Читать книгу Die abnehmende Sichel des Mondes - Willi Kuhlmann - Страница 5
Erstes Kapitel
Оглавление„Entschuldigen sie die Verspätung.“ Gerd Holm ist etwas außer Atem, als er die Praxis seines Arztes betritt. „Aber der Berufsverkehr und wie immer war kein Parkplatz frei.“
„Halb so schlimm, Herr Holm“, freundlich lächelnd sieht ihn die Sprechstundenhilfe an. „Ich muss sie bitten sich noch einen Moment zu gedulden. Nehmen sie doch so lange im Wartezimmer Platz.“
Er nickt, zieht sein leichtes, beigefarbenes Sakko aus und hängt es an die Garderobe neben der Eingangstür. Am Empfangstresen vorbei geht Holm ins Wartezimmer. Er nimmt sich im vorübergehen wahllos eine Zeitschrift vom Stapel, der auf dem in der Mitte des Raumes stehenden Tisches liegt und setzt sich neben einen älteren Mann. Holm blättert abwesend in der Illustrierten, denn es ist ihm unmöglich irgendeinen Artikel konzentriert zu lesen.
Erstens erzählen sich zwei Frauen im fortgeschrittenen Alter ziemlich ungeniert und laut ihre Krankengeschichten von Kindesbeinen an und zweitens spürt er wieder diesen stechenden Schmerz im Kopf. Vor sechs Wochen war er zu einer Routineuntersuchung hier und sein Arzt konnte nichts Außergewöhnliches feststellen. Zugegeben, durch den Stress im Geschäft war er ein wenig gereizt, aber sein Arzt gab ihm ein Mittel, damit er besser entspannen konnte. Ein paar Tage später setzten dann diese verdammten Kopfschmerzen ein, die ihn zum ersten Mal vor drei Wochen veranlassten, Dr. Finke erneut aufzusuchen. Die verabreichten Medikamente schlugen nicht an. In kürzer werdenden Abständen traten die Kopfschmerzen immer heftiger auf. Diese Umstände bewogen seinen Arzt ihn zu einem Radiologen an der Uniklinik zu überweisen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Nun sitzt er hier, wartet auf das Ergebnis der Computertomographie und der anderen Untersuchungen, die er über sich ergehen lassen musste. Er hofft, dass endlich ein klarer Befund vorliegt um unverzüglich gegen die Ursache dieser schubweise auftretenden Schmerzen vorzugehen. Er war zwar nie besonders sportlich, aber bei einer Größe von einem Meter fünfundsiebzig trägt er kein Gramm überflüssiges Fett mit sich herum –.
„Frau Langmut, bitte Sprechzimmer zwei!“, unvermittelt und laut tönt die Stimme einer Sprechstundenhilfe aus dem Lautsprecher über der Tür und lässt ihn aus seinen Gedanken aufschrecken. Nervös streicht sich Holm mit den gespreizten Fingern seiner Linken durch sein dunkelblondes, nackenlanges Haar.
Da sich außer ihm, dem Mann neben sich und den zwei Frauen, sonst niemand im Wartezimmer aufhält, gilt der Aufruf zwangsläufig einer der beiden. Diese nehmen im Überschwang ihrer Erzählungen jedoch keine Notiz davon und unterbrechen ihren Redeschwall keinen Augenblick.
„Bei mir, bei meiner letzten Operation an der Galle, na du weißt schon“, setzt die stämmigere der beiden eifrig – nach Meinung Holms zur mittlerweile vierten oder fünften – Geschichte an, „... traten Komplikationen auf, mit denen keiner gerech -.“
„Verzeihung meine Damen, dass ich ihre ungemein interessante Unterhaltung störe, aber ich glaube eine von ihnen wurde aufgerufen“, fällt der Mann neben Holm mit einem sarkastischen Unterton in der Stimme der Stämmigen ins Wort.
„Hast du was gehört?“, verwundert sieht die in ihren Ausführungen Unterbrochene ihre gespannt dasitzende Zuhörerin an.
„Gehört? Ich? Was soll ich gehört haben? Erzähl weiter, was war bei deiner Operation!“, fordert sie ihre Gesprächspartnerin ungeduldig auf und neigt ihren Kopf neugierig zur Seite.
„Also, da geschah folgendes“, aufgeregt kneten die Finger der Frau das Taschentuch, das sie in den Händen hält. „Nachdem -.“
„Frau Langmut, bitte Sprechzimmer zwei! Frau Adam bitte Sprechzimmer eins!“, quäkt die verärgerte Stimme der Helferin nun etwas energischer aus dem Lautsprecher.
Die beiden Frauen erheben sich, ohne jedoch ihren Redefluss abreißen zu lassen. „... man meine Galle raus genommen hatte, stellt der Arzt fest, dass an meinem ...“ Wohltuende Ruhe herrscht, als sich die Frauen nebeneinander durch die Tür des Wartezimmers nach draußen gezwängt haben und die beiden Männer alleine sind.
„Mein Gott, diese Weiber!“ Holms Nebenmann verdreht die Augen. „Bin ich froh, dass ich nicht verheiratet bin!“ Der Alte, aus dessen Stimme Verachtung und Dankbarkeit gleichermaßen heraus zu hören ist, sieht ihn kopfschüttelnd an. „Sind sie verheiratet, junger Mann?“
„Ja, seit acht Jahren“, antwortet Holm leicht irritiert.
„Ich will damit natürlich nicht sagen, dass alle Frauen so sind wie diese beiden.“ Verlegenheit schwingt in der Stimme des Mannes mit. Gequält grinsend sieht er Holm entschuldigend an.
„Mir ist schon klar wie sie es gemeint haben“, lächelt Holm. Der Schmerz in seinem Kopf wird zusehends stärker.
„Ich habe sie in der Praxis noch nicht gesehen. Sind sie zum ersten Mal hier?“
„Ich war noch nie ernstlich krank, also bestand auch keine Veranlassung -.“
„Herr Becker, ihr Rezept liegt bereit!“, wird der Alte über die Sprechanlage informiert.
Gerd Holm ist froh, als der Mann mit einem kurzen: „Nichts für ungut“, aus dem Wartezimmer schlurft. Der dumpfe Druck in seinem Kopf lässt zwar wieder etwas nach, er möchte aber dennoch mit seinen Gedanken alleine sein.
Zwanzig Minuten später wird er ins Sprechzimmer gebeten. „Guten Tag Herr Holm“, begrüßt ihn sein Arzt mit einem kräftigen Händedruck. „Bitte setzen sie sich!“ Der Mediziner geht um seinen Schreibtisch herum und lässt sich in einen bequemen Stuhl mit hoher Rückenlehne und Armstützen nieder. Er lehnt sich zurück und sieht Gerd Holm, der inzwischen ebenfalls Platz genommen hat, mit festem Blick nachdenklich an.
„Was ist los, Doktor? Sie sehen mich so seltsam an. Gibt es schlechte Nachrichten?“, fragt Holm verunsichert.
„Hatten sie in den letzten Tagen starke Schmerzen?“
„Die letzten zwei Tage nicht. Nur vorhin im Wartezimmer. Ist aber schon etwas besser.“
„Herr Holm, ... nun ja, wie soll ich es ihnen sagen? Ihre Krankheit ist ernsterer Natur, es gibt -.“
„Ernsterer Natur?“, unterbricht ihn Holm unsicher. Er rutscht nervös auf seinem Stuhl hin und her. „Was ist es? Wird es länger dauern?“ Nervös zwinkert er mit den Augenlidern.
Der Arzt beugt sich nach vorne, setzt seine Brille auf und betrachtet eingehend die Untersuchungsergebnisse, die vor ihm liegen.
„Der Befund meines Kollegen von der Uniklinik ist eindeutig.“ Seine Stimme ist eine Nuance leiser, als er über den Rand seiner Brille hinweg seinem Patienten in die Augen sieht. „Herr Holm, ... sie haben Krebs!“
„Ich, ... ich habe ... Krebs?“ Die Worte kommen rau und kaum hörbar über Holms Lippen. „Sagen sie, ... und bitte, sagen sie mir ... die volle Wahrheit, ... wie schlimm ...“, seine Stimme wird brüchig, er muss sich räuspern.
„Sehr schlimm! Ein Metastasenherd -“, versucht der Arzt zu erklären.
„Moment, Moment!“ Holm, kreidebleich im Gesicht, hebt abwehrend die Hände in Brusthöhe. „Wie stehen meine Chancen …“, fragt er aufgeregt.
„Eine Operation ist in diesem Stadium leider unmöglich. Sie haben einen Tumor im Kopf, an den wir nicht herankommen ohne Gefahr zu laufen, ihr Gehirn ernstlich zu verletzen. Es gibt keine Möglichkeit, leider ...“ Dr. Finke schüttelt mitfühlend den Kopf.
Niedergeschlagen, sich der Tragweite dieser Worte voll bewusst, sieht Holm seinen Arzt resignierend an. „Wie lange? Wie lange geben sie mir noch?“
„Drei-, vier-, maximal sechs Monate!“
Gerd Holm hat das Gefühl als ziehe man ihm, obwohl er sitzt, den Boden unter den Füßen weg. Er ist wie vor den Kopf geschlagen, unfähig sich zu bewegen oder etwas zu sagen. Den Verkehrslärm, der durch das gekippte Fenster hereindringt, nimmt er wie durch einen dichten Wattebausch wahr und ihm ist, als sitze er in einem Karussell, so schnell dreht sich das Zimmer um ihn.
Die Stimme seines Arztes holt ihn wieder in die brutale Wirklichkeit zurück. „Herr Holm, hören sie mich? Ich gebe ihnen eine Spritze. Ruhen sie sich nebenan ein wenig aus, wir rufen ihnen ein Taxi das sie nach Hause bringt.“ Dr. Finke erhebt sich aus seinem Stuhl.
„Nein, nein!“ Holm dessen Stimme spröde klingt, hebt abwehrend die Hände. „Keine Spritze! Kein Taxi!“ Er lacht verhalten vor sich hin. „Ich bin vierunddreißig. In acht Monaten werde ich fünfunddreißig“, mit verschleiertem Blick sieht er Dr. Finke an. „Die Geburtstagsfeier fällt wohl ins Wasser. Sind sie da sicher?“
Leicht irritiert schaut ihn der Arzt an. „Wenn sie es so formulieren wollen, ja! Ja, ich bin sicher!“
„Ich danke ihnen für ihre Offenheit, Doktor. Sagen sie mir nur noch: wie verläuft die Krankheit?“
„Der Tumor drückt auf das Gehirn. Dies kann außer den Kopfschmerzen noch Übelkeit, Schwindel, Müdigkeit bis hin zur Ohnmacht, schlimmstenfalls
Wahnvorstellungen hervorrufen“, erklärt ihm Dr. Finke. Er sieht auf seinen Patienten, der wie ein Häufchen Elend auf dem Stuhl zusammengesunkenen ist.
„Kann ich jetzt gehen?“ murmelt Holm ohne aufzusehen.
