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II. Kapitel

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Am folgenden Tag sehen wir Herrn Dr. Kahler nebst Fräulein Pöhn vor einem baufälligen Hause der Altstadt aus einer Mietskutsche steigen und sehen beide einen kleinen schmutzigen Hof durchwaten. Es hatte geregnet, der Frühling war indes noch nicht bis zu diesen alten Stadtmauern vorgedrungen, die grau und schläfrig ihre rieselnden moosigen Steine zeigten, wie Bettler, die hilfesuchend ihre Blößen enthüllen. Emma befand sich in nicht geringer innerer Erregung, die sie vergeblich vor ihrem Begleiter zu verbergen suchte; sie hörte wie im Fieberhalbschlaf den Regen leise durch die morsche Dachkandel rinnen und sein eintöniges Lied singen; ein feuchter Geruch von verfaultem Stroh drang aus der Holzgalerie, über deren schwankende Dielen sie beide jetzt wandelten, drüben an der zerbrochenen Sprosse der Feuerleiter, die von verrosteten Klammern getragen wurde, hing ein durchgeweichter Filzhut, ein melancholisches Symbol geschwundener Herrlichkeit; drunten die Gasse, in die sich der Brunnen entleerte, die Wäsche, die von der Galerie herabhing, der graue Himmel und der fern über die Dächer der Stadt herüberragende, in Duft gehüllte Kirchturm vervollständigte das Bild trübseliger, missmutiger Einsamkeit und legte um das für Natureindrücke empfängliche Gemüt des Mädchens eine bange, ungeduldige Spannung. Der Arzt hatte sie gebeten, einen Augenblick auf der Galerie zu warten, er wolle sich vorher überzeugen, ob sein Patient bereits angekleidet sei.

So stand jetzt Emma allein auf der feuchten, im Winde schwankenden Brücke und versuchte, das beängstigende Herzklopfen der Erwartung zu unterdrücken, indem sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihre armselige Umgebung lenkte. War es ihr doch zuweilen, als sei sie im Begriff, ein Verbrechen zu begehen, doch sobald im hintersten Winkel ihres Bewusstseins eine derartige Empfindung aufsteigen wollte, frug sie sich mit einem trotzigen Erstaunen, was denn Verbrecherisches sei an einer Handlung, zu der sie noch überdies durch außerordentliche Schicksale gezwungen werde? Und ob man denn, wenn man über eignen Geist und Verstand zu verfügen habe, sich nicht von der Meinung anderer emanzipieren könne? Nein! Sie wollte selbstständig sein, und begehe sie eine Torheit – was kümmere es die Welt, wenn sie töricht sein wolle?

So stand sie fröstelnd, von mannigfachen Vorstellungen gequält, und sah in den kleinen Hof hinab, wo soeben zwei Ratten aus einer Maueröffnung schlüpften und sich nach etwas Essbarem umschauten.

Sie stützte sich auf das Geländer und verfiel für einige Augenblicke in jene träumerische Geistesabwesenheit, wie sie uns öfter zu überfallen pflegt, wenn wir nach langen, ermattenden Gemütskämpfen uns zu einem gewagten Entschluss emporgerafft haben.

Der Regen rieselte weiter, die Dachkandel klagte ihr eintöniges Lied, einige Sperlinge piepsten auf dem Dache – ihr Geist ging plötzlich völlig in diese dürftige Umgebung über, es war ihr auf einmal, als sei sie zwischen diesen kahlen Mauern, dieser Wäsche, diesen Besen, Eimern und ausgetretenen Treppen geboren, als müsse sie nun bis an ihr Lebensende in dieser von Schmutz und Armut strotzenden Häuslichkeit verweilen – arm – elend; – ein entsetzliches Angstgefühl sank auf sie nieder, sie hätte aufschreien mögen, doch da kam der Doktor aus dem dunklen Hausgange zurück, sie atmete erleichtert auf. So war es nur ein böser Traum! Sie war nicht arm und elend, sie hatte es sogar in ihrer Hand, reich, sehr reich zu werden! Und sie musste lächeln und sich gestehen, dass es das Glück diesmal besser mit ihr gemeint, dass der Reichtum doch nicht so verachtungswert sei, wenn man eine kranke Mutter zu pflegen habe.

Indes war Doktor Kahler, dessen Gesicht eine gewisse Unruhe zeigte und der die Unstetigkeit seiner Bewegungen zu verbergen suchte, näher gekommen.

»Wollen wir eintreten?« frug er leise, »ich habe mich erkundigt, er ist aufgestanden.«

Sie nickte und folgte dem Voranschreitenden durch einen schmalen Gang, eine Treppe hinab, dann wieder eine Treppe hinauf, bis sie vor einer Tür Halt machten, die in ihrem oberen Teile ein Glasfenster trug, unter dessen Scheibe eine Visitenkarte befestigt war.

›Paul Steinacher, Kunstmaler‹, lautete die Aufschrift dieser Karte.

»Hier wohnt der arme Teufel,« flüsterte der Arzt, »soll ich anklopfen?«

»Ich kann mich noch nicht entschließen, einzutreten,« sagte sie ebenso leise.

Der Arzt entgegnete nichts, beugte sich vor und blickte einige Zeit durch das Glasfenster.

