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Erster Teil
Drittes Kapitel
ОглавлениеÜber dem Zimmer Myrrahs befand sich dasjenige des kranken, alten Juden. Die Lehmwand des Gemachs zeigte mehrere Löcher, durch die der Wind nach Belieben pfeifen konnte. Der ausgetretene Fußboden war nicht der reinlichste; an Tischen und Stühlen waren nur sehr zerbrechliche Exemplare vorhanden, deren Farbe in widriges Grau übergegangen war. Durch einen zerrissenen, grünen Vorhang schielte die Sonne über zerbrochenes Tongeschirr, welches am Boden stand. Auf einem sehr niedrigen, hölzernen Gestell, das mit etlichen Lumpen belegt war, lag der alte Mann; sein Atem kam zögernd über seine Lippen, schwer, mühsam hob sich seine Brust. Neben ihm kniete sein Sohn Isaak, mit ängstlicher Aufmerksamkeit in das matte, blasse Gesicht, die irren, glanzlosen Augen des Vaters blickend, zuweilen ihm den blutigen Stirnverband zurechtrückend oder mit Wasser seine Lippen befeuchtend.
»Stirb mir nicht, Vater,« kam es aus Isaaks Busen hervor, »du weißt, ich liebe dich, verlasse deinen Sohn noch nicht, halte noch mit ihm in dieser elenden Welt aus.«
»Wo bleibt Rebekka, deine Schwester?« frug mit einiger Anstrengung der Sterbende. »Ich sah sie nicht, so lange ich an dieser Wunde daniederliege, warum tritt sie nicht an das Sterbelager ihres Vaters?«
»Verzeihung, mein Vater,« sprach der junge Mann, indem er hastig nach den zuckenden Händen des Alten griff, »Verzeihung deiner Tochter und mir! Wie konnte ich ahnen, daß sie so herzlos, so gottlos wird, als ich sie dazu verleitete, unserer Not durch Harfenspiel und Tanz ein Ende zu machen.«
Über das Angesicht des Alten flog ein Schatten.
»Ja, du warst es, der meine Rebekka,« keuchte er, »dem reichen Setineht in die Hände spielte, damit er sie verderbe, um uns –«
»Um dich –« fiel Isaak bebend ein.
»Um uns vom Hungertode zu retten,« fuhr der Greis fort. »Von diesem Tag an sank sie tiefer, immer tiefer; sie lernte sündhafte Tänze, bestrickende Gesänge und, was sie erwarb, das kam nicht mehr uns zugute, das brachte sie mit Kriegsknechten durch, oder kaufte sich elenden Goldflitter dafür, ihren unreinen Leib zu behängen. Sie war nicht schlecht, mein Kind, sie war munter, lebenslustig, heftig von Gemütsart – sind das Fehler? nein! doch es wurden Fehler daraus; das Gift schmeckte ihr süß, sie trank es in vollen Zügen aus den Händen der Ägypter, und jetzt ist sie völlig davon durchfressen. O Isaak, was tatest du mir an! Was hast du aus deiner Schwester gemacht!«
Isaak beugte sich über seinen Vater und küßte ihm den welken Mund.
»Denke nicht an die Mißratene,« bat er sanft. »Daß sie so geworden, wie sie ist, zeigt mir, daß ein schlechter Kern in ihr lag, und daß sie auch ohne meine Beihilfe geworden, was sie nun ist. Sieh! ich pflege dich, ich sitze Tag und Nacht an deinem Lager, ich hungere, ich bettle für dich – kannst du sagen, ich sei ein schlechter Sohn? Aber sie! was tut sie! sie lacht, sie tanzt, sie liebt, während ihr Vater –«
»Rede nicht von ihr,« wehrte der Ermattete ab, »mir wird weh, Isaak, gib mir Wasser.«
Isaak tat, wie ihm geheißen wurde. Dann kauerte er sich dicht neben das Haupt des Kranken, lauschte auf seine unregelmäßigen Atemzüge und sah dabei zuweilen mit verlangenden Blicken auf einen Napf voll Milch, den er für den Vater erbettelt hatte. Ja, manchmal streckte er unwillkürlich die zitternde Hand nach dem Getränke aus, ließ sie aber jedesmal sinken, sobald sein Auge das Gesicht des Verwundeten streifte. Er litt augenscheinlich grimmigen Hunger, der Arme, denn etlichemal fielen ihm vor Schwäche die Augenlider zu, jedoch die Pflicht, seinen Vater zu ernähren, gebot ihm dem heftigen Naturtrieb zu widerstehen, denn diese kleine Schale Milch sollte für diesen Tag die einzige Nahrung der beiden sein. Nach langem Stillschweigen bemerkte Isaak, wie sich plötzlich die Züge des Bejammernswerten seltsam veränderten. Er faßte nach der Hand seines Kindes und sah ihm mit einem feierlichen, geheimnisvollen Ausdruck in die Augen.
»Isaak!«
»Vater!«
»Richte mich auf, ich muß mit dir sprechen.«
»Ja, Vater.«
»Aber rasch, denn ich fühle den Tod mir nahen.«
Dann setzte er sich stöhnend mit Isaaks Hilfe empor, hieß diesen die Türe sorgfältig schließen, nachdem er sich umgesehen, ob niemand lausche, hieß ihn die Fenster verdunkeln und bat ihn, sein Ohr dicht an seine Lippen zu legen. Nachdem dies geschehen, atmete er noch einmal tief auf, ließ sich von der Milch reichen und begann:
»Ich muß dir, ehe sich mein Auge auf ewig schließt, ein wichtiges Geheimnis anvertrauen, mein Sohn, das bis jetzt nur das meine war. Laß dir verkünden, daß ich als junger Mensch, unter der Regierung des vorigen Königs Seti des Ersten, half, eines der größten Werke zu vollenden, welches die Erde je sah oder noch sehen wird.«
Hier brach er erschöpft ab, um Luft zu sammeln. Der Sohn hing gespannt an den Lippen des Vaters.
