Читать книгу Kurts Frau, ihr Garten und Kurt - Wilhelm K. H. Henze - Страница 4
Kapitel I
ОглавлениеKraftvoll wuchtete Kurt den Spaten in das Erdreich, das an dieser Stelle des weitläufigen Grundstückes besonders fest und unnachgiebig schien. So, als wollte es etwas schützen, dieses umklammern und festhalten. Doch Kurt sah es als eine Herausforderung an. Er wusste, dass es hier sein musste, denn erste Versuche am Vortage hatten ihm gezeigt, es konnte nur hier sein. Der Schweiß trat ihm langsam auf die Stirn, obgleich das Wetter, es war ein wechselhafter Apriltag, nicht der Grund hierfür sein konnte. Der Grund war der Eifer, hervorgerufen durch die Neugierde nach dem Ungewissen. Verbissen durchwühlte Kurt mit dem Spaten Stück für Stück des schwarzbraunen Erdreichs, das an dieser Stelle nur durch das strahlende Gelb einiger Löwenzahnblühten Natur vorgaukelte. Er wollte gerade zu einem neuen Schwung ausholen, als ihm, warum auch immer, eine Zeitungsmeldung in den Kopf schoss. Erschrocken hielt er inne. Stand nicht in der letzten Woche in der Zeitung, dass in einer größeren Stadt in - wo genau wusste er nicht mehr, aber dass es passiert war, wusste er genau - bei Erdarbeiten zu einem neuen Einkaufzentrum eine Bombe aus dem letzten Weltkrieg detoniert sei. Der Schreck fuhr ihm in die Glieder. Was wäre, wenn hier auch ein Relikt dieses Krieges liegen würde. Vielleicht nicht gerade eine sechs Zentner schwere Bombe. Vielleicht nur eine Brandbombe. Oder eine andere, kleine Bombenausführung. Aus seiner Bundeswehrzeit bei den Panzerpionieren wusste er, wie vernichtend Sprengsätze sein konnten. Ob er vielleicht doch besser … Aber wen sollte er anrufen. Die Polizei würde ihm Fragen stellen: seit wann wohnen sie hier, wo waren Sie während des zweiten Weltkrieges, lag denn die Bombe schon immer dort. Nein. Seine Vermutung war mit Sicherheit totaler Blödsinn, hier eine Bombe aus dem Krieg. Hier war doch früher nur Ackerland. Kein lohnenswertes Ziel für irgendeinen Luftangriff. Nur Acker, Wiesen mit unzähligen Löwenzahns, Feldwege. Nein, hier lag bestimmt keine Bombe. Entschlossen, mutig und überzeugt, dass dieses sich sträubende Etwas im Erdreich harmlos im Sinne einer explosiven Gefahr sei, grub er kräftig weiter. „Kurt“, unterbrach seine Frau Inge seine Arbeitskonzentration; sie war über die Terrasse zu dem Platz seines Arbeitseinsatzes gekommen. „Möchtest du nicht herein kommen und eine Tasse Kaffee trinken?“ Eigentlich war ihm eine kleine Pause ganz recht, obgleich es ihm die Neugierde, und der selbst erarbeitete Mut schwer machten, zwischen Pause und Pflicht zu entscheiden. Aber, warum keine Pause. „Ja“, rief er seiner Frau zu, „ich glaube, ich habe mir eine kleine Pause verdient. Auch, wenn ich es immer noch nicht gefunden habe und somit auch noch nicht weiß, was es eigentlich ist, das sich meiner Arbeit in den Weg stellt.“ Er ging zur Terrasse, zog seine vom schweren Lehmboden beschmutzten Stiefel aus und ging, durch seine dicken Wollsocken gegen Fußkälte geschützt, über die Terrasse ins Haus. Er durchquerte das geräumige Wohnzimmer und ging am Essplatz vorbei in die Küche. Inge hatte ihm eine große Tasse Kaffee zubereitet, so, wie er ihn gern trank. Frisch gemahlenes Kaffeemehl direkt in der Tasse mit heißem Wasser, nicht mehr kochend, übergossen. Die Tasse stand, wie gewohnt, an Kurts Platz am großen, runden Küchentisch. Inge hatte neben seinen Kaffeepott einen kleinen Teller mit dem Kuchenrest vom letzten Sonntag gestellt. „Meinst du, dass du heute noch fertig wirst“, fragte sie. „Besonders frisch siehst du ja nicht mehr aus“, bemerkte sie, als sie in sein erschöpftes Gesicht schaute. „Ruh dich erst einmal etwas aus“, fügte sie hinzu, „es läuft dir nichts davon.“ „ Ja“, sagte Kurt leicht gereizt, „nur möchte ich das verdammte Ding finden. Diese Ungewissheit, was es ist, wie groß es ist und was wir damit machen, gibt mir keine Ruhe.“ Sicherheitshalber verschwieg er seiner Frau gegenüber seine Überlegungen, die ihn gerade noch ziemlich bedrückt hatten. Bombe aus dem letzten Weltkrieg und so weiter.„Und so, wie es aussieht, wird das Wetter trocken bleiben. Also, ich will es heute noch schaffen!“ Kurt war über sich selbst überrascht, wie selbstverständlich und zielstrebig er gewisse Dinge anging. Oder angehen konnte. Früher war das nicht so. Solchen Ehrgeiz, etwas erreichen zu wollen, hatte er nicht schon von Kindesbeinen an. Außer, wenn es darum gegangen war, etwas ganz Ausgefallenes haben zu wollen. Dann konnte er eine kaum zu glaubende Penetranz entfalten. Auch seine Berufswahl war nicht gerade zielstrebig verlaufen. Für seinen Vater war es klar gewesen. ‚Du musst Lehrer werden.’ So, wie es vor Kurt der Vater und vor diesem der Großvater und vor diesem der Urgroßvater getan hatten. „Junge“, begann sein Vater jeden erneuten Versuch, Kurts Berufsauswahl zu beeinflussen, „da bist du Beamter, da hast du dein sicheres Einkommen und deine Ferien. Und auch später eine gute Pension.“ Doch Kurt waren die Kinder, die er dann zu unterrichten gehabt hätte, zu wertvoll, um durch ihn verdorben zu werden. Und er fand diesen von unterschiedlichen Riten durchwobenen Beruf inakzeptabel. Morgens mit der Aktentasche unter dem Arm zur Lehranstalt zu gehen, auf ein Klingelzeichen hin zu beginnen, auf ein Klingelzeichen hin seine Tätigkeit einzustellen, auf ein Klingelzeichen hin das Frühstücksbrot auszupacken, auf ein Klingelzeichen hin den Rest wieder in die Butterdose zu packen und sich wieder einer Vielzahl von mehr oder weniger interessierten Schülern zuzuwenden. Wo sollte bei soviel Reglement die Persönlichkeit Platz finden? Nein! In den sechziger Jahren war Fahrlehrer ein sehr gut bezahlter Job. Die Führerscheinanwärter nahmen mehr und schneller zu, als für die Fahrschulen Ausbilder zu bekommen waren. In dieser Zeit reichte allein die Bemerkung gegenüber einem Fahrschulinhaber, man wolle den Fahrlehrerschein machen, aus, um einen Job reserviert zu bekommen. Dieser Beruf erschien Kurt im Moment akzeptabel und seinem Vater auch, fand sich doch das Wort ‚Lehrer’ in der Berufsbezeichnung wieder. Kurt bestand, nachdem er bei der ersten Prüfung das Procedere verinnerlicht hatte, die zweite Prüfung zum Fahrlehrer. Er suchte sich aus fünf Stellenangeboten das lukrativste aus und verschob sein geplantes Maschinenbaustudium auf ungewisse Zeit. Aut aurum aut nihil (Entweder Gold oder nichts).Allmählich aber stetig begann Kurt, in seiner Tätigkeit als Fahrlehrer eine gewisse Zielstrebigkeit zu entwickeln und arbeitete, vom seinem Leitsatz angetrieben, sehr viel. Trotz der teilweise nervenaufreibenden Tätigkeit fühlte er sich großartig, leistete sich ein rotes Cabrio mit weißem Verdeck und fuhr damit auf Brautschau. Er lernte eine Fotografin kennen, die ihn durch ihr freies und