Читать книгу Ein Anti-Heimat-Roman - Willi Bredemeier - Страница 5
2. Kapitel
1943 - 2013
1000 tote Geschichten von der Liebe zum Land
ОглавлениеVom Land, wie ich es einst kennen gelernt habe, sind nur tausend tote Geschichten übrig geblieben. Von Grotebühl werden nur der Name und ein Punkt auf der Landkarte weiter geführt. Ich wollte nie zurück, aber 2013 reitet mich der Teufel. Ich fahre dorthin.
Grotebühl hat sich politisch und wirtschaftlich zu einer Vorstadt von Brackenberg, kulturell zu einer alle Grenzen überwindenden Gemeinschaft, bestehend aus den Zuhörern von RTL und SAT1, entwickelt. Wenn ich mich mit dem Wagen beeile, kann ich dort in zwei Stunden physisch präsent sein. Der Flughafen Hannover ist nicht so weit entfernt, dass ich nicht binnen 24 Stunden überall auf der Welt meinen Auftritt haben könnte, nachdem ich meine Vortragsfolien in letzter Minute auf einem Zwischenstopp am Großen Moor rekombiniert und rekonfiguriert habe. In Grotebühl haben sich neuerdings Planungsbüros, Unternehmensberatungen, Werbeagenturen, Praxen für alternative Medizin und Kunsthandwerker niedergelassen. Die sich allmählich entfaltende Gastronomie hat sich dank der Entwicklungshilfe italienischer und griechischer Unternehmer gegen beharrliche norddeutsche Widerstände fast normalisiert. Es gibt keine Bauernhöfe und keine Landwirtschaft mehr, allenfalls industrialisierte Milchfabriken fast ohne Betreiber.
Soweit die neuen Dienstleister die Bauernhöfe übernommen haben, halten sie am Prinzip der Musealisierung fest. Es wird wichtig, ob die Milchkannen früher rot angestrichen waren oder metallisch glänzten. Folklore ist zu einem Wirtschaftsfaktor geworden und wird mit Kultur gleichgesetzt. Aber sie muss, so entnehme ich den geleckten Broschüren, die mittlerweile sogar Grotebühl erreicht haben, wahr und authentisch sein. „Wir sollten uns noch einmal diese Kennzahl ansehen“, sagt der Unternehmensberater, während er mit seinem Kunden über die Deele schreitet und nebenbei einen Rhythmus auf eine der herumstehenden Milchkannen trommelt. „Schön haben Sie es hier“, sagt der Kunde. „Diese historisierten Bauernhöfe lassen sich erstaunlich gut refinanzieren“, sagt der Berater und legt ihm geeignete Anlagemodelle dar.
Die Gemeinde Grotebühl hat sich in ein Potemkinsches Dorf verwandelt. Sie gibt vor, etwas zu sein, was sie seit langem nicht mehr ist. Ich steige aus dem Wagen und umrunde den Marktplatz. Als ich woanders hinfahren will, wo mich keine Erinnerungen plagen, werde ich von einem Mann meines Alters angesprochen. „Sech mol“, sagt er, „biss du nicht Mörkers Gerd?“ Ich sage, der sei ich gewesen. „Ja, kennsse mich nicht mehr?“ fragt der Mann. „Ick bin der Walter, dien Cousin.“ „Mensch, Walter“, sage ich und tue, als ob ich ihn wieder erkenne.
Für heute abend hat die Volkshochschule zu einem Fernsehabend mit anschließender Diskussion eingeladen. Die Männer kommen auch zu den Abenden, aber erst, seit ihnen Schluck eingeschenkt wird. Ich möge auch kommen, sagt Walter und zählt auf Anhieb drei weitere meiner Cousins auf, die gleichfalls kommen dürften. "Was, nur drei meiner Vettern?" frage ich zurück. "Er kürnt uk mehr würn", sagt Walter. "Et sünd ower uk schon feerle doode" Gemeinsam wollen wir auf Desperate Housewives und Sex and the City schauen. Anschließend wird mit der stellvertretenden Vorsitzenden der Volkshochschule Brackenberg über die Not in den Suburbs und den Metropolen diskutiert.
Heidi Klum und Dieter Bohlen wurden gleichfalls auf den Sitzungen zur Programmplanung der VHS Brackenberg als des Ansehens und der anschließenden Diskussionen für würdig vorgeschlagen. Das hat die stellvertretende VHS-Direktorin aus Qualitätsgründen abgelehnt. Die nicht ganz so anspruchsvollen Programme sollte man sich besser direkt auf den früheren Höfen ansehen.
*
Wir sind auf dem Hof angekommen, das sind mein Vater, meine Schwester und ich. Die Betreiber des Hofes haben sich am Hauseingang aufgestellt. Das sind meine Tante, mein Onkel und die jüngere Tochter. Die ältere Tochter befindet sich auf einem der größeren Höfe in einer Nachbargemeinde in Stellung. Das jüngste Kind, ein Junge, ist seit Jahren im Krieg. Der schwarze Hund neben meinem Onkel ist einen halben Kopf größer als ich. Er hechelt, als habe er ein Rennen hinter sich gebracht. Er sieht zum Fürchten aus, aber nur für Menschen, die älter als drei Jahre sind. Es zuckt in seinem Schwanz, während er mich anschaut. Ich gehe dem Hund mehrere Schritte entgegen und kommuniziere mit ihm auf vegetativer Ebene. „Datt issn Hund for die, watt?“ fragt meine Tante.
Als eine unter drei Schwestern hat meine Tante den kleinsten Hof abbekommen. Als einzige hat sie sich spontan bereit erklärt, die Kinder ihres Bruders aus dem Ruhrgebiet aufzunehmen. Das rechnet ihr mein Vater hoch an. Meine Tante hat ihr Versprechen voreilig abgegeben. Daher muss sie meinen Onkel im Nachhinein beknien, damit dieser einverstanden sei. Mein Onkel macht nie viele Worte und sagt auch diesmal nur: „Ja.“
Ich lerne meine anderen Tanten väterlicherseits in den nächsten Monaten kennen. Sie kommen zu Besuch auf den Hof, kneifen mir in die Wange und sagen: „Du, du.“ Oder sie hocken zusammen und reden über mich: „Der arme Kleine ist erst drei Jahre alt. Aber er stapft tapfer einher.“ Ich werfe böse Blick um mich, als ich das höre. Ich stapfe keineswegs tapfer einher. Ich merke mir, dass sie meine Schwester übersehen.
Als es Abend geworden ist, stellt sich heraus, dass ich auf dem Hof übernachten soll. Meine Tante spricht in verschwörerischem Ton, als würde mir ein größeres Geschenk gemacht: „Heute nacht kriegst du ein eigenes Bett.“ Mein Vater sagt ähnlich: „Du wolltest doch immer dein eigenes Bett haben.“ Das ist alles nicht wahr. Ich wette, dass ich über den Tisch gezogen werden soll, und begreife dennoch nicht, wie mir geschieht. Zorn steigt in mir hoch und verflüchtigt sich.
Am nächsten Morgen stehe ich auf, ohne gerufen zu sein. Die Betreiber des Hofes sind längst aufgestanden, weil das Vieh zu früher Stunde versorgt werden muss. Mein Onkel und seine Tochter arbeiten auf den Feldern. Meine Schwester hat ein Mädchen kennen gelernt, das vielleicht ihre Freundin wird. Sie spielt mit ihm auf einem der benachbarten Höfe. Wo ist mein Vater? Ich warte, bis meine Tante von den Feldern zurückgekehrt ist. Sie erklärt mir, dass mein Vater am frühen Morgen ins Ruhrgebiet zurückgefahren ist. Ich setze mich an den Tisch und beginne zu weinen. Zwar nütze ich jeden Anlass, meinem Vater Widerstand zu leisten, aber hier und jetzt tue ich das nicht. „Deine Schwester kommt gleich wieder“, sagt meine Tante. Er hat mich und meine Schwester zurückgelassen, denke ich und weine weiter. „Nu, nu“, sagt meine Tante. Sie sagt das in freundlichem Ton, so dass ich meiner Tante den Gefallen tue und still bin.
