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Kapitel 2

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Kriminalhauptkommissar Alban Berger überlegte in Ruhe, ob er alles Nötige bei sich hatte. Es war noch genug Zeit bis zum Termin bei Kripochef Hajo Winker. Er wollte allerdings an seinem ersten Arbeitstag nach der langen Auszeit im Dienst nicht auf den letzten Drücker erscheinen. Er zog die Haustür zu und drehte den Schlüssel langsam zweimal nach links. Anschließend drückte er die Klinke, um zu prüfen, ob die Tür tatsächlich geschlossen war, und trat dann auf die kleine Straße. Die Blätter der Catalpa würden bald austreiben, stellte er fest, als er seinen Blick über den Baum nach oben schweifen ließ. Das Badezimmerfenster! Es stand offen. Nach der heißen Dusche hatte er es weit geöffnet, um den Raum ausgiebig zu lüften. Also wieder zurück.

Schon wenige Sekunden später war er wieder draußen. Kaum Zeit verloren, beruhigte er sich, als er zur Garage ging. Unterwegs suchte er in seinen Taschen die Schlüssel für Garage und Wagen. Normalerweise steckte er den Garagenschlüssel in die linke und den Autoschlüssel in die rechte Hosentasche. Beide Taschen waren aber leer. Auch in seiner Jacke fand er die Schlüssel nicht. Er ärgerte sich über seine Vergesslichkeit. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als erneut ins Haus zurückzugehen.

Wo hatte er die Schlüssel nur hingelegt? Seine Großmutter hatte immer geraten, bei der Suche nach Verlorenem zum heiligen Antonius zu beten. Ein reines Konzentrationsspiel. Vermutlich lagen sie auf dem Wohnzimmertisch. Er musste endlich die Schlüssel für Haustür, Garage und Auto zusammenhängen. Ein Blick ins Wohnzimmer genügte. Fehlanzeige! Im Schlafzimmer durchsuchte er die Hose, die er tags zuvor anhatte. Fehlanzeige! Wo hatte er sich heute Morgen aufgehalten? Im Schlafzimmer, im Wohnzimmer, im Bad, im Keller, in seinem Arbeitszimmer, in der Küche. Er lief ins Bad. Nichts. Ins Arbeitszimmer. Keine Schlüssel. Er rannte die Treppe hinunter in die Küche. Neben der Kaffeemaschine am Fenster wurde er fündig. Hier hatte er noch nie seine Schlüssel abgelegt. Und die Kaffeemaschine hatte er auch nicht abgestellt. Der Kaffeerest in der Kanne war schon angebrannt. Er stellte die Glaskanne in die Spüle und füllte sie mit heißem Wasser. Hastig nahm er die Schlüssel an sich und verließ das Haus, natürlich nicht ohne mehrmalige Kontrolle der Tür.

Endlich saß Berger im Auto. Sein Zeitvorsprung war geschmolzen. Jetzt durfte auf dem Weg zum Polizeipräsidium nichts dazwischenkommen. War das Vergesslichkeit, was er da eben erlebt hatte? Oder eher ein Zeichen, dass er noch nicht reif war für eine Rückkehr in den Polizeidienst? Lange hatte er mit sich gerungen, mehrfach hatte seine innere Stimme empfohlen, den Dienst endgültig zu verlassen. Die Vorkommnisse des letzten Jahres hatte er bis heute nicht verarbeitet, vor allem den Tod seines jungen Kollegen Rackert, an dem er sich schuldig fühlte, weil er dessen Warnungen vor einer Terrorgruppe nicht ernst genommen hatte. Hätte er früher reagiert, wäre vielen Menschen Leid erspart worden. Mit der Soko Gifiz war er dem Anführer der 13-köpfigen Gruppe, die Anschläge in Offenburg verübt hatte, auf die Spur gekommen. Allerdings war dessen Auto auf der Verfolgungsjagd explodiert. In Schüben kamen immer wieder Schuldgefühle hoch. Da halfen keine Therapien und keine Psychopharmaka. Die Tabletten hatte er von sich aus abgesetzt, ohne seinen Ärzten etwas zu sagen. Auch Ariane, seiner Frau, hatte er sein eigenmächtiges Handeln verschwiegen. Wie so vieles seit seinen zwei Zusammenbrüchen, nach denen er in eine schwere Depression geraten war. Diese Fakten konnte er nicht leugnen.

