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Schwacher Sender

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1948 - oder war es schon 49? - war Rudis Einschulung. Er kam sich vor wie allein in einem Käfig. Vor dem Gitter die Gaffer. Vom Gefühl her fast wie in der Tram, wenn alle guckten, diesmal nur noch schlimmer. Nie zuvor hat er sich so falsch an einem Ort gefunden wie an diesem. Mit der Straßenbahn kommt man ja wenigstens weg, kommt irgendwo an, aus dem Käfig aber nicht raus. Zu fühlen, wie der Körper obenrum steif ist, die Hände eiskalt sind, während der Kopf glüht und kurz vorm Zerplatzen scheint - das hat es so noch nicht gegeben. Tram hin, Tram her - die Fahrten waren entsetzlich, aber so grauenvoll wie die Anwesenheit an diesem Ort dann doch nicht.

Vierzig Kinder sitzen im Kreis und müssen ihren Namen sagen. Am liebsten würde er in einem Mauseloch verschwinden. Als die Reihe an ihm ist, alle gucken ihn an, bringt er kein Wort heraus. Die Kraft, die nun für die Beschulung dieser Herde zuständig ist, ein Fräulein Hartmann, verzieht das Gesicht, schüttelt den Kopf und befiehlt: „Nun sag schon, wie du heißt!“ - vergebens. Er hält er den Blick gesenkt. Für einen Augenblick ist ihm speiübel. Frühstücksei und Kakao schäumen auf. Oh nein, nicht sowas. - Vorbei. Zwei, drei Kinder kommen angelaufen, beugen sich zu ihm herunter, reden auf ihn ein: „Nun sag schon, wie heißt du denn?“ Schließlich murmelt er leise seinen halb richtigen Vornamen ‚Rudi‛. Außer in Papieren ist Rudolf automatisch ein Rudi - was ja noch angehen mag. Jedenfalls eher als Dolfi. „Rudi! Rudi! Rudi!“ posaunt es laut, „Ja, und wie weiter? Sag uns deinen Nachnamen!“ Aber das ‚Schubert‛ kommt ihm einfach nicht über die Lippen. Im Norden sagt man eher nicht ‚Schuhbärt‛, sondern ‚Schuhbort‛. Auf der Straße rufen ihm manchmal Kinder hinterher: „Schuhbord, kann ich meine Schuhe bei dir reinstellen?“ Und sie skandieren: „Schuhbort, lauf doch fort! Schuhbort, weg von dort!“ Oder: „Schuhbord, Meuchelmord!“ und „Schuhbord fällt von Bord.“ Sogar so dummes Zeug muss er sich anhören wie: „Schuh-Schuh-Bott, sitzt auf 'm Pott. Schuh-Schuh-Bott, runter vom Pott!“ Oder es krakeelt hinter ihm her: „Schuh-Bott ist bankrott. Schuh-Bott ist bankrott. Schuh-Bott ist bankrott.“ Sollte das hier nun gleich so weitergehen? Sollte er lieber Pohl oder Sauer sagen? Er murmelt „Marten“ - so heißen die Flurnachbarn gegenüber. Der Name hört sich nicht so peinlich an wie Schuhbord. Vielleicht bleiben ihm damit doofe Neckereien erspart? Oh nee … nicht das auch noch: Niemand hat ihn verstanden, und jetzt muss er den falschen Namen sogar wiederholen! Einer der forschen Jungen, der das Wort erfasst hat, kräht die Lüge, Rudi Marten … Maarten … Maarten … Rudi Maaarten, laut in den Raum.