Meine Tante fragt mich, ob ich mit dem schwarzen Hund spielen möchte. Er sei im Stall und warte auf mich.
*
Die Landbevölkerung weist ihre Überlegenheit gegenüber den Städtern über einen Scherz nach. Diese wollen keine Butter von den Kühen. Sie wollen sie aus der Molkerei. So werden die Stadtmenschen als ignorant und anspruchsvoll wenn nicht frech hingestellt.
Meine Schwester ekelt sich bei dem Gedanken, etwas zu sich zu nehmen, was aus mächtigen ihr unheimlichen Kühen kommt. Sie will die Butter, nein, nicht aus der Molkerei, die sie nicht kennt, sondern aus dem Geschäft. Meine Tante weiß Rat. Sie geht in die Futterküche und kehrt mit einem guten Pfund weiterer Butter in die Wohnstube zurück. Diese Butter sieht zwar aus wie die von den Kühen, aber sie kommt, wie meine Tante weiß, aus dem Geschäft. Meine Schwester isst das Brot mit der Butter aus dem Geschäft. Mein Onkel, meine Tante und ihre älteste Tochter lächeln einander an. Es ist Besuch aus der ferneren Verwandtskopp gekommen. Die muss gleichfalls lachen.
Ich empöre mich. Finden sich unsere ländlichen Verwandten in den Städten zurecht? Mussten wir sie nicht an die Hand nehmen und ihnen erklären, was eine Straßenbahn ist? Wären sie nicht elend zugrunde gegangen, hätten wir sie auf dem Ostenhellweg zurückgelassen? Wut überwältigt mich. Erst hat man uns alles genommen und sich dann über uns lustig gemacht. Die Leute am Tisch sehen meinem Wutausbruch entgeistert zu. Wie schafft es ein Dreijähriger, so ungebärdig zu werden?
Wohl nehme ich wahr, dass ich den Grund meiner Wut nicht erklären kann. Also zeige ich auf die identischen Butterhaufen. „Das esse ich nicht“, schreie ich. Meine Tante weiß abermals Rat. „Das musst du nicht essen“, sagt sie auf hochdeutsch und streut Zucker auf mein Brot. „Honig esse ich auch nicht“, sage ich, weil ich unter diesen Umständen nicht daran denke, Kompromisse zu schließen. Das versteht auch keiner. „Äht man, äht“, sagt meine Tante und schiebt mir das Zuckerbrot zu. „Nöhdicht watt nich.“ Ich weiß, sie meint das nicht so. Sie würde mich immerdar nötigen, wenn ich nicht äße. Ich beruhige mich und beiße ins Brot. Dieser Kompromiss mit den Zuckerbroten wird mir in frühen Jahren viele Zähne kosten, aber das weiß ich jetzt nicht.
*
Meine Magenschmerzen bekomme ich, sobald ich aufs Land gezogen bin. Ich habe sie für meinen Geschmack viel zu oft. Es schadet nur, über meine Krankheit nachzudenken. Kaum fällt sie mir ein, fliegt sie mir zu. Es mag mittlerer Nachmittag sein, bis sich ein klarer Schmerz herauskristallisiert. Danach wird es jede Stunde schlimmer. Irgendwann gehe ich ins Bett. Meine Tante gibt mir eine Wärmflasche. Das lindert die Schmerzen. Mitten in der Nacht wache ich auf. Die Schmerzen sind unerträglich geworden. Manchmal holen mein Onkel und meine Tante mich zu sich ins Bett. Ich liege zwischen ihnen. Mein Onkel legt mir eine starke Hand auf den Magen, um ihn zu beruhigen. Ich schlafe entspannt ein.
In anderen Nächten ist es ganz anders. Meine Schmerzen streben ihrem Höhepunkt zu. Mir wird übel. Ich erbreche mich. Meine Tante hat mir einen Eimer hingestellt. Bis dahin schaffe ich es meistens. Danach bin ich erschöpft. Ich rolle mich zusammen und schlafe ein. Am nächsten Morgen stehe ich auf wackligen Beinen. Aber die Magenschmerzen sind bis zum nächsten Mal weg.
Als mein Vater zu Besuch kommt, werden meine Schmerzen nur nebenbei erwähnt. Krankheit ist auf dem Lande, was man haben kann und vorübergeht. Sie wird ungern gesehen, weil der Mensch zum Arbeiten auf die Welt gekommen ist und Simulieren verachtenswert ist. Man kann an einer Krankheit sterben, aber da muss man durch.
Mein Vater ist knappschaftsversichert und kostenfreie ärztliche Betreuung gewöhnt. Aber so schlimm schätzt er meine Schmerzen nicht ein, dass er mit mir zu seinem Knappschaftsarzt ins Ruhrgebiet fährt. Die Landbevölkerung ist nicht krankenversichert. Die Ärzte sind dünn über die Dörfer gesät und verlangen viel Geld. Meine Tante meint, dass es Ärzte gäbe, die nicht Bescheid wüssten. Diese Aussage ist so formuliert, dass sie nicht zu beanstanden ist. Das Gespräch mit meinem Vater bleibt offen. Als er ins Ruhrgebiet zurückgekehrt ist, wird nichts unternommen. Beiläufig erwähnt meine Tante ihre Schwiegermutter. Die ist fast siebzig und hat ihr Leben lang keinen Arzt gesehen.
Die Schwiegermutter ist zu Besuch gekommen. Sie kleidet sich wie alle älteren Frauen auf dem Lande in Schwarz. Wenn sie geht, weicht ihr Oberkörper zu mehr als dreißig Grad von ihrem Unterteil ab. Das kommt, weil sie sich zu lange beim Jäten der Rübenfelder gebückt hat.
Die Schwiegermutter hat sich auf einem Stuhl in der Futterküche unseres Hauses niedergelassen. Eine Hand hält sie auf ihren Stock. Mit der anderen Hand rührt sie den Muckefuck nicht an, den ihr meine Tante hingestellt hat. „Drink man, drink“, sagt meine Tante. „Nöhdicht watt nich.“ Aber die Schwiegermutter hat im Haus ihrer Schwiegertochter noch nie etwas getrunken. Mein Onkel kehrt von der Arbeit auf den Feldern nach Hause zurück. Er nickt seiner Mutter zu. Die Schwiegermutter bricht auf, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Ich stehe am Zaun und schaue hinter ihr her. Die Schwiegermutter steht zwischen dem zweiten und dritten Telegrafenmasten. Sie bewegt sich nicht. Ich spiele längere Zeit mit meinem Hund. Als ich zum Zaun zurückkehre, hat sie sich doch bewegt und den dritten Telegrafenmasten erreicht.
Kurz darauf stirbt sie. Ich bin zu klein, um ihr den Abschied zu geben, obgleich jede Beerdigung auf dem Land eine willkommene Abwechslung ist. „Als es zu Ende ging, wollte sie nicht mal mehr ihre beiden Söhne sehen“, sagt meine Tante.