unkompliziertes Wesen voll in ihren Bann zog. Es hatte ihn so erwischt, dass er bei seinen Kriterien, die er bisher gegenüber einer neuen Bekanntschaft immer berücksichtigt hatte, in einem Punkt erheblich abwich. Ihm war es immer wichtig gewesen, dass die Neue gut aussah, sportlich sein musste, sympathisch wirken sollte und geistreich war. Sie durfte höchstens einen halben Kopf kleiner sein als er. Alles traf auch auf diese neue Eroberung zu, nur ein Punkt passte überhaupt nicht. Kurt war einssechsundachtzig und die Fotografin Inge genau einsneunundfünfzig. Also nicht einen halben Kopf sondern fast dreimal einen halben Kopf kleiner. Aber es störte ihn nicht! Er war einfach weg, er war richtig verknallt. Und je länger die Freundschaft mit Inge, seiner Inge dauerte, desto stärker wurde, bei ihm auf alle Fälle, der Wunsch an eine gemeinsame Zukunft „Träumst du“, fragt ihn Inge, als sie seinen abwesenden Gesichtsausdruck bemerkte. „Ich dachte, du wolltest heute noch das Rätsel, das in der Erde verborgen ist, lösen“, sagte ihm Inge mehr auffordernd als aufmunternd. Sie konnte sich denken, dass Kurt im Moment so wenig Lust zum Arbeiten wie die Kuh zum Eierlegen hatte. „Ja, klar“, antwortete Kurt, etwas erschrocken, als ihn seine Frau von seinem Traumausflug in die einigermaßen sorglose Vergangenheit ruckartig in die nicht so ganz sorgenfreie Gegenwart zurückgeholt hatte. Er erhob sich, stellte die benutzte Kaffeetasse in die Spülmaschine und beeilte sich, seine Arbeit wieder aufzunehmen. Vom Kaffee mit der psychoaktiven Droge Koffein versorgt, griff er zum Spaten, den er an einen Stein gelehnt hatte, um die Sache, die ihn bedrückte, schnell zu Ende zu bringen. Denn er wusste, sehr lange hält die tataktive Wirkung des Koffeins nicht vor. Und überhaupt. Viel lieber hätte Kurt seine Arbeit ein anderes Mal zu Ende gebracht. ’Na, du Feigling’, feixte plötzlich eine Stimme, ‚kannst auch nicht tun was du möchtest, hä!’ Erschrocken sah Kurt auf. Doch so sehr er seine Augen auch anstrengte, er konnte niemanden erblicken. Weder vor sich, noch seitlich, noch hinter sich. ‚Hier bin ich’, feixte die Stimme wieder, ‚im Rhododendronstrauch. Na, ich gebe ja zu, so ganz deutlich bin ich nicht wahrzunehmen. Und zu erkennen bin ich schon gar nicht. Ich bin dein früheres Ich. Nun, ich bin auch nicht immer da. Aber manchmal muss ich schon kommen, um dir zu sagen, was dein früheres Ich gemacht hätte.’ „Und was hätte es jetzt gemacht?“ wagte Kurt zu fragen. ‚Weiß ich auch nicht genau, aber jedenfalls nicht so einen Schwachsinn. Wozu. Lass es doch, was auch immer es ist, einfach in der Erde. Verwächst sich schon. Und schau einmal, wie schon der Löwenzahn blüht. Prachtvoll gelb. Ist doch auch Natur, oder?’ „Aber das ist Inge nicht ordentlich genug“, verteidigte Kurt seine Arbeit. „Diese Ecke hier muss urbar sein, also nur aus Erde bestehen und sonst aus nichts. Kein Stein, kein Eisen, keine Betonreste. Einfach nichts! Und jetzt hau ab und stör mich nicht mehr!“ ‚Ha’, feixte das frühere Ich zurück, ‚mit Verlaub, du hast ’ne Meise!’ Und still war es. „Kurt, hast du etwas gesagt“, fragte ihn Inge, die an ihm vorbei zur Garage ging. „Ich“, antwortete Kurt erschrocken, „ich, äh, nein“. „Mir war so“, kam es zweifelnd von Inge. „Oder hältst du Selbstgespräche“? Warum schüttelte sie bei dieser Frage ihren Kopf, dachte Kurt. War sein Gespräch mit seinem Alter Ego etwa ein erstes Anzeichen einer Midlifecrisis. Immerhin wurde er in drei Monaten vierzig. Packte ihn die Reue. Die Reue, sich gebunden zu haben, ein Teil von sich aufgegeben zu haben. Aber er fühlte sich doch wohl im Kreise seiner drei Kinder und seiner Frau. Vielleicht war es auch nur die ungewohnte Arbeit, die seinen ganzen körperlichen Einsatz erforderte. Er war ja auch nicht mehr der Jüngste! Sich wieder voll auf die Aufgabe konzentrierend, begann er, hastig die Erde weiter zu durchwühlen. Da, endlich, ein erster leichter Widerstand beim Einstechen des Spatens. Er wollte tiefer graben. Doch wieder schoss ihm der letzte Krieg mit den zahlreichen Bombardements durch den Kopf. ’Quatsch!’ sagte er sich und grub weiter. Er setzte den Spaten etwas weiter rechts an und drückte ihn mit dem rechten Fuß kraftvoll ins Erdreich. Es ging. Nur beim Herausziehen des Spatens aus dem Erdreich hatte er große Mühe. Nachdem Kurt den Spaten freibekommen hatte, ging er etwa dreißig Zentimeter weiter nach links, um dort erneut zu graben. Widerstandslos senkte sich der Spaten ins Erdreich. ‚Aha, dazwischen muss das Ding liegen’, folgerte er und begann nun zielstrebig, den unbekannten Widerstand frei zu graben. Er grub weiter und weiter, bis er etwa eine Grube von einem halben mal einem Meter Ausdehnung mit einer Tiefe von dreißig Zentimetern ausgehoben hatte. Da war es endlich, das verdammte Ding. Zirka zwanzig Millimeter im Durchmesser und aus Stahl. Es sah aus wie Armier Stahl, den man beim Bau von Betonfundamenten benutzte. Doch wo waren die Enden. Im Moment sah es ganz so aus, als wären da gar keine Enden. Als würde sich dieser Rundstahl ganz um die Erdkugel gelegt haben, um sie zusammen zu halten. Wie lang konnte eigentlich ein handelsüblicher Armier Stahl sein? Kurt versuchte es ungefähr zwei Meter weiter nach vorn. Unter Berücksichtigung der Lage des freigelegten Stückes konnte er erahnen, in welche Richtung sich dieser Stahl gelegt haben könnte. Er hob die Erde dort, wo er einen weiteren Teil des Armier Stahls vermutete, aus und wurde in seiner Annahme bestätigt. Die eingeschlagene Richtung stimmte. Nur von einem Ende des Stahls war noch nichts zu sehen. Er grub Stück für Stück weiter, so, als wollte er einen Verbindungskanal ausheben. Und bei jedem Spatenstich war er in der Erwartung, nun das Ende des Übels gefunden zu haben. Aber erst nach gut drei Metern hatte Kurt es geschafft. Erleichtert, wenigsten ein Ende gefunden zu haben, schritt er die Länge des ausgehobenen Grabens ab, um zu ermitteln, wie weit er im schlimmsten Fall zur anderen Seite graben musste. Irgendwann hatte Kurt einmal gehört, dass handelsübliche Armier Stähle in sechs Meter Länge geliefert würden und auf der Baustelle dann auf das gewünschte Maß abgeschnitten würden. Da das Gelände, von dem Kurt einen Teil für das Anlegen eines Gartens urbar machen sollte, vom vorbesitzenden Bauunternehmer als Lagerplatz für sein Baumaterial genutzt worden war, ging er von der handelsüblichen Länge von sechs Metern aus. Dies bedeutete für ihn, dass er etwa noch zwei Meter in die andere Richtung graben müsste. Er maß die Strecke ab, um am Endpunkt eine Probegrabung zu machen. Vielleicht würde er, wenn unerwarteter Weise diese Strecke nicht ausreichend wäre, den Graben auf seiner ganzen Länge einfach wieder zuschütten, feststampfen und gegenüber Inge so tun, als ob alles klar sei. Doch seine Vermutung, dass es sich um handelsüblichen Armier Stahl handelte, wurde bestätigt. Hier war definitiv das andere, vermisste Ende des verschütteten Stahlstranges. Beflügelt von dieser Erkenntnis begann er, seine Ausgrabung zu Ende zu bringen. „Vatta“, rief sein Sohn Frank, der gerade mit seinem Fahrrad an der ‚Baustelle’ vorbei wollte, „bekommen wir einen Bachlauf über das Grundstück?