»Ich war unter der Schar,« fuhr er flüsternd fort, nachdem er sich erholt, »die des Königs Schatzhaus bauen mußte.«
»Wie? Du, Vater? Und du lebst noch?«
»Alle die diesen Bau ausgeführt, sogar der Baumeister, mußten sterben, damit keiner verriete, wo sich das Haus befinde, oder auf welchen Pfaden man in sein Inneres gelangen könne. Sterben mußten sie, Isaak! Alle sterben.«
Schmerzen zwangen ihn, sich zu unterbrechen; er drohte umzusinken; Isaak hielt ihn jedoch aufrecht.
»Und du entkamst dem Mordschwert der Ägypter?« frug Isaak klopfenden Herzens, »doch erhole dich erst noch ein wenig, ehe du weitersprichst.«
»Ich entkam,« begann der Alte aufs neue, seine Schwäche beherrschend. »Ich dachte, es ist einerlei, ob dich das Schwert eines Kriegers tötet, oder ob du im Innern des Gewölbes, das du bauen halfst, verhungerst, und so versteckte ich mich, nachdem alle übrigen Arbeiter bereits aus dem vollendeten Bau gebracht werden waren, in einer Kiste. Drei Tage lang hielt ich es dort aus, von Dunkelheit umgeben. Endlich tappte ich mich durch die mir wohlbekannten Gänge bis an das noch nicht vermauerte Tor. Von hier aus floh ich in den Schilf des Nil, wo ich mich wieder längere Zeit verborgen hielt, um meinen Verfolgern zu entgehen. Das waren fürchterliche Tage, mein Sohn, denn ich lebte von da an einem Tiere ähnlicher, als einem Menschen. Erst nach vielen Jahren, bis man mich vergessen oder mich tot geglaubt, ließ ich mich wieder sehen.«
Diese Worte hatte der alte Mann röchelnd hervorgestoßen, man sah ihm deutlich an, wie er mit Angst ans Ende zu kommen suchte, um seinem Kinde, noch bevor der Tod ihm den Mund verschließen konnte, die ganze Tragweite des Geheimnisses zu entdecken.
Isaak wollte einige Worte einwerfen, ihn bitten, sich zu schonen, jedoch er winkte ihm Schweigen zu und fuhr immer hastiger, immer angstbeklommener weiter fort:
»Lausche nun meinen Worten, Kind, denn ich will dich durch das, was ich dir nun verkündige, glücklich, reich und mächtig machen. Ich hatte keinen Mut dazu, mein Vorhaben auszuführen, aber dir fehlt es nicht an Scharfsinn, Entschlossenheit und Erfindungsgeist, die Früchte zu genießen, die ich unberührt liegen ließ. Du wirst nachholen, was ich alter, furchtsamer Tor versäumt.«
Isaaks Atem flog aufgeregt durch seine Lippen, er beugte sein Ohr dicht an den Mund des Vaters und trank dessen flüsternde Worte.
»Ich will dir,« fuhr dieser fort, »den Weg beschreiben, den du gehen mußt, um in das Innere des Schatzhauses zu gelangen, wo die Goldgefäße stehen, angefüllt bis zum Rand mit Goldringen, mit Edelsteinen, wo du dir nehmen kannst, so viel dir Jehova erlaubt, denn die Feinde zu berauben ist keine Sünde. Wenn ich die Augen geschlossen, dann wird Pracht und Reichtum einziehen in meines Sohnes niedere Hütte; du wirst dir einen Palast bauen an den Ufern des Nil, du wirst wie die mächtigen Pharaonen auf Purpurpolstern ruhen, bedient von schönen Sklavinnen, du wirst deine vergoldete Gondel auf den Wellen des Nil rudern und dich tragen lassen in reich bemalter Sänfte. Isaak, du erhebst dich aus dem Staube der Knechtschaft, du setzest deinen Fuß auf die stolzen Nacken der Unterdrücker, du rächst deine Schmach, rächst deines Vaters Schande, deines Vaters Tod, denn, wer Reichtum besitzt, besitzt Macht.
Verführe sie, verderbe unsere Feinde, und aus dem Grabe heraus will ich dich segnen; mein Geist wird dich schützen.«
Der Alte hatte ermattet die Stimme sinken lassen, während Isaak mit erglühten Wangen, leuchtenden Augen seiner Rede gefolgt war.
»Vater,« preßte der überraschte Sohn hervor, »mein der Schatz des Königs? mein? es ist keine Ausgeburt deines fieberkranken Hirnes? Ich, der verachtete, bespiene Jude, reich, mächtig, der Rächer meines Volkes? Vater, mir schwindelt, meine Sinne halten es nicht aus; mir ist, als sähe ich die Pracht des königlichen Schatzes vor mir glänzen, wie ein Meer im Abendstrahl, und die Edelsteine würden zu Flammen, mich zu versengen, das Gold dünstet giftiggelbe Gluthitze aus, mich zu ersticken – ich sehe mich in prächtigen Gewändern dahinschreiten, hohnlachend meinen Unterdrückern – Vater, mache mich nicht wahnsinnig vor schauderndem Entzücken.«
Mit Anstrengung gelang es ihm endlich, seine schweratmende Brust zu bändigen, er richtete den zurückgesunkenen Sterbenden auf, sprach einige herzliche Worte zu ihm und küßte ihm im Rausche der Freude dankbar die Stirn. Der alte Mann begann nun in abgebrochenen Worten zu beschreiben, wohinaus Isaak sich zu wenden habe, um das Schatzhaus zu finden.