»Sehen Sie hier,« sagte er dann zu Emma, die ihr Herzklopfen zu unterdrücken suchte, und deutete mit ernster Miene nach der Glasscheibe, »sehen Sie nur hindurch.«

Emma zögerte ein wenig, stellte sich aber dann, da ihre Neugier den Sieg davontrug, auf die Fußspitzen und überblickte eine enge Kammer, in derem hinterstem Winkel ein verwahrlostes Bett stand. Dicht vor dem Fenster befand sich ein Tisch, an welchem ein schlanker, junger Mann von kaum zweiundzwanzig Jahren in sehr abgetragener Kleidung saß; er zeichnete oder wollte wenigstens zeichnen. Seine schmalen, krankhaft weißen Finger zitterten über das an das Fenster gerückte Reißbrett, zuweilen setzte er ab, fuhr sich seufzend über die breite Stirne und sah dann mit müdem, erloschenem Blick hinaus auf die Dächer und Schornsteine, die seine Aussicht bildeten. Dann suchte er sich emporzuraffen, Emmas Herz krampfte sich zusammen, als sie beobachtete, wie er den Stift fester zu fassen suchte, wie er die schmerzlich verzogenen Lippen, als wolle er sich zur höchsten, letzten Kraftleistung anspannen, zusammenbiss, während sich sein großes Auge mit Tränen füllte. Als sie länger in dies abgehärmte Gesicht geblickt, kam es ihr vor, als habe sie diese Züge, über die der Tod jetzt seinen geheimnisvollen Hauch breitete, irgendwo schon einmal gesehen, obgleich sie sich auf keine bestimmte Begegnung besinnen konnte. Doch vielleicht, sagte sie sich, ist es nur das Mitleid mit dem Armen, das mir die Täuschung vorspiegelt: ich habe diesen unglücklichen Gesichtsausdruck schon einmal gesehen.

Sie wollte sich, von peinlichem Mitleid ergriffen, abwenden, als sie gewahrte, wie der junge Mensch plötzlich einen unartikulierten Laut ohnmächtiger Wut ausstieß, den Stift heftig von sich schleuderte und darauf krampfhaft schluchzend in den Stuhl zurücksank, das Gesicht, in das die wirren, schweißtriefenden Haare herabhingen, mit beiden Händen bedeckend.

Emma traten die Tränen in die Augen, sie wollte sich, wie von einer peinlichen Marterszene, abwenden, und doch fühlte sie sich genötigt, den Unglücklichen zu beobachten, dessen wildnaiver Schmerzensausbruch einen eignen bestrickenden Reiz auf sie ausübte.

Endlich wandte sie sich zum Arzt.

»Ich kann nicht bei ihm eintreten,« sagte sie mit bebender Stimme, »gehen Sie allein! Teilen Sie ihm alles mit.«

Der Arzt nickte, sie verließ ihn, blieb dann stehen und sagte, unruhig vor sich niedersehend:

»Es ist nur zu seinem Besten, Doktor, nicht wahr? Sie sehen das selbst? Wo ist da ein Unrecht?«

»Sie sind unschlüssig geworden,« gab Kahler achselzuckend zurück.

Sie besann sich, ein wenig erblassend.

»Nein! Nein! Gehen Sie nur, ich erwarte Sie im Wagen,« stieß sie mit rauer Stimme, fast unverständlich hervor und ging.

Der Arzt hatte angeklopft; wie es seine Gewohnheit war, trat er, kaum das: »Herein!« abwartend, ein. Paul Steinacher ließ die Hände vom Gesicht gleiten und blickte mit finster drohendem, fast wildem Gesichtsausdruck nach der sich öffnenden Türe, errötete aber sofort, als er den Arzt, seinen einzigen Freund, eintreten sah. Indem ein kindlich verschämtes Lächeln seine bleichen Züge belebte und indem er sich mühsam erhob, fasste er, ohne das Wort, das ihm auf der zuckenden Lippe schwebte, aussprechen zu können, nach seines Ratgebers Hand.

Es lag etwas unbehilflich Demütiges in seinem ganzen Betragen, eine scheue, tiefgefühlte Dankbarkeit, die keine Worte fand. Doktor Kahler, sonst redselig, setzte sich diesmal schweigsam nieder, spielte mit seinem Stock und suchte das Gesicht abzuwenden.

»Sie sind heute so ernst, Doktor,« begann der Maler nach einiger Zeit mit aufrichtiger Besorgnis, aber auch einer gewissen respektvollen Ängstlichkeit die Miene seines Freundes studierend, »mache ich Ihnen Sorge?« setzte er dann leise hinzu.

Der Arzt hob langsam den Kopf.

»Wie haben Sie geschlafen?« frug er dann ablenkend.

»Wie immer, nicht gut,« sagte der zuweilen nervös mit dem Kopfe Zitternde, »ich träumte wüstes Zeug die ganze Nacht! Ich fühle mich matter denn je zuvor.«

Der Arzt griff nach dem Puls des Kranken.

»Ich habe von Ihnen geträumt,« setzte Paul leise hinzu.

»Von mir?« frug der Doktor zerstreut, ohne zu wissen, was er fragte.

»Ja,« fuhr der Maler erregt fort, das Haupt beschämt zur Erde neigend, »die ganze Nacht quälte mich mein Gewissen, Doktor, ich lag mit mir selbst im Zank, ich ohrfeigte mich, mein Stolz trat vor mich hin und spie mir ins Gesicht; du bist ein Undankbarer, ein ganz nutzloses Geschöpf, das von der Gnade anderer leben muss, ich warf es mir vor, dass ich Ihre Hilfe in Anspruch nahm, ohne doch nur im Geringsten, nicht einmal durch ein Bild —«

Der Arzt, der erriet, wie sein Patient den Satz schließen werde, unterbrach ihn heftig.

»Wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, dass Sie meine Hilfe gar nicht in Anspruch nehmen,« entgegnete er mit ärgerlich-freundlichem Lachen. »Ich habe Ihnen meine Hilfe aufgenötigt, lieber Freund. Wie konnten Sie meine Hilfe in Anspruch nehmen, als Sie das Arsenik im Magen hatten und sich hier auf dem Fußboden vor Schmerz umherwälzten und mich der Schutzmann aus dem Bette holte! Da wussten Sie ja gar nichts von meiner Gegenwart, sondern lagen auf Ihrem Bett, stöhnten und riefen: Sie hätten nichts Eiligeres zu tun als ins bessere Jenseits abzureisen. Sehen Sie das nicht ein – –«

»Ja,« wandte der Künstler tief aufseufzend ein, »einmal wäre genug gewesen, aber dass Sie alsdann Tag für Tag kamen, mir Medikamente aufdrangen, die ich nicht nehmen wollte, mir für bessere Nahrung sorgten,« die Stimme versagte ihm: kaum hörbar, den Kopf tief auf die Brust herabgedrückt, fügte er hinzu: »nein! Das ertrag ich nicht länger! Das beschämt mich zu tief – –«

»Beschämen?« rief der Arzt jetzt beinah wirklich ärgerlich, »schämen hätten Sie sich vorher sollen, wie Sie das Gift an die Lippen setzten. Wissen Sie, das war ein ganz einfältiger Streich –«

»Im Gegenteil, es war der vernünftigste meines Lebens,« sagte der Künstler kopfschüttelnd, während er mit düstrem Auge vor sich niederstarrte, »und es war ein einfältiger Streich Ihrerseits, mich wieder ins Leben zurückzurufen, das mir zur Qual geworden. Was soll ich nun im Leben beginnen! Es ist auch nur Galgenfrist, denn glauben Sie, Doktor, ich fühlte es nicht, dass mir der Tod bereits am Herzen frisst?«

»Unsinn,« fuhr der Doktor dazwischen.

»Machen Sie nur kein solch’ ungläubiges Gesicht, ich sehe es Ihnen an, das ich recht habe, mein Körper ist ruiniert, zerstört für immer. Die Dosis Gift war zwar nicht groß genug, um mir in einer Stunde den Garaus zu machen, dafür wirkt sie desto sicherer nach. Ganz behutsam – ganz langsam – « er lächelte ein ironisches mattes Lächeln und strich mit der Hand durch die Luft, als wolle er die geheimnisvolle Nachwirkung des Giftes hierdurch andeuten. Der Arzt wollte etwas Tröstliches entgegnen, der fieberhaft erregte junge Mann holte mühsam Atem, erhob sich und wankte, sich an den Möbeln zuweilen haltend, in dem engen Gemach auf und ab.

»O, wenn ich wieder Muskel und Nerv’ hätte,« klagte er, indes sein sonst so edles Auge in krankhafter Glut schwamm, »sehen Sie hier diese angefangene Skizze – Antigone, wie sie zum Tode geführt wird – es ist meine beste Skizze, ausgeführt könnte mich dieses Gemälde mit einem Schlage zum berühmten Mann machen – sehen Sie nur, wie sie sich an den Altar klammert, wie sie der raue Kriegsmann packt, dieser Ausdruck in ihrem Auge – das heißt, Sie sehen noch nichts – aber ich sehe es – hier – hier im Kopfe – und wenn ich den Stift ergreife – glauben Sie, ich brächte eine vernünftige Linie heraus? Kaum zehn Minuten kann ich den Stift halten – ja! Kaum zehn Minuten, es ist um wahnsinnig zu werden, kaum zehn Minuten —«

Die letzten Worte mit zitternder, tränenerstickter Stimme hervorkeuchend, sank er hilflos auf sein Bett nieder, das Haupt zwischen beide auf die Knie gestützten Arme gepresst. Der Arzt legte gerührt seine Hand auf die Schulter des Trostlosen und bat ihn, sich zu beruhigen.

»Fassen Sie sich, mein Freund, es kann noch alles besser werden,« sagte er, »hören Sie mich an – ich habe Ihnen eine merkwürdige Begebenheit mitzuteilen – wollen Sie mich ruhig anhören —?«

Der Künstler ließ sein Haupt los, nickte mit einem kindlich-bitterem Gesichtsausdruck, der ihm sehr gut stand, vor sich hin und alsdann sich langsam dem Arzte zuwendend, sagte er leise:

»Verlassen Sie mich nicht, Doktor – bitte, verlassen Sie mich nicht, Sie sind mein einziger Freund.«

Den Arzt bewegten diese so einfach naiv ausgesprochenen Worte Pauls aufs Tiefste; er fühlte, wie nie zuvor, dass sich dieses Kindergemüt mit seiner offenen Hoffnungsseligkeit an ihn, den Verschlossenen, Strengen geklammert hatte, dass er einen großen Einfluss übte auf diese reine, hingebende Seele und dies erfüllte ihn mit einer seltsamen Weichheit. Die Tränen traten dem Manne in die Augen, als er die edelgeschwungenen Linien dieses von sanfter Traurigkeit überschatteten Gesichts mit dem Auge verfolgte und er fasste, von aufrichtiger Freundschaft bewegt, die Hand des Unglücklichen, sie innig drückend.

»Ach ja,« flüsterte der Künstler von einer Stimmung rasch in die entgegengesetzte verfallend, »es kann vielleicht alles noch besser werden, nicht wahr? Sie glauben es selbst, ich kann wieder gesund werden?«

Dr. Kahler nickte so heiter wie möglich, seine aufsteigende Rührung gewaltsam zurückdämmend.

