Читать книгу Wyatt Earp 223 – Western - William Mark D. - Страница 3

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Weißlich blendendes Januarlicht lag über der Savanne. Vor der Sonne hing ein Schleier hitzeflimmernder Luft. Nicht der leiseste Windhauch regte sich.

Von Süden, von der Grenze her, näherte sich eine gewaltige Rinderherde der Stadt.

Dort, wo das tafelglatte Land eine Spur absinkt, machte die Herde halt.

Es war knapp eine dreiviertel Meile vor der Stadt.

Vorn vor dem Leitstier hielt ein Mann auf einem struppigen Pferd und hatte beide Fäuste aufs Sattelhorn gestemmt.

Der Mann war struppig wie sein Gaul. Er hatte ein schmales hageres Gesicht, das von Pockennarben besät und von scharfen Falten zersägt war. Seine Augen waren pulvergrau und lagen tief in den Höhlen unter scharfen geraden Brauen. Die Nase war kurz und der Mund strichdünn und an den Winkeln nach unten gezogen. Das energische Kinn war in der Mitte gespalten. Das Haar, das strähnig und struppig unter der zerfledderten braunen Hutkrempe hervorsah, war an den Schläfen grau.

Der Mann mochte etwa vierzig sein. Er hatte nicht besonders ausladende Schultern und wirkte dennoch sehr kräftig und muskulös. Die braune Jacke, die er trug, war vielfach mit Flicken bedeckt und schien ihm viel zu groß zu sein. Das Halstuch von ehemals schwarzer Färbung blickte daraus hervor. Seine Fäuste steckten in abgetragenen Wapiti-Lederhandschuhen. Seine Hose war aus grau-braunem Leinenstoff und steckte in den Schäften schwarzer Stiefel. Gewaltige Sternradsporen saßen hinten über den hohen Hacken.

Unter dem Hutrand hervor blickte der Mann hinüber auf die Stadt.

Kein Laut kam über seine Lippen. Angestrengt starrte er auf die grauen Häuser, die vor ihm lagen.

Die Herde war nur zögernd zum Stillstand gekommen. Aber der Mann auf dem struppigen Pferd, der Trailboss, machte sich nichts daraus. Er wusste, dass der Leitstier sich keinen Zoll weiter bewegen würde, und damit hatte er auch recht.

Von den Seiten kamen jetzt mit wilden Schreien mehrere Treiber herangesprengt. Einer von ihnen, ein untersetzter krummbeiniger Bursche mit einem wahren Luchsgesicht, machte hinter dem Trailboss halt. Es war der texanische Cowboy Jimmy Tucker. Tucker war der Stellvertreter des Trailbosses. Hinter ihm rückte ein riesiger Kerl heran, der auf einem winzigen Pferd saß. Es war Lewt Molenar. Ein schweigsamer Mensch, der jedoch als Treibcowboy nahezu unersetzlich war.

Noch einer kam heran. Ein gipsgesichtiger Mann von vielleicht dreißig Jahren, der trotz des gewaltigen Staubes, den es hier auf dem Trail gab, einen schwarzen Anzug und ein graues Kattunhemd mit schwarzer Halsschleife trug. Es war Mickey Sidd. Da er an jeder Hüfte einen Revolver trug und das entsprechende Aussehen hatte, würde kaum jemand daran zweifeln, in ihm einen Two-Hand-Man (Zweihandmann) zu sehen. Und das stimmte auch. Mickey Sidd war ein Schießer.

Die drei Cowboys hatten ihre Pferde hinter dem Trailboss zum Halten gebracht. Eine Wolke von Staub war hochgewirbelt und senkte sich jetzt über sie.

Schweigend verharrte der Treckführer im Sattel – ein Bild wie ein Cowboy-Denkmal.

Da war er also gekommen. An einem Tag, an dem ihn niemand erwartete.

Am allerwenigsten die wie schläfrig in der Vormittagssonne daliegende Stadt.

Und zur Stunde wusste auch noch niemand von ihm.

Nicht einmal die drei Männer, die hinter ihm hielten, wussten viel mehr von ihm als seinen Namen: Longhorn-Joe.

Wie er in Wirklichkeit hieß, schien überhaupt niemand zu wissen.

Er war mit der gewaltigen Herde aus Mexico über die Grenze gekommen und hatte sich der Stadt genähert. Die siebzehn Cowboys, die die Herde unter seiner Leitung trieben, hatten alle Mühe gehabt, die Rinder beieinander zu halten. Denn der Januar war absolut keine Herdenzeit.

Aber Longhorn-Joe hatte seine Herde hier heraufgebracht. An den Rand der Stadt Tombstone. Zu einer Zeit, wo ihn niemand erwartete.

Tucker, Molenar und Sidd tauschten Blicke miteinander, wagten aber nichts zu sagen.

Longhorn-Joe musste wissen, was er tat. Und wenn er schweigend verharrte, dann gab es dagegen nichts zu tun.

Dabei brannte den Kuhtreibern der Durst wie Feuer im Schlund. Der lange Treck von Mexico herauf über die Grenze bis hierher an den Rand der heißen Stadt Tombstone hatte ihre Kräfte beansprucht, und da der Trailführer jeglichen Alkohol unterwegs verboten hatte, war es für die Treiber eine höllische Sache gewesen. Ihre Augen brannten, und sehnsüchtig blickten sie an dem Anführer vorbei zur Stadt hinüber.

Da drüben lag es also, das ersehnte Tombstone.

Man hatte in der Stadt allerdings nicht ganz so sehr geschlafen wie es den Anschein haben mochte. Etliche Leute hatten schon seit Stunden die Staubwolke bemerkt, die sich von Süden näherte. Und eine gewisse Unruhe war dar­über ausgebrochen.

Was hatte das zu bedeuten, um diese Jahreszeit eine Staubwolke?

Früher waren es die Indianer gewesen, die einen ihrer Tricks starteten. Und dann war es in den 40er Jahren eine Stampede gewesen, eine gewaltige Büffelherde, die hier durch die Prärie kam, die sich nach Süden verirrt hatte. Und dann kannte man die Staubwolken eben nur von den großen Herden, die zur Frühjahrszeit und im Herbst durchs Land zogen. Aber im Januar? Nie hatte hier jemand in diesen Tagen eine solche Herde gesehen.