»Du siehst, ich mache dir ein reiches Vermächtnis, teurer Sohn, so reich, wie es der reichste Königsbeamte seinem Sohn nicht hinterläßt,« stotterte er immer mühsamer, »nun sterbe ich gern, denn ich habe dich glücklich gemacht.«
»Vater, du vergaßest, mir genau anzugeben, wo sich das Schatzhaus befindet,« rief Isaak angstvoll, »sammle deine Sinne, damit ich der Beschreibung genau folgen kann, denn, wenn ich keine Ahnung habe, in welchem Gebäude der Schatz liegt, wie soll ich ihn finden? Also, da wo der alte Königspalast von Memphis liegt, am Südostende der Stadt steht, umgeben von mehreren anderen Gebäuden, das Schatzhaus?«
Der Greis beschrieb dem Sohn mit dem Finger aus dem Fußboden den Weg, den er zu gehen habe. Wenn er von der Stadt käme, sei es das dritte und größte der Gebäude; mächtige Pylonen ragten vor ihm in die Luft, aber die Türe, die in sein Inneres führe, sei so verborgen, daß kein Mensch ahne, wo sie sich befände, denn sie führe in der Rückseite des Palasts auf den Nil hinaus und sie erhübe sich gerade da, wo das Wasser des Flusses aufhöre, also, daß sie bei einer Überschwemmung gänzlich unter Wasser gesetzt sei. Eben wollte der erregte Isaak fragen, wie er denn diese Eingangspforte zu finden habe und durch welchen Kunstgriff sich der schwere Stein hinwegbewegen lasse, als sich draußen vor der Türe munteres Lachen vernehmen ließ. Isaak sprang an die Türe; kaum hatte er sie geöffnet, so tanzte mit heiterem Singen seine Schwester Rebekka in das Gemach, blieb aber, mitten in ihrem Gesang abbrechend, stehen, als sie ihren abgezehrten Vater sich langsam erheben sah.
»Nicht in meine Nähe,« keuchte tonlos der bereits unter den Fittichen des Todes Weilende. »Hebe dich weg von dem Lager deines Vaters, du Verworfene, schütte nicht deine trübe Gier, deine niedrige Weltlust über sein dem Grabe geweihtes Haupt aus. Was kommst du meine letzten Lebensträume zu stören? Was trägst du diesen Mißklang in dies ernste Zimmer? Hättest du nicht warten können, bis dies Auge dich nicht mehr sieht, dies Ohr deine eiteln Gesänge nicht mehr vernimmt? Isaak, verbirg sie meinem Blick, ich will nicht in ihrer Nähe sterben.«
»Vater, sie ist dein Kind,« bat der Bruder, seinen Vater sanft zurück auf das Lager zwingend. »Verzeihe ihr, nimm nicht deinen Unwillen, deinen Groll ins Grab hinab.«
»Sie hat den Gott unserer Väter verlassen; wie, sollte ich sie nicht verlassen?« rief der Sterbende, zornige Blicke auf die Eingetretene richtend. »Sie hat unser Volk verlassen, hat sich mit den Fremden abgegeben; verkehre nicht mit ihr, Isaak, sage dich los von ihr, sie mag verhungern, sie bringt Schande auf unser Haupt, denn sieh nur, wie heiter sie aufgeschmückt ist, wie sie lachen, wie sie singen kann und –«
Schwäche verhinderte ihn weiter zu reden; seine zum Fluche erhobene Hand sank schlaff auf das Lager; er fiel mit dem Haupt, einem Toten ähnlich, zurück. Isaak beugte sich verzweiflungsvoll über den kaum Atmenden; Rebekka stand wie betäubt, die Türe in der Hand haltend. Als der Vater verstummte, schritt sie erbleichend auf den still Daliegenden zu, aber Isaak wehrte ihr näher zu treten. Beschämt den Blick an den Boden geheftet, stand sie dort, bis dieser Blick zufällig auf ihre goldenen Armbänder fiel. Hastig streifte sie dieselben ab, in einem Moment flog der Goldflitterbesatz ihres Kleides unter ihren Fingern zu Boden und die Handtrommel entsank ihren Armen. Sie empfand mit Schauder, wie seltsam ihr leichtfertiger Schmuck stimmte zu dem erhabenen Augenblick, in welchem die Seele ihres Vaters Abschied nahm von dieser Welt. Tränen traten über ihre Augen und behutsam schlich sie sich an den Sterbenden heran, seine kalten Hände mit ihren heißen Zähren zu benetzen. So kniete sie lange um den Sterbenden beschäftigt, der nur noch einmal die Kraft hatte: »Zu spät!« zu hauchen. Wer sie in dieser Stunde gesehen hätte, würde sie für die besorgteste, zartfühlendste Tochter gehalten haben, und selbst der, der sie auf der Straße tanzen sah, er hätte ihr nun verziehen, so sehr war ihr ganzes Wesen umgewandelt, so sehr schien sie ihren Lebenswandel zu bereuen. Die beiden Geschwister gaben sich flüsternde Winke, deuteten sich an, daß es mit ihrem Vater merklich zu Ende ging. Schon schien es den beiden, die jeden Atemzug des Sterbenden zählten, als stocke plötzlich die regelmäßige Hebung der väterlichen Brust, schon schlug Isaak die Hände vor die Augen, den Todeskampf des Teuren nicht mit anzusehen, da erhob sich dieser noch einmal und verlangte, durch entschiedene, nicht mißzuverstehende Winke, Stift und Papyrusrolle. Als der Sohn ihm dies gereicht, sah er, wie die krampfhaft zuckenden Finger seines Vaters bemüht waren, mit der letzten Kraft etwas auf die Rolle niederzuschreiben, da ihm bereits die Zunge den Dienst versagte. Isaak erriet, daß es sich um die geheime Türe des Schatzhauses handelte, er verfolgte den zuckenden Stift des Schreibenden mit glühenden Augen, ja er vergaß fast, daß er sich in der Nähe des Todes befand; die Aussicht, den Schatz zu erlangen, überwand in diesem Moment den Schmerz um das brechende Herz des Vaters. Mit Bestürzung jedoch bemerkte er nach einiger Zeit, daß unter den Fingern des Sterbenden fast völlig unleserliche Zeichen hervorquollen. Er deutete dies dem Vater an, frug, was dieses oder jenes Zeichen bedeuten solle. Dieser sah flehentlich zu ihm auf, als wolle er sagen: entwirre meine Schriftzüge, die Finger gehorchen mir nicht mehr. Darauf ließ er den Stift fallen, legte mühsam die kraftlose Hand auf Isaaks Haupt, sank zurück, zuckte noch einmal vom Munde an bis in die Zehen hinunter und tat keinen Atemzug mehr. Rebekka brach in heftiges, verzweiflungsvolles Schluchzen aus, während ihr Bruder in dumpfem, tränenlosen Schmerz die Züge des Verblichenen anstarrte. Das Mädchen konnte sich nicht fassen, sie zerriß ihr Kleid, schlug sich die Brust, warf sich zu Boden, kurz, gab sich dem leidenschaftlichsten Jammer hin.
