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|20|1. Vom demokratischen Zentralismus zum demokratischen Zentralismus
ОглавлениеDie Bolschewiki übernahmen im Herbst 1917 erfolgreich die Macht. Wie viel Unterstützung sie dabei erhielten, ist unter Historikern stark umstritten, wobei nicht alle Argumente bei diesem Grabenkampf als rational zu bezeichnen sind.1 Unstrittig ist hingegen, dass ein „bolschewistischer Coup d’Etat“ die Existenz eines Staats voraussetzt. Wenn Spötter entgegnen, es habe ja gar keinen Staat gegeben, gegen den ein Streich zu führen gewesen wäre, so bringen sie die Sache auf den Punkt. Die wichtigsten Institutionen der gesamten Sowjetzeit gingen aus dem vierjährigen institutionellen Vakuum von Oktober 1917 bis zum X. Parteitag im März 1921 hervor, als das innerparteiliche Fraktionsverbot und die Neue Ökonomische Politik (NÖP) verabschiedet wurden.
Bei der Lektüre dieses Kapitels sind zwei Dinge im Hinterkopf zu behalten. Erstens war die hier behandelte Ära anfangs gekennzeichnet von einer offeneren Politik und einer stärkeren Bemühung um geregelte Abstimmungen innerhalb eines kleinen Elektorats als zu irgendeiner anderen Zeit zwischen März 1921 und Michael Gorbatschows Amtszeit als Generalsekretär der KPdSU Ende der 1980er-Jahre. Zweitens ist die Geschichte der vier Jahre nach der Machtergreifung auch die eines sich kontinuierlich verkleinernden Elektorats, wobei der Staat zunehmend autoritär wurde.
Die Parteichefs negierten Verfahrensnormen immer mehr, geregelte Abstimmungen blieben jedoch ein wichtiger Aspekt der Entscheidungsprozesse. Das sollte sich im Folgenden erheblich verschlechtern. (Die ungeheure Gewalt, welche die Beziehungen zwischen Regime und Gesellschaft während des Kriegskommunismus prägte, wird zu Beginn des zweiten Kapitels geschildert werden; neben den Interventionen verschiedenster ausländischer Staaten, so die zentrale These, gab es nicht nur einen Bürgerkrieg zwischen den Weißen und den Roten, sondern auch einen mindestens genauso gewalttätigen Bürgerkrieg zwischen den Roten und den Grünen.2)
|21|Die bei Weitem offenste Wahl in der russischen Politik vor der Ära Gorbatschow war eine unmittelbar nach der Machtergreifung der Bolschewiki. Gemeint ist die Wahl zur Konstituierenden Versammlung. Es war eine „fundamental freie Wahl, an der durchaus organisierte und stark voneinander abweichende Parteien auf der Basis des allgemeinen, gleichen, unmittelbaren und geheimen Wahlrechts teilnahmen“.3 In einem überwiegend bäuerlichen Land ist es nicht verwunderlich, dass die Sozialrevolutionäre (SR), eine dezidiert bauernfreundliche Partei, mit großer Mehrheit gewannen. Die Bolschewiki schnitten als zweitstärkste Fraktion ab, weit vor den anderen Parteien, aber deutlich hinter den SR.