In den nächsten Tagen lastete die Angst, als Lügner entlarvt zu werden, schwer auf Rudi. Und das schlechte Gewissen über den falschen Namen machte ihm schwer zu schaffen. Wenn das rauskam - würde er dann bestraft? Womit? Von wem? Hatte er nicht geleugnet, dass es die Schuberts gibt - seine Eltern? Käme dafür als Strafe, dass sie nun auch in Wirklichkeit verschwänden? Dass er ein Waisenkind würde und zu den Großeltern müsste? Oh nein, bloß nicht in die Heide! Dann lieber ins Alte Land. Nun, die Lüge ging im Trubel des ersten Schultages unter; niemand nagelte ihn später auf den Namen Rudi Marten fest. Und entgegen seiner Erwartung regte er als Rudi Schubert auch niemanden zu Wortspielen an. Trotzdem war ihm dieser Ort, wo Gewusel und Gekreisch ihn binnen kurzem fertigmachten, vom ersten Moment an verleidet. Die Angst, ausgelacht zu werden, hatte sofort Wurzeln getrieben und er blieb in Habachtstellung, ob man sich aus irgendeinem Grund über ihn lustig machen könnte.

Jahre später, auf dem Gymnasium, trat dieser Fall ein, - als er nämlich aufgerufen wurde, einen Text aus Latein zu übersetzen. Die Sätze im Buch sagten ihm nicht viel, folglich konnte die Translation auch nicht wirklich gelingen. Dennoch, irgendetwas musste er ja von sich geben. Hektisch begann er, Satzfetzen aneinanderzureihen, die mehr auf Raten als auf Wissen beruhten. Ihm war klar, dass das Ergebnis nicht allzu viel mit dem Inhalt zu tun hatte. Rudis Radebrechen schien aber den Stundenhalter, einen Herrn Seidel - jemand, der von sich selbst gern als Magister Seidelius sprach -, derart zu belustigen, dass er erst zu kichern, dann lauthals zu lachen anfing - ein hämisch meckerndes Gelächter, das noch anhielt, als es längst geklingelt hatte und er am Stock aus dem Klassenraum humpelte - auch ein Kriegsinvalide. Rudi schämte sich enorm. Nun ja, selber schuld. - Viel, viel mehr nagte an ihm, es so weit gekommen lassen zu haben, dass sich jemand derart lustig über ihn machen konnte. Von so einem Fiesling … Widerling … Mistkerl ausgelacht zu werden - richtig gemein, richtig höhnisch -, dass alle es mitkriegten, fand er schlimm, ganz schlimm.

Ein paar Tage später, in einer Deutschstunde, soll mit verteilten Rollen Der zerbrochne Krug rezitiert werden. Das heißt, man sitzt auf seinem Platz und liest den zugeteilten Part aus dem Lektüreheft ab. Rudolf ist Licht, Schreiber. Sein Auftritt. Er hat den Satz erfasst … Ei, was zum Henker, sagt, Gevatter Adam! Er öffnet den Mund, des Gerichtsschreibers Worte müssen raus, ein kurzes a knackt in Rudolfs Hals, sein Atem stockt. Um den Kehlkopf legt sich ein Gurt, wird stramm zugezurrt. Um den Brustkorb legt sich ein Korsett, wird fest zugeschnürt. Die Luft ist knapp. Reicht nicht, um die Brocken, die Kleist dem Schreiber in den Mund legte, durch den Schlund zu treiben. Ein Schnapper … noch ein Schnapper … endlich - der Motor kommt in Gang … ahi … haucht es aus ihm … wasshum henka, sacht, hevatta hadam! Der Satz ist raus, die Luft aus, der Motor abgestorben. Soll er aufgeben? Den Apparat nicht weiter strapazieren? Schreiber Licht einfach verstummen lassen? Nur - wie soll er die Panne erklären? Noch ein Versuch. Hauchzart springt der Motor an, nimmt langsam Fahrt auf, fängt an rundzulaufen, bleibt aber ohne Ton. Kein Klang, sondern nur ein Flüstern, das Rudolf nun - zwar gehetzt, aber flüssig - von sich gibt: Was ist mit Euch geschehen? Wie seht Ihr aus? Kurze Verschnaufpause. Adam, der Dorfrichter, spricht. Jetzt geht es weiter: Nein, sagt mir, Freund! Den Stein trüg jeglicher -? „Stopp, Schubert“, unterbricht der Schulmeister, „Kleist hat bestimmt nicht gewollt, dass Licht flüstert. Was denkst du dir bei dieser eigenwilligen Interpretation, Schubert?“ „Äh, eigentlich nichts - kann grad nicht anders?“ antwortet Rudolf, diesmal mit Stimme. „Wieso, versteh‘ ich nicht. Nimmst du das hier etwa nicht ernst? Mündlich sechs!“ erregt sich der Mann. „Neumann, du übernimmst den Schreiber.“