Erst nach vielen Stunden vermochte sich Isaak so weit zu fassen, daß er die Papyrusrolle, auf die der Tote die wirren Buchstaben geworfen, zu sich steckte, um sie vor dem Auge Uneingeweihter zu bewahren. Während seine Schwester das Gesicht des Toten mit ihren Tränen badete, ihn laut um Verzeihung bat, ihn beschwor, ihre Reue anzuerkennen und noch ein liebes Wort an sie zu richten, zog er behutsam das Schriftstück hervor, um die Zeichen zu enträtseln. Kaum jedoch hatte er sich einigermaßen in die Rolle vertieft, um seinen Kummer zu vergessen, so fühlte er, wie ihm dies fast allzu gut gelang, denn von nun an fand kein anderer Gedanke mehr in seinem Haupte Platz, als der, Besitzer der geheimnisvollen Reichtümer zu werden. Den ganzen Tag bis spät in die Nacht hinein saß er über der Rolle. Er vergaß Schlaf und Speise, überhörte die Mahnung seiner Schwester und bemerkte nicht, daß man die Leiche seines Vaters aus dem Zimmer getragen. Eine wahrhaft dämonische Goldgier hatte ihm das wichtige Blatt eingeflößt. Als ihm Rebekka Vorwürfe machte über seine Teilnahmlosigkeit, gewahrte er erst, daß die Leiche aus dem Zimmer verschwunden war. Da übermannte ihn denn freilich eine Art Rührung, doch diese war bald wieder verwischt, als sein Auge das verheißungsvolle Blatt streifte. Endlich nach langem Brüten sah er ein, wie unmöglich es ihm sei, diese Zeichen zu entziffern, die da auf dem Blatte tanzten; er mochte die Rolle drehen und wenden wie er wollte, sie mit dem spärlichen Lämpchen beleuchten, wie er wollte, sie gab ihm keinen Aufschluß. Die Aussicht, die Schrift nicht lesen und somit den Schatz nicht heben zu können, stürzte ihn schließlich in eine solche Verzweiflung, daß ihm Tränen aus den Augen quollen und er nach vielem ratlosem Überlegen seine Schwester weckte, die bereits Müdigkeit und Schmerz in einen fieberartigen Halbschlaf versenkt hatte. Er teilte der verstört Dreinschauenden das Geheimnis mit, so gut er dies in seinem Erregungszustand vermochte. Rebekka, durch diese Mitteilung völlig wieder in ihre frühere stürmische Lebenslust zurückversetzt, machte sich sofort über die Rolle her.
»Du bist gescheit,« meinte ihr Bruder schmeichelnd, » ein Weib hat mehr Scharfsinn als zehn Männer; dir gelingt gewiß, was mir nicht gelingen wollte: in dies närrische Gekritzel Sinn zu bringen, die abgebrochenen Worte klug zu verbinden, auf daß ich genau die Stelle kennen lerne, durch welche ich in das Innere des Gebäudes dringe. Diese Stelle muß ich genau kennen, denn Zeit, zu suchen, läßt mir die Gefahr des ganzen Unternehmens nicht.«
»Hier steht,« begann Rebekka, nachdem sie die Schrift überflogen, »gleich im Anfang folgendes: die Türe liegt über dem Wasserspiegel des Nil.« – »So weit kam ich ebenfalls,« bestätigte Isaak, »dies hatte mir bereits der Vater mündlich mitgeteilt. Weiter, lies weiter.«
»Halt,« rief das Mädchen, »höre, ob ich recht erraten, dies Zeichen, welches aussieht wie eine betrunkene Mumie, soll heißen: suche –!«
»Möglich, Schwesterlein! Entziffere das Folgende.«
Sie sann über dem Blatt, ihre Lippen bewegten sich, ohne zu sprechen. Nach einiger Zeit flüsterte sie:
»Suche in der Wandmalerei –«
»Wandmalerei! könnte dieser Schnörkel, der einem vor Lachen geplatzten Nilpferd ähnlich sieht, heißen?« warf Isaak heiter dazwischen, »wahrlich, ich beneide dich um dein scharfes Auge, schlaues Weib.«
»Es sind Hieroglyphen,« belehrte Rebekka, »die du nicht völlig verstehst; der Vater bediente sich von nun an der ägyptischen Schrift. Also: Suche in der Wandmalerei das Bildnis des Gottes Sebek, welcher sitzt auf einem Thron und dessen Haupt dasjenige des Krokodils ist.«
»Wir kommen zum Ziel,« jubelte Isaak, »weiter, teure Schwester; ich möchte dich küssen, Mädchen. Warum gab ich dir diese Rolle nicht schon früher, wir wüßten bereits die Stelle.«
»Es ist klar am Tag,« fuhr Rebekka lesend fort. »Da, wo der Gott seine Hand auf das Knie drückt, genau da, wo er die Lotosblume hält, befindet sich – o Bruder, höre nur! befindet sich die Stelle, auf welche du schlagen mußt. Alsdann wird sich der Stein, wenn du dich wider ihn stemmst, in seinen Angeln drehen, eine Öffnung freilassend, durch welche du bequem in den Mittelpunkt des Gebäudes gelangen kannst.«