In den strategisch wichtigen Städten sind zwei Trends bei den Abstimmungen auszumachen. Erstens polarisierten sich die Städte zwischen Juni und Dezember 1917 zunehmend. Die Wähler stellten sich entweder auf die Seite der Bolschewiki oder auf die der Konstitutionellen Demokraten (daher die Abkürzung „Kadety“), der stärksten „bürgerlichliberalen“ Partei, die sich für eine konstitutionelle Demokratie einsetzte. Die SR hingegen verloren deutlich an Stimmen. In Moskau (und mit leichter Abweichung auch in Petrograd – heute wieder St. Petersburg) fanden die Wahlen für die verschiedenen Verwaltungsebenen im Juni, September und November 1917 statt. Bei annähernd gleicher Wahlbeteiligung sank in diesem Zeitraum die Zahl der Stimmen für die SR von rund 375.000 auf etwa 62.000. Die Stimmen für die Kadetten hingegen stiegen von etwas unter 110.000 auf fast 264.000, während die für die Bolschewiki sogar von 75.000 auf 366.000 kletterten.4
Also konnten die Bolschewiki in Anbetracht ihrer Wahlergebnisse, und das war der zweite Trend, für sich beanspruchen, auf der Seite der Geschichte zu stehen. Wie als Selbstvergewisserung stellten Lenins „Thesen zur Konstituierenden Versammlung“ klar heraus, dass er und die Mehrheit der Bolschewistenführer die Wahl zwar widerwillig zuließen, es jedoch nicht dulden würden, falls sich die Konstituierende Versammlung in irgendeiner Weise in die „Sowjetmacht“ einmischen sollte. Einem entsprechenden Versuch würde „auf revolutionäre Weise begegnet“.5 Und so geschah es auch: Einen Tag nachdem die Konstituierende Versammlung das erste Mal zusammengetreten war, lösten die Bolschewiki sie auf.
Der Zeitpunkt der Wahl zur Konstituierenden Versammlung hat für einige Verwirrung gesorgt. Obwohl die Abgeordneten zur Konstituierenden |22|Versammlung in den Wochen unmittelbar nach der Machtergreifung der Bolschewiki gewählt wurden, war es die Provisorische Regierung – und nicht die Bolschewiki –, welche deren Wahl genehmigte. Diese Abstimmung ist zu Recht als „eines der ersten Wahlverfahren der Geschichte mit allgemeinem Erwachsenenwahlrecht“ bezeichnet worden.6 Es wäre jedoch falsch,7 sie als Teil einer Gesamtstrategie der Bolschewiki zu charakterisieren, ihre wohlgehütete Macht als allgemein legitimiert darzustellen. Dazu kam es erst später.
Vielmehr waren bei Wahlen, welche die Bolschewiki vor der Verabschiedung der „Stalin’schen“ Verfassung von 1936 durchführten, bestimmte Personengruppen systematisch unterrepräsentiert bzw. ohne Wahlrecht. So erkannte die Verfassung von 1918 ausdrücklich all denjenigen das Wahlrecht ab, „die andere zum Zweck des Profits anstellen“: den Kapitalisten, privaten Geschäftsleuten, „Mönchen und Priestern aller Konfessionen“, der zaristischen Polizei und ihren Agenten, den Mitgliedern der ehemaligen Herrscherfamilie und „Geistesgestörten oder Schwachsinnigen“.8
Ebenso waren Bauern systematisch unterrepräsentiert, wie in ähnlicher Weise schon bei den Wahlen zur Duma nach der Revolution 1905 und vor dem Ersten Weltkrieg.9 Sowohl die Russische Verfassung von 1918 wie auch die erste sowjetische Verfassung von 1924 statuierten, dass der Sowjetkongress sich aus „Vertretern der Stadtsowjets (je ein Deputierter auf 25.000 Wähler) und Vertretern der Gouvernement-Sowjetkongresse (je ein Deputierter auf 125.000 Einwohner)“ zusammensetzen solle.10 Angesichts dieser expliziten Diskriminierung von Dorfbewohnern ist es wenig sinnvoll, diese insgesamt als Teil eines Elektorats zu betrachten, oder Wahlen, in denen sie wie Bürger zweiter Klasse behandelt wurden, als „Wahlverfahren mit allgemeinem Erwachsenenwahlrecht“11 einzustufen. Vor 1936 war nur die städtische Arbeiterklasse voll wahlberechtigt; danach waren Bauern, die sogenannten „Kulaken“, bereits als Klasse liquidiert und die sogenannten kapitalistischen Ausbeuter größtenteils ermordet oder inhaftiert.