Von dem Moment an konnte Rudolf in der Schule nur noch flüstern. Jedenfalls dann, wenn das zu Sagende länger als ein Satz war, der sich mit einem einzigen Atemstoß zu Ende bringen lässt. Ging es nicht ohne neues Einatmen weiter, weil etwas zu schildern, zu kommentieren oder vorzutragen war, sprach er nach dem ersten Luftschnappen zwar weiter, aber nicht laut, sondern wie mit abgedrehtem Ton. Nur noch Geflüstertes kam aus seinem Mund, was beim Publikum anfangs zu lautem Gelächter geführt hatte, später dann zu Kichern, Kopfschütteln, Stirnrunzeln, Tuscheln und Vogel zeigen. Anfangs forderte die eine oder andere Lehrkraft ihn noch auf, normal zu reden. Je nach Temperament oder Laune tat sie dies mit barschen Worten, gereiztem Meckern oder freundlichem Zuspruch. Versuchte er dann, das in Worte zu Kleidende mit Klang hervorzubringen, wurde der Kehlkopf steif, die Atembewegungen erstarrten. Je mehr er dagegen anpresste, desto stärker wurde der Widerstand. Ja, wenn dabei wenigstens ein Raunen zustande gekommen wäre, mit immerhin einem Hauch von Resonanz! Es gab ja Leute, die ständig so sprachen. Auch im Kino hörte man solche Stimmen, sogar von kernigen Cowboys, gefährlichen Gangstern oder von plaudernden Personen in einer Bar. Aber anstatt des lässigen Raunens kam aus seinem Schlund dann nur ein gequältes Krächzen - so, als bewirkte die Anstrengung genau das Gegenteil von kräftigem, sattem Sprachklang. Schon nach ein paar Augenblicken fiel er wieder in den Flüstermodus zurück; das war quasi der Schongang, der ihm Laufruhe und genug Puste gab, um die anstehenden Wortketten wenigstens ohne Ton von sich geben zu können. Na ja, wohl immer noch besser als gar nicht.

Es spielte sich nun ein, dass Rudolf bei allem, was irgendwie einen Hauch von Darbietung hatte, auch wenn es um ganz Banales ging, von vornherein flüsterte. Die Lehrkräfte gewöhnten sich daran, dass einer dazwischen saß, bei dem es irgendwie mit dem Sprechen haperte. Putzige Störung, dachten sie wohl - einer, der seine Stimme nicht im Griff hat. Rudolf, Ton an! Schubert, ein bisschen mehr Druck auf die Tube! Fortissimo, bitte! So oder mit ähnlichen Worten wurde er manchmal zurechtgewiesen. Zum Glück ließen ihn die meisten bald ganz in Ruhe. Warum sollten sie sich den Unterrichtsfluss durch solch einen akustischen Blödsinn stören lassen? So jemand gehört doch dahin, wo Behinderte sind, oder? Ein Sprachkranker halt. Na ja, mündlich fünf oder - gerechterweise - gleich sechs, schriftlich zwei oder drei; das macht vier. Solch einen kann man mitlaufen lassen oder - noch besser - jemand macht ihm klar, dass er hier fehl am Platz ist.