»Wir sind am Ziel,« murmelte Isaak, indem er die Faust auf sein pochendes Herz drückte, »wir sind reich, wir sind mächtig. O Schwester, dies Glück ist allzu groß, ich glaube noch nicht an seine Wirklichkeit. Gib acht! das ist alles nur ein schöner Traum, bald werden wir erwachen und so arm und elend sein wie zuvor.«
»Möglich,« sprach Rebekka, mit mühsam errungener Gleichgültigkeit, »daß der Königsschatz längst nicht mehr in dem Hause ruht, oder daß diese Schrift uns belügt, da sie der Fieberphantasie eines Sterbenden ihr Dasein verdankt; jedenfalls solltest du dir Mühe geben, deine Aufregung zu dämpfen, Isaak. Wir sind noch lange nicht am Ziel; Fassung, kalte Überlegung müssen uns nun die Mittel und Wege zu diesem gefahrvollen Werke zeigen; nur wenn wir mit ungetrübten Sinnen an die Arbeit gehen, kann es uns gelingen, den Schatz zu heben. Hitze und List sind Feinde! Der Listige muß hart und kühl bleiben.«
»Aber auch deine Wangen sind gerötet, auch dein Herz schlägt rascher, liebe Schwester,« sagte Isaak, sich mit Gewalt stille auf einen Stuhl niederlassend. »Doch hast du recht, Leidenschaft taugt nichts. Es kommt nun vor allem darauf an, wann wir den schwierigen Gang wagen wollen.«
»Halt,« rief die Tänzerin plötzlich, »hier steht noch eine Bemerkung auf der Rolle, die ich übersah; rücke die Lampe näher.«
»Nun, kannst du sie enträtseln?«
»Es steht hier,« begann das Mädchen nach einigen Augenblicken, »du solltest ein Licht mitnehmen, denn die Gänge des Gewölbes seien natürlich völlig in Finsternis gehüllt; auch sollst du nicht vergessen, die Steintüre bei deinem Eintritt wieder hinter dir zuzudrücken.«
»Versteht sich von selbst,« lächelte Isaak, wie berauscht, »oh! der gute, besorgte Vater.«
Nun überlegten die beiden Geschwister, in welcher Nacht und zu welcher Stunde das gefährliche Unternehmen gewagt werden solle. Wenn sie den Weg nur einmal gemacht, war es wohl leichter, ihn auch öfter zu machen; nur das erstmalige Eindrangen in das Schatzhaus erforderte gründliche Beratschlagung, große Vorsicht, denn möglicherweise konnte der ganze Plan vernichtet werden, wenn etwa Wachen die Gebäulichkeiten umlagerten. Daß ihr Leben dabei auf dem Spiele stand, verhehlten sie sich nicht, doch schien ihnen der Gedanke, mit diesen königlichen Reichtümern ihr Elend in glänzendes, unermeßliches Glück verwandeln zu können, wohl wert, auch das Leben an die Ausführung zu setzen. Endlich kamen sie dahin überein, Isaak solle sich, wenn ihm seine Arbeit es vergönne, vor allem einmal die Gebäulichkeiten beim Lichte des Tages ansehen, damit der Weg bei Nacht desto leichter zu finden sei. Der junge Mann schlich sich denn auch heimlich um Mittag von der Ziegelbrennerei weg, gelangte auch glücklich bis vor die Pylonen des Gebäudes, kehrte aber mit der betrübenden Nachricht zu seiner Schwester zurück, die Paläste würden von Kriegern Tag und Nacht bewacht. Rebekka ließ deshalb den Mut nicht sinken; sie wolle, sprach sie, am Tage der Ausführung des Werkes, die bewachenden Krieger dergestalt mit ihren Tänzen bestricken, daß sie vergessen sollten, zu welchem Zweck sie eigentlich vor der Pforte der Paläste stünden. Isaak war damit einverstanden. Tagsüber wurde ihm bei seiner Arbeit von den Aufsehern mehr wie sonst Zerstreutheit, Langsamkeit vorgeworfen. Das Kneten und Herausstechen der Lehmerde wollte ihm gar nicht recht gelingen; zuweilen sogar, wenn er einen Geißelhieb empfing, zuckte es wie Trotz um seine Züge, als wolle er sagen: »Wartet nur ab, bald werdet ihr vor mir zittern, wie ich jetzt vor euch, denn diesen nackten Leib umrauscht bald assyrisches Purpurgewebe, dieser schwielige Fuß ruht bald auf vergoldeter Sandale, dieser Mund, der jetzt schmutziges Wasser schlürft, hängt bald an äthiopischem Goldbecher und schlürft köstlichen Wein.« Mit ironischem Lächeln nahm er die Scheltworte in Empfang, musterte gleichmütig die stolzen Beamten, erlaubte sich zuweilen spitzige Reden und fügte sich mit verdrossenem Lachen den Befehlen. Einmal, als er sich ein wenig von der Arbeit erholte, zog er die Rolle hervor, um, wie er öfter tat, die Ratschläge des Vaters zu durchfliegen. Diese Unvorsichtigkeit wäre ihm beinahe schlecht bekommen; der Oberaufseher nämlich, der ihn beobachtet hatte, riß ihm das Blatt aus den Händen.