In den ersten Monaten nach der Machtergreifung der Bolschewiki, als Lenin dem Rat der Volkskommissare (Sownarkom) bei Versammlungen vorstand, war die allgemeine Arbeiterschaft begründet als Teil des Elektorats zu bezeichnen. Sicherlich waren die Arbeiter Nutznießer des neuen Regimes, und in Zeiten großer Not standen sie an der Spitze der Warteschlangen für Brot und andere Lebensmittel.12 Auch bei der |23|Wahl zum Allrussischen Sowjetkongress, der das Zentrale Exekutivkomitee auswählte, das wiederum die Mitglieder des Sownarkom bestimmte, wurden sie ausdrücklich begünstigt. Doch schon bald verloren die russischen Arbeiter die ‚Waffe‘, mit der sich Arbeiter überall auf der Welt traditionell behaupten – unabhängige Gewerkschaften und das Recht zu streiken. Dadurch unterstanden sie ähnlich wie die Soldaten der Roten Armee der Disziplinierung und Mobilisierung durch das Regime. Dennoch könnte man für eine kurze Zeitspanne behaupten, dass die Stimmen der allgemeinen Arbeiterschaft insofern zählten, als der Sowjetkongress das Zentrale Exekutivkomitee und dieses den Sownarkom wählte. Diese Phase währte jedoch nur kurz: Waren im März 1918 nur etwas weniger als zwei Drittel des Sowjetkongresses Bolschewiki, so belief sich die Parteimitgliedschaft im Kongress Ende 1919 auf 97 Prozent. „Ausgenommen die kurze Phase vom 22. Dezember 1917 bis zum 15. März 1918, in der drei Linke Sozialrevolutionäre dem Sownarkom angehörten“,13 bestand er ausschließlich aus Bolschewiki. Die Parteidisziplin hatte sich durchgesetzt mit vorhersehbaren Konsequenzen:14 Die Abstimmung für den Allrussischen Sowjetkongress wurde zur reinen Routine und bloßen Gelegenheit für die Partei, die Bürger zu mobilisieren, während der Sownarkom bald zu dem Ort verkam, an dem Parteibeschlüsse ratifiziert wurden.
Von 1918 bis 1920 jedoch war der Sownarkom durchaus nicht unbedeutend, wenn auch alle wichtigen Entscheidungen vom Zentralkomitee der Partei gefällt wurden. Anfangs hatte er noch „erhebliche Autonomie in seiner täglichen Arbeit und konnte unter anderem eigenständig seine Mitglieder ernennen“.15 Es kam zu heftigen Debatten über wichtige Themen wie etwa der Frage nach der Ratifizierung des Friedensvertrags von Brest-Litowsk und Entscheidungen über die Verbindungen zwischen Partei und Gewerkschaften. Erst mit der weiteren Entwicklung des Parteiapparats wurde der Sownarkom zu einem bloßen Verwaltungsorgan, dessen Aufgabe es war, die Beschlüsse des Politbüros umzusetzen. Verschiedene Faktoren hatten zu seinem Bedeutungsverlust geführt.
So setzte Lenin bei den nicht immer erfolgreichen Versuchen, seine Ziele durchzusetzen, Regierungs- und Parteiorgane strategisch ein. Nach seinem ersten Schlaganfall 1922 musste er jedoch seine Schlüsselrolle in Entscheidungsprozessen abgeben. Jakow Swerdlow hatte von Oktober/November 1917 bis zu seinem frühzeitigen Tod Anfang 1919 |24|faktisch das Parteisekretariat dargestellt. Fainsod weist darauf hin, dass „er [Swerdlow] fast ohne Gehilfen [arbeitete], und ein vollständiges Verzeichnis seiner Transaktionen nur in seinem Kopf existierte“.16
Nach seinem Tod erweiterte sich der Parteiapparat rasant. Mit der Einrichtung des Organisationsbüros (Orgbüro) und dem raschen Anwachsen des Sekretariats wurde ein beträchtlicher Teil der entscheidenden Regierungskommissariate (später Ministerien) bald entweder vom Sekretariat, dem Orgbüro oder – in den wichtigsten Fällen – vom Politbüro besetzt. „Von April 1920 bis Februar 1921 besetzten diese zentralen Parteiorgane [das Politbüro, das Sekretariat und das Orgbüro] Berichten zufolge 1.715 Sownarkom-Positionen in Moskau.“17 Zu diesem Zeitpunkt Anfang 1920 war Stalin das einzige Mitglied des Orgbüros, das auch Mitglied des Politbüros war. Im April 1922 wurde der Posten des Generalsekretärs geschaffen, den Stalin als Erster innehatte. Von da an war er der Einzige, der in allen drei Schlüsselgremien vertreten war: im Politbüro, im Sekretariat und im Organisationsbüro (Orgbüro). Ab 1923 erstellte das Orgbüro die berühmten Namenlisten für Verwaltungspositionen, die Nomenklatura.