Irgendwann hatte er jedoch beschlossen, in den Polizeidienst zurückzukehren. Seine Therapeuten und sein Hausarzt hatten das als Zeichen gewertet, dass er auf dem Weg der Gesundung sei. Er selbst sah das nicht so, er wollte einfach dieser Dunkelkammer entfliehen, in die er sich vor Monaten eingeschlossen hatte. Zusammen mit Selbstzweifel, Sprachlosigkeit, Antriebslosigkeit, Selbstverachtung, mit Suizidgedanken und reichlich Alkohol. Bisher konnte er die Tür aus der Kammer nur einen Spaltbreit öffnen, hoffte aber, dass er sie ganz aufstoßen konnte, wenn er sich der Wirklichkeit stellte. Vor der er große Angst hatte.

Berger bog nach links ab in die Prinz-Eugen-Straße und fand einen Parkplatz direkt vor dem Offenburger Präsidium. Er sah auf seine Uhr. Noch zwei Minuten bis zum Termin. Zum Glück hatte Schorschi Pförtnerdienst, der ihm freundlich winkte, den rechten Daumen nach oben streckte und die Tür per Knopfdruck entsperrte. Er wusste wohl Bescheid. Berger hob seine rechte Hand zum Gruß, nickte ebenso freundlich, rannte die Treppe in den ersten Stock hoch und meldete sich bei der Assistentin an. Die meisten nannten Rosemarie Schöntal nur Röschen. Sie wirkte wie immer wohlwollend und unverkrampft.

»Schön, dass Sie wieder da sind, Berger. Ich glaube, alle freuen sich auf Sie! Der Chef wartet schon.« Der Satz »Ich glaube, alle freuen sich auf Sie!« irritierte ihn. Sie war sich nicht sicher, ob sich alle freuten, sonst hätte sie das Wort »glauben« nicht benutzt.

Kräftig klopfte er an die Tür des Kripochefs und erwartete ein ebenso kräftiges »Herein«. Die Aufforderung, einzutreten, klang jedoch eher schwach. Überrascht und angespannt betrat Berger das Büro des Offenburger Kripochefs.

Hajo Winker stand langsam auf, als habe er Mühe, sich zu erheben, und reichte Berger die Hand. Sie fühlte sich schlaff an, was ungewöhnlich war. Durch Winkers Hand floss normalerweise so viel Energie, dass ihr Druck weh tat und es deshalb einige vermieden, ihn per Handschlag zu begrüßen.

»Berger, setzen Sie sich doch bitte.« Mit einem kleinen Seufzer ließ sich Winker in seinen Sessel fallen, während sich Berger sachte den Besucherstuhl heranzog und langsam Platz nahm. »Bevor wir in die Details gehen, Berger, muss ich Ihnen etwas sagen: Ich bin sehr erleichtert, dass Sie wieder da sind. Sie haben uns gefehlt. Ich erwarte von Ihnen Impulse, die die Soko Gifiz endlich voranbringen.«

Berger war überwältigt von so viel Lob und Erwartung und hoffte, dass alles ehrlich gemeint war.