Ganz schlimm fand Rudi, wenn Fräulein Hartmann singen ließ. Danach, fröhlich Volkslieder von sich zu geben, war ihm nun wirklich nie zumute. Auf Kommando aufzuspringen und lauthals das Wandern, die Berge und den Mond preisen zu müssen, waren furchtbare Momente. Wegen Zensuren musste jedes Kind manchmal ein Lied allein vorsingen, was für ihn eine Hürde war, die er von vornherein gar nicht erst zu nehmen versuchte. Nein, vor Publikum zu singen - sowas war noch ein paar Nummern größer als Sprechen. Zwar verweigerte Rudi sich dem Ansinnen Fräulein Hartmanns nicht - nein, dazu war er zu folgsam. Aber er half sich, indem er den Text einfach aufsagte, so wie ein Gedicht. Die anderen fanden das immer lustig, Fräulein Hartmann schüttelte jedes Mal ärgerlich den Kopf und schrieb eine Vier auf. Schlechtere Noten wurden in Musik eigentlich nicht gegeben. Einmal hatte sie sich wohl mit einem musikbewanderten Kollegen beraten, denn der ließ Rudi und drei andere Jungen, die raue Stimmen hatten, eine Mundharmonika anschaffen. Damit werde wunderbar ihr Empfinden für die richtigen Töne geweckt, später kämen sie dann für die Singenden als instrumentale Begleitung zum Einsatz, erklärte er den Eltern. Parallel zu Fräulein Hartmanns Singstunden bekämen diese unmusikalischen Vier von ihm qualifizierten Instrumentalunterricht. Nach seiner Erfahrung sei dieser Ansatz durchaus vielversprechend. Nun, die Melodien blieben kläglich. Nach kurzer Zeit stellte der Mann seine Anstrengungen wieder ein. Mit denen habe es keinen Zweck, hieß es.

Zwar hatte Rudolf immer schon ein mulmiges Gefühl gehabt, wenn er irgendwo was sagen sollte und Leute ihn anguckten, aber das war irgendwie nur Befangenheit gewesen. Die überwand er einigermaßen; was nötig war, hatte er eigentlich immer geschafft. Kam nur als verschlossener Typ rüber, der nicht viel von sich gibt. Jemand von stiller, zurückhaltender Art, wohl ein bisschen verschüchtert, verklemmt oder sowas oder nur ’n wortkarger, ungeselliger Typ. Da, wo es drauf ankommt, sich lautstark zur Geltung zu bringen, war er damit natürlich nicht präsent. So einer kriegt, wenn überhaupt jemand mal Notiz von ihm nimmt, Bemerkungen zu hören wie: Stille Wasser sind tief. Das Schweigen im Walde. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Das war nicht nett, sondern ironisch gemeint. Und weiter: Wer schweigt, hat was zu verbergen. Schweigen ist auch eine Antwort. Und weil man in Englisch ja auch Hamlet gelesen hatte: The rest is silence.

Rudi empfand seine stille Art ja selber als Manko, konnte aber nicht aus seiner Haut. Den nötigsten Austausch in kleiner Runde bewältigte er zwar, aber eigentlich war es ihm fast überall unangenehm, irgendwas von sich zu geben. Zu tief saß die Einbildung, dass man seine Stimme unschön, die Betonung unpassend, das Gesagte unwichtig, seine Meinung überflüssig, ihn selber doof finden könnte. Der Junge muss mehr aus sich herausgehen, hieß es in der Schule, wenn Herr Schubert dort Rücksprache hielt. Den verstimmte die Auskunft jedes Mal aufs Neue, aber was blieb ihm anderes übrig, als die Beanstandung an ihn weiterzugeben? Jaja, versprach Rudi dann, ich nehm‘ mir das vor. Aus sich herausgehen, dachte er dann - was für ‘ne dämliche Vorschrift. Natürlich wusste er, was die Leute damit meinten. Aber auf Kommando loszulegen und irgendetwas zum Besten zu geben, war bei ihm nun mal nicht drin. Was fanden eigentlich alle so toll daran? Warum war Schweigsamkeit doof? Was war daran so absonderlich, dass man ihm extra Namen gab? Der Maulfaule, der Zugeknöpfte, der Einsilbige, der Verstockte, der stumme Fisch zum Beispiel. Naja, so war es nun mal da draußen. Und jetzt dieser Knacks, der sein Stillsein sogar noch toppte. So zu flüstern, war ja auffälliger als gar nichts zu sagen.