In nur kurzer Zeit wurden also Institutionen der Legislative und der Exekutive, die möglicherweise der allgemeinen Arbeiterschaft das Elektorat hätte sichern können, von den beherrschenden Parteiinstitutionen an die Kette gelegt. Mit der Umsetzung des Kriegskommunismus wurden die Gewerkschaften größtenteils zu administrativen Organen. Die Disziplin in Sowjetkongressen, die fast ausschließlich aus Parteimitgliedern bestanden, nahm spätere gleichgeschaltete Parteitage vorweg, auf denen Einstimmigkeit herrschte. Ohne eine zentrale, dominante Figur wie Lenin entwickelte sich der Sownarkom zwar zum administrativen Arm der Partei, nicht aber zu einem Ort, an dem entscheidende inhaltliche Beschlüsse gefasst worden wären. Der Parteiapparat, bestehend aus Politbüro, Orgbüro und Sekretariat, kontrollierte die Besetzung von regionalen Parteipositionen und entscheidenden administrativen Posten in der Wirtschaft.
Zwar konnte man auch 1921 noch von einem Elektorat sprechen, jedoch war inzwischen die Parteimitgliedschaft und nicht mehr der Status als Arbeiter oder Werktätiger für die Teilhabe daran entscheidend. Zudem sollte sich das Elektorat im Laufe der 1920er-Jahre weiter verkleinern. Abgesehen von denjenigen, die von der Verfassung von 1918 ihres Wahlrechts beraubt und von der Tscheka18 verfolgt worden waren, |25|waren auch die Arbeiter und Bauern zur Zeit des X. Parteitags im März 1921, sicher aber nach der Niederlage der Arbeiteropposition auf dem XI. Parteitag im März 1922, keine „Bürger“ mehr sondern bloß noch „Einwohner“, um mit Bueno de Mesquita, Smith, Siverson und Morrow zu sprechen.19
Innerhalb der Partei waren anfangs hitzige Debatten an der Tagesordnung. In den ersten Monaten nach der Machtergreifung verdeutlichten die Diskussionen in verschiedenen Foren der Bolschewiki über einen möglichen Friedensvertrag zwischen Deutschland, seinen Alliierten und Russland, der später als Brest-Litowsk Vertrag ratifiziert werden sollte, beispielhaft den anfänglichen Politikstil innerhalb der Partei. Zwar erlaubte dieser Vertrag Russland, aus dem Ersten Weltkrieg auszuscheiden, doch das Land bezahlte dem ersten Anschein nach einen hohen Preis: „Durch diesen Vertrag verlor Russland 34 Prozent seiner Bevölkerung, 32 seines Agrarlandes, 85 Prozent seiner Zuckerrübenflächen, 54 Prozent seiner Industriebetriebe und 89 Prozent seiner Kohlebergwerke.“20 Die Verluste waren jedoch nur von kurzer Dauer. Als Deutschland den Ersten Weltkrieg verlor, gelang es den Bolschewiki rasch, den Großteil des zaristischen Erbes, das es an Deutschland und seine Alliierten abgetreten hatte, zurückzugewinnen. Von weitaus größerer Tragweite war daher, dass der Friedensvertrag von Brest-Litowsk den Bolschewiki erlaubte, sich an der Macht zu halten.