»Armer Mensch,« dachte er, »der am Rand des Grabes noch dem Traum des Lebens nachjagt.«

»Ach! Wenn Sie mich retten könnten, Doktor,« fuhr der andere ermattet fort, die widerstrebende Hand des Arztes an die Lippen führend, »nur so lange mich am Leben lassen könnten, bis ich dies Bild vollendet habe – dann will ich ja gern sterben, nur noch so viel Kraft, um vier Wochen hindurch den Pinsel führen zu können —«

Kahler atmete auf.

»Wissen Sie, mein Freund,« fiel er rasch ein, »dass ich gekommen bin, um Ihnen diese Rettung, von der Sie sprechen, zu bieten?«

Da nun der Kranke freudig lächelnd aufzuhorchen begann, wich jedes Schuldgefühl, das ihn anfangs beklemmte, aus des Arztes Brust; er war im Begriff, diesem Unglücklichen eine Wohltat zu erzeigen, ihm die letzten Tage seines Lebens zu verschönern, und das in der Tat innige, fast väterliche Freundschaftsgefühl, das er dem jungen Mann, kaum da er ihn kennengelernt, entgegenbrachte, überwand seine letzten Zweifel. Voraussichtlich wird der arme Schelm innerhalb eines Monats sterben, sagte sich Doktor Kahler seufzend, doch darf ich deshalb ein Mittel unversucht lassen, das unter Umständen wenigstens sein Leben um einige Monate verlängern könnte? Die Heilkunde betrügt oft die scharfsinnigste Vorausberechnung. Wer weiß, wie lange ihn bessere Pflege am Leben zu erhalten vermag? Vielleicht wird es ihm in der Tat noch möglich sein, jenes Bild zu vollenden, dessen Skizze ihn nicht ruhig sterben lässt, und wie dankbar wird er sein, wenn sein brechendes Auge auf dem vollendeten Bilde ruht!

Als der Arzt sich einen Augenblick hindurch in der Phantasie Fräulein Pöhn als die Gattin des Malers vorstellte, wusste er selbst nicht, warum ihm auf einmal ein bitteres Gefühl die Brust beklemmte und es ihm war, als müsse er sogleich das Zimmer verlassen. Ein Blick in das abgemattete Gesicht des Kranken verscheuchte ihm jedoch, so schnell wie sie gekommen, diese seltsame Unruhe und sich rasch überwindend, teilte er dem gespannt Lauschenden lächelnd mit, da sei ihm in seiner Praxis ein höchst merkwürdiger Fall vorgekommen.

»Ganz außergewöhnlich, mein Lieber,« sagte er, »und zwar geht die Sache weniger mich als Sie an. Immer die Künstler, natürlich die Künstler, die haben das größte Glück!«

Der Kranke frug lächelnd, was ihm Glückliches denn bevorstehe, und der Doktor ging mit sich zu Rate, ob er ihm die ganze volle Wahrheit sagen, oder ob er der rettenden Arznei ein wenig täuschende Süßigkeit beimischen solle. Auf diese Art gelangte er rascher zu seinem Ziele, und durfte man einem Arzte es verübeln, wenn er eine kleine Notlüge ersann, um das Leben seines Patienten zu verlängern, unter Umständen zu erhalten? Wie oft war er in die Lage versetzt worden, mittelst einer Unwahrheit des Leidenden Los zu erleichtern, z. B. die sehr gefährliche Krankheit für gefahrlos zu erklären, und hier sollte er dies Mittel, das schon seit dem alten Galen jeder Arzt mit Erfolg angewandt, verschmähen? Trotzdem entschied er sich für die Wahrheit, dann aber erschien ihm die Sache doch gar zu wunderlich, der arme Freund, sagte er sich, würde gewiss den sonderbaren Heiratsantrag mit Entrüstung zurückweisen und sich nicht zum Werkzeug einer reichen Erbin erniedrigen wollen.

Er schwieg und überlegte, ob er nicht besser tun werde, seine Hände gänzlich aus diesem gefährlichen Spiel zu lassen, aber ein Blick in das bleiche Gesicht seines Freundes stieß diesen Vorsatz sogleich wieder um. Hier musste Rettung geschaffen werden, rief eine Stimme seines Innern, er fühlte, dass ihn die Zerstörung dieses unverfälschten, einst so lebensfrohen Gemüts tiefer erschüttern werde, als alles, was ihm seither Schmerzliches begegnet, obgleich er sich nicht zu erklären wusste, weshalb er eigentlich diesen lebhaften Anteil an Paul nahm. So entschloss er sich denn mit der Tollkühnheit der Ratlosigkeit.

»Hören Sie,« stieß er hervor, ohne recht zu wissen, was er sagte, »da kam eine Dame zu mir in mein Sprechzimmer; sie wusste, dass ich den Maler Paul Steinacher in Behandlung habe, sie will diesen hübschen Menschen irgendwo gesehen haben und —« er zögerte einen Augenblick, neigte dann den Kopf und fügte schelmisch lächelnd hinzu: »nun warum soll ich es nicht offen heraussagen, aus der Art, wie mich die Dame über Sie ausfrug, ging hervor, dass sie eine lebhafte Neigung zu Ihnen gefasst hat.«

Paul schüttelte ungläubig lächelnd den Kopf.

»Was Sie nicht sagen,« warf er hin.

»Die Dame ist sehr wohlhabend,« fuhr der Arzt, ob seiner Fälschung der Wahrheit ein wenig errötend, fort, »die Dame ist eine große Verehrerin der Kunst – kurzum – warum soll ich damit zögern —? Sie haben es ja längst erraten – die Dame, die erfuhr, Sie seien krank, seien in schlechten Verhältnissen, die Dame frug mich, auf welche Weise sie Ihnen nützlich sein könnte, ob sie etwas für Sie tun könne, ja sie ging noch weiter!«

»Bin ich dieser Dame in der Tat so interessant?« frug der Jüngling mit naivem Erstaunen.