Weshalb aber weckte dieser Anblick ein Unbehagen in den Menschen?

Niemand hätte es zu dieser Stunde zu sagen gewusst.

*

Vielleicht war es das drohende Unheil, das in der Luft lag und von dem Menschen, die schon sehr viel hatten erdulden müssen, einfach gespürt wurde.

Er war gekommen.

Wie aus Stein gehauen, verharrte er immer noch im Sattel seines struppigen Pferdes und starrte auf die Stadt hin­über.

Er war zu einer Stunde gekommen, wo es in der Stadt niemanden gab, der ihn hätte aufhalten können.

Der Sheriff, Virgil Earp, war vor Wochen von einer Meuchelmörderbande so furchtbar zusammengeschossen worden, dass er dem Tode nur mit knapper Mühe entronnen war. Noch wusste es in der Stadt so gut wie niemand, dass er noch lebte. Der große Doc Holliday hatte ihn mit seinen geschickten Arzthänden dem Totengräber im wahrsten Sinne des Wortes von der Schaufel gerissen. Virgil Earp befand sich zu dieser Vormittagsstunde in Doc Hollidays Haus am Ostende der Main Street. Er hatte gerade mit dem Mayor, dem grauhaarigen John Clum, beraten, wen man zwischenzeitlich als Sheriff bestimmen könnte. Aber das war ein schwieriges Problem, denn damals, als die Stadt die Sheriffswahlen ausgeschrieben hatte, war einstimmig Virgil Earp gewählt worden – und das aus dem Grunde, weil er der einzige Mann war, der für die Stadt eine Art von Garant für Ruhe dargestellt hatte. Virgil Earp, der Bruder des großen Marshals Wyatt Earp, hatte damals mit eiserner Energie gegen die Übergriffe der Clantons angekämpft, er hatte sich nicht gescheut, dem gefürchteten Ike Clanton mutig entgegenzutreten. Er hatte seinen Bruder schließlich zu Hilfe gerufen und war der Aufforderung der Clantons gefolgt und hatte mit seinen Brüdern Wyatt und Morgan und mit Doc Holliday zusammen den furchtbaren Gang auf jenem Wagenabstellplatz angetreten, in dem in einer einzigen knappen Minute neunundzwanzig Schüsse gefallen waren, in dieser einen Minute mehrere Menschen ihr Leben gelassen hatten.

Es würde sich so leicht kein geeigneter Mann für den Sheriffsposten finden.

Nur die Hotelinhaberin Nellie Cashman und die wohlhabende Spielerin Laura Higgins wussten noch, dass Virgil Earp nicht tot war. Dass er nicht draußen auf dem Graveyard unter dem Holzkreuz lag, das Doc Holldiay über dem leeren Sarg hatte aufstellen lassen. Und noch einer wusste es: Kirk McLowery! Der gefürchtete Rancher aus dem San-Pedro-Valley. Der undurchsichtige Dandy, in dem viele Menschen in der Stadt – und nicht zuletzt die Earps selbst – den geheimen neuen Bandenführer vermutet hatten. McLowery war plötzlich bei Virgil im Zimmer aufgetaucht, und er hatte sehr verwundert dreingeblickt, als er den Kranken plötzlich vor sich sah. Sein Eindringen hatte er allerdings mit der Verfolgung eines Einbrechers begründen können, der in Doc Hollidays Haus eingestiegen war. Aber soweit Virgil Earp, der Mayor und die beiden Frauen es hatten feststellen können, war der zwielichtige Mann verschwiegener gewesen, als sie es erwartet hatten. Denn in der Stadt glaubte man nach wie vor, dass Virgil Earp tot wäre und draußen auf dem Friedhof läge.

*

Und draußen vor der Stadt verharrte das Unglück im Sattel eines struppigen Pferdes. In der Gewalt eines struppigen Mannes, der aus pulvergrauen kalten Augen die Stadt fixierte.

Er war gekommen – und niemand hatte mit ihm gerechnet.

Der große Wyatt Earp und sein Freund Doc Holliday hatten Tombstone vor Tagen verlassen, um auf der Straße zwischen Pearce und Sunglow nach einem geheimen Camp zu forschen, das von dem »Big Boss« der neuen Tombstoner Gang angelegt worden sein sollte. Nachdem die Clanton-Gang vor vier Jahren von Wyatt Earp durch den Kampf im O.K.-Corral zerschmettert worden war, hatte es in Tombstone keine Bande mehr gegeben. Zwar war vor zwei Jahren die Galgenmänner-Crew unter Führung des Verbrecherchefs Cass Larkin und seines Freundes Capucine wie ein Wirbelsturm über das Land gefegt, aber auch diese Bande war von dem berühmten Dodger Marshal zur Strecke gebracht worden. Doch die heiße Sandstadt Tombstone, eine ehemalige Silberminenarbeiter-Ansiedlung, fand keine Ruhe. Seit einiger Zeit machten sich sehr deutlich Anzeichen einer neu aufkommenden Bande bemerkbar, die die Bevölkerung wieder in Angst und Schrecken versetzte. Es waren sogar die alten Gesichter, die sich dabei wieder in den Vordergrund schoben. Männer wie James Curly Bill, wie Spence, ein Mann namens Stillwell, ein Halbindianer namens Cruz – alles Leute, deren Angehörige damals in der Crew des gefürchteten Ike Clanton gewesen waren, die gewissermaßen ihre Elite dargestellt hatten. Und dann natürlich die bekannte Tombstoner Outlaw-Familie Flanagan aus der Schlangengasse. Und nicht zu vergessen die ebenfalls kopfreiche Banditen-Familie Ferguson, die in der Main Street schräg gegenüber dem Marshals-Office hauste. Und die Grey-Brothers und die Rubbers – ein rücksichtsloser Clan, der damals ebenfalls zur Clanton-Gang zählte. Es waren nicht etwa die Söhne jener Männer, die damals gegen Wyatt Earp, Doc Holliday, Virgil Earp und Morgan Earp gekämpft hatten – denn das alles war ja erst ein knappes halbes Jahrzehnt her – nein, sie waren es teilweise sogar noch selbst, und soweit sie es nicht mehr selbst sein konnten, da einige Yards Erde über ihnen auf dem Boot Hill sie daran hinderten, waren es ihre nächsten Anverwandten, ihre Brüder oder Vettern. Und das Verblüffendste dabei: Diese Brüder und Vettern erwiesen sich als noch rüder, rücksichtsloser und gefährlicher als ihre Vorgänger.