“ ‚Keine schlechte Idee’, dachte Kurt. Die Größe für einen Bachlauf hätte das Grundstück mit seinen gut zweieinhalbtausend Quadratmetern sicherlich und zusammen mit einem großen Teich, in den der Bach hätte münden können, würde für Kurt ein beträchtliches Stück Urbarmachung entfallen. Der Bach könnte auch durch zwei Teiche fließen. Platz genug war vorhanden. Vielleicht würde er am Ende in eine Zisterne münden, um von dort wieder mit einer Pumpe in den ersten Teich gepumpt zu werden, um den Kreislauf erneut antreten zu können. Und zwischen beiden Teichen würde der Bach lustig plätschern dahin fließen. Denn ein leichtes Gefälle hatte das Grundstück auch. Technisch alles kein Problem. Und die Fläche, die dieses gesamte Wasserspiel beanspruchen würde, hätte nicht bepflanzt und gepflegt werden müssen. Vielleicht sollte er mit Inge einmal darüber sprechen. ‚Na, du Schlawiner, das hättest du wohl gern’, feixte es plötzlich aus dem Graben. ‚Vergiss es!’ Inge und Kurt waren nicht etwa schon von Geburt an gartensüchtig. Kurt war zwar leicht vorbelastet, doch Inge überhaupt nicht. Inge und Kurt hatten, als sie Singles waren, ansatzweise erste Bekanntschaft mit der Flora gemacht. Wie es zu jener Zeit, Ende der fünfziger Jahre, üblich war, wenn Geburtstage oder sonstige wichtige Tage anstanden, die irgendjemanden zum Schenken verpflichteten, wählten die Schenkenden meist etwas Praktisches aus. Inge bekam aus solch einem Anlass eine Aloe aristata und Kurt einen Echinocactus grusonii. Beide Kakteenarten waren leicht zu behandeln. Sie standen unauffällig und äußerst pflegearm auf irgendeinem Untergestellt oder in der Fensterbank. Bis sie vergessen wurden. ‚Ach, du meine Güte, mein Kaktus sieht aber traurig aus’. Nur eine Ausrede, denn eigentlich waren beide froh, auch noch die kleine Verantwortung für das stachelige Grün, nämlich einmal ganz wenig gießen in der Woche, los zu sein. Der erste Bezug zur Flora für die beiden damaligen Singles war beendet. Die beiden Exoten hatten sich geschrumpft zurückgezogen. Sie waren, enttäuscht über ihre Besitzer, im Stich gelassen worden zu sein, zerknittert und verbittert in sich zusammengesunken. Sonst und im Allgemeinen war die Natur für Inge und Kurt überwiegend als ein Ort sinnlicher Stimulation mit anschließender praktischer Umsetzung vertraut. Mit dem ersten eigenen Zuhause nach der Vermählung hatte sich die oberflächliche Einstellung gegenüber blühenden und sprießenden Gewächsen jedoch geändert. Das neue Zuhause befand sich in einer Kleinstadt, die nahe der holländischen Grenze lag. Es war eine ländliche Umgebung. Jeder kannte jeden und jeder konnte also über jeden etwas berichten. Die Wohnung, die das junge Paar angemietet hatte, hatte einen großen Balkon und ringsherum ein stabiles, handgeschmiedetes Geländer. Während für Kurt der Liegestuhl auf dem Balkon vollkommen ausreichend gewesen wäre, wollte Inge den Balkon gestalten. Sie hatte Kurt klar gemacht, dass ein Balkongeländer auch daran angehängte Blumenkästen benötigte. Und das diese Blumenkästen selbst-verständlich auch bepflanzt werden müssten. Dicht an dicht mit Geranien in hängender und stehender Ausführung. Dazwischen Efeu mit kleinen Blättern. Vielleicht noch ein paar Fuchsien dazwischen. Und so nach und nach und mit der flächigen Zunahme der Möglichkeiten, etwas anpflanzen zu können, hatte Inge ein Gespür entwickelt, wo was zu pflanzen sei, wie der Boden vorzubereiten sei, und wie Kurt in diese ganzen Planungs- und Arbeitsabläufe einzuplanen sei. „Sag mal, Vatta“, fragte Frank, als er von der Garage am Ende des Grundstückes, wo er sein Fahrrad in der Zwischenzeit untergestellt hatte, zurück kam, „was soll das eigentlich werden, was du da machst?“ „Mutter möchte, dass ich die Stücke des Grundstücks, die noch nicht urbar sind, urbar mache, damit sie bepflanzt werden können.“ „Womit?“ „Das weiß ich nicht!“ „Und warum machst du es dann?“ Kurt staunte nicht schlecht über diese nicht zu widerlegende Logik seines vierzehnjährigen Sohnes. Wo drin lag der Sinn, die wenige Freizeit, die ihm sein Job ließ, mit Kräften zehrenden Tätigkeiten zu verbringen. Man könnte doch einfach eine Wildwiese einsäen und zwei Schafe darauf weiden lassen. Und wenn man die Schafe immer rechtzeitig auswechseln würde, könnten sie auch den Speisezettel sinnvoll ergänzen. ‚Nicht schlecht, “ feixte es aus dem Gebüsch, ‚du scheinst zu begreifen.’ „Wer soll denn die armen Tiere schlachten?“ ’Findest schon jemand!’ „Kurt“, fragte ihn seine Frau, als er gerade dabei war, einen im Erdreich vergessenen Betonklotz zum Abfallhaufen hin zu bewegen, „soll ich das Abendbrot fertig machen? Nicole und Susanne sind auch gerade gekommen. Wir könnten dann alle zusammen essen.“ „Ja sicher“, sagte Kurt, „ich beseitige eben noch diesen Betonklotz und dann komm ich.“ „Ist der Klotz nicht zu schwer für dich?“ Er spürte bei dieser Frage Inges langen, prüfenden Blick, während sie geschickt diesen versteckten Appell an seine Manneskraft einflocht, um gewiss zu sein, dass der Klotz nicht doch von ihm da liegen gelassen würde, wo er jetzt lag. Im Bewusstsein seiner körperlichen Stärke bewegte Kurt, äußerlich lässig lächelnd und innerlich auf dem Zahnfleisch kriechend, den Klotz die letzten zwei Meter zum Abfallhaufen. Geschafft. Jetzt nur locker sein. Jetzt ja nicht zeigen, dass ihm sein Rücken andeutete, dass der Klotz doch zu schwer war für ihn. „Naaa?“ Diese gedehnte Frage war zwar von Inge berechtigt, doch bewirkte sie bei Kurt eine aufkeimende Verärgerung. Deshalb war seine Reaktion auf die eingangs gestellte Frage bewusst ein wenig schroff:„ Gibt es etwas Besonderes zum Abendbrot?“ „Nein, aber vielleicht möchtest eine Flasche Bier trinken. Allerdings müsstest du dann zum Getränkemarkt fahren und einen Kasten Bier holen.