Studierende und selbst manche Kollegen sehen mich mit leerem Blick an, wenn der Begriff Friedensvertrag von Brest-Litowsk fällt. Das ist bedauerlich, wenn man bedenkt, welche Rolle er für den Machterhalt der Bolschewiki spielte und wie vergleichsweise offen der Entscheidungsprozess war, der zu seiner Ratifizierung führte. In diesem Kapitel beschäftige ich mich nur am Rande mit den Besonderheiten des Vertrags, den durchaus faszinierenden Dimensionen der Verhandlungen und seiner Bedeutung für unser Verständnis der russischen Außenpolitik, die zu Beginn der Sowjetphase einerseits die Außenpolitik einer konventionellen Großmacht war, andererseits aber auch nicht.
Es geht hier vielmehr um die politischen Prozesse, mit denen die Bolschewiki die Unterzeichnung des Friedensvertrags erzielten. Diese Prozesse sind bereits ausführlich beschrieben worden21 ebenso wie die regen Debatten, die vor allem unter den Bolschewiki im Hinblick auf die Verhandlungen mit den Deutschen in Brest-Litowsk stattfanden. Es lohnt sich jedoch, die Geschichte noch einmal detailliert aufzurollen – |26|nicht nur, weil es in diesen Diskussionen um etwas ging, das im wahrsten Sinne des Wortes eine Frage von Leben oder Tod für die Sowjetmacht war, sondern auch, weil nur ein relativ geringer Teil der jüngeren Forschung den krassen Gegensatz zwischen jenen Debatten und den Ereignissen der folgenden siebzig Jahre berücksichtigt.
Historiker und Politologen haben gleichermaßen den Prozess des stetig kleiner werdenden Elektorats in den Jahren 1917 bis 1921 geschildert, der mit dem X. Parteitag im März 1921 seinen Höhepunkt erreicht. Zu diesem Zeitpunkt wurde der berühmte Artikel 7 verabschiedet, der Fraktionen verbot und dazu führte, dass die herrschenden Bolschewiki jener engen konspirativen Partei der Machtergreifung ähnelten, die Lenin in Was tun? (1902) propagierte.22 Im Folgenden geht es jedoch zunächst um etwas anderes; es geht um wechselnde Koalitionen, Rücktrittsdrohungen und tatsächliche Rücktritte, strategische Abstimmungen, gegensätzliche Ansichten und einseitige Rhetorik – Ereignisse also, die auch in Ländern mit sehr großer Wählerschaft als normale Politik gelten. So betrachtet sind die Beschlüsse, die im Friedensvertrag von Brest-Litowsk gipfelten, vergleichbar mit den Verfahren, an die sich gewöhnliche Oligarchien mit relativ kleinen Elektoraten halten. Die Bolschewiki agierten in dieser Zeit nach klaren Mehrheitsverhältnissen, grenzten allerdings die Zahl derer, die politisch zählten, stark ein. Dennoch wurde Lenin regelmäßig überstimmt und musste bei den meisten entscheidenden Abstimmungen mit seinem Ausscheiden drohen, um seinen Willen zu bekommen. Auch bei der wichtigsten Wahl, bei der es um die russische Ratifizierung des Vertrags ging, gelang es ihm nicht allein, eine Mehrheit unter den Mitgliedern des Zentralkomitees zu erzielen. Vielmehr setzte er sich nur durch, weil Trotzki und seine Koalitionspartner sich enthielten. Andere führende Parteimitglieder drohten ebenfalls mit Rücktritt, falls ihre Haltung nicht akzeptiert würde, und machten ihre Drohung wahr, als sie unterlagen.
Von dem Augenblick der Machtergreifung in Petrograd an wollten die Bolschewiki sich aus dem Krieg zurückziehen. Selbst wenn dabei ein gewisses Maß an politischem Schaulaufen im Spiel war, spricht es Bände, dass die Friedenserklärung das erste Gesetz der neuen Regierung war. Innerhalb weniger Wochen hatten sich die Deutschen und ihre Alliierten bereit erklärt, mit den Bolschewiki in Brest-Litowsk über einen Waffenstillstand zu verhandeln. Beide Seiten vereinbarten, Vertreter zu Verhandlungen zu entsenden.23 Von Anfang an lehnten es manche |27|Petrograder Kommunisten jedoch ab, Verträge mit „imperialistischen Staaten“ zu schließen.24 Trotzdem einigte man sich nach einigen Verzögerungen Mitte Dezember 1917 auf einen Waffenstillstand, und die Verhandlungen über einen Friedensvertrag wurden am 20. Dezember aufgenommen.