Wyatt Earp hatte rasch diese oder jene Clique zerschlagen, aber er merkte sehr bald, dass mit diesen Einzelerfolgen nur wenig erreicht war. Es handelte sich ganz offensichtlich nicht nur um eine lose Verbindung von kleinen Gruppen, sondern um eine fast zusammengeschlossene Bande, die hier ihr Unwesen trieb. Und der Mann, der diese Bande führte, war ein Unbekannter.

Eine Zeit lang hatte der Marshal Ike Clanton selbst im Verdacht gehabt, aber dieser Verdacht ließ sich durch nichts bestätigen. Nach wie vor lastete auf Kirk McLowery ein gewisser Verdacht, denn seine beiden Brüder Frank und Tom waren bei dem Gefecht im O.K.-Corral ums Leben gekommen. Er, der Dandy, der sich in affiger Weise ganz wie Doc Holliday kleidete und hielt, war eine reichlich zwielichtige, ja mysteriöse Erscheinung. Aber auch ihm hatte der Marshal bisher nicht nachweisen können, dass er die neue Tombstoner Gang anführte.

Aber der Verbrecherboss existierte. Daran konnte es nicht den mindesten Zweifel geben. Und er besaß ein ungeheures Geschick, sein Inkognito zu wahren. Aber dass er existierte, hatte er oft genug bewiesen. Nicht zuletzt an dem schwarzen Tage, an dem er seine Schächer aus dem Hinterhalt auf den neuen Sheriff von Tombstone, auf Virgil Earp gehetzt hatte. Wyatt Earp hatte die vier Männer, die Virgil niedergeschossen hatten, alle gestellt. Nur Master Crack war wieder aus dem Jail entkommen. Und der geheime Bandenführer hatte nicht davor zurückgeschreckt, zum neuen Schlag gegen die Earps auszuholen, indem er nämlich nachts aus Doc Hollidays Haus den kleinen Sohn des Sheriffs, den fünfjährigen Oliver Earp, entführen ließ. Aber mit dieser Entführung hatte die Bande kein Glück, denn Wyatt Earp und Doc Holliday jagten dem Entführer nach und brachten das Kind glücklicherweise heil zurück. Es fehlte dann nicht an Drohungen, die den Marshal aufforderten, die Stadt zu verlassen. Man nahm an, dass Virgil Earp tot war und legte ihm nahe, ebenfalls zu verschwinden. Stattdessen aber jagte Wyatt Earp hartnäckig weiter hinter dem Phantom her, das in Tombstone seine Fäden zog. Bald stellte er fest, dass der Mann sich womöglich gar nicht in der Stadt selbst aufhielt. Er verfolgte eine Gruppe von Banditen, die sich gar oben in den Peloncillo-Mountains ein Camp hatten anlegen wollen, und traf in der Nähe dieser Berge auf eine zweite Gruppe, die mit der ersten jedoch in Zusammenhang stand und ebenfalls eine Verbindung zu den Tombstoner Banditen hatte. Er brachte die beiden Gruppen zu Fall – und wusste doch, als er nach Tombstone zurückgekehrt war, dass er damit keineswegs die Bande vernichtet hatte. Vor allem hatte er nicht ihren Anführer zur Strecke gebracht. Und solange das Haupt nicht abgeschlagen war, existierte der Bandenkopf eben.

Obgleich Doc Hollday nach Colorado hatte fahren wollen, um dort etwas Erholung zu finden, und obgleich der Marshal dringend zurück nach Dodge City gemusst hätte, hatten sich beide erneut auf den Weg gemacht, um einer neuen Spur nachzugehen, die sie eben auf die Straße zwischen Pearce und Sunglow geführt hatte. Da waren sie dann von einem Mann namens Yancy Rodac aufgehalten worden (siehe Band Nr. 236: Aufruhr im Camp der Lebenslänglichen).

In dieser Stunde tauchte vorm Südrand der Stadt die gewaltige Herde auf. An ihrer Spitze ritt mit steinernem Gesicht der Mann, den sie Longhorn-Joe nannten.

Ganz sicher war es nicht die Ungewöhnlichkeit der um diese Jahreszeit auftauchenden Herde, die die Bevölkerung aufmerksam werden ließ; es war vielmehr der Argwohn, der in den Leuten steckte, nachdem sie seit Monaten wieder unter Druck standen. Und dieser Druck wurde von der neuen Gang in Tombstone ausgelöst.

Als jetzt am südlichen Horizont die gewaltige Staubwolke auftauchte, zog gleichzeitig mit ihr die Angst in Tombstone ein. Die alte große Angst, die früher schon unter den graubraunen Dächern genistet hatte und fast schon zum ständigen Begleiter der Bürger Tombstones geworden war.

Plötzlich wurden sich die Leute bewusst, dass sie allein waren. Dass nicht nur ihr Sheriff von Banditen zusammengeschossen worden war, sondern dass der einzige Mann, der sich immer und immer wieder unter Einsatz seines Lebens hier für das Recht eingesetzt hatte, nämlich Wyatt Earp, die Stadt verlassen hatte.

Sie waren allein.

Allein mit ihrer Angst.

In der Toughnut Street, wo die eigentliche Stadt aufhörte und in die Slums überging, die immer noch nach den Behausungen, die einst den Minenarbeitern gedient hatten, Miner Camps genannt wurden, standen mehrere Männer an einer Hausecke und blickten gebannt zu der Staubwolke hinüber, die sich einfach nicht legen wollte.

Obgleich sie kaum etwas sehen konnten, da die Vormittagshitze über dem Sand flimmerte und das weißliche Sonnenlicht sie blendete, wussten sie doch, dass da drüben eine große Herde stand.