„Wie gesagt, ich kann ihnen - .“
„Nein, ist schon gut, es geht schon wieder. Machen sie sich keine Gedanken.“
„Versprechen sie mir, dass sie zweimal in der Woche zu mir kommen. Wenn die Schmerzen stärker werden, muss ich ihnen Medikamente verabreichen, deren Dosierung um ein vielfaches höher ist als jetzt. Bis auf weiteres nehmen sie dreimal täglich einen Teelöffel von diesem Mittel, es wird ihnen vorerst noch Linderung verschaffen.“ Der Arzt greift in den Arzneischrank hinter sich, nimmt ein braunes Fläschchen heraus und hält es seinem Patienten hin.
Holm erhebt sich etwas unsicher. „Ich verspreche es“, mit zitternden Fingern greift er nach dem Medikament. Achtlos schiebt er es in seine Hosentasche. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schlurft er mit schleppenden Schritten aus dem Sprechzimmer. Grußlos läuft er am Empfangstresen vorbei zum Ausgang der Praxis.
Gerd Holm geht unsicher die Treppe vom ersten Stock hinab ins Erdgeschoss. Seine Gedanken rasen außer Kontrolle und wirr durch seinen schmerzenden Schädel. Er muss sich mit einer Hand am schmiedeeisernen Geländer festhalten, um nicht zu stürzen. Als er auf den Gehsteig tritt atmet er tief ein, legt seinen Kopf in den Nacken und schließt die Augen. Es hat zu regnen begonnen. Er genießt die kalten Tropfen, die auf seiner Haut zerplatzen. „Wie wundervoll Regen sein kann“, murmelt er vor sich hin. Nachdem er einige Sekunden in dieser Stellung verharrt ist, wischt er sich mit den Händen übers Gesicht. Holm rafft sich auf und geht zu seinem Wagen. Er schließt die Fahrertür auf, müde setzt er sich hinter das Steuer. „Warum?“ sagt er halblaut zu sich selbst. „Warum spielt mir das Schicksal so übel mit? Krebs! Mit vierunddreißig Jahren Krebs! Höchstens noch sechs Monate zu leben! Irgendjemand hat das Todesurteil über mich verhängt! Nun wird es langsam und qualvoll vollstreckt! Mein Gott, wie bringe ich das nur Tanja bei? Ich muss sofort -.“ Er schreckt auf! Ein Klopfen an der Seitenscheibe reißt ihn aus seinen Gedanken. Holm betätigt den elektrischen Fensterheber und lässt die Scheibe ein paar Zentimeter herunter. „Ja bitte?“
„Junger Freund, ich suche einen Parkplatz. Seit einer halben Stunde fahre ich deswegen um die Häuser! Als ich sie einsteigen sah dachte ich sie fahren weg! Wollen sie hier übernachten oder machen sie endlich den Platz frei?“ Der ältere Mann, der neben Holms Wagen im Regen steht, hat einen barschen Tonfall am Leib und glotzt ihn grimmig an.
„Ich bin ... sofort weg“, sagt Holm geistesabwesend und startet den Motor.
„Wird auch höchste Zeit!“, schnauzt der Parkplatzsuchende, macht auf dem Absatz kehrt und steigt in sein Fahrzeug.
Gerd Holm legt den ersten Gang ein. Er gibt Gas und steuert seinen Wagen aus der Parkbucht.
Fünfzehn Minuten später erreicht er eine von vielen Büschen und Bäumen umsäumte Wohnanlage. Er stellt seinen Wagen auf den für die Wohnung Nummer fünf reservierten Stellplatz ab. Der Regen ist stärker geworden. Erst jetzt wird ihm bewusst, dass er sein Sakko vergessen hat. Mit weiten, raumgreifenden Schritten eilt er auf den Eingang des Hauses zu. Er zieht den Schlüssel aus der Hosentasche und sperrt die Tür auf. Kurz darauf steht er völlig durchnässt und außer Atem, in der von Tanja gemieteten Wohnung.
„Hallo, Liebling“, hört er ihre Stimme aus der Küche. „Das ging aber schnell beim Arzt. Du musst dich noch ein wenig gedulden, das Essen ist in zwanzig Minuten fertig.“ Der Kopf Tanjas erscheint im Türrahmen. Lange, blonde Haare umrahmen ihr hübsches Gesicht. Ihre blauen Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen, als sie bemerkt wie er aussieht. „Du bist ja klitschnass und völlig außer Atem. Hattest du keinen Regenschirm dabei und wo ist dein Sakko?“, fragt sie besorgt.
„Vergessen“, erwidert er gleichgültig, „beim Arzt.“
„Wieso vergessen?“, ohne eine Antwort abzuwarten läuft sie zu ihm. „Du zitterst ja am ganzen Körper! Beeil dich, zieh die nassen Sachen aus“, sie knöpft ihm das weiße Hemd auf. „Geh unter die heiße Dusche, sonst holst du dir noch den Tod!“ Tanja haucht ihm einen Kuss auf die Wange. Sanft schiebt sie ihn in Richtung Badezimmer. „Lass dir ruhig Zeit, ich warte auf dich“, sagt sie augenzwinkernd zu ihm und wirft das Hemd in den aus Weiden geflochtenen Wäschekorb.
Als er allein ist schlüpft er aus seiner nassen Hose. Er lässt sie achtlos zu Boden fallen. Nachdem er sich seiner restlichen Kleidung entledigt hat, steigt er unter die Dusche. Während er ein Selbstgespräch mit sich führt, massieren die heißen Wasserstrahlen wohltuend seinen Körper. „Du holst dir sonst den Tod hat sie gesagt. Den Tod holen? Ich? Er steht bereits nah hinter mir! Der Sensenmann streckt seine knochigen Finger nach mir aus! Höchstens sechs Monate noch, dann gehöre ich ihm! Es gibt kein Entrinnen, keine Chance dem Unabwendbaren zu entgehen!“ Tränen laufen über sein Gesicht, vermischen sich mit dem heißen Wasser. Er weint keine Tränen des Selbstmitleids. Nein! Es sind Tränen der Wut, dass er gegen seine Krankheit nichts unternehmen kann. Es sind Tränen der Enttäuschung, dass es Tanja und ihm nicht vergönnt ist, ihr Leben gemeinsam zu verbringen. Und es sind Tränen der Trauer, weil er seine Tochter nicht auf ihrem weiteren Lebensweg unterstützen kann. „Einige Hürden, ja einige Hürden hätten wir noch überwinden müssen“, verbittert setzt er den Monolog mit sich fort. „Aber wir beide hätten sie gemeistert, da bin ich sicher. Nun, ... nun ereilt mich die Strafe Gottes. Er bestraft mich dafür, dass ich -.“
„Bist du soweit?“ Gerd Holm zuckt zusammen, als sich die Schiebetür der Dusche einen Spalt breit öffnet.
„Zwei Minuten.“ Er stellt das Wasser ab. Ohne sich zu ihr umzudrehen tasten seine Hände nach dem Handtuch, das sie ihm hinhält. Er legt es über den Kopf, damit sie seine geröteten Augen nicht sieht und beginnt seine Haare abzurubbeln.
„Ich öffne inzwischen den Wein. Okay?“
„Ja, nur zu! Ich beeile mich.“
Sie verlässt das Badezimmer und Holm ist froh darüber. Er möchte nicht, dass sie jetzt schon Verdacht schöpft. „Nach dem Essen! Ja! Nach dem Essen werde ich es ihr sagen“, überlegt er laut. Holms Herz schlägt bis zum Hals und er fühlt wie sich sein Brustkorb zusammenzieht. Nachdem er sich abgetrocknet hat geht er ins Schlafzimmer, um frische Sachen anzuziehen. Anschließend begibt er sich in das kleine gemütliche Esszimmer, in dem Tanja bereits am gedeckten Tisch auf ihn wartet.
Sie hat die Gläser bereits halb mit Rotwein gefüllt. Der Gemüse Auflauf, den sie ihm auf den Teller legt, duftet verführerisch. „Guten Appetit“, wünscht sie ihm lächelnd.
„Was ist los mit dir?“, besorgt sieht sie ihn nach einiger Zeit an. „Du starrst auf deinen Teller und stocherst im Essen herum. Hast du keinen Hunger oder schmeckt es dir nicht?“
„Doch, doch, es ist ausgezeichnet. Ich habe nur an etwas gedacht.“
„Dann bin ich beruhigt. Erzähl, was sagt dein Arzt!“
„Die Ergebnisse liegen vor“, entgegnet er, ohne vom seinem Teller aufzublicken.
Der Klang seiner Stimme macht sie stutzig. Sie legt ihre Gabel zur Seite, ihre Hand tastet nach seiner und drückt sie sanft. „Irgendetwas ist mit dir! Hat es mit dem Arztbesuch zu tun?“
Er hört auf sein Essen lustlos hin und her zu schieben, legt seine Gabel ebenfalls zur Seite, sieht Tanja an und nickt. „Ich habe Krebs“, flüstert er. „Unheilbar! Nichts zu machen. Dr. Finke gibt mir höchstens noch sechs Monate!“ Mühsam formen seine zitternden Lippen die Silben. Er spürt nicht, wie sich ihre Fingernägel mit jedem seiner Worte stärker in seine Hand krallen. „Du, ... du hast ... Krebs? Ist das ... sicher?“ Tanja ist, als hätte ihr jemand mit einem Knüppel auf den Kopf geschlagen. Wie betäubt sieht sie ihn an.
„Todsicher!“, antwortet er, ohne sich der Tragweite dieses Wortes im Augenblick bewusst zu sein.
„Aber es muss doch eine Möglichkeit geben“, Hilflosigkeit spiegelt sich in ihren Augen. „... eine Operation, ... eine Chemotherapie oder -.“
„Der Arzt sagt es gibt keine Chance. Drei-, höchstens sechs Monate noch, dann gibt es Gerd Holm nicht mehr.“
„Ich glaube es nicht! Ich will es nicht glauben!“ Es klingt wie der verzweifelte Hilfeschrei einer Ertrinkenden, die sich an einen Strohhalm klammert, als sie verzweifelt die Worte hinausschreit. Unvermittelt springt sie auf, stößt dabei ihren Stuhl nach hinten um und rennt panisch aus dem Zimmer.
Er erhebt sich, stellt im vorbeigehen den umgestürzten Stuhl auf und folgt ihr langsam. Sie steht im Wohnzimmer am Fenster und sieht traurig durch den Regenschleier hinaus auf die verschwommenen Lichter der Stadt. Ihr Körper wird von einem Weinkrampf geschüttelt, als er sich neben sie stellt. Behutsam legt er seinen Arm um ihre zuckenden Schultern. „Beruhige dich, Liebling. Du bist noch so jung, erst vierundzwanzig. Für dich geht das Leben weiter, du wirst jemand anderen -.“
„Ich will niemand anderen, ich will dich!“, fällt sie ihm schluchzend ins Wort, dreht sich zu ihm und legt ihren Kopf an seine Brust. Minutenlang stehen beide schweigend eng umschlungen da, bis Tanja die Stille unterbricht. „Was hast du jetzt vor? Wie wird es mit uns weitergehen?“
„Ich liebe dich“, antwortet er leise und streichelt mit dem Handrücken zärtlich über ihre Wange. „Wenn du willst, verbringen wir meine letzten Monate gemeinsam. Du musst dir allerdings klar darüber sein, dass es nicht einfach wird. Wenn die Schmerzen stärker werden, du zusehen musst wie ich nach und nach verfalle, wie mich die Krankheit langsam auffrisst -.“
„Hör auf! Bitte hör auf! Ich liebe dich auch, das weißt du. Ich möchte, dass du so lange es möglich ist bei mir bist!“
„Also, gut. Ich fahre jetzt nach Hause und hole einige Sachen. Wann ich wieder hier bin kann ich nicht sagen, aber ich komme auf jeden Fall noch heute Nacht. Kristina war zusammen mit Julia bei ihrer Mutter, ich weiß nicht ob sie schon zurück ist.“
„Wirst du ihr die Wahrheit sagen?“
„Ja.“ Sein Blick folgt abwesend den unzähligen Regentropfen, die an der
Fensterscheibe hinab rinnen.