*
Wider alle Erwartungen kehrt mein Vater wieder, wenngleich nur auf Besuch. Es kann Monate dauern, bis er sich abermals ein paar Tage freimachen kann. Aber irgendwann kommt er. Wenn mein Vater nicht selbst kommen kann, schickt er Pakete. Während anderswo in den deutschen Städten gehungert wird, werden den Bergleuten Care-Pakete zugeteilt. Der Bergmann muss etwas auf die Rippen bekommen, damit er weiter malochen und die deutsche Wirtschaft aus Ruinen auferstehen lassen kann.
Wir packen ein besonders großes Paket aus dem Ruhrgebiet aus. Wir stellen die Geschenke aus den Vereinigten Staaten auf den Tisch und schauen sie andächtig an. Alle diese fremdländischen Verpackungen, die wir nicht verstehen. Wir kapitulieren vor einer gigantischen geriffelten Wurzel in gelb. Der Tochter des Hauses, die in der Schule einiges aufgeschnappt hat, verkündet: „Das ist Mais.“ Wir wissen immer noch nicht, ob das Viehfutter ist oder wir das essen dürfen.
Mein Vater ist persönlich gekommen, um nach seinen Kindern zu sehen. Ich laufe ihm entgegen und treffe zwischen den dritten und vierten Telegrafenmasten auf ihn. Ich spreche meinen Vater auf Platt an. Mein Vater versteht mich, auch wenn ihn jedes meiner plattdeutschen Worte verlegen zu machen scheint.
Ich sitze mit meinem Vater und meiner Tante am Tisch. Wie bei anderen Anlässen bleibe ich unbeachtet. Auf dem Lande kommt man fast ohne Geld aus, sagt meine Tante, obgleich, ganz stimme das nicht. Überraschenderweise habe sich ergeben, dass sie für die beiden angenommenen Kinder Ausgaben gehabt haben. Dafür komme er selbstverständlich auf, sagt mein Vater. Das sei keineswegs mit seinen monatlichen Überweisungen von 35 Reichsmark abgegolten. Meine Tante sagt, sie wolle nicht mehr Geld, sondern nur sagen, was ist. Mein Vater holt Geld aus dem Beutel und drängt es der Tante auf. Meine Tante sagt, sie wolle kein zusätzliches Geld, aber sie lässt es rasch in ihrer Schürze verschwinden.
Mein Onkel kommt vom Feld und setzt sich zu uns an den Tisch. Die Stimmen werden lauter, als befände man sich unmittelbar vor einem Streit. Ihre Worte wandeln sich zu einer Anklage gegen meinen Vater. Ich begreife, dass von meiner Mamma die Rede ist, aber sonst verstehe ich nichts. Das Gesicht meines Vaters ist von Schmerzen verzerrt. Er sagt: „Sie sagen mir nicht einmal, wo sie begraben liegt.“ Ich laufe nach draußen. Ich habe mir vor einiger Zeit im Garten ein Plätzchen zurecht gemacht. Dort kann ich kaum gefunden werden, weil mich die Rhabarberblätter verdecken. Ich versuche, auf das nächste Rhabarberblatt zu spucken. Das fällt mir leicht, weil Rhabarberblätter sehr groß sind. Zwischendurch weine ich und weiß nicht warum. Nach einiger Zeit gehe ich ins Haus zurück. Ich werde übertrieben freundlich empfangen. Aha, denke ich. Diesmal haben alle gemerkt, dass ich dabei war, als sie sich stritten.
Die Freundin meiner Schwester ist zum Spielen auf unseren Hof gekommen. Als sie mich durch das Fenster sehen, halten sie ein und schneiden mir Grimassen. Wut kommt in mir hoch und lässt sich nicht stoppen. Ich balle die Faust und schlage sie durch die Fensterscheibe. Blut läuft aus der linken Hand. Mein Vater schlägt mir ins Gesicht. Ich sehe ihn an und denke, dieser Mann kann halt nicht anders. Ich bin eine Weile weg. Als ich wieder zu mir komme, haben sie mir die Glassplitter aus der Wunde gezogen. Mein Vater fragt die anderen: „Hat er das öfter?“ „Das kommt ab und an vor“, sagt meine Tante auf Hochdeutsch. „Aber er kommt immer wieder zu sich.“ „Hattest du etwas?“ fragt mich mein Vater. „Was hattest du nur?“ „Weit ick nech“, sage ich. Selbst wenn ich es wüsste, würde ich nichts sagen, weil er mich geschlagen hat.
Meine Schwester wird ernsthaft gescholten, aber erst, nachdem ihre Freundin nach Hause gegangen ist. Sie habe mich grundlos geärgert, behauptet meine Tante. „Jetzt kiek up das kaputte Fenster“, sagt sie. Wäre ich nicht wütend gewesen, hätte ich meine Schwester verteidigt. Immerhin verstehe ich sie. Sie wollte sich vor ihrer Freundin in Szene setzen. Mädchen müssen so sein, weil sie sich vor ihren Freundinnen fürchten.
*
Ist es wahr, frage ich meinen Vater anlässlich eines seiner Besuche. Wir sind spazieren gegangen. Mein Vater versucht, meine Fragen zu beantworten, aber er verliert häufig den Faden. Wenn wir nichts sagen, stapfen wir schweigend daher. Wir kehren in die Gaststätte des Zentrums von Grotebühl ein. Neben der Kneipe steht eine Kolonialwarenhandlung. Die Wirtschaft bietet ausschließlich Bier und Schnaps an. Mein Vater bestellt mir das erste Bier meines Lebens. Ich versuche des widerlichen Gesöffs Herr zu werden, indem ich mir ausschließlich den Schaum hereinziehe. Wie immer ich mich abmühe, zu viel bleibt von der ekligen Brühe zurück.
Ich habe gelernt, dass man nicht wütend sein darf, und wenn doch, einen Grund für seine Wut haben sollte. Diesmal habe ich mir für einen Zorn einen entlegenen Anlass gewählt. Es gibt Leute, die versuchen, meinen Hund schlecht zu reden. Die Rassehundevereine züchten immer einseitigere Merkmale in die Hunde, bis sie zur Zirkusattraktion werden. Ist das wahr, frage ich. Sie züchten ausschließlich nach dem Aussehen und nicht nach dem Charakter? Die überkandidelten Hunde sind von Geburt an so traumatisiert, dass sie nach der Möglichkeit hündischer Erkenntnis und dem Sinn ihres Lebens fragen? „Trink dein Bier aus“, sagt mein Vater. „Oder bist du angetrunken?“
Auf dem Lande werden Hunde aus großen Würfen verschenkt. Anders als wir haben sie alle ein unersättliches Bedürfnis nach Liebe. Mein Hund ist in Teilen ein Wolfsblut. Ansonsten ist er ein Mischling. Er kann den Hof bewachen und Schafherden umrunden. Es gibt keinen besseren Gefährten als ihn. Mein Hund und ich haben sich, kaum dass wir uns sahen, füreinander entschieden. Seitdem bleckt er die Zähne und beginnt leise zu knurren, sobald einer lauter mit mir spricht. Seine Haare sträuben sich, wenn man weiter mit mir redet. Das ängstigt die Menschen, so dass sie aufhören, mich zurechtzuweisen. Wenn mein Onkel mir etwas zu sagen hat, sperrt er den Hund zuvor in den Kuhstall. Bald beginnt mein Hund an der Stalltür zu kratzen und zu jaulen, weil er einen sechsten Sinn dafür hat, wann er mir beistehen soll.