Und die Tatsache, dass die Herde jetzt stand, verschlimmerte die Sache noch.

Damals hatte die Stadt es nicht gewünscht, dass der Cowboy Ike Clanton drüben in Mexico Herden zusammenstahl und hier durch die Stadt trieb, um sie nach Norden zu führen. Ike Clanton hatte es weniger aus dem Grunde getan, weil er sich etwa hätte bereichern wollen, sondern weil er dem damaligen US.-Deputy-Marshal Virgil Earp zeigen wollte, dass er der Stärkere war, ja, dass er der alleinige Herrscher hier war und tun konnte, was ihm passte. Der große Rebell von Arizona, wie er später auch in der Geschichte genannt werden sollte, hatte dabei noch in gewisser Weise einen freiheitlichen Zweck verfolgt. Denn er behauptete, dass er sich gegen das sogenannte Gesetz auflehne. Er war selbst sein eigenes Gesetz. Und er hatte weiter die Herden durch Tombstone getrieben, bis Virgil Earp es ihm ganz offen verboten hatte. Und da war es zum Kampf im O.K.-Corral gekommen, der eben für die Earps und somit für das Gesetz entschieden hatte.

Obgleich das alles nun fast schon ein halbes Jahrzehnt her war, wurden die Menschen in der Stadt jetzt doch plötzlich an jenen letzten Tag erinnert, an dem Ike Clanton versucht hatte, abermals eine große Herde durch die Stadt zu treiben. Er war mitten in Tombstone von Wyatt Earp dabei aufgehalten worden. Dabei war es zu einem schweren Zusammenstoß zwischen Wyatt und dem Bandenführer gekommen.

Ike Clanton hatte die Herde nicht durch die Stadt treiben können!

Und jetzt stand da drüben wieder eine gewaltige Herde.

Der greise Randy McIntosh kratzte sich sein stoppelbärtiges Kinn und krächzte während er mit eingekniffenem linkem Auge nach Süden deutete und seinen Nachbarn Joe Fairbanks in die Seite stieß:

»Was hältst du davon, Joe?«

Fairbanks fuhr sich unbehaglich mit dem Mittelfinger der rechten Hand unter den Kragen und entgegnete mit belegter Stimme:

»Wenn du meinst, dass ich mich nicht wundern würde, wenn der Mann, der da drüben vor der Herde hält, kein Unbekannter für uns ist, dann hast du recht.«

»Du denkst an Ike«, kam es nach einer Weile von McIntosh’ Lippen.

»Genau«, entgegnete Fairbanks.

Spencer Michel, der neben den beiden stand, ebenfalls ein grauhaariger Mann, der die bitteren Zeiten Tombstones miterlebt hatte wie die beiden anderen, knurrte:

»Es ist nicht Ike.«

Es war eine Weile still, dann wollte Cock Fenimore, ein bärbeißiger Black­smith, wissen:

»Wie kommst du darauf?«

»Wenn es Ike wäre, würde er keinen Grund haben, da anzuhalten. Außerdem – er ist es bestimmt nicht.«

Schweigend verharrten die Männer und blickten zu der Staubwolke hin­über, die zwar niedriger geworden war, aber nach wie vor drüben am Horizont zu sehen war. Die Herde kam nicht zur Ruhe.

Und der Mann, der vor ihr im Sattel seines struppigen Pferdes saß, rührte sich nicht.

In der Toughnut Street stand auch der baumlange Neger Sam, der an der Ecke der Fünften Straße gerade damit beschäftigt gewesen war, die Blumentöpfe auf den Fensterbrettern des Russian House-Hotels Nellie Cashmans zu begießen. Auch er hatte in der Ferne eine Staubwolke bemerkt. Jetzt pfiff er auf zwei Fingern, und ein kleiner Indianerjunge mit langem blauschwarzem Haar kam herangefegt.

»Hör zu, Chico, du nimmst jetzt deine Beine in die Hand und läufst ins Grand Hotel. Sag Missis Higgins, dass Nellie Cashman oben in der Fremont Street zu einer kranken Frau gegangen ist und deshalb den Weg nicht machen könnte.«

»Welchen Weg?«, wollte der Indianerjunge wissen.

»Das geht dich nichts an. Miss Higgins weiß dann schon Bescheid. Los, spute dich!«

Chico rannte davon.

Als er ins Grand Hotel stürmte, wurde er von einem großen blonden Mann aufgehalten, der eine zitronengelbe Weste trug und die Beine gespreizt hatte. Er hatte den rechten Daumen im Westenausschnitt, und mit der linken Hand hielt er den Jungen auf.

»Wohin so schnell, rote Ratte?«

Da riss sich der Junge von ihm los, schlüpfte unter der erneut nach ihm ausgestreckten Hand hindurch und rannte quer durch die Halle.

Noch ehe er die Treppe erreicht hatte, stolperte er über die Kante eines schweren Läufers und kam zu Fall.

Aber rasch hatte er sich wieder gefasst, schnellte die Treppe hinauf und blieb oben nach Atem ringend vor der Tür mit der großen Drei aus Messing stehen.

Die Tür wurde geöffnet, und in ihrem Rahmen stand eine rothaarige, sehr elegante Frau, die den Jungen verblüfft musterte:

»Chico? Was gibt’s denn?«

»Die Madam kann den Weg nicht machen, hat Mr Sam gesagt«, stotterte der Kleine.

»Wie –?« Laura Higgins blickte den Jungen forschend an. Aber dann glaubte sie begriffen zu haben, griff in die Tasche und drückte ihm ein Centstück in die Hand.

»Komm, lauf wieder zurück ins Hotel ich weiß Bescheid, kannst du Mr Sam sagen.«

Wenige Minuten später verließ die Spielerin das Grand Hotel und wusste es so einzurichten, dass sie Doc Hollidays Haus auf einem Umweg betrat.

Der genesende Sheriff saß in der Wohnstube mit dem Mayor am Tisch. Die beiden blickten erstaunt auf, da sie die Frau um diese Stunde nicht erwartet hatten.

»Es muss irgendetwas geschehen sein«, sagte Laura Higgins rasch.