„Und was glaubst du, wie wird deine Frau reagieren?“
„Ich weiß es nicht.“
Gerd Holm drückt den Knopf der Fernbedienung. Das automatische Tor der Doppelgarage schwingt langsam nach oben. Er sieht, dass der Kleinwagen seiner Frau an seinem Platz steht und fährt in die Garage. Als er aussteigt, signalisiert ihm das leise, knackende Geräusch des abkühlenden Auspuffs von Kristinas Wagen, dass sie erst kurz vor ihm eingetroffen sein muss. Holm verzichtet darauf das Tor zu schließen, denn er will so schnell wie möglich alles hinter sich bringen. Durch den direkten Zugang zum Haus betritt er die Diele und geht sofort ins Schlafzimmer, aus dem er Geräusche hört. Seine Frau steht, nur mit BH und Slip bekleidet, vor dem Schrank und zieht sich um. Kristina Holm ist zweiunddreißig Jahre alt und auf natürliche Art hübsch. Sie benützt so gut wie kein Make Up und nur ab und zu einen dezenten Lippenstift. Die leicht gewellten, braunen Haare reichen ihr bis zu den Schultern. Ihre braunen Augen mit den langen Wimpern und den gleichmäßig geschwungenen Brauen, glänzen voller Lebenslust. Kristinas Nase, die sie selbst immer um eine Spur zu groß findet, steht ihr hervorragend zu Gesicht und wirkt sich keineswegs nachteilig auf ihr Aussehen aus. Sie schlüpft gerade in ein T-Shirt, als ihr Mann das Schlafzimmer betritt.
„Hallo Gerd. Ich habe mich schon gewundert, dass du nicht hier warst. Musstest du länger arbeiten?“
„Nein“, antwortet er einsilbig. Nachdenklich sieht er ihr zu, wie sie sich ihre weinroten Leggins über ihre schlanken Beine streift.
„Wo ist Julia, schläft sie schon?“
„Nein, sie wollte bei ihrer Oma bleiben. Ich dachte es ist nicht so schlimm, wenn sie ein paar Tage Kindergarten versäumt. Ich hole sie am Samstag wieder ab.“
„Kann ich mit dir reden, Kristina?“
„Sicher. Um was geht es?“ Sie geht ein paar Schritte auf ihn zu.
„Es ist, ... wie soll ich sagen, ... es geht um ...“, mühsam versucht er die richtigen Worte zu finden. „Nun ja, es betrifft dich und mich und ist eine ernste Angelegenheit.“
„Nur zu, immer raus damit! Oder hast du Angst ich reiße dir den Kopf ab?“, ermuntert sie ihn.
„Das wäre das Beste was mir passieren kann.“ Seine Augen fixieren einen, nur in seiner Vorstellung existierenden, Punkt an der Wand.
Erstaunt sieht sie ihn an. „Das Beste was ...? Wie meinst du das?“, fragt sie verwundert und legt ihre Stirn in Falten.
„Ich werde ... dich und Julia ... verlassen“, erwidert er zögernd, jedoch mit Nachdruck in der Stimme.
„Du wirst was?“ Ihre Beine drohen unter ihr nachzugeben. Halt suchend tastet sie mit ihren Händen nach hinten. Da nichts in der Nähe ist an das sie sich klammern kann, setzt sie sich auf das Bett. Wie unter Hypnose wiederholt sie seine Worte: „Du wirst mich und Julia ..., wieso um Himmels Willen wirst du uns verlassen?“
„Es gibt mehrere Gründe. Einer davon ist, dass ich Krebs habe und bald sterben werde. Außerdem -.“
„Du hast ..., du wirst bald sterben, ...mein Gott. Deshalb willst du weg von uns?", fassungslos sieht sie zu ihm auf. „Gerd! komm zu dir! Du musst -.“
„Du kannst mich nicht umstimmen. Meine Entscheidung ist gefallen, Kristina. Außerdem ist die Krankheit nicht der einzige Grund“, sagt er mit vibrierender Stimme.
„Nicht der einzige Grund? Es gibt mehrere Gründe?“ Sie erhebt sich und steht völlig ratlos vor ihrem Ehemann.
„Ja. Ich habe seit einiger Zeit eine Freundin, bei der ich wohnen werde. Wahrscheinlich wäre ich über kurz oder lang sowieso gegangen. Dass ich vielleicht nur noch sechs Monate zu leben habe, hat mein Vorhaben nur beschleunigt.“
„Du hast eine ...“, urplötzlich wird ihr schlecht. Sie ist unfähig den Satz zu Ende zu sprechen. Kristina stößt ihren Mann mit dem Arm zur Seite und rennt aus dem Schlafzimmer. Im letzten Moment erreicht sie das Bad. Sie reißt den Deckel der Toilettenschüssel auf. Nach vorne gebeugt, mit auf den Knien abgestützten Händen, steht sie würgend da und übergibt sich, bis sie das Gefühl hat, ihr Magen müsse jeden Augenblick vor ihr in der Toilette liegen.
Als sie zurück ins Schlafzimmer kommt ist ihr Mann soeben damit fertig einige Kleidungsstücke in einer Reisetasche zu verstauen. „Kristina, ist alles in Ordnung?“ fragt er bedrückt und legt seine Hand sanft auf ihre Schulter.
„Du eröffnest mir aus heiterem Himmel, dass du todkrank bist!“, mit einer unwilligen Handbewegung schlägt sie wütend seinen Arm zur Seite. „Im gleichen Atemzug sagst du mir ins Gesicht, dass du eine Freundin hast! Wie ich sehe packst du deine Sachen, um zu ihr zu ziehen!“ Ihr Gesicht befindet sich nun dicht vor seinem. „Nun fragst du mich, ob alles in Ordnung ist? Wieso sollte nicht alles in Ordnung sein? Es ist alles wunderbar!“ Wie Pfeile schleudert sie ihm die Worte entgegen und blickt ihm dabei unverwandt in die Augen.
„Bitte beruhige dich, ich -.“
„Geh jetzt, sie wartet bestimmt schon auf dich!“, schreit sie ihn an. Sie wirft sich aufs Bett und vergräbt ihr Gesicht im Kopfkissen.
„Am Wochenende komme ich und hole meine restlichen Sachen, dann kann ich auch mit Julia reden, wenn es dir recht ist.“
Kristina reagiert nicht. Holm nimmt mit zitternden Händen die Reisetasche auf und läuft ins Bad. Dort wirft er sein Rasierzeug und ein paar andere Toilettenartikel in die Tasche. Danach geht er nach oben, schaut in das Zimmer seiner Tochter, lässt seine Blicke über die Spielsachen und über das leere Bett schweifen. Plötzlich hat er das Gefühl, als würde sich eine stählerne Klammer um seinen Hals zusammenziehen. Die Kehle wird ihm zugeschnürt, das Atmen fällt ihm schwer. Schnell löscht er das Licht und läuft eilig die Treppe hinab in die Garage. Hastig steigt Holm in seinen Wagen, startet den Motor und rollt die Ausfahrt hinaus über den Gehsteig auf die Straße. Dort hält er kurz an. Er drückt den Knopf seiner Fernbedienung und wartet, bis sich das Garagentor geschlossen hat. Als er auf den vom Regen glänzenden Straßen durch die Stadt fährt, ist es kurz vor Mitternacht. Gerd Holm weint zum zweiten Mal an diesem Tag.
Vom Schlafzimmerfenster aus schaut Kristina mit Tränen in den Augen dem davonfahrenden Wagen nach. „Was habe ich nur falsch gemacht?“, überlegt sie laut. „Wenn einen das Schicksal strafen will, schlägt es mit aller Härte zu. Über was soll ich mehr schockiert sein? Über seine Krankheit? Darüber, dass er bald sterben wird? Soll ich mich mit der Frage quälen warum er mich betrogen hat? Nein! Ich werde stark sein! Ich muss an Julia denken, wir werden es schaffen!“ Müde von der Aufregung der letzten halben Stunde geht sie ins Badezimmer, um den säuerlichen Geschmack des Erbrochenen aus dem Mund zu spülen. Kurz darauf begibt sie sich mit schweren Schritten ins Schlafzimmer. Angezogen lässt sie sich aufs Bett fallen. Minuten später schläft sie wie erschlagen ein.
Tanja hat auf ihn gewartet. Sie kommt ihm entgegen, als er die Wohnung betritt. „Du bist spät dran“, stellt sie fest.
„Ich war wie benebelt und musste unterwegs anhalten, um frische Luft zu schöpfen“, murmelt er fast unverständlich.
„Wo bist du gewesen? Deine Schuhe sind ja total schmutzig“, ein vorwurfsvoller Ton schwingt in ihrer Stimme mit, als sie auf seine Füße schaut.
„Oh! Tut mir leid, das habe ich gar nicht bemerkt“, entschuldigt er sich und schlüpft aus seinen, mit feuchter Erde verdreckten, schwarzen Halbschuhen.
„Wie hat deine Frau reagiert?“, fragt sie neugierig.
„Wie reagiert eine Frau mit einer fünfjährigen Tochter, die Knall auf Fall von ihrem Mann verlassen wird, deiner Meinung nach auf diese Nachricht?“, stellt er unwirsch eine Gegenfrage.
„Tut es dir leid, dass du -.“
„Tanja, bitte! Nichts tut mir leid, ich bin nur müde. Lass uns schlafen gehen, ich muss morgen zeitig aufstehen.“
Als er neben ihr im Bett liegt, die Wärme ihres Körpers spürt und ihre ruhigen, gleichmäßigen Atemzüge hört, kreisen seine Gedanken um seine Vergangenheit und um seine Zukunft. Er denkt an seine Tochter, deren Einschulung er nicht mehr erleben wird. Er denkt an die Zeit mit Kristina und an die letzten Monate die ihm bleiben. Vor seinem geistigen Auge lässt er sein Leben Revue passieren. Er denkt über seine Krankheit nach, stellt sich vor wie der kleine Rest seines Lebens mit Tanja verlaufen könnte. Erst als der Morgen graut, fällt Gerd Holm in einen unruhigen, von wirren Träumen begleiteten Schlaf.