Gemeinsam mit meinem Hund erobere ich die Welt. Wenn mein Hund und ich an einem der Höfe vorbei kommen, rufe ich: „Meuen.“ Mein Hund sagt auch: „Meuen“. Aber ihn hören die Nachbarn nicht. Die Nachbarn sagen: „Kiek mal, de Lütge.“ Oder sie fragen einander: „Ist dat Mürkers Gerd?“ Oder sie rufen mir zu: „Bisse am Spazeien?“ Nur unser nächster Nachbar, Heinrich Dürkopp, tippt sich an die Stirn, wenn ich vorbeikomme. Dieser Mann ist ein Enkel des alten Dürkopp. Mittlerweile wird er selbst der alte Dürkopp genannt. Er ist so unbeliebt ist wie seinerzeit sein Großvater, auch weil er die Kirche verspottet. So sagt er: "Ich glaube nur, was ich sehen und anfassen kann.“.
Dürkopp hat einen Sohn, der allgemein Bubi genannt wird, weil ihn seine Mutter im Kleinkindalter so rief. Bubi Dürkopp ist ein Jahr älter als ich und zwei Köpfe größer. Jeder unserer Versuche, miteinander zu spielen, endet damit, dass er mich verprügelt. Wenn ich mit meinem Hund vorbeigehe, kommt Bubi Dürkopp nicht aus dem Haus. Sogar der Bauer hat sich bis zu seiner Scheune zurückgezogen. Er beobachtet uns finster. Aber komme ich ohne Hund, lehnt Bubi Dürkopp hinter dem Zaun und fragt: „Wutte speerln?“ Neuerdings finden Bubi und ich wenig Zeit zum Spielen, weil der alte Dürkopp mir jedesmal Arbeiten auf seinem Hof zu verrichten gibt, um mich von seinem Haus fernzuhalten. Der Alte mag keine Kinder, nicht einmal den eigenen Sohn.
Die Dürkopps haben wie wir einen Hund. Das hätte ein guter Hund werden können, meint mein Onkel. Dazu schüttelt er den Kopf. Das ist das Äußerste, was er gegen einen Nachbarn zu sagen bereit ist. Nach der Arbeit des Tages kümmert sich der alte Dürkopp um seinen Hund, indem er ihn auspeitscht. Oder er setzt sich mit seinem Hund vor dem Hauseingang und quält ihn an den Geschlechtsteilen. Wenn der Hund seinen Schmerz herausjault, hört man ihn auf allen benachbarten Höfen im Brauk.
Links vom Dürkopp´schen Hof liegt der Brökelsiep`sche Hof. Der alte Brökelsiep ist ein freundlicher Bauer. Wenn ich an seinem Hof vorbeikomme, ruft er: „Bisse am Spazeien?“ Jetzt steht er hinter dem Zaun und hört zu, wie der alte Dürkopp seinen Hund foltert. Er geht ins Haus und wird an diesem Abend nicht mehr herauskommen.
Mein Hund und ich gehen dennoch in den Busk. Als wir aus dem Waldstück heraustreten, haben wir keine Hexen gefunden. Man möchte nicht, schließe ich, dass ich das Waldstück betrete, weil man uns in diesem Fall nicht von weitem über die Norddeutsche Tiefebene beobachten kann.
Auf dem Hof gibt man mir freiere Hand als früher den eigenen Kindern. Gegebenenfalls denken die Leute an meinen Hund. Auch fürchten sie meine Wut. Meine Schwester wird hingegen zur Arbeit herangezogen. Allerdings ist sie sieben Jahre älter als ich. Für was wäre ein Mädchen nütze, wenn es nicht arbeitet?
Mit den Hexen ist es ähnlich wie um den Weihnachtsmann bestellt, behauptet Bubi Dürkopp. Es gäbe sie beide nicht. „Ich will das nicht hören“, sage ich. Damit spreche ich ein erstes Mal aus, dass die schönere Geschichte die wahre sein könnte.
Ich sitze auf dem Boden mit etwas Spielzeug um mich herum. Als mein Cousin auf unserem Hof auf Fronturlaub war, hat er mir einen Panzer aus Holz geschnitzt.
Die alte Brökelsiep ist gekommen, um Klatsch zu verbreiten. Meine Tante zählt ihr auf, wer den Kindern bei uns was zu Weihnachten geschenkt hat. In meinem ersten Jahr in der Fremde hat mich nicht nur mein Vater beschenkt. Auch ein Teil der entfernteren Verwandtschaft hat mir Süßigkeiten und Spielsachen mitgebracht, weil ihnen ein mutterloser Junge von drei Jahren so was von leid getan hat. Ein Jahr weiter, und meine Verwandtschaft wird zu ihrer üblichen Knauserigkeit zurückfinden. Ich breche in Tränen aus, weil am Ende nichts übrigbleibt, was mir der Weihnachtsmann mitgebracht haben könnte. „Bin ick overhaupt nicht brav wähn?“ frage ich. Meine Tante nimmt mich ausnahmsweise in die Arme. „Junge, Junge“, sagt sie und hört rasch mit dem Tätscheln auf, „musse jümmer tauhörn?“
*
Ich gehe mit meinem Hund über Wiesen und Weiden. Wir kriechen unter Stacheldrähten hindurch. Der Draht grenzt die Wiesen nach Eigentumsverhältnissen ab. Manchmal jage ich mit meinem Hund grasende Kühe. Diese sind phlegmatisch und haben gelegentlich eine Aufmunterung verdient. Dann müssen wir selbst laufen, weil wir von einem Bauern mit erhobener Mistgabel gejagt werden. Wir kriechen unter weiteren Stacheldrähten hindurch. Vor uns liegt ein kleineres Waldstück. Als wir es betreten, fliegen Vögel auf. Wollen wir noch einmal in den Busk gehen, frage ich. Wuff, behauptet mein Hund. Hexen gibt es nicht.
Jenseits des Waldstücks kringelt sich ein Fluss. Wir gehen das Ufer entlang, bis wir an den Stau kommen. Dort ist das Wasser so tief, dass es über meine Brustwarzen reicht. Als ein neuer Sommer gekommen ist, weigert sich mein Hund, mit mir im Wasser zu spielen. Ich gebiete meinem Hund, sich ans Ufer zu stellen. Der Hund zögert. Eher er es sich versieht, habe ich ihn ins Wasser gestoßen. Mein Hund lässt das Wasser mächtig platschen, während er durch den Fluss schwimmt. Als er wieder Boden unter den Füßen hat, schüttelt er sich. Millionen Tröpfchen sprühen nach allen Seiten. Sie gleiten zusammen, steigen empor und bilden den Regenbogen. „Vertell düsse Geschichten nich“, sagt meine Tante. „De Lüe glöm, datte verrückt biss.“ „Und watt is mit dienen Geschichten vom Wiehnachtsmann?“ frage ich. "Und mit Gott?" „Frooch dienen Fodder“, sagt meine Tante.
Mein Hund weigert sich fortan, mit mir an den Rand des Flusses zu gehen. Alles macht er doch nicht, was ich ihm sage. Ich gehe mit meinem Hund über unseren Hof. Hier leben viele Tiere. Mein Hund und ich kommunizieren mit ihnen auf einer vegetativen Ebene.
Die Schweine sind an Gesprächen mit uns nicht interessiert. Hinter ihrer durch gezielte Verfettung bewirkte Lethargie lauert die Wildheit. Sie wissen, wir wollen sie fressen. Sie würden uns gleichfalls gern essen, kämen sie nur aus ihren Ställen heraus. Wenn die Schweine abgefüttert sind, beruhigen sie sich. Sie drehen sich im Schlaf auf die Seite und träumen von Animal Farm.