»Was liest der elende Ebräer?« schrie er, »Lesen ist Gift für euch; das macht euch klug, und wir können euch nur brauchen, wenn ihr wie die Tiere seid. Lesen die Hunde auch? Für jeden Buchstaben einen Geißelhieb; entblöße den Nacken.«
Isaak erbleichte; wenn des Wütenden Blick auf das Geschriebene fiel – er war verloren.
»Was ist das für ein erbärmliches Geschreibe,« höhnte der Beamte weiter, »laß mich es lesen –«
»Herr,« stammelte der verwirrte Jude endlich, »es sind – es sind Gebete!«
»Wie?«
»Ebräische Gebete, die Euch gewiß nur langweilen oder gar empören, gebt sie mir zurück.«
»Gebete?« lachte der Ägypter, »wirklich? O du frommer und getreuer Isaak.«
Schon entrollte der Aufseher das Blatt, schon begann er nach dem Anfang zu suchen; Isaak sah das Henkerbeil dicht an seinem Halse, er streckte die Hand krampfhaft nach dem Blatt aus; seiner wie zugeschnürten Kehle entrangen sich ächzende Laute.
»Es ist nicht zu entziffern,« sagte der Aufseher, und aus seinen Händen flog der Papyrus in das Feuer, welches sich in der Nähe befand, um allzu nasse Ziegel rascher zum Trocknen zu bringen.
Mit welch erleichtertem Herzen Isaaks Auge der Vernichtung des verhängnisvollen Schriftstücks folgte, läßt sich denken.
Als er gegen Abend zu Hause ankam, trat ihm Rebekka, ihre Erregung dämpfend, entgegen.
»Sieh, Isaak,« flüsterte sie, »mein Tanzen brachte nur an diesem Tag genug ein, um eine Laterne mit allseitigem Glasverschluß und diesen Dolch zu kaufen. Beides werden wir brauchen können, denn ich wünsche, daß du, sobald die Nacht über den Dächern von Memphis hängt, den gefahrvollen Gang nach dem Schatzhause wagst.«
Isaak erbleichte bei dieser Auseinandersetzung. Rebekka, als sie gewahrte, wie er die Ausführung gerne hinausgeschoben, versuchte zu lachen. Sie warf sich darauf an seinen Hals, liebkoste ihn, streichelte ihm die blassen Wangen und bat ihn, Mut zu fassen; sie wolle, sobald der Mond aufgegangen sei, sich an die Paläste heranschleichen, um dort die Wächter mit ihren Künsten zu umstricken; er solle sich, solange dies geschehe, im Schilf des Nil versteckt halten, bis sie ihn rufe.
»Mut, Brüderchen,« lächelte die Schlaue, »du zitterst, wie eine kranke Tänzerin, wie kannst du den Anblick der königlichen Kostbarkeiten ertragen? Ihr Anblick wird dir den Erstickungstod bringen. Sei feierlich und stille, wie ein ägyptischer Priester, wenn er sich vor seinem Steingott verbeugt. Schreite dumm und gleichmütig durch die Straßen, wie der Stier Apis, wenn er in Prozession umhergeführt wird, und lasse keine Seele ahnen, was du in deinem Busen für glühende Plane nährest. Übrigens werde ich den Dolch zu mir stecken, denn deinen zitternden Händen entfällt er, ich aber, die Biene, brauche den Stachel.«
»Glaubst du, ich sei so mutlos?« sagte Isaak, »wenn ich zittere, ist es vor Entzücken, vor Erwartung; alle meine Adern sind gespannt zu dem Werk, wie Bogensehnen.«
Darauf führte ihn Rebekka heiteren Sinnes vor einen reich mit Speisen besetzten Tisch, indem sie ihm erklärte, ein befriedigter Magen sei die Triebfeder jeder großen Tat, ein leerer Magen bedinge einen leeren Kopf, und Gott habe nur deshalb die Welt so schön schaffen können, weil er nie Hunger zu leiden brauchte. Sie habe mühsam genug Wein und Braten ersungen, aber er solle unbesorgt essen, sie würde vom Zusehen satt. Isaak fiel mit staunenswerter Geschicklichkeit über die Speisen her, indessen sie sich an seiner Gier ergötzte. Endlich machte sie ihn darauf aufmerksam, daß die Schüsseln geleert seien, und daß der Mond am Himmel stünde; es sei Zeit, zum geheimen Wagnis zu schreiten. Eben wollte Isaak die Laterne ergreifen, da pochte es heftig an die Türe. Ohne den Willkomm abzuwarten, schritt ein königlicher Beamter, angetan mit dem gestreiften Kopftuch, ins Zimmer, indem er eine Papyrusrolle entfaltete und dieselbe den beiden Erschrockenen, die schon an Gefangennahme dachten, vorhielt.
»Lest,« sagte er kurz, »habt ihr verstanden? Was steht das Judengesindel und starrt mich an, als sei ich eine dem Grabmal entstiegene Mumie?«
Rebekka gewann zuerst wieder die Sicherheit ihrer Sinne. Sie überflog das Blatt und sprach darauf zu Isaak, während der Beamte die Rolle einsteckte: »Es ist allen Juden verboten, so kündet dieses Blatt, heute und morgen ihre Wohnungen zu verlassen, weil Ramses, der Sohn der Sonne, siegreich zurückkehrt aus der Feldschlacht gegen die Chetas.«
»Ja,« sagte der Beamte, »eure Gegenwart soll den festlichen Aufzug nicht entweihen, ihr Schakale. Aber einen Kuß könntest du mir doch reichen, Jüdin, du bist verflucht hübsch; so malen sie die Göttin Isis holdlächelnd auf die Wände des Tempels. Komm, kleine, weiße Schilfschlange, laß dich fangen.«
Rebekka wehrte lachend ab, während sich der derbe, braunrote Ägypter, von Begierde entzündet, wild an sie schmiegte, reiche Belohnung bietend. Bald kamen noch einige Ägypter, brachten Wein und stritten sich um den Besitz der Jüdin. Isaak suchte ärgerlich sein Lager; dies Hindernis kam ihm sehr ungelegen; er sann darüber nach, ob er es vielleicht umgehen könnte, während die lebenslustigen Zechgenossen Rebekka in ein Nebengemach zogen, aus welchem bald Gesang und Gelächter das stille Haus durchtobten.
