, unter waschechten Revolutionären oder Rothäuten eine führende Rolle zu spielen, und lehnte die ehrenvollen Anträge glatt ab.
Er hielt sich völlig für sich, war freundlich und gefällig zu jedem, ging aber allen Annäherungsversuchen aus dem Wege. Erst glaubten alle, es sei eine Schrulle, die sich wieder legen würde; dann sahen sie aber zu ihrem Erstaunen, wie aus einem der schlechtesten Schüler im Laufe weniger Monate der beste ihrer Klasse wurde, und sie hielten ihn für einen Streber. Schliesslich kamen sie zu der Ansicht, er halte sich für etwas Feineres, als sie es seien, und es tat sich eine Kluft zwischen ihnen auf. Sie wurden ihm feindlich gesinnt und nannten ihn wieder voller Ironie ‚Käpp’n Smidt’, nachdem sie es einige Zeit unterlassen hatten.
Eines Tages pflanzten sich Thedje und Edje vor ihm auf und riefen laut und herausfordernd: „Guckt ihn Euch an; glaubt, was Besseres zu sein als wir, und bleibt doch sein ganzes Leben lang der Ableger von einem Hopfenmarktslöwen!“ Und alle in der Klasse brüllten vor Lachen.
Da schoss Heini das Blut zu Kopfe, und er antwortete: „Was Ihr über mich sagt, lässt mich kalt; aber meinen Vater lasst Ihr aus dem Spiel!“
Jungen drängten sich um die Zankenden, und Thedje, im Vertrauen auf die grosse Übermacht, erwiderte frech: „Glaubt am Ende noch ein Prinzensöhnchen zu sein; dabei kenn ich seinen Alten ganz genau; der ist die elendeste Schnapsnase von ganz Hamburg!“
Grosser Hallo und aufhetzende Zurufe waren das eine Ergebnis dieser Rede; das andere aber war, dass Thedje einen Fausthieb erhielt, der ihn drei Vorderzähne und erhebliches Nasenbluten kostete. Edje, der ihm zu Hilfe kommen wollte, landete im nächsten Augenblick ebenfalls auf dem Fussboden.
Die Jungen sahen, dass es hier bitterer Ernst wurde, und dass Heini in seiner blinden Wut zu allem fähig war. Er hatte sich auf seinen Widersacher geworfen, und seine wuchtigen Faustschläge sausten wie ein Trommelfeuer auf ihn hernieder. —
Mit Mühe und Not gelang es, den Rasenden von seinem Opfer zu trennen. Die Stimmung war für den Augenblick zu Heinis Gunsten umgeschlagen; und diejenigen, die erst am lautesten Beifall gebrüllt hatten, waren am ersten ernüchtert. Sie fanden es schön von Hein Smidt, dass er nichts auf seinen Vater kommen liess; im übrigen allerdings blieb ihre feindliche Stimmung gegen ‚Käpp’n Smidt’ bestehen.
Eines Tages ereignete sich eine besondere Begebenheit.
Marie Schult kam zu Besuch.
Sie war zwei Jahre jünger als die beiden Freunde, ein hübsches, etwas eigenwilliges Mädel, aber eine unterhaltende Gesellschafterin. —
Hei, das gab ein Leben im Hause! Für alle die schönen Dinge, die im Spielzimmer aufgestellt waren, zeigte sie kein Interesse, nicht einmal für einen soliden Eisenbahnzusammenstoss oder eine Schlacht mit ‚Piepmantjes’-Kanonen. Würfelspiele, wie das Affen- und das Gänsespiel, fanden schon eher Gnade vor ihren Augen, besonders als sie das erste Mal gewonnen hatte. Schliesslich setzten sich die Drei in eine Ecke und erzählten sich alles Mögliche. Ja, das war fein; so ein Mädel zwischen zwei Jungen war doch mal eine famose Abwechslung. Heini und Karl taten aber auch alles, um bei ihr in Gunst zu kommen.