Die Sowjets entschieden sich dafür, auf Zeit zu spielen, in der Hoffnung, eine Verbrüderung werde zu Unruhen auf deutscher Seite führen. Die Verhandlungen zogen sich hin, und die ersten ausgiebigen Diskussionen auf nationaler Entscheidungsebene fanden während einer informellen Sitzung der Parteiführung25 am 21. Januar 1918 statt. Dabei, so bemerkte Lenin, „wurden drei Standpunkte vorgebracht: (1) die Unterzeichnung eines separaten Annexionsfriedens, (2) ein revolutionärer Krieg, (3) den Krieg für beendet zu erklären, die Armee zu demobilisieren, aber den Frieden nicht zu unterzeichnen.“26 Lenin war ein starker Befürworter der ersten Option, Nikolai Bucharin, der damals zum linken Flügel der Bolschewiki gehörte, der zweiten Position und Trotzki der dritten, er befürwortete mit anderen Worten eine Beendigung des Krieges, ohne den Friedensvertrag zu unterzeichnen. Sowohl Lenins als auch Trotzkis Standpunkte wurden von den Anwesenden abgelehnt: Nur 15 schlossen sich Lenins Position an, 16 Trotzkis und 32 Bucharins Aufruf zu einem revolutionären Krieg.
Die Folge war, dass das Zentralkomitee bei einem Treffen am nächsten Tag, dem 22. Januar, in einer Reihe von für den Sownarkom verbindlichen Beschlüssen mit elf Stimmen bei zwei Gegenstimmen und einer Enthaltung entschied, sich nicht Bucharins Position anzuschließen, sondern mit zwölf zu einer Stimme für Lenins Empfehlung votierte, die Verhandlungen weiter hinauszuzögern. Entscheidend war die Abstimmung darüber, ob man Trotzkis „weder-Krieg-noch-Frieden“-Taktik übernehmen sollte. Hierfür stimmten die Mitglieder mit neun zu sieben Stimmen.27 Die Verhandlungen wurden mit Trotzki als Vertreter für die sowjetische Seite wieder aufgenommen und gerieten erneut ins Stocken, bis Trotzki schließlich die Verhandlungen verließ und erklärte:„Wir gehen aus dem Krieg heraus, sehen uns aber genötigt, auf die Unterzeichnung eines [von den Deutschen vorgeschlagenen] Friedensvertrages zu verzichten.“
Am 15. Februar 1918 kündigten die Deutschen daraufhin ein Ende des Waffenstillstands für den 17. Februar an und drangen rasch auf russisches Territorium vor. Sie trafen auf keinerlei Widerstand und rückten |28|mit erstaunlichem Tempo weiter vor. Inmitten des russischen Winters „legten [die Deutschen] in 124 Stunden 150 Meilen zurück“.28
Die Reaktion der russischen Führung ließ nicht lange auf sich warten. Das Zentralkomitee der Partei kam am 18. Februar zusammen. Wie Louis Fischer schreibt, „war dies kein Zeitpunkt für lange Debatten. Das war selbst den Russen klar.“29 In einer Sitzung, in der die Befürworter und die Gegner jeder Position in fünfminütigen Redebeiträgen auf die Frage „‚Sollen wir den Deutschen telegrafieren und um Frieden bitten?’“30 zu antworten hatten, sprachen sich Lenin und Sinowjew für eine Annahme des Friedens aus. Trotzki und Bucharin lehnten dies ab. Lenin plädierte – realistisch wie immer – für die Kapitulation. Er verlor zunächst mit sechs zu sieben Stimmen.