Heinz Zink, achtundfünfzig Jahre alt und Leiter der Mordkommission, sitzt müde vorn über gebeugt an seinem Schreibtisch. Er studiert eine Akte, als das Läuten des Telefons ihn aus der Konzentration reißt. Mit der Linken nimmt er den Hörer ab, lehnt sich in seinem Stuhl zurück und kratzt sich mit der Rechten an seinem, mit schütterem, dunkelbraunem Haar bewachsenen, Kopf.
„Mordkommission, Zink“, knurrt er, während sich sein Hemd bedrohlich über der Wölbung seines Bauchansatzes spannt.
„Pelzer, viertes Revier. Guten Morgen Herr Hauptkommissar.“
„Morgen, Pelzer“, brummt er ins Telefon, „was gibt es in aller Herrgottsfrühe?“
Der Beamte ist von Zinks Tonfall in dessen Stimme leicht irritiert, denn Zink ist als freundlicher und väterlicher Kollege sehr beliebt. „Arbeit für sie, Herr
Hauptkommissar. Ein Jogger ist im Stadtpark über einen Toten gestolpert. Zwei Streifen von uns sind bereits dort und sichern den Fundort ab.“
Zink richtet ruckartig seinen Oberkörper auf. Die Lehne seines Stuhls schnellt nach vorne, augenblicklich ist er hellwach. „Wir sind in zehn Minuten da! Wo genau liegt der Tote?“
„Nur wenige Meter von der Straße entfernt, am kleinen Ententeich. Wissen sie wo -.“
„Ich weiß, Pelzer, danke!“ Zink legt den Hörer auf. Er öffnet seine Schreibtischschublade, nimmt die Akte die vor ihm liegt und wirft sie hinein. Er ist froh, dass er den Schreibkram zurückstellen kann, was aber nicht bedeutet, dass er erfreut darüber ist eine Leiche am Hals zu haben.
„Dengler!“ Er ruft den vierundzwanzigjährigen Polizeiobermeister, der die Frau – die vor zwei Tagen ihren besoffenen Ehemann mit einem Küchenmesser erstochen hat – im Zimmer nebenan über die Hintergründe und den Tathergang befragt.
„Ja, Chef.“
„Dengler, lassen sie bitte Frau Kress wegbringen, wir müssen in den Stadtpark!“
„In den Stadtpark? Aber ich habe noch nicht einmal ...“, setzt Dengler zu einem Einwand an, „... ich bin -.“
„Wollen sie sich mit mir an einen runden Tisch setzen und diskutieren?“, fragt Zink mit strengem Unterton in der Stimme.
„Nein, natürlich nicht“, entgegnet Dengler kleinlaut. Er gibt der grinsenden, neben der Tür stehenden Polizistin einen Wink, damit sie die Frau, die bleich in sich zusammengesunken auf dem harten Stuhl vor seinem Schreibtisch sitzt, abführt. Er steht auf und geht durch die offene Verbindungstür in das Büro des Hauptkommissars. Seine dunkelblonden, zerzausten Haare stehen ihn wirr vom Kopf ab. Niemand, der den schlaksigen, einsachtzig großen Dengler zum ersten Mal sieht, würde ihn für einen Polizisten halten.
„Arme Person, die Frau. Haben sie ihre blauen Flecken gesehen, Chef?“
„Sicher, Dengler. Glauben sie mir, am liebsten würde ich sie laufen lassen“, fügt Zink bedrückt hinzu. „Ist Brenner schon hier?“
„Ich habe ihn noch nicht gesehen, Chef. Soll ich ihn anrufen?“
„Ja! Klingeln sie ihn aus den Federn und sagen sie ihm dass wir -.“
Die Tür des Büros fliegt auf und Brenner stürmt herein. „Entschuldigung! Aber mein Wagen hat den Geist aufgegeben und der verdammte Fahrstuhl ist wieder mal außer Betrieb“, schimpft er japsent.
„Wird Zeit, dass du kommst, Lothar. Behalte deine Jacke an, wir müssen weg.“
„Wohin?“, fragend sieht Brenner seinen Freund und Vorgesetzten an.
„Wirst du sofort erfahren. Dengler, verständigen sie die Spurensicherung und die Rechtsmedizin! Sagen sie ihnen im Stadtpark, beim kleinen Ententeich, liegt Kundschaft für uns. Anschließend besorgen sie einen Wagen, wir warten vor dem Eingang.“
„Wird prompt erledigt, Chef!“, antwortet Dengler eifrig und eilt ans Telefon.
Zink angelt sich seine Jacke von der Garderobe neben der Tür und verlässt zusammen mit Brenner den Raum. Mit seiner Größe von einsachtundachtzig überragt Brenner seinen neun Jahre älteren Kollegen um gut sechs Zentimeter. Durch seine breiten Schultern, seinem gutmütigen Gesichtsausdruck und auf Grund seines Bürstenhaarschnitts wirkt Brenner wie ein gutmütiger, tapsiger Bär. Viele seiner Kunden könnten im Nachhinein bestätigen wie sehr der Eindruck täuscht. Er sieht Zink, mit dem er seit über zwölf Jahren zusammenarbeitet, von der Seite an.
„Du siehst nicht gerade wie das blühende Leben aus, Heinz. Hattest wohl eine lange Nacht?“, fragt er schmunzelnd. Nebeneinander laufen sie die breite Treppe hinab.
„Erinnere mich bloß nicht daran. Gestern Abend erscheint ein ehemaliger Schulfreund bei mir auf der Bildfläche. Er hält sich geschäftlich in der Stadt auf. Zwanzig Jahre haben wir uns nicht gesehen, was da los war kannst du dir denken. Wir schwelgten in Erinnerungen und bis ich mich versehe, hatten wir vier Flaschen Wein geleert. Um vier Uhr lag ich endlich in der Koje. Ich bin froh, dass ich an die frische Luft komme!“
Mittlerweile im Erdgeschoss angelangt fragt Brenner: „Weißt du schon Genaueres?“
„Nein. Die vom Vierten haben angerufen“, antwortet Zink. Er nickt dem Diensthabenden Beamten in der Eingangshalle zu, während dieser gleichzeitig den Knopf des automatischen Türöffners drückt. Brenner greift nach der Klinke, zieht die schwere Eingangstür des Präsidiums auf und macht eine einladende Handbewegung. „Bitte nach dir. Alter vor Schönheit“, flachst er.
„Wenn du schön bist, will ich lieber alt sein“, entgegnet Zink trocken.
Brenner zuckt mit den Schultern und sagt grinsend: „Eins zu null für dich, Herr Hauptkommissar.“
Sie stehen noch keine zwei Minuten auf dem Gehsteig, als ein ziviles Einsatzfahrzeug mit quietschenden Reifen, eingeschalteten Martinshorn und zuckenden Blaulicht aus der Einfahrt der Tiefgarage schießt.
Brenner sieht Zink an und verdreht die Augen. „Unser Dengler, ein fixer Junge. Ich glaube er will Polizeipräsident werden.“
„Der wird mit Sicherheit auch noch ruhiger, darauf kannst du Gift nehmen.“
Bevor der Wagen neben ihnen zum stehen kommt, radiert er noch einige Meter mit den Reifen am Bordstein entlang. Zink steigt vorne ein, Brenner nimmt auf dem Rücksitz Platz.
„Dengler“, sagt Zink ruhig in väterlichem Tonfall. Er sieht seinen jungen Kollegen treuherzig an. „Nehmen sie das Blaulicht vom Dach, schalten sie die Musik aus und fahren sie bitte nach den Vorschriften der Straßenverkehrsordnung zum Stadtpark. Die Leiche läuft uns mit Sicherheit nicht weg.“
„Jawohl, Chef.“ Die Enttäuschung steht Dengler ins Gesicht geschrieben. Er greift mit der linken Hand durch die geöffnete Seitenscheibe nach außen und holt das Blaulicht in den Wagen. Anschließend schaltet er das Martinshorn aus. Wie ihm von Zink aufgetragen, fährt er unter Beachtung aller Verkehrsregeln zum Stadtpark.
Schon von weitem signalisiert ihnen eine Ansammlung von etwa zwei Dutzend Neugierigen, welche Richtung sie einschlagen müssen. Dengler steuert den Wagen vorsichtig auf einen mit Split befestigten Weg. Er stellt den Motor ab und steigt gemeinsam mit seinen Kollegen aus. Sie bahnen sich ihren Weg durch die Leute, die sich bis dicht an die rot-weißen Absperrbänder der Polizei drängen.
„Dengler, fragen sie die Gaffer, vielleicht hat irgendjemand etwas gesehen. Wer keine Angaben machen kann, den schicken sie weiter! Sie sind dafür verantwortlich, dass hier nicht in Kürze Hunderte von Schaulustigen alle eventuell verwertbaren Spuren zertrampeln. Ist das klar?“
„Jawohl, Chef“, antwortet Dengler und macht auf dem Absatz kehrt.
Brenner hebt das Absperrband ein Stück an. Er und Zink bücken sich darunter hindurch um zum Fundort der Leiche zu gehen.
„Guten Morgen, Kollege“, grüßt Zink den Polizisten der ihnen entgegenkommt.
„Guten Morgen“, er nickt den beiden Kriminalbeamten zu. „Bitte kommen sie, hier hinten liegt der Tote“, sagt der Uniformierte und geht voraus. Sie müssen durch ein vom nächtlichen Regen aufgeweichtes Blumenbeet stapfen, um zur Leiche zu gelangen.
„Das hat gerade noch gefehlt“, mault Brenner. „Wenn ich das geahnt hätte, wäre ich in Gummistiefeln gekommen.“ Wie ein Storch schreitet er in den Fußabdrücken seiner Kollegen hinter ihnen her, um seine Schuhe nicht zu ruinieren.
„Dort liegt er.“ Ihr Kollege deutet auf eine Hecke. „Ich warte hier, wenn sie nichts dagegen haben, mir ist von dem Anblick jetzt noch schlecht.“
Zink und Brenner gehen vorsichtig an ihm vorbei. Nach ein paar Schritten sehen auf den Toten hinab. Die beiden Beamten haben weiß Gott schon einiges in ihrer Laufbahn gesehen. Doch dies ist ein grausiger Anblick, der sich ihnen bietet. Dass es sich um einen Mann handelt, erkennt man erst bei näherem Hinsehen.
Die völlig entkleidetet Leiche ist furchtbar zugerichtet. Der Rücken ist mit unzähligen Schnitten und Stichverletzungen übersät. An den Handgelenken, sowie an den Knöcheln der Füße zeichnen sich dunkle, tief in das Fleisch eingeschnittene Wunden ab. Da das Opfer auf dem Bauch liegt, müsste es umgedreht werden um das Ausmaß weiterer Verletzungen zu erkennen.