Die beiden standen auf. Virgil musste sich noch mit der rechten Hand schwer auf den Tisch stützen.

»Was denn?«

»Keine Ahnung. Sam schickte mir den Jungen als Boten. Miss Nelly ist sicher nicht im Hotel.«

»Ich werde mich gleich darum kümmern«, sagte John Clum, grüßte kurz und verließ das Haus.

*

John Clum stand zehn Minuten später unten bei den Miner Camps unter den Leuten, die beunruhigt zu der Staubwolke hinüberblickten.

Die immer größer gewordene Menge, die sich angesammelt hatte, stand schweigend da. Und das machte das Ganze noch beunruhigender.

»Ich denke«, sagte der Mayor nach einer Weile laut, »dass wir jetzt wieder nach Hause gehen, Leute. Schließlich hat jeder seine Arbeit.«

»Und?«, rief Joe Sykker. »Glauben Sie vielleicht, dass wir uns hier überraschen lassen wollen, Mayor?«

Der Bürgermeister hatte ein paar Schritte vorwärts gemacht, blieb dann stehen und wandte den Kopf über die Schultern.

»Überraschen? Von wem?«

»Wissen wir’s?«, krächzte ein anderer. Es war Hanny Tangue, der in einer Bank arbeitete und alles hatte stehen und liegen gelassen, als ihm ein Freund unten aus den Miner Camps die Nachricht gebracht hatte. »Schließlich haben wir eine Familie hier, Mayor.«

»Ich weiß, Mr Tangue«, entgegnete der Mayor. »Dennoch sollten Sie an Ihre Arbeit gehen. Und auch die anderen.«

Aber die Menge dachte nicht daran, sich aufzulösen. Verbissen stand sie da und blickte nach Süden zu der Herde hinüber.

*

Die Unruhe, die sich in der Stadt verbreitet hatte, wurde größer und größer.

Kurz nach halb elf erfuhr Nellie Cashman oben in der Fremont Street von einer Nachbarin der Frau, die sie besucht hatte, was sich ereignet hatte.

Sofort verließ die Hotel-Inhaberin die Frau und ging auf einem Umweg in das Anwesen Doc Hollidays.

Da sah sie vorn aus der Tür die Spielerin treten.

Die beiden Frauen waren keine Rivalinnen, denn jede von ihnen liebte gleicherweise unglücklich einen anderen Mann. Nellie Cashman war seit Jahren in den Marshal Earp verliebt, und die grünäugige Spielerin hegte eine unsterbliche Liebe für den eleganten, aber so abweisenden Doc Holliday. Gemeinsam hatten sie sich in die Pflege des Sheriffs geteilt und waren hier fast Freundinnen geworden.

»Wie sieht’s aus?«, fragte die Spielerin.

Die dunkeläugige Hotel-Ownerin zog nur die Schultern hoch, grüßte kurz und trat dann in das Zimmer ein, in dem der Sheriff mit bleichem Gesicht neben dem Tisch lehnte.

»Sie sollten doch im Sessel sitzen, Mister Earp«, sagte Nellie Cashman.

»Nichts da«, entgegnete Virg. »Was ist denn los, Miss Nellie?«

»Ich weiß es nicht, Virg. Sie fragen mich zu viel. Ich weiß nicht mehr als die anderen auch. Drüben vor der Stadt steht eine Herde.«

»Wie weit entfernt?«, wollte der Sheriff wissen.

»Vielleicht eine Meile, vielleicht etwas mehr. Ich kann es schlecht schätzen.«

»Und –?«

Nellie Cashman zog wieder die Schultern hoch.

»Nichts und, das ist alles.«

Virgil fuhr sich mit seiner kantigen Rechten durchs Gesicht und spürte, dass die Hand nass vom Schweiß war, der auf seiner Stirn gestanden hatte.

Obgleich es nicht den geringsten Anlass zu einer echten Befürchtung gab, spürte auch er die Gefahr. Irgendetwas bahnte sich da an.

*

In diesem Augenblick hatte Longhorn-Joe den rechten Arm gehoben und seinen Zeigefinger mit einem Ruck nach oben gestoßen.

Das war das Zeichen.

Die siebzehn Treiber brachten die gewaltige Herde wieder in Gang.

Stur trottete der mächtige hellbraune Leitstier hinter dem Trailboss her.

Die große Herde näherte sich der Stadt.

Die Tiere, die seit vielen Stunden kein Wasser mehr gesehen hatten, witterten plötzlich den kleinen Silvercreek, der in der Nähe des Stadtrandes durch den Sand sickerte. Er trieb sie vorwärts und ersparte den Cowboys eine Menge Arbeit. Aber dann, als sie näher an die Miner Camps herangekommen waren, wollten die Tiere auseinanderstreben. Die Cowpuncher mussten jetzt gewaltige Anstrengungen machen, die Herde beieinander zu halten, denn nach dem Beschluss des Trailbosses hatte die Herde von Osten her in die Main Street zu kommen, also in die Allen Street.

Und genauso geschah es.

Am Ostrand der Stadt führte Longhorn-Joe seine große Herde in die Allen Street, in Tombstones Hauptstraße. Die graubraunen Leiber drängten sich unter einer ganzen Glocke von Staub blökend zwischen den Vorbauten hindurch in die Stadt.

Die Straße vor der Herde war wie leergefegt.

Plötzlich tauchte auf der Kreuzung Allen Street – Fifth Street ein Mann auf.

Es war ein mittelgroßer alter Mann mit silbergrauem Haar, grauem Anzug und weißem Hemd mit schwarzer Schleife.

Es war John Clum, der Bürgermeister von Tombstone.