Doktor Kahler nickte.

»Sie glaubt in Ihnen eine lebhafte Neigung voraussehen zu dürfen,« fuhr er fort, immer unruhiger auf seinem Stuhle hin und her rückend, »Fräulein Emma Pöhn lässt nun durch mich anfragen, ob sie sich betreffs dieser Neigung keiner Täuschung hingibt –«

Paul unterbrach den Sprecher.

»Das wird immer besser,« lachte er auf und der Arzt, durch dieses Lachen aus dem Zusammenhang gebracht, sah verwirrt zu Boden, während Pauls Stirne sich auf einmal zu verfinstern begann.

»Nun, nun, mein Freund,« meinte der Arzt mit unsicherer Stimme nach einiger Zeit, »die Sache ist keineswegs lächerlich. Sie kennen die Macht, die der Künstler auf das weibliche Gemüt ausübt, Sie haben auch schon von den extravaganten Leidenschaften vornehmer Damen gehört. Warum soll eine solche Dame sich nicht in Sie verlieben dürfen? Was ist da erstaunlich? Warum soll sie eine solche Liebe nicht gestehen dürfen? Ich sehe überdies nicht ein, warum man dem Glück, wenn es endlich einmal eintreten will, verdrossen die Türe schließen soll. Ob sich nun Fräulein Pöhn betreffs Ihrer Neigung täuscht oder nicht, jedenfalls sucht sie eine Annäherung und es wäre Torheit von Ihnen, mein Freund, wollten Sie eine Neigung, durch die Sie mit einem Schlage aller Nahrungssorgen enthoben wären, zurückweisen. Wie gesagt, die Dame ist sehr reich, und —«

Paul richtete sich hastig von seinem Lager empor.

»Nicht weiter, mein Freund,« unterbrach er den Sprecher, indem die Blässe seiner Wangen in erschreckender Weise zunahm und er rascher Atem holte, »ich kenne dieses Fräulein nicht, aber auch wenn ich sie kennte, und wäre auch ihre Neigung so tief, wie Sie sagten, und gäbe sie mir auch die Mittel an die Hand, glücklich zu werden, – nie —«

Er brach ab, fuhr sich mit der Hand seufzend durch die schwarzen, feuchten Locken und sank ermattet auf die Kissen zurück. Doktor Kahler schaute äußerst beklommen drein.

»Sie wissen noch nicht alles, mein Freund,« stammelte nach einiger Zeit der Maler kaum hörbar.

Doktor Kahler hatte die Photographie Emma Pöhns, welche ihm diese, ehe sie beide von Hause wegfuhren, eingehändigt, aus seinem Portefeuille genommen, hielt das Bild jetzt in der Hand und sah mit verlegen fragendem Blick zu dem in die Kissen Gesunkenen hinüber.

»Wie? Was weiß ich nicht?« frug er erstaunt, indes eine Ahnung in ihm aufstieg, als er des Kranken geisterbleiche Miene genauer beobachtete.

»Ach! Doktor,« fuhr jener nach einiger Zeit leise, fast verschämt fort, »ehe ich das Gift nahm – o Gott! Ich will es Ihnen gestehen – nicht allein meine Armut war schuld an der verzweifelten Tat —«

»Was?« rief der Arzt, als der Kranke abbrach, »sollte auch hier wieder einmal – die alte Geschichte – welche Torheit —!«

Er schwieg, als wolle er sich ärgerlich zeigen, und betrachtete dann den tief Atem holenden Freund, mit melancholischem Lächeln. Der Patient schwieg lange Zeit, das Gesicht mit beiden Händen bedeckend, als schäme er sich, seine Gemütsbewegung zu zeigen.

Nach einer längeren Pause sprach der Doktor mit weicher Stimme und in fragendem Tone das Wort: »Liebe« aus, worauf Paul wie erschrocken emporfuhr und den Freund mit seinen großen, schmerzlich leuchtenden Augen ansah.