“ Kurt trank an diesem Abend kein Bier sondern Milch. Missmutig aß er sein Brot, schaute kurz beim Fernsehen zu und verabschiedete sich unter einem fadenscheinigen Vorwand zur Nachtruhe. Doch so schnell wollte sich die Nachtruhe bei ihm nicht einstellen. Seine Gedanken drehten sich um das Gestern, um das Heute und um das Morgen. Sie hatten drei wunderbare Kinder, Kurt hatte während seiner Fahrlehrertätigkeit nebenbei Werbegrafik studiert, ein kreatives Metier, das ihn zielstrebig zu seinem Idealberuf geführt hatte. Er hatte sich als Werbeberater selbständig gemacht, sie hatten einen großen Hund, sie hatten zwei Autos, sie hatten einen tollen Bungalow gemietet, sie hatten einen Kamin im großzügigen Wohnraum, sie hatten in nächster Nähe Wälder, Wiesen und Natur pur, warum sollte er unbedingt die nicht urbaren Teile des Grundstückes urbar machen? Doch, verdammt, es machte Kurt auch Spaß, sich körperlich ausarbeiten zu können. Vielleicht hätte er doch einen anderen Beruf wählen sollen. Einen, in dem ihm jemand ständig sagen würde, was er zu tun hätte. In dem schwere Teile von einer Stelle zur anderen bewegt werden müssten. Grundkenntnisse im bedingungslosen Gehorsam waren und wurden ihm immer wieder beigebracht. Oder keimten gar in ihm erste Gedanken an einen Aufstand, eine Arbeitsverweigerung ‚ich habe es heute im Rücken’? Wie würde Inge reagieren, wenn er einen Versuch starten würde? Als Kurt morgens erwachte, schossen ihm die Gedanken, die ihm lange am Einschlafen gehindert hatten, nochmals durch Kopf. Er begann gerade, erste konkrete Arbeitsverweigerungsideen zu entwickeln, als Inge mit ihrer linken Hand zärtlich seinen Arm streichelte und ihn mit sanfter Stimme fragte: „Hast du gut geschlafen, Schatz? Du warst aber auch ganz schön kaputt gestern. Du solltest dir auch nicht zu viel zumuten.“ Ob sie Gedanken lesen konnte, besonders seine? Am Wochenende, hatte Inge gesagt, wollte sie mit dem Pflanzen beginnen. Erst einmal mit der Ecke, die Kurt bereits urbar gemacht hatte. Dann wollte sie Stück für Stück fertig stellen. Es musste auch partiell geschehen, denn durch einen langfristig angelegten Auftrag eines Unternehmens war Kurt in seine Geld bringende Arbeit so eingebunden, dass er alle weiteren Säuberungsaktionen aus dem ehemaligen Lagerplatz vorerst einstellen musste. Deshalb versuchte Kurt auch, Inges Vorhaben um zwei Wochen zu verschieben. „Aber Schatz, die Pflanzenangebote sind gerade so günstig, dass man sie unbedingt nutzen muss“, erwiderte sie mit fester Stimme auf seinen Einwand. Was blieb dem Schatz anderes übrig, als dieser Titulierung auch gerecht zu werden, mit ihr zum Pflanzengroßeinkauf zu fahren und die für diesen Samstag eingeplante Agenturarbeit auf den morgigen Sonntag zu verlegen. Der Verkauf der preisgünstigen Pflanzen fand nicht in einem Gartencenter mit Erlebnisgewächshaus statt, wie sie heute an allen Orten, wo Gärten die Landschaft komplettieren, zu finden sind. Es war mehr eine Gärtnerei im Sinne einer Gärtnerei des neunzehnten Jahrhunderts. Mit extra abgerichtetem Verkaufspersonal. Sie lag am anderen Ende der Stadt und Inge und Kurt fuhren mit Inges Wagen, einem Kombi mit Platz für viele Sonderangebote, dorthin. Mit dem Vorsatz ‚wenn wir schon einmal hier sind, werden wir hier auch kaufen’ begaben sie sich in die Gärtnerei. Sie hatten beide vereinbart, dass jeder von ihnen an der Auswahl der Pflanzen zu gleichen Teilen stimmberechtigt sein sollte. Und aufgrund der zögernden Entschlussbereitschaft seiner Frau ging Kurt davon aus, dass ihm die Auswahl vorwiegend zufallen würde. Schließlich hatte er ja auch den Boden zur Pflanzung vorbereitet. Sein Selbstwertgefühl begann, im Bewusstsein, dass er doch wohl unersetzbar sei, zu steigen. In der Gärtnerei, die noch so geführt wurde, wie Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts üblich, nahm man sich nicht einfach einen Einkaufswagen und marschierte los. Man musste auf einen Verkäufer warten. War gerade niemand verfügbar, hatte man die einmalige Chance, sich mit einem kurzen Nicken schnell wieder entfernen zu können. Aber im Allgemeinen stellte man sich stumm und ergeben seitlich hin und wartete, bis jemand kam. Inge und Kurt taten letzteres. Einer der Mitarbeiter der Gärtnerei löste sich nach kurzer Rücksprache mit einem Kollegen aus einem Diskussionspulk und kam freundlich lächelnd auf die beiden zu. Es war ein wind- und wettergeprüfter Endfünfziger, mit tellergroßen Händen und leicht ausgearbeitetem Haar. Sein Körperwuchs war im Mittelmaß stecken geblieben, wobei sich sein Bauch nicht ganz an das Idealverhältnis Höhe zu Tiefe gehalten hatte. Er trug eine salatgrüne Latzhose und darüber eine Leinenjacke im gleichen Grün, das aber stellenweise schon zu welken schien. Ein Knopf vorn, in der Mitte der Leinenjacke am langen Faden angebracht, focht einen erbitterten Kampf gegen das Gezerre, dass der kugelförmig vorgestülpte Bauch an der Jacke bewirkte, und das sich, je nach Bewegung des Eigners dieses Bauches, verstärkte oder leicht nachließ. Der so belastete und gekleidete Mitarbeiter musterte die beiden kurz, um mit seiner ganzen Verkaufserfahrung die zu erwartende Umsatzhöhe einzuschätzen. Diesem Wert passte er dann seine Begrüßung an. Kurt empfand sie etwas zu überschwänglich. Vielleicht war es der Anblick von Inge, der den Verkäufer zu diesem Überschwang trieb. Doch er wurde sofort sachlich und begann als erfahrener Verkaufsberater, heimlich die Schwachpunkte der beiden herauszufiltern, um dann schnell erkennen zu können, wer von den beiden sein Verhandlungspartner werden sollte. Er ließ Inge und Kurt durch die Reihen mit unterschiedlichen Blumen, Bäumchen und Sträuchern wandern, belauschte un-auffällig ihre Gespräche, erforschte ihre unterschiedlichen Verhaltensstrukturen und erstellte auf Grund dieser Daten ihr persönliches Kundenprofil. „Welche Pflanzen würdest du nehmen“, fragte Inge ihren Mann. Kurt hatte selbstverständlich diese Frage erwartet. War er doch der Mann im Haus. Und er ging davon aus, dass sie wirklich seinen Rat hören wollte und teilte seine Auswahl, halb zum Verkäufer gewandt, mit. „Ich würde erst einmal die drei ganz links und die fünf hinten rechts nehmen. Dann schauen wir weiter.“ Der Verkäufer nickte ihm aufmunternd zu und Kurt begann, seine nächste Auswahl zu treffen. Doch bevor er sie öffentlich machen konnte, raunte ihm seine Frau zu: „Meinst du, dass die gut sind, die du gerade ausgewählt hast? Ich finde sie zu schwach im Wuchs!