Wieso ihm solch ein Schalldämpfer im Hals saß, verstand Rudolf selber nicht. Durch das unpassende Flüstern war der Alltag nun noch mehr zur Tortur geworden. Keiner fragte nach, was mit ihm eigentlich los sei. Obwohl er sich wie ein lahm geprügelter winselnder Hund fühlte, sprach er mit niemandem darüber - zu blamabel das Gewisper, um es auch noch zu thematisieren. Er ging auch nicht davon aus, dass für sowas irgendeine Lösung auf der Hand lag; da blieb nur die Hoffnung, beim nächsten Mal - wie durch ein Wunder - stimmmächtig loslegen zu können. Der Schubert hat einfach ’n schwächliches Organ oder ’ne Meise oder beides, hieß es. Der redet so, wie wenn einer beim Gehen schleicht. Oder was zu verbergen hat. Wo flüstert man denn normalerweise so, hä? In der Totenhalle, im Beichtstuhl, bei einem Einbruch, im Kino. Und dann ja auch nur jemandem direkt ins Ohr und nicht, wenn es alle verstehen sollen. Benimmt sich wie ein Ohrenbläser, der Heimlichkeiten von sich gibt. Der soll sich einfach zusammenreißen und normal reden. Sowas kann man doch üben - wie Demosthenes etwa, mit Kieselsteinen im Mund oder so.

Nun, zusammenreißen ging nicht und trainieren wie Demosthenes nützte auch nichts. Wenn Rudolf nämlich zu Hause allein was aufsagte, war alles okay. Und wenn er mit der U-Bahn rausfuhr und an einsamen Stellen in die Luft schrie, kam die Stimme ganz normal raus. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als für den Rest der Schulzeit mit der Zurschaustellung - besser gesagt: Zugehörbringung - seiner Flüsternummer über die Runden zu kommen. Sowas ließ sich ja auch nicht locker überspielen. Klar, dass er mitbekam, dass die anderen über ihn herzogen: verkorkster Typ … irgendwie einer mit Dachschaden. Natürlich gab es in der Schule Versuche, für ihn einen Spitznamen zu etablieren: Ghost whisperer, Super-quiet, Leisetreter, Piepmaus, Hauchfleck, Sendestörung, Pianissimo zum Beispiel. Kam ihm so etwas zu Ohren, reagierte er blitzschnell, wandte sich der Quelle zu und zischte: Sag das nie wieder. Es sei denn, du willst die Engel im Himmel singen hören. Diese Warnungen wirkten stets nachhaltig, - jedenfalls wagte niemand, sobald er in Hörweite war, ihn anders als Rudolf oder Schubert zu nennen.

Trotzdem war es logisch, dass er über Abhilfe grübelte. Das Bild des Wisperers fand er natürlich erbärmlich und trachtete danach, dem zu entgehen. Die Schule einfach zu schwänzen, würde auffallen und wäre ja auch keine Dauerlösung. Klar, ab und zu eine Auszeit außerhalb der Ferien, ein paar Tage schon vormittags entspannt durch die Stadt schlendern, zwischendurch Ausruhen bei zwei oder drei Programmdurchgängen im aki-Kino am Hauptbahnhof. Da konnte man für fünfzig Pfennig solange sitzen bleiben konnte, wie man wollte. Er ging dann an einem Tag ganz früh zwei Straßen weiter zum Praktischen Arzt, einem Doktor Hase. Der gab ihm immer ein Attest für drei Tage Kranksein mit, wenn er Glück hatte sogar für eine Woche. Für die Schule zählte das ebenso viel, als hätte Herr Schubert, der von Rudis Trickserei nichts mitbekam, eine Entschuldigung geschrieben. Doktor Hase stellte nicht infrage, dass Rudi im Kopf, gleich vorn, Druck verspürte und sich irgendwie benommen fühlte. Zu benommen jedenfalls, um den Lärmpegel in der Schule zu ertragen oder sich auch nur halbwegs konzentrieren zu können. „Ach, hat es dich mal wieder erwischt, Rudi“, stellte Doktor Hase fest. „Na ja, Nase krumm, Rudi. Du weißt ja, was das bedeutet: Luft kommt schlecht rein, Rotz schlecht raus. Der fängt da drinnen an zu gären, haha. Tja, das ist deine Achillesferse, Rudi, wenn dir das was sagt. So, ein Wisch für die Schule, ein Zettel für die Apotheke. Und nicht vergessen - immer schön die Mütze aufsetzen!“