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Menes hatte indes keinen Tag vorübergehen lassen, ohne eifrig danach zu trachten, mit dem Mädchen auf irgendeine Art, an irgendeinem Ort wieder zusammenzutreffen; leider lange erfolglos. Eine glühende, verzehrende Sehnsucht bemächtigte sich seines träumerischen Gemüts; die Abwesenheit ihrer Gestalt hielt seine Phantasie in beständiger Spannung; im wachen Traume sah er sie vor sich; auf den Straßen ließ er kein Gesicht an sich vorüber, ohne es beobachtet zu haben. Es wurde ihm klar, daß sie ihn absichtlich mied. Eines Morgens war er, eine halbe Stunde oberhalb Memphis, am Nil auf und ab gewandelt, um ein astrologisches Werk zu studieren. Der Ort war still; rings vom hohen Schilfe eingerahmt, war er wie gemacht zum heimlichen Studierzimmer. Das Geflügel im Schilf plauderte in der Ferne, die Frösche sangen ihr eintöniges Lied herüber, das stille Leben der Wassertiere bot Anlaß zu manchen sinnigen Betrachtungen. Sollte man, sagte er zu sich selbst, nicht glauben, wenn man das behagliche Treiben dieser kleinen Geschöpfe im goldglänzenden Wasser beobachtet, es fehle ihnen nichts, sie seien völlig glücklich! Und doch lauert auf jedes dieser Wesen schon ein anderes, welches seiner zur Nahrung bedarf. Keines dieser Geschöpfe ist seines Daseins sicher, ihr Leben ist nur eine Galgenfrist, viele dieser Tiere entstehen nur, um größeren zur Speise zu dienen. Ein solches Stückchen Uferschilf ist ein verkleinertes Bild des Menschenlebens. Menes hatte sich eben niedergelassen, eine Schnecke vor den Bissen eines wurmartigen Weichtiers zu retten, als ein nicht sehr entfernter Schrei an sein Ohr schlug. Rasch sprang er auf. Das war ein menschlicher Schrei! Wer konnte hier in der Nähe sein? Vielleicht ein wasserschöpfendes Weib, das von einem Krokodil überrascht wurde? Doch Krokodile ließen sich in solcher Nähe der Stadt kaum mehr sehen. Er lauschte gespannt; der Schrei wiederholte sich nicht; brütende Sonnenhitze lag auf dem entfernteren, blitzenden Nil, leise säuselte das Rohr. Hatte er sich getäuscht? War es eine Vogelstimme gewesen? Er bog um ein dichtes Schilfgestrüpp, hielt die Hand vor das sonngeblendete Auge und gewahrte im Rohr, wie in einem Gitterwerk, zu seiner größten Überraschung eine Gestalt. Diese Gestalt stand aufrecht mitten im Wasser; ihr Haupt hing, von einem Tuche bedeckt, auf die Brust herab wie geknickt; ihre Füße verschwanden unter den Wellen; so stand sie, wie eine steinerne Göttin. Ja, es war ein Weib, das dort stand und rätselhafterweise nicht untersank. Er bog das Schilf völlig zurück – bei allen Göttern! war sie es? sie! die er suchte und nicht fand? Myrrah! Und in welcher Lage befand sie sich! Was wollte sie hier? Seine Brust hob sich gewaltsam, er trat bis dicht an das Wasser heran und rief hinüber: »Myrrah! was beginnst du? Wie kommst du hierher.« Sobald diese Worte verklungen waren, zuckte es sichtlich über die Züge des Mädchens, es duckte das Köpfchen noch tiefer herab und machte eine abwehrende Bewegung. Nun erst, als diese Bewegung den Körper des Mädchens und das sie umgebende Wasser erzittern machte, gewahrte Menes, daß sie auf einem schwimmenden Baumstamm stand, der sich langsam über die Flut erhob und einige grünliche Äste zeigte. Hatte sie freiwillig diese gefahrvolle Stütze gesucht? Oder hatte ihr der Stamm als Rettungsmittel gedient? Aber warum bemüht sie sich nicht, den Baum ans Ufer zu ziehen? Das hätte sie leicht vermocht, Gebüsche boten sich allenthalben.
»Ich will dir helfen, das Ufer zu gewinnen,« rief er hinüber. Rasch knüpfte er mehrere lange Binsen aneinander und warf dies künstliche Seil auf den Stamm, der bis jetzt noch kaum zehn Schritte vom Lande entfernt war.
»Fasse das Ende, so kann ich dich herüberziehen,« rief er erfreut, ihr diesen kleinen Dienst leisten zu können. Aber wie lähmte ihn das Erstaunen, da sie sich keineswegs nach den Binsen bückte, sie zu fassen! Sie fielen neben ihr nieder, sie blieb bewegungslos.
»Tue mir die Freundschaft,« sagte er, »und fasse das Seil, ehe der Baum weiter in den Fluß hineinschwimmt.« Sie blieb teilnahmlos mit gesenktem Haupte stehen.