“ Sie hatte wohl nicht leise genug geraunt, denn die Reaktion des Verkaufsberaters zeigte, dass er es, vielleicht etwas undeutlich, doch vernommen hatte. Blitzschnell reagierte er und wandte sein ganzes Interesse ab sofort nur noch Inge zu. Diese schnelle Auffassungsgabe des gärtnereiinternen Begleiters war für Kurt doch sehr erstaunlich. Und das bei dem Outfit. Errare humanum est! Hier schien die Natur eine Trennung zwischen Körper und Geist vorgenommen zu haben. Das salatgrüne Mickermänneken strahlte mit der ganzen Breite seines Mundes Kurts Frau an und tänzelte um sie herum. Den Kampf des Jackenknopfes mit seinem Bauch hatte er beendet, indem er die Jacke einfach aufgeknöpft hatte. So gewappnet, war er innerlich und äußerlich bereit, von nun an die Order nur noch von Inge zu erwarten. Faszinierend! Wie ein Hund, der ständig auf ein Leckerchen aus war, schleimte er um Inge herum. Vielleicht hatte er am Morgen zur Stärkung seiner männlichen Spannkraft Nashornpulver in seinen Kaffee getan. Wie auch immer, das salatgrüne Mickermänneken hüpfte, wie einst Rumpelstilzchen, um Inge herum und Kurt war, wie so häufig, ab sofort nur noch Träger und Zahlungsverpflichteter. Es erschien Kurt in dieser Situation auch nicht angebracht, durch eine Diskussion wie ‚die Farbe finde ich aber etwas sehr grell’ oder ‚ist das Blatt nicht zu klein’ die Befehlshoheit wieder an sich zu reißen. Inge hätte ihn garantiert mit Argumenten wie ‚finde ich aber nicht’ oder ‚man merkt, dass du farbenblind bist’ bis hin zum alles erschlagenden Argument ‚aber ich muss mich um sie kümmern’ aus dem Rennen geworfen. Für Kurt war es besser, den Mund zu halten, die eingekauften Pflanzen in die bereitgestellten Kisten zu tragen und zu bezahlen. ‚He, du Nase, hast wohl an das Lysistratasyndrom, gedacht’, feixte plötzlich unaufgefordert sein Alter Ego. ‚Du weißt doch, diese Frauen, die sich ihren Männern verweigerten, als diese nicht auf sie hören wollten. Inge scheint es auch zu kennen. Und, willst du?’ Und weg war es wieder, sein früheres Ich und jetziges Alter Ego. Kurts Gedanken kreisten immer noch um die Ungereimtheiten des alltäglichen Lebens und er hatte nicht bemerkt, dass vor ihm zwischenzeitlich zwei große Holzpaletten mit allerlei Blumenpflanzen in kleinen Plastiktöpfen, zwei kleine Sträucher, vier Säcke Blumenerde für den Start der Pflanzen in ihrer neuen Umgebung, ein Sack als Reserve und ein Beutel mit Wachstums fördernden Inhaltsstoffen zum Abtransport bereit gelegt worden waren. „Schatz, “ rief ihm Inge zu, „gibt’s du mir bitte dein Portemonnaie, damit ich bezahlen kann. Du kannst ja alles schon einmal ins Auto bringen.“ „Wie“, fragte Kurt unsicher, „alles auf einmal?“ Sein räumliches Vorstellungsvermögen bedeutete ihm ganz klar, dass diese Ansammlung von Sonder- und Pseudosonderangeboten nicht im Entferntesten in Inges Kombi passen würden. Es sein denn, man würde die Sträucher häckseln und in Säcke füllen. Was natürlich bezüglich der zu erwartenden Pflegeaufwendungen dieser neuen Kulturen eine enorme Arbeitserleichterung gewesen wäre. Aber davon würde er Inge niemals überzeugen können. Es war wieder einmal so gekommen, wie es schon häufiger der Fall gewesen war. Inge hatte nie ein Hehl daraus gemacht, dass sie sich die Dinge nicht so vorstellen könnte, wie sie nach ihrer Vollendung der vorgesehenen Aktion sein würden oder aussehen würden. Sie sagte immer, wenn Kurt ihr das eine oder andere vorschlug, ‚das muss ich erst einmal sehen.’ Und Kurt hatte dann geduldig seine Arbeit zu Ende gebracht, ihr das Ergebnis gezeigt und das Gezeigte anschließend nach ihren Vorstellungen abwandeln müssen. „So sieht es doch gleich viel besser aus“, waren dann ihre tröstenden Worte. Aber diesmal war Kurt nicht bereit, ihr zu demonstrieren, dass diese Ansammlung von Pflanzen, Sträuchern, Blumen und Säcken mit Spezialerde nicht in ihrem Kombi Platz haben würden. „Wieso passen die Sachen nicht alle hinein?“ fragte sie ungläubig. Kurt bewahrte Ruhe und sagte nur, „weil nicht genug Platz im Auto ist.“ „Ich könnte doch zum Beispiel den Verbandskasten mit nach vorn nehmen“, schlug sie vor. „Soll ich Ihnen die Pflanzen nicht eben mit dem Transporter nach Hause bringen“, witterte der Verkäufer, der sich immer noch in der Nähe von Inge aufhielt, seine Chance, vielleicht noch ein wenig länger ihre Nähe genießen zu können. „Wenn sie mir einen Anhänger leihen könnten, kämen wir schon klar“, versuchte Kurt die Situation wieder der Realität anzupassen. „Müssen Sie denn weit fahren?“ wollte das grüne Mickermänneken wissen, ohne nur ansatzweise Kurt Frage zu beantworten. „Ja, nach Herdringen“, sagte Kurt. „Oh, das ist ja ganz am anderen Ende der Stadt. Da müsste ich Ihnen doch etwas für das Bringen berechnen. Ich frage mal nach, ob Sie kurz den Anhänger nehmen können.“ Sein sonst leicht singender Ton wich einem genuschelten Wortgebilde, das mit dem Quadrat seiner Entfernung immer unklarer wurde. Behände kam er, ohne Kurt eines Blickes zu würdigen, zurück zu den beiden und sagte an Inge gewandt: “Bis zwei Uhr können Sie sich den Anhänger ausborgen.“ Das etwas gequälte Lächeln auf seinem rundlichen Gesicht spiegelte seine Enttäuschung über die Möglichkeit, noch länger in Inges Nähe bleiben zu können, wider. Betrübt holte er den Anhänger, half Kurt sogar beim Ankuppeln und belud mit ihm zusammen den Anhänger mit Inges Pflanzen- und Sträucher Auswahl. „Solltet ihr die Tujas nicht besser in die Mitte legen“, fragte sie die beiden Pflanzenpacker. Doch weder Kurt noch das Mickermänneken gingen auf ihren Vorschlag ein. Der erste nicht, weil er es anders geplant hatte und der zweite nicht, weil er sauer war. Für ihn war Inge nur noch Inge. Und diese schien zu spüren, dass der Moment für eine üblicherweise nun beginnende Diskussion über das, was besser wäre, nicht günstig sei. Es erstaunte Kurt immer wieder, wie Inge es schaffte, ihre Führungsrolle von einem Moment auf den anderen ohne Gesichtsverlust auf zu geben und sich total aus dem Geschehen zurück zu ziehen. Oder wie sie, wenn sie etwas geändert wünschte, förmlich aus dem Nichts heraus Kurts gesamten Denkapparat, seine komplette Muskulatur, seine Greifwerkzeuge, seine Beine, auch aus größerer Entfernung, aktivieren konnte. Inge konnte auch seine Entscheidungen, noch bevor sie in gebundenen Sätzen seinen Denkapparate verlassen sollten, also quasi auf dem Weg vom Gehirn zum Mund, vollständig ändern. Ein erstaunliches Phänomen, dass allerdings auch bei vielen anderen männlichen, heterosexuellen Zeitgenossen beobachten werden konnte. Unter größten logistischen Anstrengungen brachten Kurt und der gärtnereieigene Verkäufer es fertig, die gekauften Naturanteile auf der Ladefläche des Kombis und auf dem kostenlos von der Gärtnerei zur Verfügung gestellten Einachsanhänger zu verstauen. „Was willst du mit so viel Grünzeug?“ wagte Kurt einen Versuch, doch noch ohne Anhänger nach Hause fahren zu können. „Du wirst schon sehen. Lass uns erst einmal fahren“, antwortete Inge kurz. Und ähnlich wie bei den Siedlern im Westen Amerikas, die auf der Suche nach ‚ihrem Land’ waren, schaukelte das Gespann in Richtung Herdringen. „Schatz, kannst du mir bitte die Pflanzen, Sträucher und die Säcke hinten zu der Stelle bringen, wo ich pflanzen will?