„Mein lieber Mann, da hat einer aber ganz schön Dampf abgelassen. Wer ist dazu fähig einen Menschen so zuzurichten, kannst du mir das sagen, Heinz?“
„Ein Wahnsinniger, ein gehörnter Ehemann, eine betrogene Ehefrau oder eine sitzen gelassene Freundin. Vielleicht ein Racheakt der Unterwelt, heutzutage ist alles möglich, Lothar. Jedenfalls sieht das nicht nach der Tat eines psychisch gesunden Menschen aus. Wer zu so etwas fähig ist, muss krank sein. Komm gehen wir zurück und warten auf die Spurensicherung.“
„Moment noch“, Brenner beugt sich nach vorne. Mit prüfenden Blicken sucht er das Gras ab. „Keine Blutspuren zu sehen“, stellt er fest. „Der Fundort ist augenscheinlich nicht mit dem Tatort identisch. Dennoch müssten Blutspuren zu erkennen sein, es sei denn ...“ Er bricht mitten im Satz ab, richtet sich wieder auf und sieht Zink an.
„Es sei denn, der Regen vergangene Nacht -.“
„Hallo Kollegen, macht mal bitte Platz, damit wir an die Arbeit gehen können“, unterbricht eine Stimme Zink in seinen Überlegungen. Franz Gertel von der
Spurensicherung kreuzt mit seinen Männern in ihren weißen Overalls auf. Er begrüßt Zink und Brenner per Handschlag. „Schon was entdeckt?“
„Für uns Laien ist hier nicht viel zu erkennen, Franz“, antwortet Zink, „wir verlassen uns voll und ganz auf euch.“
„Dann wollen wir mal loslegen. Jungs!“ Gertel gibt seinen Männern einen Wink, die sofort mit ihrer Arbeit beginnen. Die Beamten stellen eine kleine gelbe Tafel mit der Nummern 1 neben der Leiche auf. Anschließend suchen sie den Fundort in einem größeren Radius Zentimeter für Zentimeter ab. Jeder noch so unscheinbare Hinweis, die kleinste Spur, alles wird mit weiteren, fortlaufend nummerierten Täfelchen gekennzeichnet. Gleichzeitig wird der Tote aus verschiedenen Positionen fotografiert.
Nachdem die Spurensicherung ihre Arbeit beendet hat, winkt Gertel Zink, Brenner und den inzwischen eingetroffenen Rechtsmediziner zu sich heran. „Sie können anfangen, Doktor, wir sind fertig“, sagt Gertel. Er wendet sich Zink und Brenner zu. „Dort drüben“, er deutet nach links auf ein Blumenbeet, „etwa zwanzig Schritte von der Leiche entfernt, ist jemand durch das Beet zur Straße gelaufen. Die Person hat einige blitzsaubere Fußabdrücke in der feuchten Erde hinterlassen. Ansonsten sieht es auf den ersten Blick nicht gut aus. An der Hecke einige angebrochene Zweige, die wir im Labor auf Faserspuren untersuchen. Das ist vorerst alles. Ach ja, das hier ist auf keinen Fall der Tatort, die Leiche wurde hier abgelegt.“
„Ziemlich dürftig, Franz“, sagt Zink der aufmerksam zugehört hat, „aber besser als gar nichts.“
„Tut mir leid, dass ich nicht mit mehr dienen kann. Meinen Bericht bekommst du so schnell wie möglich, wir verschwinden jetzt. Macht ´s gut!“
„Mach ´s besser“, antwortet Zink. Er sieht den abrückenden Beamten der
Spurensicherung nach. „Lass uns mal hören“, sagt er nach einer kurzen Denkpause zu Brenner, „was der Arzt zu sagen hat.“
Als sie bei ihm angelangt sind, erhebt sich der Rechtsmediziner soeben schwer atmend aus der Hocke. Er hat den Toten zur Seite gedreht. „Sehen sie sich das an“, er deutet auf das Opfer. „Der Mann wurde richtiggehend massakriert. Der Körper des Mannes weißt zentimetertiefe Schnittwunden und Einstiche im Brust- und Bauchraum sowie an den Oberschenkeln auf.“ Der Arzt unterbricht kurz, nimmt seine Brille ab und putzt sie mit seinem Taschentuch. Als er damit fertig ist setzt er die Augengläser wieder auf. „Das war der harmlose Teil, jetzt wird es langsam interessanter.“ Er atmet tief durch, was weniger mit dem Anblick der Leiche, als mit seiner Körperfülle zu tun hat. „Der Körper ist allem Anschein nach völlig blutleer, was an Hand der schweren Verletzungen nicht verwunderlich ist. Beide Augen wurden ihm ausgestochen. Sein Penis ist abgetrennt“, erklärt der Arzt emotionslos den beiden Kriminalbeamten. „Und wenn sie glauben, meine Herren, dass es keine Steigerung mehr gibt, täuschen sie sich.“
Er hält kurz inne. Mit Daumen und Zeigefinger rückt er seine Brille zurecht. „Sein Herz fehlt!“
„Was?“, entfährt es Zink und Brenner wie aus einem Mund. Ungläubig sehen sie den Arzt an.
„Das darf doch nicht wahr sein!“ Brenners Blick fällt auf das Opfer. „Bist du sicher?“
„Ich bitte dich!“ Ein vorwurfsvoller Blick trifft Brenner.
Leicht beleidigt fährt der Arzt mit seinen Ausführungen fort: „Außerdem war er an seinen Handgelenken und Knöcheln, wie du anhand der Blutergüsse und den tiefen Einschnitten unschwer erkennen kannst, wahrscheinlich mit einem Draht oder einer dünnen Nylonschnur gefesselt.“
Zink fährt sich durchs lichte Haar. „Wann etwa wurde er, man muss wohl sagen, abgeschlachtet?“
„Das kann ich ohne genauere Untersuchung nicht sagen, Herr Hauptkommissar.“
„Ich will es jetzt auch nicht genau auf die Minute wissen, sondern ungefähr.“
„Berücksichtigt man außer der Tatsache, dass er völlig ausgeblutet ist auch noch den Regen heute Nacht, würde ich sagen so zwischen zweiundzwanzig Uhr gestern Abend und drei Uhr heute Früh. Näheres kann ich ihnen erst nach der Obduktion bekannt geben. Sagen wir ...“, er überlegt kurz, „... morgen im Laufe des Tages.“
„Danke Doktor“, sagt Zink nachdenklich. Er reibt seine Nasenwurzel zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand. „Für den Anfang war das vorerst alles.“
Der Arzt gibt seinen zwei Begleitern, die darauf warten den Toten ins Rechtsmedizinische Institut zu bringen, einen Wink. Sie legen den grässlich verstümmelten Leichnam auf einen bereits ausgebreiteten, aus speziellem Kunststoff bestehenden, luft- und flüssigkeitsdichten Leichensack. Nachdem einer der Beiden den Reißverschluss zugezogen hat, heben sie den Toten in den bereitstehenden Bergungssarg aus Polyethylen.
Zink und Brenner sehen dem langsam davonfahrenden Fahrzeug der Gerichtsmedizin nach.
„Ich habe ein flaues Gefühl im Magen“, sagt Brenner zu Zink. „Denkst du das gleiche wie ich?“
„Entweder ist der Mörder völlig ausgerastet und in einen Blutrausch gefallen oder es ist die Tat eines Psychopaten. Eine andere Erklärung fällt mir zurzeit nicht ein.“
Langsam gehen sie zu ihrem Wagen. „Dann klappern wir mal die umliegenden Häuser ab, vielleicht haben wir Glück und jemand hat etwas gesehen.“
„Das wäre zu schön um wahr zu sein.“ Leichter Zweifel ist aus Brenners Stimme herauszuhören. „Wahrscheinlich können wir tagelang hier in der Gegend herumlatschen und sind dann immer noch so klug wie jetzt.“
„Positiv denken, Lothar, positiv denken“, antwortet Zink und klopft Brenner dabei auf die Schulter.
Die Ansammlung der Schaulustigen löst sich, nachdem der Tote abtransportiert wurde, langsam auf. Nur einige Reporter und ein Fernsehteam des lokalen Senders stehen noch an der Absperrung. Zink bleibt einige Schritte vor ihnen stehen und blickt suchend in die Runde.
„Falls du dein Nesthäkchen suchst, Mister Holmes, der ist vor einigen Minuten in dem Haus da drüben verschwunden.“ Julius Rode, ein alter Bekannter von Zink und Reporter beim größten Lokalblatt der Stadt, drängelt sich an seinen wartenden Kollegen vorbei. Er deutet mit dem Daumen über die Schulter nach hinten. „Hallo Heinz, Tag Herr Kommissar“, grüßt er die Beamten.
„Julius, alter Schwede, welches Vögelein hat dir ins Ohr gezwitschert, dass hier was los ist?“
„Wird nicht verraten, alter Freund. Erzähl uns, was ist passiert?“
Zink will näher an die Journalisten herantreten, doch Brenner hält ihn kurz am Ärmel fest.
„Ich mache mich auf die Socken und hör mich auf der Westseite des Parks um. Wann treffen wir uns wieder?“
„Na sagen wir“, Zink sieht auf seine Armbanduhr, „in zwei Stunden. Hier beim Wagen.“
Brenner nickt. „Bis später.“
„Meine Damen, meine Herren“, richtet Zink das Wort an die Reporter. „Ich sage ihnen in zwei Sätzen, was wir bis jetzt wissen: Unbekannte, völlig unbekleidete, männliche Person, mit mehreren Messerstichen ermordet. Motiv und Täter
unbekannt. Das war ´s.“
„Ziemlich spärlich. Können sie uns nicht mehr sagen?“, ruft ein nassforscher junger Volontär, der sich seine Sporen erst noch verdienen muss. „Wer hat den Mann getötet?“
„Junger Freund, wenn ich das jetzt schon wüsste, wäre ich nicht Kriminalbeamter, sondern Hellseher geworden.“ Zink lächelt den jungen Mann freundlich an.
Die anderen Reporter grinsen. Sie kennen den Hauptkommissar schon länger. Alle Reporter haben ein gutes Verhältnis zu ihm. Sie respektieren sich gegenseitig, keiner versucht den anderen hinters Licht zu führen. Die Journalisten wissen natürlich, dass Zink ihnen nicht immer sofort jede Kleinigkeit auf die Nase bindet. Sie akzeptieren das, ohne ihn mit bohrenden Fragen auf die Nerven zu fallen. Sie wissen aus Erfahrung, dass er sie auf dem Laufenden hält. Außerdem hat der eine oder andere von ihnen schon am eigenen Leib zu spüren bekommen, dass Zink trotz seiner augenscheinlich gutmütigen Art, auch ein äußerst ungemütlicher Geselle sein kann.
Die Ohren des jungen Volontärs beginnen zu glühen und er schaut verlegen zu Boden.
„Also Herrschaften, es ist früh am Tag. Ich schlage vor, sie lassen mich jetzt vom Haken. Ich muss mit meiner Arbeit beginnen“, sagt Zink schmunzelnd.
Die Presseleute wenden sich zum Gehen. Er macht sich auf den Weg, um wie seine Kollegen Brenner und Dengler die Ermittlungen aufzunehmen.
Zwei Stunden später findet sich Brenner wieder bei ihrem Wagen ein. Zink erwartet ihn bereits. „Wie sieht es aus, Lothar, konntest du etwas in Erfahrung bringen?“
„Nichts! Der sprichwörtliche Schuss in den Ofen, Heinz. Niemand der Bewohner in den umliegenden Häusern hat was gesehen oder gehört. Wie war ´s bei dir?“
„Genau das gleiche. Niemand ging bei dem Sauwetter vergangene Nacht auf die Straße.“
„Wo bleibt eigentlich unser angehender Polizeipräsident? Wird Zeit, dass er
auftaucht, er hat den Wagenschlüssel bei sich. Ich habe nämlich Kohldampf“, murrt Brenner.