Endlich musste Maria fort. Sie wohnte im Nachbarhause, und die beiden Freunde mussten ihr ‚auf Ehrenwort versprechen, sie am nächsten Montag zu besuchen. Das Versprechen gaben sie gern. Sie begleiteten den Gast, wie es sich für Kavaliere geziemt, sogar bis zur Haustür. Heini war ganz Feuer und Flamme. „Du, die ist eine!“ sagte er in heller Begeisterung. „Die nehm’ ich zur Frau, wenn ich mal gross bin!“
„Wenn sie Dich will!“ antwortete Karl und guckt ihn fast feindlich an. „Ausserdem bin ich auch noch da.“
Aber dann mussten doch beide über sich selbst lachen und gingen in guter Freundschaft auseinander.
Die Herbstzeugnisse wurden ausgestellt.
Früher war Heini immer froh, wenn dieses Ereignis hinter ihm lag und Mutter mit Geschelt und Gebrumm ihren Namen darunter gesetzt hatte.
Das alles war jetzt mit einem Schlage anders geworden. In die erste Reihe war er gerückt. — Sein Klassenlehrer lobte ihn vor allen Schülern.
Dann musste er zum Hauptlehrer kommen. Na, das war früher auch so ein Gang, über den man lieber nicht sprach; aber dieses Mal drückte er Heini die Hand und sagte, dass er sich zu seinen Leistungen sehr gefreut habe; nun solle er aber auch so fortfahren, dann werde sicher einst ein tüchtiger Mann aus ihm, der es im Leben zu etwas bringe.
Unser kleiner Held musste bei aller Freude, die er empfand, ein wenig lächeln. Er dachte, es sei im Grunde gar nicht so dumm gewesen, bisher recht träge und nachlässig gewesen zu sein; von den Musterschülern wurden beste Leistungen als etwas Selbstverständliches vorausgesetzt, von ihnen sprach kein Bein; er aber war jetzt in aller Munde und in der Schule plötzlich die grosse Nummer geworden.
Im Hause war Mutter ganz stolz auf ihren Jungen und sagte, so ein gutes Zeugnis müsse unweigerlich der Vater unterschreiben.
Und nun gar der ‚Mann mit dem Backenbart’. Der tat, als falle er vor freudigem Schreck aus allen Wolken. Dann griente er so gemütlich, wie eben nur der olle Reeder Timm es fertig bringen konnte, und meinte, jetzt fasse er fast selbst Hoffnung, dass es mit der Kapitänslaufbahn doch vielleicht noch etwas werden könne. „Na, wir wollen erstmal das Osterzeugnis abwarten.“ Damit drückte er Heini ein blankes Goldstück in die Hand. Jawohl, ein richtiges, goldenes Zehnmarkstück!
O, wie sein Ansehen gestiegen war!
Die blasse, liebe Frau Timm sagte zu ihm, er sei der tapferste und tüchtigste Kerl, den sie je gesehen habe. Sogar das hübsche, saubere Dienstmädchen mit der Haube lächelte ihm freundlich zu und gratulierte ihm zu seinem schönen Zeugnis.
Im Spielzimmer führte Karl ihm zu Ehren einen Indianertanz mit Siegesgeheul auf und sagte, er solle sich 50 Zinnsoldaten aussuchen, ausserdem schenke er ihm zwei der ‚Piepmantjes’-Kanonen mit einer vollen Packung Munition; und das war allerhand!
Heini wollte nichts davon wissen; er behauptete, das sei ja eigentlich gar nicht sein sondern Karls Zeugnis.
Darauf wurde Karls Zeugnis angeguckt. Na, das war aber bestimmt nicht schlechter als seines; aber darüber verlor nun kein Mensch einen Ton, er war eben ein Musterschüler, hatte es mithin zu sein und zu bleiben, sonst bekam er ein Fell voll — und damit basta!