Die Kühe haben zu tun, ihre sieben Mägen mit Gräsern zu füllen. Das beschäftigt sie derart, dass sie in allen Zusammenhängen sanftmütig sind. Was immer wir sagen, sie wären einverstanden. Wenn sie einen Gedanken fassen und loslassen, mag ein halber Tag vergangen sein. Die Ochsen haben Temperament gezeigt, bis die Menschen sie kastriert haben. Jetzt denken sie traurig daran, was sie in ihrem Leben verpassen mögen.
Hühner, Enten und Gänse leben in eng gestrickten sozialen Gemeinschaften. Daher ist kommunikativ immer was bei ihnen los. Sie machen aus dem kleinsten Korn ein riesiges Heckmeck. Wenn sie sich kurzzeitig mit ihren Flügeln erheben, erkennen sie für einen Augenblick, dass es eine Welt außerhalb des Hühnerhofes gibt, um es gleich zu vergessen. Der Hahn stolziert auf dem Hof einher, bis die Hennen zu gackern beginnen und die Bauersfrau die Fenster schließt, während ihr eine Idee zur Gestaltung der nächsten Nacht kommt. Derweil sagt ein Bauer zum anderen: Was haben uns die Hühner heute zu sagen? Entweder ändert sich das Wetter oder es bleibt wie es ist.
Die Katze verfügt unter allen Tieren über das differenzierteste sprachliche Vermögen. Andererseits ist sie das asozialste aller Tiere und missachtet ihr eigenes sprachliches Talent. Der Katze ist an Plaudereien mit uns allenfalls zu ihren Bedingungen gelegen. Ihre Symbiose mit den Menschen stellt sich ihr als Herablassung dar. Unsere Katze verachtet die Hunde noch mehr als die Menschen, weil diese von der Liebe der Menschen abhängig sind. Die Katze liebt nicht einmal andere Katzen. Allenfalls liebt sie, das sagt sie, während sich ihre Schnurrbarthaare sträuben, unterschiedslosen Sex.
Mein Hund schaut genierlich zur Seite. Er glaubt zu wissen, dass etwas verlorenginge, wenn Liebe auf Sex reduziert wird und es das romantische Schmachten unter Hunden nicht gäbe. Ich kann das für meinen Hund bestätigen. Wenn mein Hund in den Nächten der Brunftzeit zu den Nachbarhöfen läuft, geht jedem Koitus ein Tohuwabohu aus unendlich komplizierten Annäherungen zu Hündinnen, Abdrängungen von ihnen und Interaktionen voraus. „Du fängst vielleicht Mäuse“, sage ich der Katze. „Aber sonst kannst du nichts.“ „Ich würde mich vom alten Dürkopp nicht auspeitschen lassen“, sagt die Katze und schleicht mit erhobenem Schwanz davon. „Er würde mich nicht einmal finden.“
Die Mutter der gerade geborenen Lämmer stirbt, weil sich unser Hof einen Tierarzt bei Schafen nicht leisten kann. Die Lämmer vermissen ihre Mutter. Sie stehen mit wackeligen Beinen auf einer Wiese. Sogar die Erwachsenen zeigen beim Anblick der Lämmer Gefühle. Sie rufen: „Kiek mol, dee lütgen Biesta.“ Mein Onkel baut um die Lämmer einen Holzzaun. Wir ziehen sie mit der Flasche groß. Ich darf den Lämmern die Fläschchen halten. Mein Hund umrundet sie, um zu zeigen, dass er für sie da ist. Die Gedanken der Lämmer sind wuschelig-wolkig. Sie lassen sich nicht verbalisieren. Die Lämmer verstehen nicht, was wir sagen. Aber sie freuen sich über unseren freundlichen Ton. Ich sage zu ihnen: „Och, och.“
Der Pferdehändler kommt mit dem Fahrrad vorbei. So wird er genannt, obgleich er mittlerweile mehr Schweine als Pferde verkauft. Wir trauen ihm nicht, aber es führt kein Weg an ihm vorbei. Die Lämmer haben Pfunde angesetzt und für den Händler an Wert gewonnen, zumal in den Städten gern Lammfleisch gegessen wird. „Ich mache euch einen anständigen Preis“, sagt der Händler. Gestern sind wir alle am Rande des Moores gewesen und haben die Entwässerungsarbeiten für dieses Jahr abgeschlossen. Das wird einige Jahre dauern, bis aus diesem Sumpf eine Wiese geworden ist. Ich gehe zu meinem Hund. „Geh zu unserem Stück Land am Moor“, sage ich. „Nimm die Lämmer mit und komm nicht zurück, bis ich dir das sage.“ Am nächsten Tag kommt der Pferdehändler, um die Lämmer abzuholen. Wir suchen überall nach den Lämmern, aber finden sie nicht.
Einige Tage vergehen. Die Mitglieder meiner neuen Familie beginnen, mich von der Seite zu mustern. Eines Nachmittages fallen mein Onkel und meine Tante über mich her. Sie bezirzen mich mit freundlichen Worten. Ich sage ihnen, wo mein Hund mit den Lämmern zu finden ist. „Dann kummes man“, sagt meine Tante. Mein Onkel hebt mich auf die Querstange des Fahrrades. Wir fahren zu der Brache am Moor. Die Lämmer sind ein Stück größer geworden. Mein Hund ist bis auf die Rippen abgemagert, weil er seine Aufsichtspflichten nicht vernachlässigen wollte und auf die Suche nach eigener Nahrung verzichtet hat. Kaum findet er die Kraft, mit dem Schwanz zu wedeln, als er mich sieht. „Das wird wieder“, sagt meine Tante auf Hochdeutsch und meint damit den Hund.
Als wir auf unseren Hof zurückgekehrt sind, ruft meine Tante mich zu sich. „Wir lassen die Lämmer etwas länger hier“, sagt sie. „So kannst du einen ganzen Tag mit ihnen spielen.“ Das soll ein Entgegenkommen sein. Noch einen Tag und der Pferdehändler kommt, um sich die Lämmer zu holen. Ich stehe am Zaun und sehe zu, wie sein geschlossener Wagen mit den Lämmern davon ruckelt. Nicht, dass ich mich wunderte. Ich weiß, seit ich drei war, dass alles kaputt geht.
*
Mein Onkel wuchs auf einem mittelgroßen Hof in der Nähe von Grotebühl auf. Sein Bruder ist der ältere und somit der Hoferbe. Daher wird sich mein Onkel für seine berufliche Zukunft auf die Suche begeben. Auf dem benachbarten Hof hat eine Magd ihre Arbeit aufgenommen. Als mein späterer Onkel eines Morgens am Hof vorbeikommt, sieht er die Magd von der Deele zum Haus gehen. Er fragt sie: „Gaahsse Sünndach mit mie meie inne Karken?“
Das ist ein Annäherungsversuch, der in unseren Dörfern wenig üblich ist. In die Kirche geht man als Familie, weil man dort eine Bank hat. Darüber hinaus leben in unseren Dörfern einige Gläubige. So etwas lässt sich nie völlig ausschließen. Allerdings hat man auf dem Lande ein gutes Gedächtnis. Es wäre undenkbar, dass eine Frau ihren Konfirmations- oder Vermählungsspruch nicht wüsste und aufsagte, sobald man sie fragt. Andererseits weiß keiner, was die Sprüche bedeuten.