„Da haben wir ihn schon.“ Zink deutet mit dem Zeigefinger in die Richtung aus der Dengler getrottet kommt.
„Na, wie ist ´s gelaufen?“, fragt Brenner, als Dengler bei ihnen eingetroffen ist.
„Nicht schlecht, Herr Kommissar“, antwortet Dengler gut gelaunt. „Anfangs, nach den ersten erfolglosen Gesprächen, dachte ich es wird eine Pleite. Aber dann, beim achten oder neunten Anlauf hatte ich Glück.“
Erstaunt sehen sich Zink und Brenner an. „Erzählen sie“, fordert der Hauptkommissar Dengler auf.
„Na ja, da war eine Frau, etwa siebzig Jahre alt. Ich erinnere sie an ihren Enkel hat sie gesagt. Sie bat mich in ihre Wohnung, in der es wundervoll nach Essen duftete -.“
„Dengler, kommen sie zum Wesentlichen“, unterbricht Brenner ungeduldig. Er spürt wie sein Magen knurrt.
„Ich bin ja dabei, Herr Kommissar. Also, sie bat mich in ihre Wohnung, in der es -.“
„... wundervoll nach Essen duftete“, führt Brenner den Satz zu Ende. „Das wissen wir bereits und was haben sie dann gemacht?“
„Ich habe sie gefragt ob ihr in der letzten Nacht etwas aufgefallen ist.“ Dengler macht eine kurze Pause.
„Und weiter? Na los, spannen sie uns nicht auf die Folter!“, fordert Zink ihn auf weiter zu berichten.
„Ihr ist nichts aufgefallen -.“
„Dengler!“ Brenner wird zornig. „Ich drehe ihnen gleich den Hals um!“
„... aber ihrem Mann“, sagt Dengler schnell.
„Aber Ihrem Mann?“, wiederholen Zink und Brenner gleichzeitig.
„Ja. Er musste mit dem Hund nochmals raus. Da ist ihm ein komischer Typ begegnet, mitten im Park. Ihr Mann hat den Kerl noch gegrüßt, aber der lief wie hypnotisiert an ihm vorbei, schien ihn gar nicht zu bemerken. Frau März – so heißt die Dame – sagt, ihr Mann erzählte, dass es ihm richtig unheimlich wurde. Also hat er sich schleunigst auf den Rückweg gemacht. Als er auf diesem Weg den Park verließ, sah er den Unheimlichen noch einmal.“
„Wo?“
„Der Schilderung von Frau März nach etwa dort drüben, Herr Hauptkommissar.“ Dengler deutet auf eine Stelle, die ungefähr zwanzig Meter neben dem Fundort der Leiche liegt. „Der Kerl lief durch die Blumenbeete zur Straße, stieg in einen Wagen und fuhr weg.“
„Kann dieser März den Mann beschreiben?“
„Nur ganz vage, sagt seine Frau. Aber er konnte sich das Kennzeichen des Wagens merken, mit dem der Mann weggefahren ist. März hat es sofort auf einen Zettel geschrieben, als er nach Hause kam.“
„Sehr gut, Dengler“, lobt Zink, „haben sie den Zettel?“
„Nein, leider nicht, Chef.“
„Verdammt, Dengler! Warum nicht?“, mischt sich Brenner missgelaunt in das Gespräch ein.
„Weil Herr März den Zettel heute am frühen morgen wahrscheinlich mitgenommen hat, als er zum Angeln fuhr.“
„Oh Mann, wir haben aber auch ein Glück. Wann kommt er von dem Ausflug zurück?“, fragt Brenner genervt.
„Seine Frau weiß es nicht genau. Manchmal kommt er spät in der Nacht, manchmal erst am nächsten Tag nach Hause.“
Brenner neigt leicht den Kopf, sieht Dengler lächelnd an und fragt treuherzig: „Was gab es denn bei Frau März zu essen, wissen sie das?“
„Sicher, Herr Kommissar, sie hat mich ja eingeladen. Ich habe zwei riesige Portionen Gulasch verdrückt, es war köstlich.“
„So, jetzt reicht ´s“, sagt Zink plötzlich. „Dengler, sie bleiben hier. Sehen sie sich ein wenig um, vielleicht können sie noch etwas in Erfahrung bringen. Verstanden?“
„Jawohl, Herr Hauptkommissar“, antwortet Dengler eifrig und reicht Brenner den Wagenschlüssel.
Zink steigt zu Brenner in den Wagen. „Fahr los, mir geht es jetzt wie dir. Ich muss unbedingt zusehen, dass ich was Essbares zwischen die Kiemen bekomme, sonst falle ich tot um.“
Wie aus weiter Ferne dringt ein Geräusch in Kristina Holms Bewusstsein. Mühsam öffnet sie die Augen. Einen Moment lang muss sie überlegen, ob dieses Läuten Realität oder Teil ihrer wirren Träume ist, die sie im Schlaf begleiteten. Kristina fühlt sich wie gerädert. Sie hat sich die ganze Nacht ruhelos im Bett hin und her gewälzt. Nach einigen Sekunden hat sie sich gesammelt, nichts mehr ist zu hören. Auf dem Rücken liegend verfolgt sie in Gedanken versunken mit ihren Blicken eine Fliege, die an der Decke summend ihre Kreise zieht. Da, wieder dieses Läuten! Also doch kein Traum! Kristina muss sich zwingen aufzustehen und zum Telefon zu gehen, das im Wohnzimmer auf einem kleinen, runden Tisch liegt. „Holm.“ meldet sie sich. Nichts! Niemand antwortet. „Hallo, so melden sie sich doch!“ Sie denkt schon der Anrufer hat wieder aufgelegt, als ihr ein leises Atmen verrät, dass doch noch jemand in der Leitung ist. „Hören sie, wenn sie -.“ Die Verbindung ist unterbrochen. „Blödmann“, sagt sie und legt das Telefon wieder ab. Langsam geht sie ins Bad, stellt sich vor den über dem Waschbecken hängenden Spiegelschrank und betrachtet ihr Gesicht. „Du siehst ganz schön zerknautscht aus“, sagt sie zu ihrem Spiegelbild und massiert sich mit den Handflächen die Wangen. „Das werden wir ändern.“ Sie öffnet die rechte Tür, greift nach Zahnbürste und Zahncreme und beginnt ihre Zähne zu putzen. Als sie damit fertig ist, fühlt sie sich schon eine kleine Idee besser. Anschließend schlüpft sie aus ihren Kleidern, stellt sich unter die Dusche und genießt die wohltuende Wärme des heißen Wassers.
Kristina ist soeben im Begriff sich abzutrocknen, als das Telefon wieder läutet. Eilig wickelt sie das Badetuch um ihren nassen Körper und läuft zum Apparat. Sie streckt die Hand aus, lässt jedoch, ehe sie rangeht, noch drei weitere Rufzeichen ertönen. „Holm“, sagt sie, als sie das Telefon am Ohr hält. Nichts! Wieder antwortet niemand. „Langsam werde ich sauer“, schimpft sie, „hören sie mit diesen Albernheiten auf, oder ich -.“ Aufgelegt! Wie beim ersten Mal. „Kinderkram!“ Sie rammt das Mobilteil in die Ladestation und geht zurück ins Bad, um mit ihrer Morgentoilette fortzufahren.
Zwanzig Minuten später steht Kristina in der Küche, brüht Kaffee auf und bereitet sich ihr Frühstück zu. Zufällig fällt ihr Blick durch das Fenster nach draußen. Sie sieht auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Wagen anhalten. Ein Mann, schätzungsweise um die Mitte dreißig, ungefähr einen Meter achtzig groß, mit langen, im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen schwarzen Haaren, steigt aus. Kristina beobachtet, was ganz und gar nicht ihrer Art entspricht wie der Mann an der Tür ihrer Nachbarin klingelt. Als niemand öffnet sieht er sich forschend um. Nach einigem Zögern läuft er über die Straße, genau auf ihr Haus zu. Unmittelbar darauf zeigt ihr der melodische Klang der Glocke im Flur an, dass der Fremde vor ihrer Haustür steht. Sie geht nach vorne und öffnet.
„Ja, bitte?“
Zwei tiefblaue Augen mustern sie unverwandt von oben bis unten.
„Kann ich ihnen behilflich sein oder sind sie gekommen um mich zu begutachten?“, fragt sie lächelnd nach einigen Sekunden.
„Entschuldigen sie, ich wollte nicht unhöflich sein.“
Der Fremde sieht sie leicht verlegen an. „Ich möchte zu Frau Keller. So wie es aussieht ist sie nicht zu Hause, ich dachte vielleicht wissen sie wann sie
zurückkommt.“
„Leider nicht, aber sie geht nie lange weg. Nur mal kurz zum Einkaufen oder auf den Friedhof, ans Grab ihres Mannes. Sie wird sicher bald zurück sein.“
„Ich bin nämlich ihr neuer Untermieter und wollte heute einziehen.“
„Ja, sie hat mir kürzlich erzählt, dass sie vorhat zu vermieten, Herr ...?“
„Oh! Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Sander, Florian Sander. Er hält ihr seine rechte Hand hin. Sie ergreift sie und spürt einen kräftigen Händedruck.
„Holm, Kristina Holm. Auf gute Nachbarschaft.“
„Also, dann will ich sie nicht länger aufhalten, Frau Holm. Ich muss noch was erledigen. Bis zum nächsten Mal.“
Bevor Kristina etwas erwidern kann dreht er sich um und läuft über die Straße zu seinem Wagen. Sie sieht ihm nach, ihre Blicke ruhen auf seinen breiten, kräftigen Schultern. „Sympathischer Bursche“, murmelt sie und geht wieder ins Haus. In der Küche angekommen schaut sie durchs Fenster nach draußen. Florian Sander fährt soeben in seinem Wagen weg. Sie setzt sich an den Tisch, gießt sich eine Tasse Kaffee ein. Plötzlich läutet das Telefon. „Jetzt reicht es!“ Kristina springt auf und stößt an den Tisch. Ein Schwall heißer Kaffee schwappt über den Rand der Tasse auf ihre Leggins. „Scheiße!“, schimpft sie. Wütend rennt sie ans Telefon, reißt das Mobilteil aus der Ladestation. „Hören sie! Wenn sie ein verdammtes, perverses Arschloch sind, dann soll sie der -.“
„Kristina, wie redest du mit deiner Mutter?“ Empörung schwingt in der Stimme der Frau am anderen Ende der Leitung mit.
„Oh! Hallo, Mam. Entschuldige, aber irgendjemand ruft mich alle zehn Minuten an und meldet sich nicht. Ich dachte die Person ist wieder dran.“
„Vielleicht erlauben sich Kinder einen Spaß um dich zu ärgern, das hört bestimmt wieder auf.“
„Na hoffentlich. Ich kann nicht andauernd ans Telefon hetzen. Weshalb ruft du an?“
„Ich wollte nur fragen, ob Gerd dich am Samstag begleitet, wenn du Julia abholst. Wir könnten dann -.“
„Gerd hat mich gestern Abend verlassen Mam“, sagt Kristina leise.