Der ehemalige Zeitungsmann, der sich im Bürgerkrieg einen guten Namen dadurch gemacht hatte, dass er mit dafür gesorgt hatte, dass die gefangenen Soldaten von beiden Seiten eine anständige Behandlung erfuhren, hatte sich nach dem Kriege als Indianeragent hervorgetan und eine historische Rolle bei der Unterbringung der Stämme des großen Häuptlings Cochise gespielt. Er hatte dafür gesorgt, dass der große San-Carlos-Reservat eingerichtet wurde und viele andere Reservate mehr. Aber dann hatte auch sein Name und das Gewicht seiner Persönlichkeit nicht mehr verhindern können, dass die Piraten der Savanne, die den Indianern den Lebensfaden abschneiden wollten, mehr und mehr übergriffen. Da hatte sich John Clum verbittert abgewandt und sogar gutgeheißen, dass die Indianer die Reservate wieder verließen. Die Stadt Tombstone, in der er eine Zeitung gegründet hatte – die größte und bedeutendste Zeitung, die es je in dieser Gegend gegeben hatte, den Tombstone Epitaph – und war schließlich vor nunmehr zwölf Jahren von den Bürgern zum ersten Mann in der Stadt gewählt worden. Diesen Posten hatte er mehrmals abgeben wollen, aber Tombstone hatte darauf bestanden, dass er ihn behielt … Für die Leute war er eben der beste Mann dafür. Und das stimmte auch.

Aber die schweren Jahre waren nicht spurlos an dem Mann vorbeigegangen. Sie hatten ihn alt und auch schon fast müde gemacht.

Dennoch hatte sich der alte Kämpe jetzt aufgerafft und war in die Main Street gekommen. Mitten auf der Kreuzung blieb er stehen und blickte dem Treck entgegen, der auf ihn zuhielt.

Longhorn-Joe ritt unbekümmert weiter.

Die Menschen hinter den Gardinen hielten den Atem an.

Der Besitzer des Oriental-Saloons, der mit John Clum befreundet war, presste die Zähne aufeinander und stieß heiser hervor:

»Verflucht, er muss zurückgehen! Der Kerl reitet ihn in den Boden!«

Aber John Clum blieb stehen.

Und das Unerwartete geschah:

Der Trailführer hielt sein Pferd an, allerdings erst knapp anderthalb Yards vor dem alten Mann auf der Straße.

In der für ihn typischen Haltung stemmte Longhorn-Joe beide Fäuste aufs Sattelhorn, senkte den Kopf und blickte auf den Mann hinunter.

»Was willst du?«

»Diese Frage muss ich an Sie richten«, entgegnete der Mayor kühl.

Kein Lachen war im Gesicht des Kuhtreibers. Hinter ihm hatten wieder seine Kulis Tucker, Molenar und Sidd Aufstellung genommen. Die anderen hatten Mühe, die Herde zum Stehen zu bringen. Dazu erforderte es eine Menge wilder Flüche, heiserer Schreie und zahlloser Revolverschüsse, die in den unschuldigen Himmel abgegeben werden mussten.

Durch das Blöken und Grunzen der Rinder, das Hufgestampfe und die staubgeschwängerte Luft drangen die Worte des Treckführers an das Ohr des Mayors:

»Geh aus dem Weg, sonst reite ich dich nieder!«

»Das werde ich nicht tun«, entgegnete John Clum unbeirrt, »und Sie werden mich nicht niederreiten.«

Longhorn-Joe ließ einige Sekunden verstreichen und stieß dann durch die Zähne:

»Wer bist du?«

»Mein Name ist Clum. Ich bin der Mayor von Tombstone.«

»John Clum«, entgegnete der Treiber, hob dann den rechten Arm und winkte dann den riesigen Lewt Molenar heran.

Der gab seinem Pferd die Sporen, sodass der Wallach erschreckt vorwärtssprengte und dicht neben dem Anführer hielt.

»Los, wirf ihn ins Gefängnis.« Er hatte es sehr ruhig gesagt, und schon sprang der riesige Treiber vom Gaul und packte den alten Mann an der Schulter, stieß ihn vorwärts und krächzte:

»Los, ab ins Jail mit dir! Ich schätze, du weißt besser als ich, wo das zu finden ist.«

Unter den schweigenden Blicken der Menschen hinter Türen und Fenstern wurde der Bürgermeister dieser Stadt wie ein ehrloser Verbrecher mit brutaler Gewalt davongeschleppt und in Virgil Earps altes Jail geworfen.

Longhorn-Joe hatte sein struppiges Pferd wieder in Bewegung gebracht und ritt weiter.

Die große Herde folgte ihm. Sie nahm ihren Weg mitten durch Tombstone und machte erst am westlichen Stadtausgang halt, wo einige kleinere Corrals waren. Zu wenig jedoch für eine so gewaltige Herde.

Longhorn-Joe gab Sidd und Tucker einen Wink.

»Los, holt Zimmerleute her, die in ein paar Stunden den Corral hier aufzubauen haben.«

Die beiden Gehilfen führten den Befehl aus.

In Kürze waren mehrere Zimmerleute aufgetrieben worden, die Holz herbeizuschaffen hatten und sich dann an die Arbeit machten. Wenn sie nicht schnell genug waren, wurden sie von Longhorn-Joes Kuhtreibern mit Bullpeitschen angetrieben, ihre Arbeit zu beschleunigen.

So entstand in kürzester Zeit am Westausgang der Stadt auf dem Grund, der der kranken Josephine Harcurt gehörte und der bis an den Südrand des Friedhofes grenzte, der größte Corral den Tombstone je gesehen hatte.

*

Indessen hatte sich Longhorn-Joe in die Stadt begeben. Tucker, Molenar und Sidd begleiteten ihn.

Der Trailboss hielt sein Pferd vor der Poststation an und gab Sidd einen Wink.

Der Schießer stieg vom Pferd, betrat das Bureau und zerstörte mit mehreren Revolverschüssen die Morseanlage. Dann ging er hinaus und befahl einem der Clerks, die Leitungen zu zerschneiden.

Anschließend erschien er wieder auf der Straße.

Longhorn-Joe hatte inzwischen vorm Grand-Hotel haltgemacht und stieg vom Pferd.

Der riesige Molenar und der Texaner folgten ihm.

Der große, geckenhaft gekleidete blonde Mann stand hinter dem Rezeptionspult und blickte den dreien mit blinkernden Augen entgegen.

Longhorn-Joe blieb in der Mitte der Halle stehen, deutete mit dem Daumen auf die Bar und befahl:

»Whisky!«

Der Hotelpächter rannte los – und stolperte über ein Bein, das Jimmy Tucker ihm feixend gestellt hatte. Er war so hart aufgeschlagen, dass ihm die Nase blutete. Er zog sein blütenweißes Taschentuch aus der Reverstasche und presste es vor sein Gesicht.