In unserem Dorf gibt es drei Feste im Jahr, um die Geschlechter einander näherzubringen. Das sind das Feuerwehrfest, das Schützenfest und das Reiterfest. Unter diesen Festen ist das Schützenfest das gefährlichste, weil Schützenkönig derjenige wird, der im entscheidenden Wettbewerb am besten geschossen hat. Der Schützenkönig geht mit der Übernahme seines Amtes die Verpflichtung ein, allen Dorfbewohnern einen auszugeben, sobald er sie trifft. Das dauert und kostet, bis auf dem nächsten Schützenfest ein neuer Schützenkönig ausgerufen wird. Folglich können sich nur die Besitzer der größten Höfe einmal im Leben leisten, der Schützenkönig zu sein. Deshalb muss der, der Schützenkönig werden soll, vorher ausgeguckt werden. Während alle anderen Mitglieder des Schützenvereins im Wettbewerb neben die Scheibe zielen, ist der künftige König der einzige, der auf die Zielscheibe hält. Einmal geschah es, dass ein kleiner Bauer mehrere Male die Scheibe traf. Was blieb dem Vereinsvorstand übrig, als den Mann zum König auszurufen, obgleich alle wussten, dass sie ihn und seine Familie in den Ruin trieben. Der neue Schützenkönig schaffte es ein Jahr lang, mit jedem zu trinken. Dabei wurde er immer trauriger. Anschließend verlor er seinen Hof. Er ging ins Große Moor und kehrte nicht wieder.
Ich habe ein Jahr auf dem Lande gelebt, da haben wir einen Kandidaten, der Schützenkönig werden möchte, aber nicht kann. Alle seufzen, wenn der Mann wieder geschossen hat und abermals die Scheibe verfehlt hat. Am Ende nimmt der Vorsitzende des Schützenvereins einen rostigen Nagel mit, als er zur Zielscheibe geht. Allen erkennbar bohrt er mit dem Nagel drei Löcher in die Scheibe. Er hebt seinen Arm. Der alte Schützenkönig ist tot. Es lebe der neue. Mein Onkel kehrt vom Schießen nach Hause zurück. Anders als sonst riecht er nach Barre Bräu statt nach Kautabak. „Hast du gut daneben geschossen?“ fragt meine Tante. „Am Ende habe ich richtig gezielt, weil der neue König feststand“, sagt mein Onkel. „Ich traf eine Zehn.“ „Du kannst es immer noch“, sagt meine Tante.
Alle drei Feste in unserer Gemeinde finden auf der großen Wiese hinter der Kolonialwarenhandlung statt. Dort haben die jeweiligen Veranstalter ein Zelt aufgeschlagen. Wenn ein Fest im frühen Sommer stattfindet, wogt hinter dem Zelt goldgelbes Korn. Der Nachmittag ist für die ältere Generation und für die Kinder bestimmt. Am späten Nachmittag wird im Zelt die Theke eröffnet. Die Erwachsenen gönnen sich Sträußelkuchen beim Bier für die Männer und Plädderkaffee für die Frauen.
Die Blaskapelle spielt auf, sobald das Vieh auf den Höfen gefüttert ist. Die junge Generation ist im Zelt angekommen. Die Jungen stehen an der Theke und trinken sich Mut an. Die Mädchen sitzen auf langen Bänken knapp vor dem Zeltrand. Die Keckeren unter ihnen wippen mit ihren Füßen den Takt. Beim ersten Tanz ist das Eis nicht gebrochen, weil die Jungen zu schüchtern sind. Vielleicht gibt die ältere Generation den Jünglingen ein Beispiel, indem sie vormacht, wie man sich auf den hölzernen Planken zu drehen, zu wenden und zu wiegen hat. Der Leiter der Blaskapelle beliebt zu scherzen, indem er zur frühen Stunde zur Damenwahl aufruft. Das ist ein Spaß für die anderen, wenn sie sehen, wie sich ein junger Mann vor kreischenden Mädchen ins Kornfeld in eine vermeintliche Sicherheit stürzt.
Je mehr die jungen Männer getrunken haben und je öfter die eigenen Freunde zeigen, dass man sich im Takt bewegen kann ohne umzufallen, desto eher schreitet der Letzte zur Tat. Die Mädchen können während des Festes nichts machen, es sei denn, einer der jungen Männer fordert sie zum Tanz. Aber sobald sie dem jungen Bauern auf der Tanzfläche gegenüberstehen und ihn unter niedergeschlagenen Wimpern mustern, wissen sie Rat. Es ist weit vor Mitternacht, als die ersten Pärchen im Kornfeld verschwinden. Der Jüngling hat zuvor das Mädchen gefragt: „Kummsse mit nooh buuten?“ In den Gemeinden am Großen Moor gibt es keine unehelichen Geburten. Andererseits gibt es beim ersten Kind keine eheliche Zeugung. Welcher junge Bauer wünscht sich eine Frau, die unfruchtbar ist?
Wenn die Pärchen unter dem Bumsvalera der Blaskapelle ins Kornfeld gehen, wie ist sichergestellt, dass es sich bei mindestens einen der Beiden um einen Hoferben handelt? In dieser Hinsicht ist die Landbevölkerung geschickter, als ein Stadtmensch ohne langatmige Erläuterungen zu glauben vermag.
Wenn ein Mädchen merkt, dass sie schwanger geworden ist, findet sie Wege, ihrem Partner mitzuteilen, was sie beide angeht. Dieser setzt sich aufs Fahrrad und fährt zu dem Hofe des Mädchens. Dort handelt er mit den Eltern die Höhe der Mitgift aus. Sobald man sich handelseinig geworden ist, wird ein enger Verwandter des künftigen Bräutigams zum Hochzeitsbitter bestellt. Dieser setzt sich aufs Fahrrad und fährt die weitläufigere Verwandtschaft ab.
Wir wissen Bescheid, wenn ein buntes Fahrrad unserem Hofe entgegenrollt und kennen den ersten Satz, bevor ihn der Hochzeitsbitter gesagt hat: „Wie wutt nich groot feiern.“ Andererseits ist für die anstehende Hochzeit an weniger als 150 Mann überhaupt nicht zu denken.
Nach spätestens einem halben Jahr hat die Braut ein Baby entbunden. Mein Onkel und meine Tante fragen, wenn solches bekanntgegeben wird: „Junge or Lüüd?“ Wenn sie die Antwort erhalten haben, nicken sie und fragen nicht weiter.
Eine meiner Tanten hat ein Enkelkind bekommen. Wir fahren am Sonntag mit dem Fahrrad zu ihrem Hof, um das Baby anzuschauen. Die Mutter lässt das Baby an der offenen Brust saugen. Ich umrunde den Tisch, bevor das Baby gewickelt wird, um den Unterschied zwischen Jungen und Mädchen herauszufinden. Aber die Mutter wendet das Baby derart geschickt, dass ich wieder nichts entdecke. Ja, wir sind prüde auf dem Lande, aber anders als in der Stadt üblich sehen wir zu, dass jeder Pott einen Deckel bekommt.
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Mein Onkel und meine Tante haben sich in frühen Jahren versprochen. Allerdings erbt keiner von ihnen einen Hof. Ist das Liebe, wenn man sich gegen alle wirtschaftliche Vernunft füreinander entscheidet? Eine Antwort auf diese Frage brächte uns nichts. Vielmehr sollten wir sie reformulieren: Was machen die beiden, wenn sie statt ins Ruhrgebiet zu ziehen auf dem Land bleiben wollen?
Als mein Onkel aus dem ersten Weltkrieg zurückkehrt, wird er Maurergeselle. Das reicht ihm nach einigen Jahren nicht. Wenn er sein Tagewerk vollbracht hat, setzt er sich an einem Tisch um zu lernen. Das ist Schwerstarbeit, weil er diese Art von Arbeit nicht eingeübt hat. Die Zusammenhänge wollen nicht in seinen Kopf. „Junge, Junge“, sagt sein älterer Bruder. „Jümmer blooß leeen. Und dann dat feerle Hensetten.“ Mein Onkel schafft am Ende seinen Meister. Mit der Theorie hatte er Probleme, aber die praktischen Arbeiten gingen ihm leicht von der Hand.