„Was hat er? Was soll das heißen?“ Ihre Mutter ist geschockt und was bei ihr ziemlich selten vorkommt, nahezu sprachlos.
„Das soll heißen, dass er ausgezogen ist. Zu einer anderen Frau.“
„Zu einer an...“ Ihre Mutter ist fassungslos, sie kann den Satz nicht zu Ende sprechen. „Aber wieso um Gottes Willen?“, fragt sie nach einer kurzen Pause.
„Das erkläre ich dir am Wochenende. Ist Julia da?“
„Nein, sie ist bei ihrer Freundin nebenan. Kristina, wir dürfen ihr nicht sagen, dass ihr Vater ausgezogen ist, das würde sie nicht verstehen!“
„Mir fällt schon noch was ein, Mam. Wir sehen uns am Samstag. Okay?“
„Kristina, lass dich nicht unterkriegen, das Leben geht weiter, denk an deine Tochter!“
„Hast du schon vergessen, wie ich von Vater und dir erzogen wurde? Selbstbewusst musst du werden und lernen Rückschläge wegzustecken, habt ihr mir von klein auf eingeprägt. Oft fragte ich mich, was das Ganze soll und fand eure
Gebetsmühlenartigen Predigten ziemlich nervig. Seit gestern bin ich euch dankbar dafür.“
„Mein armes Kind, ich kann Gerd nicht verstehen.“
„Bitte Mam, bemitleide mich nicht. Du kennst mich, ich beiße mich schon durch. Wir reden am Wochenende weiter, ja?“
„Bleibst du zu Hause? Soll ich dich noch einmal anrufen?“
„Nein. Ich hatte schon letzte Woche Schwierigkeiten für heute frei zu bekommen. Wenn ich morgen nicht im Büro erscheine, wird mein Chef an die Decke gehen.“
„Mach ´s gut Mädchen.“
„Du auch Mam“, sagt Kristina.
Nachdem das Gespräch beendet ist, muss sie an ihren Mann und an ihre Tochter denken. Bedrückt geht sie in die Küche zurück, nimmt ihre Tasse und schüttet den inzwischen kalten Kaffee in den Ausguss. Dabei beobachtet sie wie ihre Nachbarin, Frau Keller, soeben die Haustür aufschließt. Kristina ruft sich die kürzlich von Frau Keller fallen gelassene Andeutung in ihr Gedächtnis zurück: Sie möchte, weil sie sich nach dem Tod ihres Mannes so einsam in dem großen Haus fühlt, eventuell ein Zimmer vermieten. Ihre Kinder wohnen weit weg, besuchen sie selten. Also will sie versuchen einen ruhigen jungen Mann, der ihr bei der Gartenarbeit unter die Arme greift, zur Untermiete bei sich aufzunehmen. Wie sich Kristina bereits persönlich überzeugen konnte, ist es der alten Dame auch gelungen jemanden zu finden. Frau Keller verschwindet im Haus und Kristina widmet sich wieder ihrem sehr verspäteten Frühstück. Sie kaut lustlos, ohne großen Appetit, auf ihrem mit Käse belegten Brot herum. Ihre Gedanken kreisen um zwei Menschen: Um Gerd, den sie seit sechzehn Jahren kennt und liebt und um Julia, die gemeinsame, fünf Jahre alte Tochter.
Der Tag verlief für Gerd Holm furchtbar. Als Abteilungsleiter eines großen Kaufhauses musste er sich heute – seinem Empfinden nach – mit sämtlichen Nörglern dieser Stadt herumschlagen. Mehrmals während kurzer Ruhepausen drängte es ihn, Kristina anzurufen. Dreimal wählte er seine – oder besser gesagt ihre, ja, seit letzter Nacht ist es ihre – Nummer. Jedes Mal, als er ihre Stimme hörte, verließ ihn der Mut mit ihr zu reden. Er legte nach einigen Sekunden wortlos wieder auf. Die späteren Versuche sie zu erreichen waren nicht mit Erfolg gekrönt, denn der Anschluss war andauernd besetzt. Jetzt ist er auf dem Nachhauseweg und seine Gedanken jagen sich. Er ist geneigt zu ihr zu fahren, um nachzusehen ob mit ihr alles in Ordnung ist. Wie aus heiterem Himmel durchzuckt eine Welle des Schmerzes sein Gehirn. Nur mit Mühe kann er sein Fahrzeug auf der Straße halten und er hätte beinahe eine Reihe parkender Autos gerammt. Zum Glück ist es von seiner Arbeitsstelle zu Tanjas Wohnung nicht so weit. Er schafft es mit letzter Kraft, seinen Wagen bis auf den Parkplatz der Wohnanlage zu steuern. Holm bleibt noch einige Minuten im Auto sitzen. Er umklammert das Lenkrad so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortreten. Allmählich ebbt der Schmerz in seinem Kopf ab. Er muss sich zwingen auszusteigen und nach oben zu gehen.
Tanja erschrickt als sie ihn sieht. Sein Gesicht ist blass, kalter Schweiß steht ihm auf der Stirn.
„Gerd, ist etwas passiert?“, mit besorgter Mine sieht sie ihn an.
„Nein, ich fühle mich nur nicht so gut. Ich muss mich einen Augenblick hinlegen.“ Er zieht seine Schuhe aus. Achtlos lässt er sie im Flur stehen, wirft seine Jacke auf die Garderobe und geht ins Schlafzimmer. Auf dem Bett sitzend lockert er seine Krawatte, legt sich zurück und ist wenige Minuten später eingeschlafen.
Eine sanfte Berührung lässt Holm die Lider öffnen. Tanja sitzt auf der Bettkante, ihre Hand ruht auf seiner Stirn.
„Wie lange habe ich geschlafen?“, etwas orientierungslos sieht er sie an.
„Drei Stunden. Was war los, hattest du Schmerzen?“
„Ja, nicht lange, aber ziemlich heftig. Ich hatte das Gefühl jemand bohrt eine glühende Speerspitze in meinen Schädel. Gestern Abend, als ich Kristina verlassen hatte und auf den Weg hierher war, ist es noch schlimmer gewesen. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass ich irgendwo angehalten habe, um aus dem Wagen zu steigen. Der Schmerz machte mich fast wahnsinnig. Ich lief wie benebelt umher. Grelle Blitze zuckten vor meinen Augen, ich konnte fast nichts erkennen. Als ich wieder einigermaßen zu mir kam stand ich in einem, vom Regen aufgeweichten, Blumenbeet. Zum Glück hatte ich nur wenige Meter davon entfernt meinen Wagen geparkt, ich hätte sonst nicht gewusst, wo ich ihn suchen soll.“
„Das erklärt, warum deine Schuhe total verdreckt waren“, sie streicht ihm liebevoll übers Haar.
„Tanja, der Arzt sagt, dass außer den Sehstörungen und den Erinnerungslücken, die gestern Nacht zum ersten Mal auftraten, außerdem früher oder später eine Lähmung der einzelnen Gliedmaßen einsetzen könnte. Versprich mir, wenn es soweit ist, bringst du mich in ein Krankenhaus ..., in ..., in dem ich ...“ Seine letzten Worte kommen ihm nur stockend über die Lippen und er ist nicht fähig zu Ende zu sprechen.
„Ich werde dich nicht allein lassen, ganz egal was geschieht, das verspreche ich dir.“ Ihre Augen füllen sich mit Tränen. „Niemals würde ich zulassen, dass du ...“, sie bricht mitten im Satz ab und schaut auf ihre ineinander verschlungenen Finger.
„Tanja, bitte! Willst du zusehen wie ich langsam dahinsieche? Willst du mich füttern, wenn ich meine Arme nicht mehr bewegen kann? Willst du mir eine Bettpfanne unterschieben, mir den Hintern abwischen, wenn ich nicht mehr aufstehen und zur Toilette gehen kann?“ Er richtet sich auf, setzt sich neben sie und legt eine Hand auf ihre Schultern. „Bitte sieh mich an Tanja!“, schreit er sie an, seine Stimme überschlägt sich fast. „Willst du dir das zumuten, mich als sabberndes, stumm vor sich hin glotzendes Stück Fleisch ertragen zu müssen bis ich endlich qualvoll krepiere?!“
Ihr Kopf ruckt in die Höhe. Ihre geröteten Augen halten seinem Blick stand und sie schleudert ihm ihre Worte ins Gesicht. „Ja! Ja! Ja! Und nochmals Ja! Als du mir gestern eröffnet hast, dass es für uns keine lange gemeinsame Zukunft gibt, hätte ich dir genauso gut sagen können du sollst zu deiner Familie zurückgehen. Weißt du warum ich es nicht tat? Weil ich dich liebe, Gerd! Ich will mit dir so lange es uns möglich ist zusammen sein auch wenn ich all das, was du gerade aufgezählt hast, auf mich nehmen muss!“
Als sie ihm ihre Arme um den Hals legt wird sie von einem Weinkrampf geschüttelt.
Er zieht sie sanft zu sich heran. „Verzeih mir bitte, aber wir müssen uns klar darüber sein, dass es nicht einfach wird.“
„Versuchen wir das Beste daraus zu machen“, schluchzt sie, den Kopf an seine Brust gedrückt, „es bleibt uns so wenig Zeit.“
„Ich verspreche es dir“, sagt er, fasst ihr mit der Hand unters Kinn und hebt ihren Kopf leicht an. Als sich ihre Lippen sanft berühren, befällt ihn ein Gefühl der Schwerelosigkeit. Seine Gedanken gleiten in eine Welt in der es ihm nicht vergönnt sein soll zu leben. Gerd Holm ahnt in diesem Augenblick nicht im Entferntesten, dass das Unheil mit riesigen Schritten auf ihn zueilt und im Begriff ist, ihn erbarmungslos zu zertreten.
Hauptkommissar Zink und Kommissar Brenner sitzen sich im Büro an ihren Schreibtischen gegenüber.
„Lothar, in all den Jahren bei der Mordkommission kann ich mich an keinen Fall erinnern, bei dem das Opfer so übel zugerichtet war. Bis jetzt hatten wir es eher mit harmlosen Tätern zu tun. Versteh mich richtig, wenn es um den gewaltsamen Tod eines Menschen geht, ist nichts harmlos. Aber Mord im Affekt, wie bei der Frau die wir hier haben, Totschlag, schwere Körperverletzung mit Todesfolge, das kann überall vorkommen. Diesmal jedoch weiß ich nicht, was ich davon halten soll“, sagt Zink nachdenklich.
Brenner legt die Stirn in Falten. „Könnte es sein, dass sich irgendeine Bande in unserer Stadt breit macht? Hat der Mann etwas gewusst, was er nicht wissen durfte? Oder war er ein unliebsamer Zeuge?“
„Diese Überlegung habe ich auch schon angestellt, aber wieder verworfen. Die erledigen ihre Sachen anders, nicht so. Die schießen jemanden in den Kopf. Schneiden einem die Kehle durch. Brennen das Haus nieder oder arrangieren einen Unfall. Die schneiden keinen Penis ab.“
„Vielleicht hat er die Freundin oder die Frau eines anderen beglückt“, wirft Brenner ein.