»Nicht wahr, das ist Torheit?« sagte er, wie über sich selbst entrüstet, »ich weiß, es ist Torheit! Aber sehen Sie, uns Künstlern haftet ein einmal gesehenes interessantes Gesicht so tief im Gedächtnis, dass wir uns von dem liebgewonnenen Phantasiebilde nicht mehr zu trennen vermögen, dass es von unserem ganzen Wesen Besitz ergreift, uns völlig ausfüllt. Es war an jenem Tage, da ich hungrig und sehr erschöpft nach dem Schlosse wandelte, um in der Gemälde-Ausstellung mich durch geistige Genüsse für die Entbehrung der körperlichen zu entschädigen; das ist so meine Art, ich suche und finde Trost bei den toten Bildern, die sich vor meinen Blicken beleben. Ich war so ermattet, dass ich kaum die Treppe hinaufklimmen konnte, wandelte dann wie betäubt durch die Säle und suchte, indem ich zuweilen von meiner letzten Semmel aß, meine traurige Gemütsstimmung mittelst der Phantasiewelt, die mich umgab, zu verscheuchen. Ich brauche Ihnen meinen jämmerlichen Zustand nicht weiter auszumalen, nur das will ich hinzufügen, dass ein abscheulicher Menschenhass mir diesmal zu schaffen machte und der Gedanke, was andere in der Kunst geleistet und mir unerreichbar bleiben sollte, mich diesmal ganz besonders bitter stimmte. Im letzten Saale traf ich eine Dame, deren geistvoll schöne Gesichtszüge mir trotz meiner Sinnenverwirrung auffielen. Sie stand vor einem modernen Bilde, einer Hero, und ihr ernstes, von tiefer Glut beseeltes Auge schien mehr in sich hinein als auf das Bild zu sehen. Die Dame redete mich an und ich gab ihr, meinen Schwächezustand so gut es gehen wollte bemäntelnd, Antwort. Ich weiß nicht mehr ausführlich, was sie frug und was ich antwortete, nur so viel weiß ich, dass sie mich einmal, da ihr wahrscheinlich mein schlechtes Aussehen auffiel, mit sanfter Stimme frug: ob ich krank sei. Ich schüttelte natürlich den Kopf, obgleich ich kaum auf den Füßen stehen konnte. Trotzdem ich die Welt wie durch einen Schleier sah und mir die Ohren summten, bewegte ihre weiche Stimme, der mitleidige, so geistvolle Blick, den sie auf mir ruhen ließ, mein Innerstes. Kam es mir nur so vor, oder verhielt es sich in Wirklichkeit so, es schien mir, als wollte sie mir ein Anerbieten betreffs pekuniärer Aushilfe machen, als wage sie dies jedoch nicht. Die mitleidige Art, in der sie mit mir sprach, flößte mir seltsamer Weise ein tiefes, geradezu peinliches Mitleid mit mir selbst ein, ich glaube, ich konnte meine Tränen nicht länger beherrschen; ich benahm mich in dem nervösen Zustande, der mich befallen, beinahe kindisch. Ich weiß nicht, wie es kam, wahrscheinlich stand ich nicht mehr fest auf den Füßen, ich glaube, sie hielt mich am Arme, oder tat sonst etwas, kurzum, ich saß auf einmal in einem der Sessel, die zu allgemeinem Gebrauch aufgestellt sind. Die ganze Szene ist mir übrigens in einen Nebel gehüllt, ich könnte sie ebenso gut geträumt haben. Ich sah noch ihr bestürztes, seltsam schönes Auge in mein Auge blicken, hörte noch ihr Gemurmel: ›der arme Mensch!‹ Dann mag ich wohl die Besinnung verloren haben, ich fand mich später, wohl von einem der Saaldiener dorthin gebracht, auf der Steintreppe des Schlosses. Als ich nach meinem Taschentuch griff, um mir den kalten Schweiß von der Stirne zu wischen, fand ich zwei Fünfmarkscheine in der Tasche. Wie ich nach Hause kam, weiß ich nicht, doch es ergriff mich zu Hause in meinen kahlen, liebeleeren Wänden eine solche Sehnsucht nach der edelherzigen Freundin und zugleich ein so überwältigendes Mitleid mit mir selbst, dass ich —« Paul hielt inne, die Tränen drangen ihm in die Augen, seine Stimme zitterte, »nun, Doktor, Sie wissen am besten,« fuhr er, sich gewaltsam fassend, fort, »was alsdann geschah.«

Da er, die Augenbrauen finster zusammenziehend, vor sich niederstarrte und schwieg, machte der Doktor eine abwehrende Bewegung auf dem Stuhl.

»Und die fremde Dame,« redete er den Sinnenden an, »haben Sie nie wieder etwas von ihr gehört?«

Der Maler schüttelte den Kopf.

»Das sind romantische Träumereien, mein Lieber,« fuhr der Doktor fort, »halten Sie sich jetzt wieder an die Wirklichkeit. Sie machen sich das weis, dass Sie jene unbekannte Mildtätige lieben.«

»Ich weiß auch nicht, ob ich sie liebe,« entgegnete der Kranke träumerisch, »ihre Mildtätigkeit tat mir nach dem vielen Schlimmen, Gehässigen, das ich erlebt, so unendlich wohl, erfüllte mich mit so hingebender Dankbarkeit. Und dann ihre Schönheit; wenn Sie diesen Kopf gesehen hätten, Doktor, Sie würden anders reden. Diese Feinheit, diese Durchgeistigung in allen Linien, dabei diese Weichheit des Mundes, während um die Augenbrauen ein reizender Trotz schwebte und die Augen so tief aufmerksam leuchteten – wer das gesehen, vergisst es nie wieder.«

»Nun,« unterbrach ihn der Doktor lächelnd, »jene Fremde, von der ich sprach, ist auch nicht zu verachten, wenn auch Ihr Phantasiebild, das Sie von jener anderen im Kopfe tragen, unerreichbar zu sein scheint für arme Sterbliche. Sehen Sie sich einmal das Gesicht Fräulein Pöhns an, ich finde, diese Züge könnten einem Maler unter Umständen gefallen.«

Er hielt Paul die Photographie entgegen, die dieser ohne Interesse, fast widerwillig ergriff, dann aber, da seine Hände nervös zitterten, zu Boden fallen ließ. Er bückte sich, das Bild aufzuheben, warf einen Blick darauf, zuckte wie vom Schlag gerührt zusammen und legte dann das Bild, während ihn eine tödliche Schwäche anzuwandeln schien, mit zitternden Fingern aus das Bett, auf das er langsam zurücksank.

Der Arzt sprang dem, wie von einem Krampfe Befallenen bei, spritzte ihm aus einer nebenstehenden Schüssel Wasser in das erblasste Gesicht und frug erschrocken, was ihm denn fehle, was denn geschehen sei. Er erinnerte sich, dass er dem Kranken gestern durch einen Diener eine Flasche Portwein zugeschickt; nach dieser Flasche suchte er sogleich in allen Winkeln, fand sie auch schließlich hinter der Staffelei und flößte dem nun allen Ernstes in Ohnmacht Gesunkenen einige Tropfen ein. Die belebende Wirkung des Weins blieb nicht aus. Nach einiger Zeit begannen sich die Wangen des Ohnmächtigen zu röten, seine Augen verloren ihre verglaste Starrheit und indem er die Hand seines Helfers krampfhaft an die Brust drückte, bewegte er die Lippen zum Sprechen.