Zwischendurch wird ihm der halbe Magen weggenommen. „Warum sind Sie nicht früher zu uns gekommen?“ fragt ihn der Arzt. „Dann hätte man mehr machen können.“ „Das hier ist so teuer, dass es meinen halben Hof gekostet hätte, wenn ich einen hätte“, antwortet mein Onkel. Der halbe Magen macht dem Onkel ein Leben lang zu schaffen. Dennoch spricht er nicht darüber. Allenfalls merkt meine Tante, wenn er was hat. Statt einen Arzt aufzusuchen schwört er auf Kautabak.
Die Kunden kommen mit dem Fahrrad zu meinem Onkel. Sie winden sich am Rande des Wohnzimmers verlegen auf einem Stuhl. Sie unterhalten sich vorzugsweise mit meiner Tante. Die weiß am besten, wie wir miteinander verwandt sind, und legt gegebenenfalls alle Beziehungen offen.
Die Besucher kommen zur Sache. Man wolle bauen, sagen sie. Oder man wolle umbauen. Ob mein Onkel am Dienstag vorbeikommen könne? „Ick kurme“, sagt mein Onkel. Was immer er zusagt, er hält sein Versprechen. Kunden und Handwerker bleiben ein Leben lang Nachbarn. Sie haben dieselben Verwandten und Freunde. Wenn ein Handwerker unzuverlässig wird, spricht sich das schneller als eine Geburt herum.
So viel wird in den Dörfern am Großen Moor nicht gebaut, dass mein Onkel davon leben könnte. Noch ist er der einzige Maurermeister im Kirchspiel Grotebühl. Wenn er mit meiner Tante eine Familie gründen will, brauchen die Beiden nach wie vor einen Hof. So bleibt ihnen nichts übrig als ins Brauk zu gehen. Frühere Generationen haben um den Brauk einen Bogen gemacht. Der Brauk ist eine große Heide, gesprenkelt mit Sümpfen. Um dieses Land urbar zu machen, bedürfte es übermenschlicher Kraft. Allenfalls könnte man im Brauk ein paar Schnucken grasen lassen.
Jahr für Jahr verlassen Menschen die Gemeinden um Grotebühl, um in anderen Regionen Arbeit zu finden. Einige von ihnen schlagen sich bis Brooklyn durch. Von dort springen sie der Landbevölkerung in der Weltwirtschaftskrise mit Lunchpaketen bei. Dennoch wächst die Bevölkerung in den Gemeinden um Grotebühl weiter. Irgendwie ist der medizinische Fortschritt in den Gemeinden am Großen Moor angekommen, auch wenn kein Eingeborener zum Arzt gehen will.
Glücklicherweise haben sich die Möglichkeiten, das Brauk urbar zu machen, verbessert. Die Chemische Industrie bietet neue Düngemittel an. Es wurden zähe Pflanzen gezüchtet, die im Heideboden gedeihen. Bei den Bauern setzt sich ein besseres Bepflanzungsmanagement durch. Wenn man zwei Jahre hintereinander Korn angebaut hat, sät man im dritten Jahr Lupinen, so dass sich der ausgelaugte Boden erholt. Während mein Onkel sein eigenes Haus baut oder von einem Auftrag zum nächsten zieht, steht meine Tante mitten in der Heide und schwingt ihre Hacke. Das wird dauern, bis sie Gemüse im Garten ziehen kann. Drei Kinder werden geboren, zwei Lüüd und ein Junge. Als die Mädchen aus der Schule kommen, gehen sie an größere Höfe in Grotebühl und in den Nachbargemeinden in Stellung.
Das älteste Mädchen flüchtet zurück auf den elterlichen Hof und berichtet von einem angeblichen Recht des Großbauern auf die erste Nacht. Mein Onkel fährt mit dem Fahrrad zum Großbauern. Er kommt mit der Großbäuerin überein, die Angelegenheit unter den Teppich zu kehren. Die älteste Tochter kehrt auf den Hof des Großbauern mit einem ausdrücklich zugesicherten Recht auf körperliche Unversehrtheit zurück. Aber was ist diese wert, wenn sich ihre Kammer nachts nicht abschließen lässt? Wenn der Großbauer nicht kommt, was macht sein Knecht?
Im Brauk ist eine bäuerliche Gemeinschaft entstanden. Man hilft einander beim Dreschen und auf Hochzeiten. Im Winter trifft man einander an langen Abenden zum Spinnen und Kartenspielen. Je später es wird, desto häufiger gibt es für die Männer einen Schluck. Ich lerne das Skat- und das Doppelkopfspiel vom Zusehen. Doppelkopf ist das anspruchsvollere Spiel, weil vier statt drei Spieler mit- und gegeneinander spielen und mehr Strategien verfolgt werden können. Die Spieler gehen Allianzen ein, von denen sie vielleicht erst am Ende eines Spiels erfahren. Dazu müssen die beiden Juckel nach Hause gebracht werden. Skat bleibt das attraktivere Spiel, weil die Bauern im Brauk nicht genügend Zeit finden, in die Feinheiten des Doppelkopfspiels einzusteigen.
Ich hole mir ein abgewetztes Kartenspiel aus dem Schrank und lasse mich auf dem Heuboden nieder. Dort lasse ich meine rechte gegen meine linke Hand spielen. Beim Doppelkopf treten beide Beine als Mitspieler hinzu. Bald kann ich einen besseren Doppelkopf als die Bauern im Brauk und einen besseren Skat sowieso spielen. Allerdings scheitere ich mit meinen Versuchen, den einen oder anderen Tipp für ein besseres Spiel zu verbreiten. Die Bauern hören nicht zu oder machen sich auf meine Kosten lustig ("Kiek mol, de Lütge.")
Am Ende des Abends rücken die Frauen an den Tisch heran. Es entsteht ein großer Kreis. Die Männer haben genügend Schluck getrunken. Die Zeit ist gekommen, Geschichten zu erzählen. „Hesse hört, datt de oole Kallesmeyer dode ist?“ So mag eine Geschichte beginnen.
Der alte Kallesmeyer war weit über 60 und bewirtschaftet nach wie vor seinen Hof. Eines Tages fasst sich sein ältester Sohn ein Herz und geht zu seinem Vater. „Ich habe lange genug gewartet“, sagt er. „Es ist an der Zeit, dass du mir den Hof überschreibst.“ „Du hast recht“, sagt der alte Kallesmeyer. „Warum bin ich nicht selbst auf die Idee gekommen?“ Er fährt mit seinem Sohn in die Stadt und überschreibt ihm den Hof. Nach der Überschreibung fahren Vater und Sohn zurück zum Hof. Beide sitzen auf dem Kutschbock, aber der Sohn spricht nicht zu seinem Vater. Er spricht seinen Vater niemals mehr an. Die anderen Leute auf dem Hof sprechen auch nicht mit dem Vater. Sie wollen es nicht mit dem Sohn verderben, da dieser jetzt das Sagen hat. Eines Tages kommt der neue Bauer von der Arbeit auf den Feldern zum Mittagessen ins Haus. Sein Vater sitzt am Tisch und wartet auf das Essen. Der Bauer nimmt ihn am Arm und führt in die Futterküche. Dort soll er in Zukunft allein essen. Kurz darauf mauert der junge Kallesmeyer ein Geviert in der Futterküche. Als er drei Wände hochgezogen hat, setzt er einen Stuhl in das Geviert und seinen Vater darauf. Danach zieht er die vierte Wand hoch. In einem der vier Wände hat der Sohn einen Schlitz freigelassen. Dort wird dem eingemauerten Bauern die tägliche Suppe gereicht.