Winker fuhr fort: »Sie haben sich für das interne dreimonatige Eingliederungsmanagement entschieden. Wie aus Ihrem Fragebogen hervorgeht, haben Sie eine Beteiligung des Personalrats abgelehnt, weil Sie extern beraten und therapiert werden. Das ist Ihr gutes Recht. Über das Eingliederungsmanagement wissen Sie sicher Bescheid: Sie müssen sich nicht gleich voll und ganz dem Stress der Polizeiarbeit aussetzen. Vorgesehen ist, dass Sie vorerst stundenweise wieder in der Soko Gifiz arbeiten und nach und nach in die Vollen gehen.«

»Was meinen Sie mit ›vorerst‹?«

»Das wollte ich Ihnen nachher noch sagen. Aber gut, ich kann Ihnen das auch gleich erklären. Ich will Sie nicht lange auf die Folter spannen. Es geht um ein altes Vorhaben von mir, das ich endlich umsetzen kann. In Absprache mit dem Landeskriminalamt in Stuttgart und mit dem Innenministerium planen wir, der Polizeipräsident und ich, eine Cold-Case-Abteilung aufzubauen. Inzwischen sind wir technisch so gut gerüstet, dass wir alte Fälle besser lösen können. Für diese Arbeit brauchen wir erfahrene Leute wie Sie. Ich habe dem Polizeipräsidenten Personalvorschläge gemacht und ihm empfohlen, Sie zum Leiter der Cold-Case-Abteilung zu bestellen. Er hat bereits zugestimmt. Die Sache ist allerdings noch nicht ganz spruchreif. Es müssen noch einige Hürden beseitigt und Widerstände überwunden werden. Auch intern. Eventuell sind wir gegen Jahresende so weit. Vielleicht sogar schon früher. Es sieht auf jeden Fall gut aus. Mehr kann und darf ich Ihnen noch nicht mitteilen.«

Berger fühlte sich geehrt, dass Winker ihn in die geplante Gruppe holen und mit der Leitung beauftragen wollte. Er wusste, was Cold Case bedeutete: viel Aktenarbeit, wenig Außendienst, enge Zusammenarbeit mit der Forensik. Vor allem unaufgeklärte Tötungsdelikte zählten zu den Cold Cases, den kalten Fällen, aber auch Bankraub, Vergewaltigungen, Vermisste. In Deutschland galten zuletzt fünf Prozent aller Tötungsdelikte als nicht aufgeklärt. Wie viele Cold Cases im Bereich des Polizeipräsidiums Offenburg zu bearbeiten waren, wusste Berger nicht. Das wollte er Winker fragen, aber der redete einfach weiter, in gleichbleibendem, emotionslosem Ton.

»Die Soko Gifiz mussten wir leider verkleinern.«

»Ich habe gedacht, wir bekommen mehr Unterstützung vom Land, um die elf verbliebenen Terroristen zu finden. Ihr ›Meister‹ dürfte die Explosion seines Autos ja kaum überlebt haben.«

»Das können Sie alles vergessen. Unter uns: Diese Zusage des Innenministeriums war wohl nicht ganz ernst gemeint. Eine Beruhigungspille für die Öffentlichkeit und für uns. Die zusätzlichen Kräfte sind schon wieder abgezogen worden mit der einfachen Begründung, dass nach den Anschlägen und Morden und nach der Aufdeckung der christlichen Terrorgruppe Ruhe eingekehrt sei in Offenburg und Umgebung. Das ist nicht falsch. Es gab seither keine neuen Anschläge. Aber es ist auch nicht richtig, denn wir suchen weiterhin nach elf Terroristen. Bisher ohne greifbares Ergebnis. Diese Tatsache widerspricht der Argumentation des Innenministeriums. Dazu kommt die normale Belastung. Wir sind statistisch gesehen in Baden-Württemberg an der Spitze in der Kriminalitätsrate. Ich weiß, das hört sich gebetsmühlenartig an. Aber darüber sieht die Politik schnell hinweg. Wir haben leider keine Lobby. In der Soko werden Sie übrigens viele neue Gesichter sehen. Wir haben überraschenderweise eine rege Fluktuation erlebt. Und Ausfälle. Unser IT-ler Felix Manderscheid zum Beispiel. Seine Freundin, die Assistenzärztin, hat ihn verlassen. Sie hat sich in einen Oberarzt im Klinikum in Freudenstadt verliebt. Das hat er nicht verkraftet. Ich habe ihn für robuster gehalten.«

Mich hast du sicher auch stärker eingeschätzt, dachte Berger.