Zwischendurch spielte er auch mit dem Gedanken, einfach abzuhauen. Nur, wo sollte ein Vierzehnjähriger hin? Und selbst, wenn er ein Ziel hätte - wie sollte er hinkommen und sich an einem unvertrauten Ort durchschlagen? Würde ihn die Fremdenlegion nehmen? Er hatte gelesen, dass man dort unauffindbar war und einen neuen Namen kriegen konnte. Aber wie landete man da? Wäre es leichter, in ein Kloster zu gehen? Bestimmt nicht ohne Einverständnis der Eltern. Auch war er ja evangelisch und außerdem vom Vater beeinflusst, der ihn auf die Frage, warum manche Leute in die Kirche gehen, darüber belehrt hatte, dass es so etwas wie eine höhere Macht, einen Gott etwa, nicht gebe. Religion beruhe auf frommen Geschichten, die für die Menschen früher nützlich waren, um die Welt zu verstehen. Heute sei das alles überholt, weil alle Rätsel und Fragen, die die Menschen beschäftigten, naturwissenschaftlich erklärbar seien. Beten und sowas sei völlig sinnlos. Also konnte auch er sich nicht vorstellen, irgendetwas anzubeten.

Obwohl Rudi im Konfirmandenunterricht schon gelernt hatte, wie es geht zu beten, glaubte er dem Vater mehr als dem Pastor. Deshalb kam das Kloster natürlich nicht ernsthaft infrage. Aber könnte er vielleicht auf ein Schiff? Als Schiffsjunge? Ja, bestimmt, aber auch nicht ohne Zustimmung der Eltern. Oder sich einem Zirkus anschließen? Durch Sport war er supergelenkig. Ob das genug war, um Akrobat zu werden? Reden müsste er jedenfalls nicht - es sei denn, er wollte Clown werden. Aber welcher Zirkus würde einen Vierzehnjährigen aufnehmen und ausbilden? Er hatte keine Ahnung, wie sich sowas bewerkstelligen ließ. Natürlich könnte er bei nächster Gelegenheit, wenn auf dem Heilgengeistfeld mal wieder Zirkus wäre, an der Kasse fragen, aber spätestens der Direktor würde ja wissen wollen, was denn überhaupt seine Eltern von der Idee hielten.

Unter Indianern zu leben - das konnte er sich vorstellen. Er mochte die Lederstrumpf-Geschichten. Nur - wie sollte er nach Amerika kommen? Als blinder Passagier auf einem Schiff? Sich dann allein in der Wildnis durchschlagen? In Wäldern hausen? Als Hobo, Tramp oder sowas durchs Land ziehen? Darüber hatte er spannende Geschichten gelesen. Und am Ende dabei draufzugehen, wäre vielleicht nicht einmal das Schlimmste. Andererseits erhoffte er sich vom Leben irgendwie doch noch was. Wenn Schule nicht wäre, könnte es vielleicht sogar ganz passabel sein. Aber das Wichtigste: Wollte er seinen Eltern das antun? Von zu Hause einfach so durchbrennen? Ihnen hatte er ja eigentlich nichts vorzuwerfen.