Später am Abend trat das Zentralkomitee jedoch erneut zusammen. Nach einer erheblich längeren Diskussion – und nicht zuletzt als Reaktion auf die Kriegsereignisse des Tages – schloss sich Trotzki jetzt Lenin an. Das Votum lautete diesmal sieben zu sechs zugunsten eines Friedensgesuchs. Am selben Abend noch wurde der Rat der Volkskommissare einberufen, der zu diesem Zeitpunkt neben den Bolschewiki aus sieben Linken Sozialrevolutionären bestand. Die Linken SR waren jedoch nicht über das Ergebnis der Diskussionen unter den Bolschewiki in ihrem Zentralkomitee informiert. Vier der sieben Linken SR unterstützten die sieben Bolschewiki, die für eine Annahme stimmten, sodass sich Lenin mit elf zu neun durchsetzte.
Die Deutschen machten indes nicht halt. In ihrer Verzweiflung baten die Sowjets die westlichen Alliierten um Hilfe, und die Franzosen machten offenbar einige konkrete Zusagen. Am Abend des 22. Februar wurde eine weitere Sitzung des Zentralkomitees einberufen, in der diejenigen, die für die Annahme von Unterstützung waren, mit sechs zu fünf Bucharin und die anderen Befürworter eines „revolutionären Kriegs“ überstimmten. Lenin war bei dem Treffen nicht anwesend und votierte in absentia. „Bitte zählt meine Stimme dafür, Kartoffeln und Waffen von den anglo-französischen imperialistischen Räubern zu nehmen.“31 Doch eine merkliche Unterstützung blieb aus. Die Russen hatten allein gegen die deutsche Armee zu kämpfen.
Erneut trat das Zentralkomitee der Partei am 23. Februar zusammen. Lenin drohte relativ explizit mit Rücktritt32 und stellte sich ebenso entschieden gegen einen revolutionären Krieg (Trotzkis bevorzugte Position) wie gegen die revolutionären Phrasendrescher (als solchen stellte |29|er Bucharin dar). Auf die entscheidende Frage – „Sollen wir umgehend die deutschen Konditionen akzeptieren?“ – erhielt Lenin eine mehrheitlich positive Antwort von sieben zu vier bei vier Enthaltungen. Obwohl er anderer Meinung war, hatte sich Trotzki zusammen mit dreien seiner Anhänger (Dschersinski, Joffe und Krestinsky) enthalten, um Lenin bei dieser Wahl zu helfen. Sie hielten es für wichtiger, eine Abspaltung von Lenin in der Partei zu verhindern, als sich dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk zu widersetzen. Auch Lenin, so Schapiro, „sei um jeden Preis darauf bedacht gewesen, eine innerparteiliche Spaltung“ abzuwenden, und habe Stalin „zum Schweigen gebracht“, als dieser vorschlug, ein Rücktritt von „verantwortlichen Positionen solle als Austritt aus der Partei gelten“.33 Diejenigen, die dagegen gestimmt hatten, hatten „ihren Rücktritt von allen verantwortlichen Posten an[geboten]“, sich aber das Recht vorbehalten, „innerhalb und außerhalb der Partei frei zu agitieren“. Später sollten sie ohnehin wieder von ihrer letzten Forderung Abstand nehmen,34 um dem zu entsprechen, was Bueno de Mesquita u.a. als Loyalitätsnorm bezeichnet haben.35
An jenem Abend gab es daraufhin zusätzliche Abstimmungen durch das Allrussische Zentrale Exekutivkomitee und den Petrograder Sowjet. Beide Sitzungen waren von einer gehässigen Rhetorik vonseiten der Linken Kommunisten und der Linken Sozialrevolutionäre gegen Lenin und seine Positionen geprägt. Karl Radek, ein führender Linker Kommunist, soll gesagt haben: „Wir wollen Frieden, aber keinen schmachvollen Frieden, keinen Frieden der Verräter und Streikbrecher.“36 Alexandra Kollontai beschuldigte Lenin des „Opportunismus“ und der „Kompromisse mit dem Imperialismus“.37 Die Schmähungen seitens der Linken SR fielen sogar noch schärfer aus, auch sie bezichtigten Lenin des Verrats. Letztlich setzte sich Lenin jedoch trotz hartnäckigen Widerstands durch. Wie schon in der entscheidenden sieben-zu-vier-zu-vier-Abstimmung des Zentralkomitees war er dabei aber erneut auf das strategische Verhalten anderer Bolschewiki angewiesen. Diesmal war es nicht Trotzki, sondern es waren die von Bucharin angeführten Linken Kommunisten, deren Strategie es ihm erlaubte, sich durchzusetzen. Sie entschieden sich dafür, den Saal zu verlassen, anstatt gegen ihn zu stimmen. Von denjenigen, die zur Abstimmung blieben, stimmten 116 für Lenins Position, 85 dagegen und 26 enthielten sich.