»Rund sechs Wochen war er krankgeschrieben. Für das Darknet gut, für uns schlecht. Inzwischen hat er sich wieder gefangen. Auch an der Spitze der Staatsanwaltschaft hat es einen Wechsel gegeben. Das haben Sie sicher mitbekommen.«

Berger schüttelte den Kopf. »Nein, das ist wie vieles andere an mir vorbeigegangen.« Ihm hatte die Kraft gefehlt, um sich auf dem Laufenden zu halten und das Interesse an der Außenwelt war gesunken. Seine dunkle Innenwelt war in den letzten Monaten sein einziger Bezugspunkt gewesen.

»Oberstaatsanwalt Dr. Lorenz Taglehner hat sich nach Stuttgart verabschiedet zur Generalstaatsanwaltschaft. Ich muss sagen, ich bin heilfroh. Die Zusammenarbeit bei unserem großen Fall war – sagen wir – verbesserungsfähig. Das haben Sie selbst zu spüren bekommen. Und mit der Bundesanwaltschaft hat er sich auch nicht gut verstanden. Sein Nachfolger ist Dr. Johannes Stenglenz. Er kommt aus Mannheim. Hat einen guten Ruf. Bisher macht er einen souveränen Eindruck. Ist vor allem kooperativ. Und kann zuhören. Er geht nicht mit einer vorgefertigten Meinung an die Fälle heran.«

Winkers Kritik an Taglehner überraschte Berger nicht. Der Kripochef sagte immer deutlich seine Meinung, wenn ihm etwas gegen den Strich ging.

»Alles andere werden Sie nach und nach erfahren. Am ersten Arbeitstag nach der Rekonvaleszenz will ich Sie aber nicht gleich mit den ChrisTer-Fällen belasten.«

»Mit was für Fällen?«

»Entschuldigung! Das können Sie nicht wissen. Wir haben die Fälle, die die Soko Gifiz bearbeitet, der Einfachheit halber mit ›ChrisTer‹ zusammengefasst – christliche Terroristen. Sie untersuchen zunächst einen Fall, der reine Routine ist. Es sieht nach einem tödlichen Unfall aus, muss aber abgeklärt werden. In der Nähe des Mummelsees ist ein argentinischer Tourist bei einem Spaziergang in den Abgrund gestürzt. Die Bergwacht und die örtliche Polizei gehen zwar von einem Unfall aus, sagen aber, dass ihnen ein Absturz an der Unglücksstelle dennoch ungewöhnlich erscheint. Deshalb liegt der Fall jetzt bei uns. Wir müssen prüfen, ob ein Fremdverschulden infrage kommt. Das ist saudumm gelaufen. Wenn Bergwacht und örtliche Polizei ihre Zweifel für sich behalten hätten, wären wir nicht eingespannt worden. Ich bin zurzeit um jeden Fall froh, den wir nicht bearbeiten müssen. Wie auch immer, ändern können wir es ohnehin nicht mehr. Der Argentinier jedenfalls war Gast im Hotel Schatzhauser.«

Beim Stichwort »Schatzhauser« musste Berger sofort an Wilhelm Hauffs berühmtes Schwarzwaldmärchen denken. Noch immer konnte er den berühmten Vers auswendig, mit dem Peter Munk das Glasmännlein ruft: »›Schatzhauser im grünen Tannenwald, bist schon viel hundert Jahre alt. Dir gehört all’ Land, wo Tannen stehn, lässt dich nur Sonntagskindern sehn.‹«

Der Kripochef schaute ihn verblüfft an.