Als Heini nach Hause kam, hatte sein Vater bereits unterschrieben. Die Buchstaben sahen ein wenig ungelenk aus, als hätten seine Hände etwas gezittert; er hatte eben seinen Tatterich immer noch nicht ganz überwunden. Der gute Alte hatte sich von Stine eine ganze Reichsmark geben lassen und hierfür ein wundervolles, knallrotes Juchtenlederportemonnaie gekauft. Die Mutter hatte zehn Zehnpfennigstücke hineingesteckt, damit es sich recht dick und wohlhabend ausnehme. War das nicht eine grossartige Überraschung und Belohnung?
Im Bett musste Heini noch über allen seinen Reichtum nachdenken: Ein Goldstück, eine gespickte Geldbörse, eine Armee von fünfzig bunt durch einander gewürfelten Soldaten aller Zeiten, Zonen und Nationen und obendrein zwei ‚Piepmantjes’-Kanonen mit einem Munitionsreichtum, der mit tausend Schuss wohl kaum zu niedrig veranschlagt war. Ja, ja, so kann über Nacht aus einem kleinen Jungen im Bäckergang ein reicher Mann und Feldherr werden! — Dann erinnerte sich Heini wieder seiner schon etwas näher gerückten Kapitänswürde, und endlich schlief er ein. Die ganze Nacht hindurch träumte er wieder von kühnen Fahrten durch weite Meere und erlebte die unglaublichsten Abenteuer. —
Am anderen Tage war Sonntag! — Die kleine Familie machte einen Ausflug; zum ersten Male seit vielen Jahren. Bisher waren noch so vielerlei Anschaffungen besonders an Wäsche und Garderobe zu machen gewesen, dass man sich keine aussergewöhnlichen Ausgaben leisten konnte. Aber nun war es geschafft.
Alle Drei prangten in Sonntagskleidung, und Heini hatte seinen neuen Anzug heute zum ersten Male an, dazu trug er ‚Kremper’, die bis zu den Knien reichten. Stine hatte Adje einen blanken Taler in die Hand gedrückt. Sie gingen ja so selten aus; wenn sie es aber taten, so wollten sie sich nicht lumpen lassen und den Groschen nicht zehnmal in der Tasche umdrehen.
Zum Jungfernstieg gingen sie und fuhren nach Winterhude. Ei, solche Alsterfahrt war etwas Feines! Sass man in der Kajüte, so befand man sich mit dem Wasserspiegel in einer Linie; setzte man sich aber auf das um einige Stufen erhöhte Hinterdeck, so konnte man sehen, wie die Schiffsschraube das Wasser aufwühlte und eine lange, schäumende Schlangenlinie hinter sich liess.
Nach einiger Zeit kam der Kapitän. Der trug eine schmucke Uniform und ausserdem eine blanke Dose vor dem Bauch, aus deren Öffnung bunte, kleine Scheine hervorguckten; und wer seine zehn Pfennig bezahlt hatte, bekam eine solche Quittung. Heini dachte, wenn er einmal Kapitän wäre, dann dürfte es bestimmt nicht auf einem Alsterdampfer sein, darüber war er sich völlig im Klaren. Er würde sich bestens bedanken, als ‚Käpp’n’ mit einer blanken Dose vor dem Bauch umherzulaufen und Groschen einzusammeln. Ausserdem musste der bedauernswerte Mann an jeder Haltestelle abspringen und das Schiff vertäuen. Besten Dank — dafür hatte er seine Schiffsjungen und Matrosen!
Dann marschierten die Drei am alten Schiessstand vorüber, hart am Moor vorbei, um schliesslich im ‚Borstler Jäger’ Rast zu machen. Jeder bekam ein Glas Bier, und Heini konnte nun so viel umhertoben, wie er wollte. Der kleine Wald interessierte ihn nicht sonderlich; da liefen ihm zu viele Leute umher. Aber die dem Lokal gegenüberliegende, tiefe Sandkuhle mit der Entwässerungsmühle, die gefiel ihm. Herrlich könnte man da Indianer und Trapper spielen, aber er war ja allein, und da ging das nicht.