Molenar, der dicht hinter ihm war, versetzte ihm einen Fußtritt.

»Los, Whisky hat der Boss befohlen!«

Longhorn-Joe nahm nur ein halbes Glas, und die anderen wagten auch nicht mehr zu trinken.

Dann ließ er sich hinaufführen und nahm oben ein großes Zimmer in Beschlag, das zur Straße hinführte.

Es war das Zimmer mit der Nummer eins. Das größte, das es im Hause gab. Nebenan lag das Zimmer der Laura Higgins.

Longhorn-Joe stieß die Tür auf und warf einen Blick hinein. Interessiert trat er näher, ging an den Schminktisch, zog die Puderdose auf und schleuderte sie gegen ein Bild, das einen Indianerhäuptling auf dem Pferd darstellte. Dann öffnete er den Schrank, riss ein paar Kleider heraus und öffnete eine große braune Ledertasche. Aber er fand nichts, was sein besonderes Interesse hätte erregen können.

Dann ließ er sich den blonden Hotelpächter heraufkommen und fragte ihn, wer hier wohne.

»Eine Frau namens Higgins«, sagte der Pächter.

Da kniff Longhorn-Joe beide Augen ein, dass sie strichdünn waren.

»Sie meinen – Laura Higgins?«

»Ja, Mister.«

»All right, auch das Zimmer ist beschlagnahmt. Jimmy wohnt hier.«

Tucker grinste. Er hatte auf dem Schreibtisch, der vorn an einem der beiden Fenster stand, eine Fotografie gefunden, die ein hübsches, wohlgeformtes Frauenantlitz zeigte. Der Tombstoner Fotograf Fly hatte es aufgenommen. Es stellte die Spielerin Laura Higgins dar.

»He, wenn das die Besitzerin des Zimmers ist, möchte ich auf dieses Möbelstück nicht verzichten, Boss!«, rief er dem Trailboss nach.

Aber der war schon draußen auf dem Korridor, inspizierte die anderen Räume und ließ sich dann in seinem Zimmer auf einem mit grünem Plüsch bezogenen Sessel nieder, wobei er seine verhältnismäßig langen Beine von sich streckte.

Alles an diesem Mann war staubig, verwittert und gefährlich.

Immer noch hatte er den Hut auf und die abgegriffenen gelben Wapiti-Lederhandschuhe an den Händen. Jetzt, als er so saß, sah man, dass er vorn im Gurt einen 38er Smith & Wesson-Revolver stecken hatte. Links an der Hüfte war ein offenes Halfter, in dem ein 45er Remington-Revolver zu sehen war.

Er hatte die Jacke jetzt aufgeknöpft, und ein verwaschenes grünes Hemd kam zum Vorschein.

Er war ein überaus drahtiger, muskulös wirkender Mensch, dieser Trailführer, der da aus dem Süden gekommen war und sich hier in der Stadt auf eine so unliebsame Weise breitgemacht hatte.

*

Tombstone hatte den Atem angehalten. Es war etwas geschehen, das niemand mehr für möglich gehalten hätte. Tombstone war von einer Bande von Trail-Cowboys besetzt worden. Ihr Anführer übte eine regelrechte Willkürherrschaft in der Stadt aus.

Was die Bürger jedoch geradezu entsetzte, war die Tatsache, dass plötzlich all jene Ratten aus ihren Löchern hervorgekrochen kamen, die man längst nicht mehr in der Stadt wähnte, oder die man in fernen Gefängnissen glaubte.

Da war auf einmal der rothaarige Rowdy James Curly Bill mit Patrik Spence jr., da tauchte an irgendeiner Gassenecke das schlitzäugige Gesicht des Mestizen Cruz auf, dessen Verwandter Charlie Cruz, genannt Inidan-Charlie, damals bei den Clantons eine so verhängnisvolle Rolle gespielt hatte. Da waren auf einmal Jeff und Cane Rubber vorm Crystal Palace zu sehen, und die Flanagans kamen in ganzen Scharen in die Main Street, um die Fergusons vor Bob Hatchs Billardsalon lautstark zu begrüßen. Da waren die beiden fahlgesichtigen Gray-Brothers – und sogar der aufgeschwemmte Phin Clanton, Ikes jüngster Bruder, tauchte in der Stadt auf.

Die alten Geister schienen plötzlich wieder auferstanden zu sein. Alles rottete sich jetzt in der Main Street zusammen. Und die siebzehn Cowboys, die mit Longhorn-Joe nach Tombstone gekommen waren, begossen in den Schenken geräuschvoll ihren Einzug.

War es Zufall, dass die »alten Clantons«, wie die bekannten Outlaws in der Stadt immer noch genannt wurden, auf einmal auftauchten?

Oder hatte das eine besondere Bedeutung?

Das war eine sehr entscheidende Frage. Jedenfalls machte sie den Bürgern der Stadt erheblich zu schaffen. Die Besorgnis wuchs von Stunde zu Stunde.

Gegen zwei Uhr am Nachmittag tauchte Longhorn-Joe wieder im Eingang des Grand-Hotels auf. Er hatte sich inzwischen nicht etwa gewaschen, sondern nur etwas ausgeruht, nachdem er ausgiebig gespeist hatte.

Hinter ihm kamen seine drei Leibwächter, der krummbeinige texanische Treiber Jimmy Tucker, der riesige Lewt Molenar und der blassgesichtige Schießer Mickey Sidd. Die drei postierten sich am Eingang des Hotels, und Longhorn-Joe trat bis an den Rand des Vorbaus, um die Straße zu mustern, während er sich mit einem Streichholz in den Zähnen herumbohrte.

Unbekümmert hatten drüben vor Bob Hatchs Saloon die Fergusons eine Pokerrunde an einem herausgeschleppten Tisch eröffnet.

Durch die offenen Fenster des Cristal-Palace drang johlender Lärm auf die Straße hinaus. Lärm, den man sonst in dieser Schenke absolut nicht kannte. Johlende Männerstimmen, unterbrochen von kreischenden Lauten aus Frauenkehlen. Das Ganze wurde untermalt von dem Stampfen des Musikautomaten.