“ Na klar konnte Kurt. Und wie sollte er anders auf eine Bitte, die mit ‚Schatz, kannst du mal...’ beginnt, anders reagieren. Hatte er doch schon immer widerspruchslos bei dieser latenten Befehlseinleitung reagiert. Wie damals, zu Beginn ihrer Ehe, als sie noch nahe der holländischen Grenze wohnten. Inge hatte in einem Katalog, den Kurt mitgebrachte hatte, um sich ein bestimmtes Werkzeug zu bestellen, geblättert. Nicht, weil sie sich für Werkzeuge interessierte. Sie hatte zufällig beim Durchblättern eine Blumenampel gesehen. Sofort begann bei ihr das Planungsräderwerk zu arbeiten. Sie hatte den Vermieter heimlich gefragt, ob in der Decke über dem Balkon ein Haken angebracht werden dürfte. Die Zusage veranlasste sie, weitere wichtige Details für einen geplanten Einkauf, von dem Kurt noch nichts wusste, fest zu halten. Maximaler Durchmesser der Blumenampel, Bepflanzung, Dünger und so weiter. Es war Freitag. Die Situation günstig. Bei den vorsommerlichen Temperaturen würde sie den Kaffeetisch auf dem Balkon decken. Nicole und Frank, an Susanne dachte noch niemand, waren bei der Großmutter und Kurt hatte gute Laune. Nach dem Frühstücksei, so kurz vor dem Marmeladenbrötchen, erwischte es Kurt dann unvermittelt. „Schatz, ich möchte gern in die linke Ecke des Balkons eine Blumenampel haben.“ „Ha“, sagte Kurt erleichtert, „das wird der Vermieter nicht zulassen.“ „Doch“, erwiderte Inge, „ich habe gestern mit gesprochen. Wir dürfen.“ Was sollte Kurt tun? Er beeilte sich, das in Ruhe und Gelassenheit geplante Frühstück zu beenden. Der Tisch wurde hastig abgeräumt, und da sie aus Kostengründen in Holland einkaufen wollten, wurden die Pässe eingesteckt, die vom letzten Hollandtrip übrig gebliebenen Gulden zusammengesucht und los ging es. Und wenn schon einmal nach Holland gefahren werden sollte, konnten auch weitere, günstig zu erwerbende Dinge wie Kaffee, Tee und Zigaretten mitgebracht werden. Natürlich zollfrei. Der Einkauf ging schnell. Inge fand, was selten vorkam, sofort die richtige Blumenampel und die passenden Pflanzen dazu. Sie hatte eine herrliche Campanula isophylla ausgewählt. „Hat die Glockenblume nicht ein herrliches Blau“, hatte sie ganz begeistert zu Kurt gesagt. „Ja“, war sein Antwort gewesen. Er fand sie auch wirklich sehr dekorativ, wollte dies aber aus nachvollziehbaren Gründen nicht offen zugeben. Kurt hatte den restlichen Einkauf erledigt, natürlich in größeren Mengen, als die Zollbeamten es erlaubten. Doch meistens hatten die Zöllner am Wochenende mehr Augenmerk auf Autos mit Kennzeichen, die zeigten, dass ihre Fahrer von weiter her kamen. Kurt und Inge fuhren zu der Zeit einen englischen Sportwagen mit aufgesetzten Froschaugen und sehr kleinem Kofferraum, fast gar keinen Kofferraum. Deshalb sah der Austin Sprite, als er auf die Zollstation zurollte, wie ein Umzugsgefährt eines Studenten aus. Das Verdeck hatten sie, wie es sich für einen Roadster gehört, abgenommen. Sie hätten mit diesem Gefährt mit geschlossenem Verdeck ohnehin keine Blumen transportiert werden können. Alles war gut übersichtlich im Auto untergebracht - bis auf die zollpflichtigen Artikel. Die hatte Kurt dort untergebracht, wo kein Stauraum vermutet wurde. Die Zöllner konnten also, ohne jegliche Körperverrenkungen, alles überblicken, was sie überblicken sollten. Auch die attraktiven Beine von Inge. Und sie sprachen, um diesen Blick auf Inges Beine verstohlen etwas länger genießen zu können, plötzlich mit Kurt über das Auto, wie schnell es fuhr, wo er es bekommen hatten, da es ein Engländer war und so weiter. Hinter dem Austin Sprite der beiden waren zwischenzeitlich weitere Autos aus Deutschland angekommen, um sich den unerbittlichen Augen eines deutschen Zöllners zu stellen. Kurt nutzte eine Gesprächspause mit den Zöllnern, um sich freundlich aber endgültig von den Herren zu verabschieden. Da kein Pfiff oder Ruf wie ‚Stopp! Zurück!’ oder gar ein Warnschuss zu hören waren, betrachteten Inge und Kurt die Kontrolle als beendet. „Kurt, was ist. Träumst du oder hast du einen Schwächeanfall. Ich wollte dich eigentlich bitten, die Säcke mit Blumenerde sicherheitshalber in die Garage zu bringen. Ich weiß nicht, ob ich heute noch zum Pflanzen komme. Schaffst du das“, fragte Inge besorgt. „Wieso nicht“, kam die Gegenfrage. „Weil du irgendwie geistig abwesend warst“. „Ach, ich hatte nur einen kleinen Ausflug nach Holland gemacht“. „He“? „Schon o.k. Wenn du heute nicht mehr pflanzen willst, könnte ich ja eine kleine Radtour machen“, freute sich Kurt. „Wolltest du nicht erst mit der Urbarmachung weiter machen. Dann haben wir das doch hinter uns“, wendete Inge ein. „Und außerdem musst du erst noch den Anhänger zur Gärtnerei zurück bringen“. „Na gut, “ pflichtete Kurt ihr bei, „vielleicht ist das auch wichtiger. Wie groß planst du das Beet an dieser Stelle“, wollte er wissen, um vielleicht einen Zeitplan entwickeln zu können. „Über die ganze Breite, also vom Weg bis zum Zaun und etwa sieben Meter lang“, erwiderte Inge. „Und vielleicht könnte die Grenze zum Rasen leicht geschwungen sein, das sieht dann nicht so steif aus, “ fügte sie hinzu. „Wie geschwungen?“ „So, wie du am letzten Vatertag mit dem Fahrrad nach Hause gekommen bist“, erwiderte sie fröhlich. „Na gut, “ sagte er grübelnd. „Das wären knapp zweihundert Quadratmeter, die noch urbar zu machen wären“. „Die kannst du doch heute noch umgegraben“, vermutete seine Frau. „Unmöglich“, sagte Kurt, und er wunderte sich über die Schärfe seines Tones. Aber nun war es so gesagt. Doch Inge reagierte auf diese scharfe Antwort nicht etwa gekränkt, sondern schien ihn zu verstehen. „Sind denn da auch so viel Steine, Eisenteile und sonstiger Schrott drin wie beim ersten Stück“, fragte sie teilnahmsvoll. „Ich vermute schon“, sagte Kurt. „Deshalb kann ich dir auch keinen genauen Zeitaufwand sagen. Und außer abends oder am Wochenende kann ich sowieso nicht buddeln. Die übrigen Sträucher müssen wir so lange einschlagen und dann, wenn alles fertig ist, an ihren vorgesehenen Platz pflanzen.“ „Schade“, sagte Inge nur, „ich hätte doch so gern alles fertig gehabt.“ „Besorge doch jemand, der uns helfen kann“, schlug Kurt vor. „Das kostet doch alles viel Geld, wenn man einen Gärtner oder Landschaftsbauer bestellt.“ „Vielleicht gibt es irgendjemand, der es preisgünstig machen kann“, meinte Kurt. Unerwartet kamen am Nachmittag, Kurt hatte weisungsgemäß den geliehen Anhänger zur Gärtnerei zurück gebracht, Kurts Schwester mit ihrem Mann, die im selben Ort wohnten, vorbei. „Wir wollten nur kurz schauen, wie es euch geht“, sagten sie. Also lag kein besonderer Grund vor, sondern nur pure Neugier. Inge und Kurt erzählten ihnen von ihrem Dilemma, ohne jeglichen Hintergedanken an eine mögliche Hilfe. „Ich werde einmal Adolf fragen, ob er dir nicht helfen kann“, sagte ihr Schwager unerwartet. „Wer ist Adolf?“ fragte Kurt neugierig. „Adolf ist in Ordnung! Er hat bei mir kürzlich den Führerschein gemacht und mir erzählt, dass er in seiner Heimat in Weißrussland viel gegärtnert habe. Er sucht auch hier so eine gleiche oder ähnlich Tätigkeit nebenbei.“ „Na gut,“ sagte Kurt in der Hoffnung, eine spürbare Arbeitsentlastung zu bekommen, „schick ihn mal vorbei, damit er sich das ansehen kann, was auf ihn zu kommen würde.