Mit den Eltern über seine Nöte zu reden, wäre Rudi zu peinlich gewesen. Dann hätte er sich auch noch vor denen schämen müssen. Außerdem sah er nicht, wie sie für Abhilfe sorgen könnten. Herrn Schuberts Kommentar konnte er sich vorstellen: „So etwas gibt es nicht! Du musst dich zusammenreißen! Wir üben das. Ich überlege, wie du zu einem kraftvollen, energischen Tonfall kommst. - Ja, wir fangen mit Kommandos an. Erster Zug, Stillgestanden! Augen - rechts! Die Augen - links! Sprung auf, Marsch, Marsch! Auf die Plätze - Fertig - Los! Dann sagst du das Wetter an, dann sprichst du Nachrichten, dann tust du so, als ob du auf dem Fischmarkt frische Fische verkaufst, dann trägst du Gedichte vor, zwischendurch Schnellsprechen mit Zungenbrechern. ‚Fischers Fritze fischt frische Fische‛, frische Fische fischt Fischers Fritze‛, ‚Blaukraut bleibt Blaukraut und Brautkleid bleibt Brautkleid‛ und so weiter. Sollst sehen - schon bald präsentierst du dich einwandfrei.“

Frau Schubert würde sich anders äußern: „Wir gehen zu einem HNO-Arzt. Der soll mal gucken, ob im Hals alles in Ordnung ist. Bis dahin sagst du einfach, du hättest Stimmprobleme, Ursache unklar. Man möge dich vorübergehend entschuldigen. Dein Vater schreibt dir was auf.“ Vielleicht würde sie sogar auf ein seelisches Problem tippen und mit ihm zu einem Nervenarzt wollen. Wahrscheinlich nähme sie sich vor, gleich am nächsten Tag in die Schule zu gehen und mit dem Klassenlehrer zu reden. Das ließe sich allerdings Herr Schubert, wenn denn schon die Eltern sich einmischen sollten, nicht nehmen. Natürlich ginge er hin und hätte einen Vorschlag parat: Rudolf müsse abgehärtet werden. Man möge doch arrangieren, dass ihm in jeder Stunde - mit kurzen Passagen beginnend, die dann immer länger werden müssten - ein mündlicher Beitrag abverlangt würde. Also beginnend mit einem lauten Wort, dann zwei, dann drei und immer so weiter. Binnen kurzem werde er die Sache dann im Griff haben, das heißt, eines anständigen stimmkräftigen, langen Redeflusses mächtig sein. Nein, davon, elterliche Aktivitäten in Gang zu setzen, versprach Rudi sich gar nichts. Im Gegenteil: Alles würde nur hochgespielt. Alle würden noch mehr auf ihn gucken. Nein, da musste er alleine durch.

Weil er in Sport auf Zack war, hielt man ihn in der Schule allerdings nicht gänzlich für einen Versager. Der Drill im Verein ließ ihn in der Turnhalle glänzen, die Vorsprünge beim Wettlaufen und Wettschwimmen waren nicht zu toppen, Salti und Schrauben vom Dreier konnte sonst niemand. Beim Sportfest schnitt er immer mit der höchsten Punktzahl ab. Kaum jemand von den anderen Jungen kriegte die Heuss-Urkunde. Bei den Mädchen nur Sybille, Rollschuhläuferin und Hockeyspielerin, die ihm zugetan war. Jedenfalls so, dass sie begonnen hatte, sich mit ihm im Park herumzudrücken, wenn beide von ihren jeweiligen Trainings kamen. Niemand wusste davon und Sybille war auch ängstlich darauf bedacht, dass es so blieb. Rudolf ahnte, dass es ihr peinlich wäre, privat mit ihm gesehen zu werden, quasi mit ’nem Sprachkrüppel. Nach ein paar Monaten sagte Sybille ihm, dass es vorbei sei. Sie mache, wie er ja wisse, neuerdings Paarlauf und ginge nun mit ihrem Partner, wenn er verstehe. Oh ja, Rudolf verstand - adieu, stilles Klavier. Sorry - neben mir, der Rollschuhprinzessin, bist du in der Öffentlichkeit nicht präsentabel.