Innerhalb von drei Stunden hatte sich Tombstone in ein wahres Inferno verwandelt. Völlig verändert war die Stadt durch den Einzug der Leute von Longhorn-Joe.

Und dann geschah es: Es war kurz vor halb drei.

Der Trailführer hatte sich mitten auf die Main Street gestellt, ein paar Schüsse in die Luft abgegeben, und daraufhin herrschte Schweigen.

Dieses Schweigen veranlasste die Bürger, die hinter den Fenstern und Türen ängstlich bebend lauschten zu der Annahme, dass die Tombstoner Tramps nicht zufällig aus ihren Mäuselöchern gekrochen waren.

»Sie gehören zu ihm«, flüsterte der kleine Hosenschneider John Halbrinks seiner fettleibigen Frau zu, die zitternd hinter ihm stand. »Sie gehören zu diesem Kerl, verlass dich drauf. Und ich sage dir noch was. Ich würde mich nicht wundern, wenn er der Boss ist.«

»Wie meinst du das, John?«, wollte die Frau wissen.

»Ach, frag nicht so viel, Henriette, wenn du etwas Grips im Schädel hättest, wüsstest du, was ich meinte: Der Kerl ist der Big-Boss.«

»Das glaubst du doch nicht etwa wirklich?«

»Natürlich glaube ich es. Wenn du anstatt Tomaten Augen im Kopf hättest, könntest du sehen, wie sich die beiden aufführen. Sieh dir nur Curly Bill an, diesen Wüstling; zwei Girls hat er sich da aus der Dancing-Hall geschnappt; die Stiefel hat er auf dem Tisch liegen, und die Zigarre steckt ihm im Hals. Und sieh dir den Kerl neben ihm an. Und drüben Jeff Rubber, diesen Schurken. So viel Whisky hat er im Leben noch nicht vor sich stehen gehabt wie jetzt. Ich möchte nur wissen, wie das enden soll bei diesen gefährlichen Kerlen …«

Das, was der kleine Hosenschneider da eben ausgesprochen hatte, dachten in dieser Stunde mehrere Menschen in der Stadt. Und diese Befürchtung machte die Furcht geradezu bleiern.

Longhorn-Joe hatte sich Ruhe verschafft und bellte jetzt mit seiner harten, knarrenden Stimme gegen die Häuserwände los:

»Los, schickt einen raus, mit dem ich reden kann! Aber lasst euch nicht zu lange Zeit, sonst erlebt ihr was!«

Die Tombstoner schienen plötzlich taub geworden zu sein. Es gab keinen unter ihnen, der auf die Straße gekommen wäre, um mit diesem gefährlichen Cowboy zu sprechen.

Aber der Ruf des Trailbosses war bis hinunter an das letzte Häusergeviert gekommen, und dort hatte es ein Mann gehört, der hinter der geöffneten Tür stand: Virgil Earp, der Sheriff von Tombstone. Der Mann, den die Stadt für tot hielt.

Da stand also jetzt drüben in der Nähe von Johnny Behans altem Office ein Mensch, der die Stadt regelrecht besetzt hatte, und der jetzt verlangte, mit einem der Bürger zu sprechen.

Dass es dabei nichts Gutes zu besprechen gab, war völlig klar. Aber klar war auch für den Sheriff, dass er jetzt handeln musste. Jedenfalls hielt er das für seine Pflicht.

Virgil richtete sich auf, zog den Hut, den er schon aufgesetzt hatte, fester in die Stirn, schloss seine schwarze Jacke und ging dann hinaus.

Die Leute gegenüber an der Ecke der Sechsten Straße, die hinter den Gardinen gestanden hatten, beachteten ihn zuerst gar nicht, als er mit schleppendem Schritt den Vorbau an der Ecke von Doc Hollidays Haus verließ und die Gassenmündung drüben überquerte, um beim Barbershop den nächsten Vorbau zu betreten. Dann aber zuckten sie zusammen.

»He! Sieh dir das an! Wer ist denn das?«

»Kein Zweifel, er sah aus wie Virgil Earp.«

Aber er konnte es ja gar nicht sein, denn Virgil Earp lag draußen auf dem Friedhof in der Erde neben seinem ebenfalls ermordeten Bruder Morgan.

Und dennoch sah er genauso aus, der Mann, der da drüben ging. Etwas schmaler vielleicht, blasser und nicht ganz so elastisch wie der Sheriff gewesen war. Der Mann hatte einen stockenden, hölzernen, schleppenden Gang.

Aber an den Häusern, an denen er vorbeikam, sah man ihn deutlicher. Und der Inhaber des Oriental-Saloons, der ihn ziemlich genau gekannt hatte, zuckte vom Fenster zurück, als hätte er einen Schlag bekommen.

»Heavens!«, keuchte er und griff nach seiner linken Brustseite, da, wo unter seiner schwarz-rot karierten Weste sein altes Herz schlug.

Seine Frau, die hinter ihm aufgetaucht war, keuchte:

»Was hast du denn?«

»Ich weiß es nicht, Alte, ich glaube, ich sehe Gespenster! Eben ist der Sheriff hier am Fenster vorbeigekommen.«

»Der Sheriff? Aber Mann, was redest du da?«

»Frau, ich sage dir, es ist der Sheriff! Es ist Virgil gewesen!«

Ähnlich erging es etlichen Leuten hinter anderen Fenstern und Türen.

Der Mann, der auf den Ruf des Trailbosses auf die Straße gekommen war, passierte die nächste Häuserreihe und verließ den Vorbau an der Ecke des Oriental-Saloons, ging auf die Straßenmitte, passierte den Crystal-Palace und blieb schließlich zwischen dem Grand-Hotel und Bob Hatchs Billard-Hall stehen.

Die Luft auf der Main Street war zum Schneiden dick.

Nirgends aber rührte sich etwas.

Drüben vor Bob Hatchs Bar waren sie von den Tischen aufgesprungen und starrten zu dem Mann hinunter, der auf der Straße stand.

Wyatt Earp 223 – Western

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