»Was wollen Sie sagen, mein Freund?« frug Kahler, der ihn nicht zu verstehen vermochte, mitleidig.

»Doktor, Doktor,« brachte der Kranke mühsam hervor, »sie ist es!«

»Wer?« frug Kahler, der zu erröten begann, »es ist doch nicht —«

Der Maler nickte, während sich ein glückseliges Lächeln in seinen vergrämten Zügen Bahn brach.

»Ja, sie ist es, es ist dieselbe,« flüsterte er »eben diese Augen, eben dieser Mund, so sah sie mich an – und Sie sagen, sie liebt mich —?«

»Wie? Es ist also jene Fremde, die auf dem Schlosse, vor dem Bilde mit Ihnen sprach?« frug Kahler und wusste selbst nicht, warum ihm bei dieser Vermutung das Blut in die Wangen stieg und ein fast an Zorn grenzendes Schmerzgefühl die Brust umklammerte.

Der Maler, der sich infolge der freudigen Erregung auffallend rasch von seiner Ohnmacht erholte, erklärte nochmals, dass er sich nicht täusche. Er ließ sich noch einmal die Photographie reichen, betrachtete sie mit inniger Aufmerksamkeit und sagte dann, während ein kindliches Lächeln seine Lippen kräuselte:

»Also habe ich ihr gefallen. Sie sagen, dass sie sich nach mir erkundigt, Doktor? Reden Sie doch! Teilen Sie mir doch ihre Schicksale, ihre Familienverhältnisse mit.«

Kahler, der in ein trübes Sinnen verfallen war, bestätigte die Neigung des Mädchens und fügte ein paar flüchtige Bemerkungen über ihre Familie bei, mit sich selbst uneins, was er nun beginnen solle, ob er seine Lüge aufrecht erhalten oder dem unerfahrenen Jüngling die offene Wahrheit, die ganze unselige Erbschaftsangelegenheit auseinandersetzen solle. Endlich stand er, nach seinem Hut greifend, auf.

»Ich muss gehen,« sagte er ein wenig rau, »werde aber heute Mittag gegen 3 Uhr wieder erscheinen; wenn es Ihnen recht ist, begleitet mich Fräulein Pöhn.«

Der Maler, den die Aussicht, jene unbekannte Wohltäterin von Angesicht zu Angesicht wiederzusehen in eine momentane Aufregung versetzte, konnte kein Wort hervorbringen. Er begnügte sich, tief aufatmend mit dem Haupte zu nicken.

»Also bis heute Mittag,« sagte der Arzt, als er bereits die Türe geöffnet, »denken Sie über das Glück nach, das Ihnen bevorsteht, mein Lieber! Die Dame scheint ganz ernstliche Absichten zu haben – denken Sie an Ihre der Pflege bedürftige Gesundheit und vor allem an Ihr unvollendetes Bild —«

Der Arzt hatte diese Worte sehr hastig, fast unverständlich hervorgestoßen, die letzte Mahnung hatte er durch den Spalt der fast geschlossenen Türe in das Zimmer hereingesprochen und war dann rasch von dannen geeilt. Er kennt sie also bereits, er liebt sie, klang es in seinem Innern nach, während er die finstre Galerie entlang schritt, aber wie töricht, wie charakterlos, einem Sterbenden diese Liebe verübeln zu wollen Gewaltsam lenkte er seine Gedanken von diesem ihm peinlichen Gegenstande ab, bemerkte jedoch mit Verwunderung, wie ihm alle Gegenstände, an welchen er vorübergehen musste, in ein flimmernd rotes Licht getaucht erschienen und seine Augen, oder seine Sinne sich in einer Verfassung befanden, die ihn mehrmals den Weg verfehlen ließ, der ihm doch genau bekannt war. Das Nervensystem des jungen Menschen ist überreizt, dachte er dann, er liebt sie wohl kaum, das ist eine krankhafte, sentimentale Anwandlung. Als er dann auf die Straße vor den noch immer haltenden Wagen trat, durch dessen herabgelassenes Fenster Fräulein Emma Pöhn, ihre Erwartung verbergend, herausschaute, konnte er anfangs vor Herzklopfen kaum reden, bezwang sich jedoch und berichtete, durch welche Lüge er sich aus der Affäre gezogen. Emma sah ein, dass diese Lüge eine Notwendigkeit gewesen und wusste, obgleich sie sich eines unbehaglichen Gefühls nicht zu erwehren vermochte, nichts dagegen einzuwenden.

»Natürlich muss diese kleine Täuschung aufrechterhalten werden,« mahnte Kahler, als beide Platz genommen und der Wagen abfuhr. Emma schwieg, auch Kahler war einsilbig und prüfte zuweilen das ernste, schöne Antlitz des nachdenklichen Weibes.

»Wie lange mag er noch leben?« frug sie nach längerem Stillschweigen.

»Einen Monat vielleicht,« sagte Kahler achselzuckend, während er die heftigsten Gewissensbisse darüber empfand, dass er es nicht über sich gewinnen konnte, dem Mädchen von jenem Zusammentreffen im Ausstellungssaale und der Dankbarkeit des armen Malers zu erzählen, ebenso wie ihn bei der Aussicht, sein Patient überlebe den kommenden Monat nicht mehr, ein ihm unerklärliches Gefühl anwandelte, ein Gefühl, das er, da er den jungen Mann doch wahrhaft liebte, verdammen musste, das er mit Gewalt verscheuchen wollte und das doch immer wiederkehrte.