„Gut, das wäre eine Möglichkeit. Aber die Augen, wieso wurden dem Mann die Augen ausgestochen?“
„Er hat etwas gesehen was er nicht sehen sollte“, weiß Brenner auch darauf eine Erklärung.
„Das sehe ich auch noch ein“, stimmt Zink zu und tippt sich mit dem Bleistift, den er zwischen den Fingern hält, an die Lippen. „Weshalb wurde dem Opfer das Herz herausgeschnitten?“
„Dazu fällt mir auch nichts ein“, gesteht Brenner. Er lehnt sich resignierend in seinem Stuhl zurück. „Willst du meine Meinung hören, Heinz? Entweder wir haben Glück und dieser Zeuge, wie heißt er doch gleich ...?“
„März.“
„... genau, dieser März ist ein Glücksgriff für uns oder wir haben hier einen Fall am Hals, an dem wir gewaltig zu knabbern haben.“
„Wie meinst du das?“
„Nun, stell dir mal vor, alle unsere bisherige Theorien sind falsch. Stell dir mal vor, durch unsere schöne Stadt schleicht nachts ein Wahnsinniger, dem es Freude bereitet an einem stillen Örtchen seine Opfer auszuweiden und sie uns hübsch verteilt auf den Präsentierteller zu legen. Kein schöner Gedanke, nicht wahr?“
„Mal nur nicht den Teufel an die Wand, Lothar. Das wäre genau das, was wir nicht gebrauchen können. Einen Irren, der die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt.“ Zink wirft den Bleistift auf die Schreibunterlage und sagt müde: „Ich glaube wir machen Feierabend, morgen ist auch noch ein Tag.“
Die beiden stehen auf. Zink nimmt sein Sakko, Brenner seine Lederjacke vom Kleiderhaken und sie gehen zur Tür. Exakt in dem Moment als sie das Büro verlassen wollen, fliegt die Tür auf. Um Haaresbreite wäre sie auf Brenners Nase gelandet.
„Dengler, wie sie es nur immer wieder schaffen, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Gibt’s was Neues oder können wir nach Hause gehen?“
„Entschuldigung, Herr Kommissar“, murmelt Dengler verlegen und zwängt sich zwischen seinen Kollegen hindurch in das Büro. „Nichts Neues.“
„Wie sind sie hierher gekommen, gelaufen?“ Brenner hebt fragend die
Augenbrauen.
„Mit dem Stadtbus, Herr Kommissar. War ganz schön umständlich, ich musste zweimal umsteigen. Darf ich fragen was wir jetzt unternehmen?“ Voller Tatendrang sieht er Brenner an.
„Nichts, Dengler, wir gehen nach Hause und machen morgen weiter“, antwortet Zink, der das Gespräch bis jetzt amüsiert verfolgt hat, gelassen.
„Wir machen morgen ...“, der junge Beamte sieht seinen Chef ungläubig an.
„Genau das tun wir. Bis morgen“, verabschiedet sich Zink. Bevor Brenner die Tür hinter sich zuzieht hebt er lächelnd die Hand zum Gruß. „Auf Wiedersehen, Kollege.“
Beide schlendern den Flur hinunter. Plötzlich bleibt Brenner stehen, macht auf dem Absatz kehrt und läuft zurück. Er reißt mit einem Ruck die Bürotür auf, streckt den Kopf zwischen Türblatt und Rahmen hindurch. Freundlich sagt er zu seinem erschrockenen Kollegen: „Dengler, würden sie mir einen Gefallen erweisen?“
„Selbstverständlich, Herr Kommissar“, antwortet dieser. Erwartungsvoll sieht er Brenner an. „Was soll ich tun?“
„Erkundigen sie sich bei den Revieren, ob irgendwelche Vermisstenanzeigen vorliegen. Ich wäre ihnen sehr dankbar, wenn die Liste morgen früh acht Uhr auf meinem Schreibtisch liegt.“
„Wird sofort erledigt.“ Eifrig schnappt sich Dengler das Telefon.
„Ich werde sie in mein Nachtgebet einschließen, Herr Kollege“, lächelt Brenner und schließt die Tür.
Zink, der an der Treppe auf ihn wartet, sieht ihn fragend an. „Was war los, hast du was vergessen?“
„Nein. Ich wollte diese Arbeit morgen früh erledigen, aber ich dachte, weil unser junger Kollege so enttäuscht geguckt hat, als du gesagt hast wir gehen nach Hause, kann er das übernehmen. Ich habe ihm aufgetragen eine Liste von vermissten Personen anzulegen.“
„Und, wie hat er reagiert?“
„Er hat sich gierig darauf gestürzt, wie ein Löwe auf seine Beute.“
„Langsam glaube ich auch, dass er Polizeipräsident werden will.“ Zink schmunzelt. „Wir müssen nur aufpassen, dass er in seinem Eifer nicht einmal über das Ziel hinaus schießt und sich den Schädel einrennt. Denn so wie es aussieht, wird ein guter Polizist aus ihm.“
Das plötzlich laut einsetzende Summen ihres Radioweckers reißt Kristina Holm aus dem Schlaf. Ihre Hand kriecht schwerfällig unter der Bettdecke hervor, tastet nach dem Ruhestörer und ein leichter Druck auf die Stopptaste sorgt dafür, dass das penetrante Geräusch verstummt. Obwohl sie zeitig schlafen ging, fühlt sie sich wie erschlagen. Sie verbrachte wieder eine unruhige Nacht. Bizarre Träume, in denen sie den qualvollen Tod ihres Mannes sowie seine Beerdigung ein um ´s andere Mal in verschiedenen Variationen erlebte, ließen sie keine Ruhe finden. Müde kriecht sie aus den Federn und schlurft ins Bad um sich zurechtzumachen.
Gegen sieben Uhr dreißig bricht sie auf, um ins Büro zu fahren. Als sie in ihrem Kleinwagen langsam aus der Garage rollt, sieht sie den Wagen von Florian Sander am gegenüberliegenden Straßenrand stehen. Kristina lässt ein Fahrzeug vorbei, schert auf die Straße ein und beschleunigt zügig.
Im Haus ihrer Nachbarin steht hinter einem Fenster im Obergeschoss, durch die bis auf einen Spalt breit geschlossenen Vorhänge vor Blicken geschützt, Florian Sander. Die Finger seiner rechten Hand spielen mit einem Kreuz, das auf dem Kopf hängend an einer silbernen Kette, die er um den Hals trägt, befestigt ist. Nachdenklich sieht er Kristina nach, bis ihr Wagen um die nächste Ecke verschwindet.
Der morgendliche Berufsverkehr mit seinem üblichen Stau treibt Kristina fast zur Weißglut. Schwerfällig wie eine satte Riesenschlange kriecht die Blechlawine, eine Wolke aus stinkenden Abgasen ausstoßend, vor ihr her. Sie ist spät dran, als sie in eine Seitenstraße abbiegt, über die sie die Zufahrt zu dem Hinterhof erreicht, in dem sich die Parkplätze für die Steuerkanzlei ihres Chefs befinden. Sein Wagen steht noch nicht hier. Sie beeilt sich, stellt ihr Fahrzeug ab, verschließt es und läuft über das Treppenhaus die Stufen zum zweiten Stockwerk empor. Leicht außer Atem betritt sie die Kanzlei. Ihre Kollegin und gleichzeitig beste Freundin Manuela Friese sitzt bereits hinter ihrem Schreibtisch, auf dem sich ein Stapel Unterlagen türmt.
„Hallo, Manuela“, grüßt Kristina und lässt sich auf ihren Stuhl fallen.
„Hallo, Kristina. Ist dir jemand auf den Fersen oder hattest du eine stürmische Liebesnacht, Schatz? Du siehst völlig geschafft aus“, augenzwinkernd mustert sie ihre Freundin.
„Das bin ich auch, das darfst du mir glauben“, antwortet Kristina, während sie ihren Schreibtisch aufschließt und ihre Handtasche im untersten Fach verstaut.
Manuela fällt der traurige Ton in der Stimme Kristinas sofort auf. „Was ist los, hattest du Krach mit Gerd?“
„Wenn ´s das nur wäre“, antwortet Kristina mit ernster Mine, „dann wäre alles halb so schlimm.“
„Komm, erzähl, wo drückt der Schuh? Du weißt genau, wenn du Probleme hast, kannst du jederzeit mit mir darüber reden“, aufmunternd sieht Manuela ihre Freundin an.
„Nicht hier. In der Mittagspause gehen wir ins Bistro gegenüber, dann erzähle ich dir alles. Okay?“
„In Ordnung, ich bin gespannt was dich bedrückt -.“
Die Tür geht auf und ihr Chef, Daniel Kaufmann, stürmt in die Kanzlei.
„Guten Morgen die Damen, ich wünsche wohl geruht zu haben“, sagt er zu ihnen. Geradewegs steuert er auf sein Büro zu.
Unvermittelt bleibt er stehen und wendet sich den beiden Frauen zu. „Frau Holm, bringen sie mir bitte die Unterlagen von Doktor Finke, ich muss da noch was überprüfen! Frau Friese, sind sie bitte so nett, machen sie mir einen Eimer Kaffee, sonst überstehe ich den heutigen Tag nicht!“ Kaum ausgesprochen ist er auch schon in seinem Büro verschwunden und schließt die Tür hinter sich.
Manuela sieht Kaufmann schmachtend hinterher. Sie seufzt: „Es liegt sicher wieder eine lange, heiße Nacht hinter ihm, leider hat er sie ohne mich verbracht.“
Kristina ist aufgestanden, um aus dem Aktenschrank die von Kaufmann verlangten Unterlagen zu nehmen. Sie dreht sich, als ihre Hand mit einem Hängeordner zum Vorschein kommt, zu Manuela um. Mit einem aufgesetzten, vorwurfsvollen Blick sagt sie: „Vergiss nicht, er ist dein Chef.“
„Na und? Er sieht gut aus, braungebrannt, ein paar Zentimeter größer als ich, hat eine prima Figur. Außerdem ist er mit zweiundvierzig Jahren immer noch Junggeselle. Ich bin auch nicht hässlich und seit drei Monaten wieder solo, wie du weißt. Da ich mir nicht vorstellen kann, dass er sich ´s durch die Rippen schwitzt und ich auch nicht ins Kloster gehen möchte, ist der Gedanke an eine kleine Liaison mit ihm einfach zu verlockend. Wenn er mich mit seinen dunklen Augen ansieht, spüre ich immer ein kribbeln am ganzen Körper. Ich stelle mir vor wie seine Lippen über meine Haut wandern und -.“
„Sieh lieber zu, dass du ihm seinen Kaffee kochst“, unterbricht Kristina ihre Freundin in deren Träumereien, „sonst wird nie etwas daraus. Ich bringe ihm inzwischen die Akten.“
„Spielverderberin“, schmollt Manuela gekünstelt und erhebt sich um das Kaffeewasser aufzusetzen.