Nun lag er unten am Abhang und guckte in den blauen Septemberhimmel hinein; und da kam es ihm in den Sinn, Mutter doch einmal zu fragen, ob er ein Sonntagskind sei, denn sonst wäre so viel Glück, wie er es hatte, doch gar nicht zu erklären. — Wenn er sich noch etwas wünschen könnte, was sollte es wohl sein? Und gerade, als er sich eine Antwort geben will, ertönt von oben lautes Gekreisch, und den Hügel herunter kommt es gestürmt wie die wilde Jagd. Zwei Beine rasen geradeswegs auf ihn zu, erkennen das unvermutete Hindernis zu spät, können im hastigen Lauf weder stoppen noch ausbiegen, und schon ist die Katastrophe da. Direkt über ihn purzelt es hin, kollert sich zur Seite und liegt nun ganz ausser Atem zu seiner Rechten. Gleich darauf wiederholt sich die Geschichte, und als er erstaunt um sich blickt, liegt er zwischen zwei niedlichen, achtoder neunjährigen Mädchen, die, kaum etwas zu sich gekommen, sich über sein erstauntes Gesicht totlachen wollen. — Nein, es ist kaum glaublich, eine von ihnen ist Marie! — Na, jetzt gibt es einfach keinen Zweifel mehr, er ist ein Sonntagskind!
Die beiden Mädel sind auf eigene Faust losgezogen, fanden die grosse Sandkuhle ebenfalls wunderschön und hatten Kriegen gespielt. Nun tobten sie zu Dreien umher, bergauf, bergab; es kommt ihnen auch nicht sonderlich darauf an, wenn eines von ihnen in der Nähe der Entwässerungsmühle nasse Fusse bekommt. — Junge, Junge noch mal zu, ist das ein feiner Sonntag!
Da aber leider jede Freude auf Erden ihr Ende findet, wenn es gerade am schönsten ist, so kamen die Rufe: „Heini! Heini! Komm! Wir wollen nach Hause gehen!“ immer noch viel zu früh, obgleich es schon ziemlich spät war.
Die beiden Mädel wollten sich verabschieden, aber Hein Smidt war jetzt in seinem Fahrwasser; er nahm sie einfach mit und stellte sie seinen allerdings etwas überraschten Eltern vor: „Das ist Marie Schult; das ist die, mit der ich letzte Woche bei Karl gespielt hab’, und die ich morgen besuchen soll, und die, ja, Margot heisst sie, weiter kenn’ ich sie auch nicht.“
„Margot Wolf“ stellt sich das niedliche Ding vor und macht einen zierlichen Knicks.
„Sie wohnt im zweiten Haus von uns, und ihre Mutter ist Witwe“ vervollständigte Marie die Vorstellung.
„Und Ihr beiden Kröten lauft am Sonntag so allein in der Welt umher?“ fragt Stine.
Marie war keine Sekunde um eine Antwort verlegen. „Ja, warum auch nicht? Wir sind doch Hamburger Deerns, und ich bin jeden Sonntag unterwegs. Mein Vater geht am Sonntag immer aus, und eine Mutter hab’ ich nicht. Bei Margot ist es umgekehrt, die hat keinen Vater, und deren Mutter kann nicht ausgehen.“
„Weil meine Mama so schlecht auf den Füssen ist“ fügt Margot wie zur Entschuldigung hinzu.
Die Heimfahrt war herrlich! Heini stolz voran, rechts und links ein niedliches Mädel am Arm. Alle Achtung, das gefiel ihm!
Als man sich endlich am Scharmarkt trennte, legte Marie ihm dringend ans Herz, ja morgen zu kommen; und, meinte sie so nebenher, mit diesem Anzug und den hohen Stiefeln gefällst Du mir noch besser als Karl. — — Ha, welch ein Erfolg! Heini war selig. Aber selbstverständlich werde er kommen, und Margot käme doch wohl auch?
Über diese Frage schien Marie etwas verstimmt zu sein, denn sie antwortete ziemlich kurz: „Das glaube ich kaum, vielleicht nächstes Mal.“ — Dann fasste sie ihre Freundin bei der Hand wie eine Mutter ein ungezogenes Kind, das nicht folgen will, und fort waren die beiden.