Natürlich hatte Rudolf das Wohlwollen des Sportlehrers. Und in Kunst fielen seine Arbeiten auf. Die präzise gestochenen Linolschnitte begeisterten den Kunsterzieher. Ebenso die Zeichnungen, in denen Rudolf Gegenstände und Alltagssituationen, die als solche nicht sonderlich aufregend waren, mit kraftvollem, dabei lässigem Strich so aufs Blatt warf, dass sie als etwas faszinierend Neues hervortraten. In seinen abstrakten Bildfindungen kontrastierte er gern strenge, kristalline Formen, betont durch harte Konturierungen und kraftvolle Farbakzente, mit fein gesprenkelten, getupften und melierten Segmenten, die organisch wirkten. Grob versus zart also, und genau darauf beruhte die spannungsgeladene Atmosphäre der Bilder. Figurative Darstellungen realisierte er mit gewollt flüchtigem Duktus, der sich darin ausdrückte, dass er konsequent kantige Elemente setzte, deren Striktheit er dann allerdings durch spielerische Pinselspuren und luftige Tupfungen auflockerte. Der Lehrer hängte ein mit Deckfarben gemaltes Bild gerahmt in den Flur, Format DIN A2:

Ein kubistischer Kaktus in differenzierten Blautönen steht auf rostroten, zerklüfteten Erdschollen vor rotviolett flimmerndem Horizont, darin die Sonne als schwarzes Parallelogramm. Der Lichtschein ist in radikaler Abstraktion durch sieben dünne, von gelb nach grellrot changierende Stäbe dargestellt worden, die sich von schräg oben kommend in den Wüstenboden bohren. Von den Stachelspitzen des Gewächses, dort wo sie von den stilisierten Sonnenstrahlen gestreift werden, haben sich grüne Spritzer und Tropfen gelöst. Betitelt hatte Rudi das Bild mit ‚Fluchtort‘.

Aber diese kleinen Erfolge reichten nicht aus, um sich nicht wie ein … wie ein … ja, wie ein Köter zu fühlen, den niemand will. Mehr als einmal nahm er morgens vor der Schule zwei, drei kräftige Schlucke aus einer Flasche im Barfach des Sideboards oder spülte im Bad eine oder zwei der grünen Pillen seiner Mutter hinunter. So benebelt schlüpfte es sich leichter durch die grässliche Schulpforte, aber wenn es hieß, „Rudolf, was sagst du dazu? Rudi, sag die nächste Strophe auf! Rudolf, lies weiter!“, riss der Nebel auf und er stand vor dem Abgrund. Hätte es den tatsächlich gegeben - er wäre glatt hineingesprungen anstatt sich durch Wortgebilde zu kämpfen.

Die Lehranstalt - mit allem, buchstäblich allem, was dazugehört - war der scheußlichste Ort, den Rudi bisher gesehen hatte. Wie in einen proppenvollen Hühnerstall gesperrt, in dem sich das Federvieh dicht an dicht drängt, aufgeregt flattert und pickt, während Hähne gebieterisch krähen. Zum Reden gedrängt, zum Singen gezwungen, vom Lärm gereizt, von rauen Tönen abgestoßen, vom ruppigen Geschubse genervt, von der Hartmann und den Leuten ihres Schlages angewidert. Verwirrend, nicht mit links schreiben zu dürfen. Peinlich, mit Buchstaben nicht klarzukommen. Beschämend, sich mit Zahlen schwerzutun. Jeden Tag fühlte er sich wie ein Tier im Käfig, das aber, anders als die ahnungslose Kreatur, sehenden Auges hineintappen muss. Gut, die Art, leise zu sprechen und mit Worten zu sparen, war ihm ja immer schon zu eigen gewesen - nicht gut, klar. Aber hier, in dem derben Milieu, wirkte sie sich geradezu verheerend aus. Die vorherrschende Denke über stille Typen ist ja eher die: Der? Das ist ’n Langweiler, mit dem kannst‘ nix anfangen. Der? Den kannst‘ doch knicken … in der Pfeife rauchen. Oder so ähnlich.

Tonstörungen

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