“ Schon am Sonntagmorgen wurde Adolf von Kurts Schwester angekündigt. Gegen elf Uhr fuhr ein Auto hinter ihrem Bungalow auf den Hof, langsam aber stetig. Das Auto wurde abgebremst und der Motor per Abwürgetechnik ausgestellt. Aus dem Auto stieg ein freundlich lächelnder Mann, den, wie es Kurt schien, nichts aus der Ruhe bringen würde. Er war mit einem dunkelgrauen Anzug bekleidet und trug einen mittelgrauen Hut dazu. Kurt begrüßte Adolf, und dessen Händedruck ließ nichts Gutes für alle Feinde einer gepflegten Natur ahnen. Nach einigen belanglosen Floskeln begann Kurt, ihm die Probleme zu schildern und ihm seine eventuellen Einsatzorte zu zeigen. Seinem immer aufgeschlossenen Zuhören und dem verständnisvollen Nicken entnahm Kurt, dass er voll und ganz seiner Meinung war. Oskar Kokoschka hatte einmal gesagt: „Die Opposition der Natur gegen die Regierung der Gärtner ist das Unkraut!“ Kurt meinte zu spüren, dass Adolf fest entschlossen war, diese Opposition mit allen Kräften zu bekämpfen. Einige Worte oder Begriffe bei den von Adolf hier und dort eingestreuten Fragen waren Kurt zwar unbekannt, aber die allgemeine Verständigung war gut. Und Kurt wollte ja auch keine langen Diskussionen führen, sondern Adolf für die noch erforderliche Urbarmachung und Pflege der bereits bestehenden Anlagen gewinnen. Nachdem Adolf zugestimmt hatte, ihm die aufwendige Arbeit der Urbarmachung und Unkrautvernichtung abzunehmen, musste die beiden noch die Entlohnung klären. Auf Kurts Frage, wie viel er denn haben müsste pro Stunde, lächelte er hinterlistig und sagte: „Weiß nicht. Was sie wollen.“ Woher sollte Kurt das Lohngefüge in Weißrussland kennen. Gab es dort Tariflöhne oder waren alle Löhne frei verhandelbar. Und gab es Lohnnebenkosten. Musste eventuell Weihnachtsgeld gezahlt werden. Kurt begann also, sein erstes Gebot vorsichtig abzugeben. Adolf strahlte ihn wieder mit diesem unschuldig, fast hilflos ausschauenden Blick an und nickte: „Zu wenig, Chef!“ Kurt erhöhte Stufe um Stufe und Adolf lächelte jedes Mal und schüttelte den Kopf. Plötzlich nickte er und sagte: „Gut ist, Chef!“ Bei Kurts letztem Gebot hatte er zugeschlagen. Ob er gewusst hatte, dass dieses deutlich über dem Durchschnittslohn einer deutschen Aushilfskraft lag? Bereits am nächsten Montag um vier Uhr nachmittags wollte Adolf kommen. Und er kam wie am Tag zuvor und stellte den Motor wie am Tag zuvor per Abwürgetechnik ab. Er trug einen Anzug, etwas älter als am Tag zuvor, aber auch in dunkelgrau und einen dazu altersmäßig passenden mittel-grauen Hut. Schnurstracks marschierte er auf die große Garage am Ende des Grundstückes zu. Kurt war bei einem kurzen Rundgang mit ihm am Sonntagmorgen dort vorbei gekommen und hatte ihm die zur Verfügung stehenden Arbeitsgeräte gezeigt. Zielstrebig suchte er sich seine Arbeitsgeräte aus und ab ging es aufs Ödland. Adolf war ein Arbeitstier. Ohne Pause wütete er im Gelände. Nichts war ihm zu schwer, keine Eisenstange zu lang. Er schaffte sie alle. Wenn ein widerspenstiges Teil, beispielsweise eine vereinsamte Baumwurzel, zu fest in der Erde verankert war, legte er sich auf den Boden, griff das Teil mit der Kraft seiner beiden Hände und erzeugte mit einem seitlichen Abrollen seines Körpers eine immense Hebelwirkung. Dies schien eine von ihm häufig angewandte Technik zu sein, denn auch beim Säubern der bereits vorhandenen Beete und Zierflächen verfuhr er beim Entsorgen des Unkrauts in derselben Weise. Und gegen diese Technik war tatsächlich kein Kraut gewachsen. Er wühlte so ganze Stauden aus dem Erdreich, Stauden, die Inge, im Gegensatz zu Adolf, nicht zwingend zur Gruppe der Unkräuter gezählt hätte. Dies war auch der Anlass für Inge, Adolf über grundsätzliche Unterschiede zwischen Kultur- und Wildpflanzen aufzuklären. Oder zu mindest ansatzweise einige markante Merkmale aufzuzeigen. Auf dem ehemaligen Lagerplatz stellte sich dieses Problem nicht, da dort nur zwischen Erdkrume und Nichterdkrume unterschieden werden musste. Doch in den bereits angelegten Beeten, die andeuteten, wie harmonisch alles einmal aussehen könnte, war es Inge schon wichtig, dass bereits gepflanzte Sträucher auch dort bleiben sollten. Bis auf ein paar, die vielleicht versetzt werden sollten. Aber dafür hatte sie ja Kurt. Der war in diesen Dingen etwas feinmotorischer. Inge war nach dem ersten wochenlangen Großeinsatz von Adolf begeistert über das, was sich ihr jetzt um das Haus herum bot. Die Beete waren gesäubert vom Wildwuchs, bis auf einige Löwenzahnpflanzen, die Adolf überlistet hatten. Der ehemalige Lagerplatz war frei von herausragenden Eisenstangen, Betonklötzen, Resten von Verschalungen, alten Zementkübeln, abgebrochenen Schaufelstielen, alten Betonablagerungen und was sonst bei einem Bauunternehmen alles, kurz vor der Pleite, liegengelassen wurde. Es hatte ausgesehen wie nach einem fluchtartigen Verlassen vertrauter Gleichgültigkeit. Und zwar nicht nur um das Haus herum. Auch im Hause waren Kurt und Inge nach dem Einzug, als sie alles nochmals intensiver begutachten konnten als bei der zeitlich befristeten Besichtigung mit dem Makler, aufgefallen, dass der Vorgänger noch vieles geplant hatte, bevor ihm dieses von pekuniärer Seite untersagt wurde. Doch Inge war sich beim Anblick der unvollendeten Anfänge bewusst, dass sie Kurt bestimmt ermuntern könnte, diese paar Kleinigkeiten zu vollenden. Gemeinsam inspizierten Inge und Kurt zufrieden das von Adolf kultivierte Areal, planten grob, was wo gepflanzt werden könnte, gingen beglückt an den vom Wildwuchs befreiten Beeten vorbei und schauten sich die Anlagen vor der Terrasse an. „Jetzt könnten wir vielleicht doch noch in diesem Jahr mit unserem Masterplan für die Gestaltung des restlichen Geländes beginnen“, sagte Kurt fröhlich, und er war sich sicher, dass Inge freudig einstimmen würde. „Wir sollten vielleicht am ...“ „Du, sag mal“, stoppte sie Kurts überschwänglichen Redefluss, „hat hier nicht das fedrige Pampasgras gestanden?“ „Keine Ahnung“, sagte dieser, „wenn’s da stand, müsste es doch auch noch da sein. Ich habe nichts umgepflanzt. Und schon gar nicht ohne deine Zustimmung.“ „Hier fehlt doch auch etwas“, rief sie von etwas weiter entfernt. „Ich meine, hier hätten Fingerhüte gestanden.“ „Du“, sagte Kurt, „vielleicht gibt es diese Pflanzen nicht in Weißrussland!“ Und Adolf hatte sich doch so viel Mühe gegeben. Seit dieser Zeit hat Inge Adolf immer vorab, wenn er einmal in der Woche zu einem Arbeitseinsatz kam, mit den Worten eingewiesen: „Das ist gut, das nicht. Das raus, das lassen!