»Was ist mit ihr geschehen,« murmelte der Erschrockene. Sie schien völlig bei Bewußtsein und dennoch glich sie eher einer Toten als einer Lebenden. Er wiederholte seine Bitte, sie möge das Tau fassen, dringender; schließlich, als er bemerkte, daß der Stamm leise dem Binsenseil entfloh, schrie er sie in heller Verzweiflung an; ja, er gebrauchte sogar zornige Worte, tadelte ihren Leichtsinn, beschwor sie, es sei ihre Pflicht, sich ihm zu retten. Alles umsonst, nichts machte einen Eindruck auf die Unglückliche. Plötzlich ließ sich rechts im Schilf ein eigenes Rauschen vernehmen; unheimlich knisterten die Halme, zuweilen knirschten die Steine oder Äste, als schleppe sich ein schwerfälliger Gegenstand über sie hin. Menes zuckte zusammen, seine Lippen wurden blau, er rang unwillkürlich die Hände – denn durch das Gestrüpp glänzte und bewegte es sich grün. Der grüne Koloß kam näher, seine Schuppen regten sich geschmeidig; Menes' Auge hing verzweiflungsvoll bald an der zarten Gestalt Myrrah's, bald an diesem furchtbaren Wasserbewohner, der Menschenfleisch witternd herankroch, seinen warzigen Eidechsenschwanz gemächlich durch die sich beugenden Halme nachschleifend.
»Du bist verloren – ein Krokodil,« mehr vermochte er nicht hervorzustammeln. Sie sank immer mehr in sich zusammen und verhüllte ihr Haupt im Schoße, wie es schien, gefaßt dem Entsetzlichen entgegensehend, auf welches sie wohl gewartet hatte. Da erhob sie sich noch einmal zur Hälfte, reckte ihre Hand wie dankend gegen Menes aus und sank darauf in die vorige Stellung zurück. Menes stand anfangs wie gelähmt. Was sollte er von Myrrah denken? War das nicht das Benehmen einer Wahnsinnigen? Wenn es nicht Wahnsinn war, was ihm da gegenüberstand, so war es nichts anderes, als der feste Entschluß, zu sterben; dieser leuchtete aus ihren schmerzlichen Augen, dieser drückte sich durch ihr Betragen aus. »Aber sie soll nicht sterben,« tönte es in seinem Inneren. Noch war das Untier ziemlich entfernt, noch war Rettung möglich. Wie von Sinnen riß er das Binsenseil aus der Flut zurück, knüpfte eine Schlinge aus dessen Ende und schleuderte es noch einmal in das Geäst des schwimmenden Stammes. O, ihr Götter! laßt es dort haften! laßt die Schlinge fassen! betete er, das Leben zweier Menschen hängt an diesem Seil, denn ihr Tod ist auch der meine. Er zog. Wahrlich! die Götter waren gnädig! der Stamm bewegte sich, die Schlinge hatte gefaßt. Aber das Seil war schwach; er bemerkte, wie sich die einzelnen Binsen voneinander lösten, er wollte es übersehen; nur ziehen, ziehen, ehe sich der zähnestarrende Rachen des Ungetüms näherte; es muß gelingen, die Götter werden den dünnen Binsen Eisenfestigkeit verleihen. Langsam schwamm der Baum näher; das Krokodil im Röhricht wurde immer deutlicher sichtbar, es schien nicht geneigt, sich seine Beute entgehen zu lassen. Menes schleuderte Blicke auf dasselbe, als seien diese imstande, es zu vernichten. Jetzt endlich stieß der Stamm ans Land, zitternd hob er die Hingesunkene empor und trug sie auf seinen Armen im rascheste Lauf eine Strecke weit vom Ufer hinweg. Dort, außer dem Bereich des Tieres, ließ er sie am Fuß eines Hügels nieder, beugte sich über die völlig Erschöpfte und rief sie zärtlich beim Namen. Als sie hierauf keine Antwort gab, sondern ihr Haupt krampfhaft auf die Brust preßte, wagte er es, dasselbe langsam in die Höhe zu heben. Kaum hatte er sie berührt, so schnellte sie empor; ein bitterer Ausdruck spielte schmerzlich über ihre bleichen Züge.
»Du hast mich gerettet,« sprach sie rauh, »warum tatest du dies? Hab' ich dich gerufen? Hab' ich deine Hilfe in Anspruch nehmen wollen? Nein.«
»Myrrah, sprich nicht so verstört,« sagte er mit zitternder Stimme, indes sein Auge sich mit Tränen füllte.
»Wie bist du verwandelt – hassest du mich denn?«
»Ich dich hassen?« frug sie tonlos, wie im Traum.
»Ja, es scheint, du hassest mich.«
»Und wenn es so wäre –«
»Myrrah – du – o ihr Götter –«
»Sei ruhig,« lispelte sie, »du verstehst mich falsch – ich hasse dich nicht, sondern ich müßte dich hassen.«
»Warum suchst du den Tod, Unglückselige?«
»Eben weil ich dich hassen muß,« klang es kaum hörbar aus ihrem Munde.
Dann lächelte sie seltsam.
»Was kümmert es dich,« lächelte sie, »sei fröhlich mit deinen Zechgenossen, erzähle ihnen, wie du ein armes Mädchen zum Narren gehabt; das wird sie erheitern, besonders wenn du sagst, es sei eine Jüdin gewesen. Sei wie die übrigen; beschimpfe mich doch, das ist bei weitem klüger. Hörst du?«
Darauf eilte sie mit fliegenden Schritten von dannen, Menes in einem Zustand völliger Trostlosigkeit, tiefster Bestürzung zurücklassend. Sein Geist war ihm wie gelähmt; schwankend, einem Trunkenen ähnlich, folgte er der Fliehenden.
Als er einige Tage später das Haus Myrrahs aufsuchte, um sich Aufklärung über ihr seltsames Benehmen zu holen, sagten ihm die Bewohner desselben, Myrrah habe das Haus verlassen, kein Mensch wisse, wohin sie sich gewendet.