* * *

Indessen lag der junge Maler auf seinem Bette, von einem Glücksrausch übermannt, der sein Herz beängstigte und ihn manchmal an seiner gesunden Vernunft zweifeln ließ. Wie? Träumst du nicht dies alles? murmelte er manchmal vor sich hin.

Oder hat dir die Nachwirkung des Arseniks die Verstandeskräfte verwirrt und du hältst Eingebildetes für Wirkliches. Aber hier stand noch der Stuhl, auf dem Kahler gesessen, noch klang ihm das Wort des Arztes im Ohr nach, und da lag sie ja noch, die Photographie, da blickten sie ihn an, die düster schönen, geheimnisvoll-unheimlichen Gesichtszüge.

O diese Gesichtszüge, wie sie ihn während seines Krankseins verfolgt, wie sie auch in der tiefsten Betäubung aller seiner Sinne nicht von ihm wichen, und wie sie ihn anlächelten, wenn diese Betäubung einem leichteren Traum Platz machte. Aus dem einen edlen Charakterzug dieses Weibes konstruierte sich der Schwärmer den ganzen Charakter, und noch jetzt rührte ihn ihr mitleidiger Blick, der damals auf ihm geruht, zu Tränen. In seiner jugendlichen Phantasie stand sie wie ein überirdisches Wesen; seine Seelenleiden, Hunger und Schwäche hatten seine Liebe ins Krankhafte gesteigert.

Also ein solches Glück stand wie ein Wunder plötzlich vor ihm und wollte ihn ans Herz drücken und sagte: fasse zu, hier bin ich, du hast lang genug gelitten, ich will dich erlösen. Und sollte er zugreifen? War es nicht beschämend für ihn, ohne Kampf den Sieg zu genießen? Er sah durch sein Dachfenster über die wirr durcheinander geworfenen Dächer, überall rauchende Schornsteine, trübe Fenster, moosbewachsene Ziegel, Windeln und Geschirr, eine öde, traurige Welt gähnte ihn an, so weit er blickte, dürre, erdrückende Prosa! Und aus diesem engen Gefängnis konnte er sich befreien, nur eines Wortes bedurfte es, so führte man ihn in ein reiches, glänzendes Leben! Ach! Und er gesundete vielleicht noch! War es ihm doch, als durchströme ihn jetzt schon ein nie gekanntes Jugendfeuer; die Aussicht, sein Bild zu vollenden, an der Seite eines geliebten Weibes zu wandeln, sie war schon hinreichend, ihn mit jenem stürmischen Lebensmut zu erfüllen, der den phantasievollen Künstler zuweilen mit göttlicher Kraft überfällt. Und wenn sie ihn wirklich liebte – ihr Wort, ihre Miene mussten es ja beweisen —! Und warum sollte sie ihn nicht lieben? Sprach doch schon damals, als er in der Bildergalerie auf einen Stuhl gesunken war, eine so tiefe Teilnahme aus ihrem Auge, konnte sich diese Teilnahme nicht mit der Zeit vergeistigt, verstärkt haben? Und wenn sie ein seltsam geartetes Weib war, einen außergewöhnlichen Charakter besaß – was schadete dies! Sollte das ihn abhalten, sie zu lieben? Konnten Untiefen und Absonderlichkeiten des Charakters einer Ehe nicht erst einen außergewöhnlichen Reiz verleihen? War er doch auch kein Philister, der immer nur die breite Heerstraße des Gewöhnlichen liebt, suchte er doch mit Vorliebe das Abenteuerliche.

Und dann sein nagender Ehrgeiz – wenn das Bild vollendet vor ihm prangte, allen Meistern mit seiner leuchtenden Farbenpracht zurufend: Seht, das hat ein seither Unbekannter, Verachteter geschaffen! Paul stand auf und schritt, wie im Fieber an allen Gliedern zitternd, in dem engen Gemach auf und nieder, zuweilen halblaute Worte vor sich hinmurmelnd.

Bald verwarf er den ganzen Plan als seiner unwürdig, bald war er freudeberauscht mit allem einverstanden, selig in dem Gedanken, ihr Sklave zu sein, und als jetzt Luise, die Tochter seiner Hauswirtin mit dem Mittagessen ins Zimmer trat, sah er sie so geistesabwesend an, dass das Mädchen ganz erschrocken frug, ob sie den Arzt rufen solle? Es scheine, als ob ihm unwohl sei.

Paul, der dem Mädchen, da es ihn während seiner Krankheit treu gepflegt, Dank schuldete, griff ihm lächelnd unter das Kinn und bemerkte in seinem trunkenen Zustande nicht, wie dem Kinde fast die Tränen in die Augen traten, er richtete, ohne recht zu wissen, was er sagte, stammelnd ein paar freundliche Worte an sie und war in seinem Taumel nahe daran, ihr die Ereignisse, die ihm bevorstanden, mitzuteilen. Er frug einmal, was sie wohl dazu sagen werde, wenn er Hochzeit halte, und gab dann in so humoristisch-verwirrter Weise ein paar Andeutungen, betreffs zu erwartenden Reichtums, dass Luise ihm wirklich mehrmals mit unverhohlener Angst in die Augen sah. Endlich bemerkte er selbst, dass man ihn heute nicht verstehen werde und er lenkte lachend von diesem Thema ab.

Aus der Praxis

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