“ Und dabei ging sie mit ihm die entsprechenden Stellen ab, um sich durch sein Nicken davon zu überzeugen, dass er die verbaloptische Order auch verstanden hatte. Wie es sich zeigte, klappte diese Arbeitsanleitung bestens. Und dies tröstete Inge ungemein, denn wenn Adolf sich warm gearbeitet hatte, war er durch nichts zu bremsen. Selbst ein Regenguss schaffte es nicht, ihn aus dem Arbeitsrhythmus zu bringen. Aber etwas Zeit für seine geliebte Machorka musste bei jedem Arbeitseinsatz sein. Kurt war an den letzten beiden Wochenenden des Augusts, soviel Zeit war vergangen, seit er mit der Abfallbeseitigung im April begonnen hatte, nur damit beschäftigt gewesen, die fast sechzehn Kubikmeter georderten Mutterboden, die ihm der Lieferant, wie erwünscht, auf den vorderen Teil des weitläufigen Grundstücks gekippt hatten, mit einer Schiebkarre dorthin zu verteilen, wo diese wertvolle Erde benötigt wurde. Ursprünglich war Adolf für diese Arbeit geplant gewesen, doch Inge war das Finish nicht gut genug gewesen. Hier musste Kurt ran! Und Kurt karrte und karrte, diesmal unterstützt von seinem Sohn, doch meistens allein, Fuder um Fuder auf das von groben und feinen Schottersteinen übersäte Gelände. „Frank, holst Du mir bitte eine Flasche Bier?“ „Na klar, ich bringe mir auch eine mit“, antwortete Frank fröhlich. „Aber nur Malzbier!“ rief Kurt zurück. „Bin doch keine werdende Mutter“, knurrte Frank. „Trotzdem!“ „Vatta, einmal“. „Nein!“ ‚Na, wie warst du denn früher, hä! Hast es einfach getan und dein Sohn fragt wenigstens!’ klang es Kurt von seinem Alte Ego in den Ohren. „Nein!“ Frank hatte seinen Unmut überwunden und sich tatsächlich eine Flasche Malzbier mitgebracht. Vater und Sohn saßen leicht erschöpft auf einer alten Gartenbank, die sie als Notaufnahme für unvorhergesehene Erschöpfungsanfälle beim Mutterbodenverteilen vorsichtshalber seitlich des zu bearbeitenden Abschnittes aufgestellt hatten. Entspannend steckte sich Kurt eine Filterlose an und paffte den blauen Dunst in die klare, sich leicht herbstlich gebende Luft. „Und ich“, fragte Frank. „Du spinnst wohl“, sagte Kurt in einem Ton innerster Überzeugung. „Du hast mindestens noch drei Jahre Zeit.“ „Ich bin aber frühreif, “ argumentierte Frank, „also“? „Nein!“ War er denn selbst auch so gewesen, überlegte Kurt. Mit vierzehn geraucht. Ja, einmal, aber das galt sowieso nicht, weil ihm schlecht danach wurde. Doch Frank, ob er heimlich rauchte? Seine Schwestern wüssten es bestimmt, würden aber nichts sagen. Da hielten alle wie Pech und Schwefel zusammen. Nein, auf keine Fälle würde Kurt, auch wenn Frank heimlich rauchen würde, dies offiziell durch eine Zigarette, die er ihm geben würde, unterstützen. Es hatte sich allgemein viel geändert in der Zeit, die von Kurts Jugendjahren bis heute verstrichen war. Sowohl im Familienverbund als auch in der Schulgemeinschaft. Viele Dinge gingen Kurt generell gegen den Strich. Das Outfit der Lehrer seiner Kinder. Wie sollten die Schüler Respekt und Abstand wahren, wenn die Lehrer teilweise in Freizeitkleidung und unrasiert vor der Klasse erschienen. Wie sollte den Schülern eine Grundordnung beigebracht werden, wenn man diesen die Möglichkeit gab, mit ihren Lehrern die zu gebenden Benotungen auszuhandeln. Gegen wen sollten sich die Schüler auflehnen, wenn sie keinen Widerstand verspürten. Es hatte sich viel in deutschen Landen getan gegenüber der Zeit, die Kurt im Alter von Frank erlebt hatte. Eine Zeit, in der teilweise noch der Zeitgeist des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts durch einige Klassenzimmer wehte. Wenn auch nur als leiser Luftzug, aber immerhin spürbar. Das Volk hatte heute gelernt, sich gegen Obrigkeiten zu erheben. Die Schüler mussten sich mit ihren Lehrern mit der neuen so genannten Mengenlehre auseinandersetzen. Studenten revoltierten. Die Bevölkerung nahm unaufhörlich zu, auch an Leibesumfang. Die Antibabypille hatte den Markt erobert und ein vollkommen neues Bewusstsein zur Sexualität ermöglicht. Freiheit in jeder Beziehung, Hand in Hand mit einer gewissen Leichtfertigkeit und dem Ziel, nur genießen zu wollen. Bis manch einer weiblichen Person nach einem befriedigendem Zusammensein speiübel wurde, und diese Übelkeit ihr klar mitteilte, dass sie die Pille vergessen hatte. Die Autos wurden schneller und benötigten deutlich weniger Zeit, um von A nach B zu kommen. Oder es war einfacher, einen vor ihnen flüchtenden Fußgänger doch noch zu erfassen. Die Wirtschaft kriselte länger als früher. Doch es ging allen gut. Man lebte, man genoss. Auch Inge und Kurt passten sich dem jetzigen Zeitgeist an. In ihrer neuen Nachbarschaft, die man als sehr überschaubar aber äußerst aktiv bezeichnen konnte, gab es an den Wochenenden häufig eine geplante oder ungeplante Party. Irgendjemand fand immer einen Grund zum Feiern. Häufig begann es am späten Samstagnachmittags mit der Zusammenführung aller Kinder der Beteiligten zum gemeinsamen Spielen, ging dann am Abend, nachdem die Kinder, entsprechend müde, von ihren Müttern nach Hause gebracht wurden, nahtlos in das Vergnügen der Erwachsenen über und endete Sonntagvormittags mit der Vernichtung möglicher übrig gebliebener Vorräte vom Vorabend. Solche Einsätze, und sie mussten sein, denn man konnte sich nicht ausgrenzen, bremsten natürlich auch den Schaffensdrang von Kurt und auch von Inge, um möglichst schnell ihr Paradies zur fertigen Reife zu bringen. Zum Glück waren die geplanten Außenarbeiten, das heißt die Bepflanzung der neu kultivierten Grundstücksabschnitte, abgeschlossen. Alle Sträucher und Pflanzen, die erst nach dem Großeinkauf provisorisch eingeschlagen wurden, waren nun an ihren vorgesehenen Platz gepflanzt worden. Manchmal erst nach einer dritten Korrektur der Standortauswahl. Die neue Umgebung setzte bei Kurts Familie unter-schiedliche Gefühle, Empfindungen und Motivationen frei. Die Kinder fanden das Grundstück nun einfach affengeil. Inge meinte, sie müsse im Frühjahr mal sehen, ob sie den einen oder anderen Strauch nicht besser an eine andere Stelle setzen sollte. Kurt sagte nur „meine Arbeit ist getan“. „Bei der Pflege musst Du mir aber helfen“, meinte Inge, „das ist für mich viel zu viel Arbeit. Ich helfe Dir ja schließlich auch im Büro.“ „Wir haben doch Adolf“, meinte Kurt. „Der kostet aber Geld.“ „Dann hättest Du vielleicht doch auf meinen Vorschlag eingehen können, nur Gras einzusäen oder gar eine Wildwiese anzulegen. Das hätte die Pflege auf ein Minimum reduziert.“ „Wie das wohl ausgesehen hätte“, sagte Inge ehrlich entrüstet. An dieser Stelle der lockeren Unterhaltung wurde es für Kurt Zeit, seine als harmlose Stichelei versteckten Versuche, Inges Vorhaben zu beeinflussen, abzubrechen. Weitere Bemerkungen von ihm würden eventuelle endlose Diskussionen über ihren Status in der familiären Gemeinschaft, ihre schwache Position in der Zweierbeziehung und was sonst noch alles so in den Frauenzeitschriften an Themen vorgeschlagen wurde, um das schon lange nicht mehr vorhandene Patriarchat zu geißeln und zu brechen.