Berger entschuldigte sich und fing an zu dozieren: »Sagen Sie bloß, das kennen Sie nicht? Wilhelm Hauff – ›Das kalte Herz‹. Schatzhauser ist ein alter, guter Geist, der den bösen Holländer Michel bekämpft und dafür sorgt, dass der Munk Peter sein richtiges Herz zurückbekommt. Er ist wie ein beschützender Vater und eine moralische Instanz, die verhindert, dass man auf die schiefe Bahn gerät. Schatzhauser steht für sozialen Umgang und Respekt.« Berger besann sich, dass er nicht in einem Literaturseminar saß mit dem Thema »Bedeutung des Märchens ›Das kalte Herz‹ für die spätkapitalistische Gegenwart«.

Winker sagte nur: »Sie sind der Literaturexperte im Haus.«

Berger galt unter Kolleginnen und Kollegen als belesener Mensch und als kulturgeschichtliche Institution, obwohl er nur wenige Semester Germanistik studiert hatte. Aber er war der Literatur treu geblieben, ausgenommen die Zeit der Zusammenbrüche und der Rekonvaleszenz.

Winker musste sich nach Bergers kurzem Ausritt in die Literatur offenbar erst einmal sammeln und fragte: »Über was haben wir gerade gesprochen?«

»Sie haben mir gesagt, dass ich einen Unglücksfall in der Nähe des Mummelsees untersuchen muss.« Dass man Winker so aus der Fassung bringen konnte!

»Richtig.« Winker schien den Gesprächsfaden wiedergefunden zu haben. »Ich muss gestehen, ich habe noch nie etwas von diesem Hotel gehört oder gelesen.«

Berger ging es genauso.

»Sie fahren noch heute zu dem Hotel. Die Anfahrt ist im Navi Ihres Dienstfahrzeugs und auf Ihrem Smartphone gespeichert. Wir haben ein Zimmer im Hotel für Sie gebucht, sicherheitshalber für zwei Übernachtungen. Es ist zwar nicht weit bis dort, aber so können Sie sich in aller Ruhe umsehen und sich auch ein Bild vom Hotel machen. Morgen früh bekommen Sie Unterstützung von Kollegin Tamara Bieger. Für sie ist eine Übernachtung reserviert. Ich denke, dass Sie beide den Fall schnell abschließen können. Die Protokolle von Bergwacht und örtlicher Polizei finden Sie auf Ihrem Smartphone und auf Ihrem Tablet. Die Leiche des Argentiniers ist noch in der Rechtsmedizin in Karlsruhe. Wir haben die argentinische Botschaft verständigt. Über sie läuft alles Organisatorische. Auch die Presse hat eine kurze Notiz bekommen, bisher aber nicht weiter nachgefragt. Sie können den Fall ungestört untersuchen. Alles Weitere, zum Beispiel den Plan zu Ihrer Wiedereingliederung, erfahren Sie von Röschen. Dienstausweis und Dienstwaffe liegen im Vorzimmer für Sie bereit.«

Die ganze Zeit hatte Winker monoton und kraftlos gesprochen. Er beendete seinen Vortrag und Berger wollte schon aufstehen. Doch der Kripochef war nicht fertig. »Ich will noch einmal kurz die Soko Gifiz ansprechen.«

Winker stockte, als ringe er um Worte. Berger verspürte in sich eine Unruhe. Was war nur mit Winker los?

Der Kripochef richtete sich auf und sagte mit noch leiserer Stimme: »In den ChrisTer-Fällen gibt es etwas Merkwürdiges, das mir Sorgen bereitet. Ich will in Ruhe mit Ihnen darüber reden, wenn Sie den Fall im Hotel Schatzhauser bearbeitet und abgeschlossen haben …« Weiter kam Winker nicht mehr. Er sackte ohnmächtig in seinem Stuhl zusammen.