Als der alte Kallesmeyer gestorben ist, lässt der Sohn das Geviert abreißen. Es gibt keinen in den Gemeinden am Großen Moor, der nicht wüsste, was der Sohn mit seinem Vater gemacht hat. Auf dem Beerdigungskaffeetrinken lässt es sich keiner der Gäste nehmen, in die Futterküche zu gehen und sich vorzustellen, wie der alte Kallesmeyer dort gesessen hat. Der junge Kallesmeyer steht am Eingang zur Futterküche und betrachtet seine Gäste in düsterer Wut. Die Tante aus der Stadt erfährt ein erstes Mal, was der Sohn ihrem ältesten Bruder angetan hat. „Ich habe dich gekannt, als du gerade geboren wurdest“, sagt die Tante. „Das hätte ich dir niemals zugetraut.“ „Du bruukss nicht weier to kurmen“, sagt der Bauer.
Auf dem Land wird wenig gesprochen. Aber wenn etwas gesagt wird, sind es häufig beschwichtigende Worte. Gäbe es sie nicht, entstünden noch mehr Feindschaften auf Leben und Tod. Manchmal muss nur ein falsches Wort fallen, und eine solche hat begonnen. Auch wollen Feindschaften über die Jahrzehnte gepflegt werden. Einige Bauern würden ihren Feinden gern etwas antun. Aber sie trauen sich nicht, auf den Hof des anderen zu fahren und ihn mit dem Lattenkreuz zu erschlagen. An dieser Stelle kommt das Sechste Buch Mose ins Spiel. Dieses gibt an, wie man seinem Widersacher schadet, ohne dass man erwischt werden kann. Das Buch macht es nur selten unter einem Mord. Man muss um Mitternacht an besonderen Stellen im Großen Moor ein Tier töten und Zaubersprüche über seine Eingeweide raunen.
Mein Onkel hat sich mit dem Vorgänger des jetzigen Lehrers an der Dorfschule über Bienenzucht ausgetauscht. Deshalb wusste er, dass auf diesen Lehrer ein Fluch lastete. Der Lehrer sah, welcher Hof als nächster abbrennen werde.
Bei schweren Gewittern brennen mehrere Höfe in den Gemeinden um Grotebühl ab. Das Gewitter sucht abzuziehen. Wir treten mitten in der Nacht nach draußen und sehen in allen Gemeinden um uns einen Feuerschein. Da wird das Gewitter vom Großen Moor zurückgeworfen und kommt abermals über uns. Andererseits hat jedes Gewitter sein Gutes. Wie soll man an dringend benötigte Mittel für Anbauten und Umbauten kommen, wenn das ferne Versicherungsunternehmen nicht in Anspruch genommen wird?
Der Lehrer könnte den auf ihn lastenden Fluch abwenden. Dazu hat er nur jemanden zu finden, der ihm über die linke Schulter schaut. Der Lehrer bittet meinen Onkel, über seine linke Schulter zu blicken. Aber mein Onkel weigert sich. Die anderen Menschen, die der Lehrer fragen wird, werden sich gleichfalls verweigern. Am Ende zwingt der Lehrer den eigenen Hund, einen Blick über seine linke Schulter zu tun. Der Hund läuft drei Tage und drei Nächte jaulend um die Schule und stirbt dann.
„Hätt sik die Lehrer nich uphangen?“ fragt der alte Brökelsiep. "Das ist eine Geschichte, die viele Jahre später passiert ist“, sagt mein Onkel und schaut ein erstes Mal auf die Wanduhr. Noch ein paar Stunden und die Kühe wollen gemolken sein.
*
Während meine Leute auf den Feldern arbeiten, bleibe ich auf dem Hof zurück. Ich spiele auf der Deele mit meinem Hund. Ich habe meinen Hund untergekriegt. Ich lege mich auf ihn. Ich tue so, als ob ich seine Kehle abdrücken will. Mein Hund schnappt nach mir, aber er schnappt immer daneben. Dann vertut er sich und reißt mir Teile des Gehirns aus meinem Kopf.
Schreiend laufe ich aus der Deele. Danach bin ich vollkommen weg. Als ich zu mir komme, sind meine Leute von den Feldern zurückgekehrt. Sie stehen um mich herum. Sie sind sich einig, dass diesmal der Doktor geholt werden müsse. Der Arzt kommt mit seinem Fahrrad vom Dorfzentrum herüber. Meine Tante lässt den Arzt seine Arbeit machen. Anschließend sagt sie: „Wir müssen Speck auf seine Wunde legen.“ „Mach das nicht, gute Frau“, sagt der Arzt. „Das würde den Zustand des Jungen verschlimmern.“ Als der Arzt weggefahren ist, werde ich ins Bett gelegt. Meine Tante wickelt meinen Kopf vom Verband frei und legt Speck auf die Wunde. Dann wickelt sie meinen Kopf zurück in den Verband.
Am nächsten Morgen liege im Bett und fühle mich schlapp. Auf dem Hof wird gerufen. Meine Tante kommt herbeigeeilt. Der Arzt nähert sich auf seinem Fahrrad dem Hof. Er ist ohne Voranmeldung herübergekommen und will nach mir sehen. Oder er will nachprüfen, ob die Tante seine Anweisungen befolgt. Meine Tante nimmt den Speck von der Wunde. Der Arzt kommt und vergisst sich, sobald er die Wunde gesehen hat. Er beginnt, mit meiner Tante zu schimpfen. Aber als der Arzt unseren Hof verlassen hat, legt meine Tante den Speck zurück auf die Wunde.
Als mein Vater zu Besuch kommt, laufe ich wieder herum. Der Arzt hat seine Besuche eingestellt, weil wir ihn nicht mehr bezahlen können. Statt eines Verbands trage ich ein riesiges Pflaster. „Wutt wie kieken, watt unnerm Plaster iss?“ fragt meine Tante. Ich werde an einen Tisch gesetzt. Meine Tante hat Wasser gekocht, damit sich das Pflaster besser lösen lässt. Als meine Leute versuchen, das Pflaster zu lösen, beginne ich zu schreien. „Nur noch ein bisschen“, sagt mein Vater und reißt das Pflaster im Hauruck von der Wunde. Ich schreie. Danach werden viele weiße Würmer aus meiner Wund geholt. Sehe ich viele Zusammenhänge anders, frage ich mich später, weil ich meine Mamma verloren habe oder weil mich mein Hund ins Gehirn gebissen hat?
Ich spiele weniger häufig mit meinem Hund. Dann sage ich meinem Hund, er möge dieses und jenes tun. Ich merke nicht, dass er will, aber nicht kann. Ich schlage ihn. Am nächsten Morgen ist mein Hund gestorben. Mein Onkel hat ihn weggeschafft und vergraben. Meine Tante sagt mir, was sich zugetragen hat. Dazu sage ich nichts. „Ich hätte gedacht, dass ihm der tote Hund näher gegangen wäre“, sagt meine Tante am Mittagstisch. „Seit der Hund ihn gebissen hat, war es mit der großen Freundschaft vorbei“, sagt mein Onkel.
Dazu sage ich gleichfalls nichts. Ich darf nicht mehr trauern. Er ist mir verboten. Aber wenn ich trauern könnte und dürfte, dann um meinen Hund.