»Winker, was ist los?« Berger sprang auf, rannte zur Tür, riss sie auf und schrie: »Schnell, den Notarzt. Winker ist zusammengebrochen. Schorschi an der Pforte muss das Tor entsichern und aufmachen. Wo ist der verdammte Defibrillator?«

Röschen hatte schon das Telefon am Ohr. »Aus der Tür raus, gleich rechts.«

Berger löste den Defibrillator von der Wand und rannte zurück in Winkers Büro. Er schaltete das Gerät ein, zog Winker vorsichtig aus dem Sessel und legte ihn auf den Boden, machte sein Hemd mit einem Ruck auf und legte die Klebeelektroden des Defibrillators an. Das Gerät kontrollierte selbstständig die Herzströme. Es zeigte an, dass ein Elektroschock nötig war. Berger drückte den entsprechenden Knopf. Der Schock zeigte überraschend schnell Wirkung.

Winker kam wieder zu sich.

Berger hatte sich auf größere Komplikationen eingestellt. »Alles wird gut. Bleiben Sie ruhig. Gleich kommt Hilfe.« Berger redete beruhigend auf Winker ein und hielt seine linke Hand. Bald erklang das Martinshorn des Krankenwagens und wurde immer lauter. Der Notarztwagen erweiterte das Klangbild. Nach kurzer Zeit hörte Berger die Stimmen der Retter und von aufgeregten Kolleginnen und Kollegen auf dem Gang. Er war froh, als er die Verantwortung abgeben und Winkers Hand loslassen konnte, blieb aber im Raum.

Als der Notarzt und die Sanitäter fertig waren, klopfte der Notarzt Berger auf die Schulter. »Ihre schnelle Reaktion hat ihm das Leben gerettet.«

»Und, wie sieht es aus?«

»Gut, denke ich. Den Umständen entsprechend. Natürlich muss er ordentlich untersucht werden. Er wird wieder auf die Beine kommen, wenn nichts Schlimmeres entdeckt wird. Wenn Sie länger als drei Minuten gebraucht hätten, stände es jetzt schlecht um ihn. Nicht jeder Mensch reagiert im Notfall so wie Sie. Ein Profi hätte es nicht besser gemacht.«

Sie legten Winker auf eine Trage und brachten ihn vorsichtig aus dem Raum. Berger musste sich erst einmal setzen. Die Spannung fiel von ihm ab. Der erste Tag der Wiedereingliederung fing ja gut an.

Rosemarie Schöntal kam ins Zimmer, mit Tränen in den Augen. »Wird er wieder gesund?«

»Der Arzt sagt, er komme wieder auf die Beine.«

»Wollen Sie einen Kaffee?«

»Gerne. Möglichst stark.« Den Neustart im Dienst hatte sich Berger anders vorgestellt. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, so geschockt war er. Gleichzeitig spürte er, dass ihm das Lob des Notarztes guttat. Dass er instinktiv das Richtige getan hatte, ohne lang zu überlegen, konnte Berger nicht begreifen.

Die Assistentin stellte den Kaffee auf Winkers Schreibtisch. »Was wird jetzt aus ihm? Kommt er in den Dienst zurück?«

»Ich kann Ihnen das nicht beantworten. Ich bin kein Arzt. Der Notarzt hat mir nur gesagt, es sehe gut aus. Das heißt noch nicht, dass er wieder arbeiten kann. Außerdem muss Winker das selbst entscheiden. Da kann man nur abwarten.« Sprach er von Winker oder über sich selbst?

Kolleginnen und Kollegen drängten in den Raum und wollten Einzelheiten wissen. Sie fragten nicht einmal, wie es Berger nach der langen Auszeit ging, so spannend und aufregend war dieser Moment. Mechanisch erzählte Berger, was passiert war, während sich in seinem Kopf Winkers bedeutungsschwerer Satz »In den ChrisTer-Fällen gibt es etwas Merkwürdiges, das mir Sorgen bereitet« Wort für Wort festsetzte. Sein Kaffee wurde in der Zwischenzeit kalt.

Tannenruh

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