Obwohl die Russen erkannten, dass dies eine Zeit der Taten und nicht der Worte war, waren sie unterschiedlicher Ansicht darüber, wie |30|diese Taten aussehen sollten. Das Zentrale Exekutivkomitee beschloss am 26. Februar, örtliche Sowjets zur Entscheidung über Krieg und Frieden zu befragen. Im Dezember und Januar war der regionale Widerstand sowohl in den Sowjets als auch in den Parteikomitees relativ stark gewesen. Auch wenn sich dieser abschwächte, als die Deutschen Mitte Februar ihren Vormarsch fortsetzten, gab es noch immer Orte, wo der Widerstand sogar noch lange nach Unterzeichnung des Friedensvertrags von Brest-Litowsk am 3. März groß war. Vertreter der Linken, die den revolutionären Krieg befürworteten, konnten geltend machen, dass eine knappe Mehrheit von 105 der 200 befragten Sowjets sich hinter Bucharins Position gestellt hatte; darüber hinaus konnten sie argumentieren, dass die Befürworter eines revolutionären Kriegs vor allem in den Städten ansässig waren, während die Sowjets, die sich Lenins Position anschlossen, überwiegend aus Bauern bestanden. Daher rührte auch der Vorwurf, Lenin wolle nur die Bauern beschwichtigen.38
Nicht nur in Petrograd und Moskau war der Widerstand groß, auch die wichtigsten Städten im Norden wie Archangelsk und Murmansk und in der Wolgaregion hielten dagegen, insbesondere Saratow. Dort „beauftragten [die Sowjets] ihre Delegierten zum anstehenden IV. Allrussischen Sowjetkongress, [der vom 14. bis 16. März stattfinden sollte,] Widerstand gegen die Ratifizierung des Brest-Friedens zu leisten“.39 Auch in Sibirien bestand selbst nach dem VII. (außerordentlichen) Parteitag (4. bis 6. März) und dem Sowjetkongress Mitte März weiter Widerstand. Am 22. März „weigerte sich das Exekutivkomitee des sibirischen Rats der Volkskommissare weiterhin, die [Ratifizierung des Vertrags] zu unterstützen, während ‚der sibirische Rat der Volkskommissare sogar erklärte, er befinde sich noch immer im Kriegszustand mit der Zentralmacht‘“.40
Auf nationaler Führungsebene spielte sich die Debatte über die Ratifizierung zunächst auf dem VII. Parteitag und daraufhin in Moskau auf dem Sowjetkongress ab. Die schärfste Kluft bestand zwischen Lenin und Bucharin, ihre Standpunkte waren im Wesentlichen jedoch ein Aufguss der Debatten von Ende Februar. Neu war hingegen, dass das Parteikomitee von Petrograd Stadt und das Regionalkomitee von Petrograd während des VII. Parteitags eine Tageszeitung namens Kommunist veröffentlichte, die von Bucharin, Radek und Uritzky – alles Linke Kommunisten – herausgegeben wurde und sich „der populären Agitation zum revolutionären Krieg“ verschrieben hatte.41 Sie erschien erstmals |31|am 5. März. Zwei Tage darauf wurden die Linken Kommunisten auf einer Petrograder Parteikonferenz dafür kritisiert, eine „unabhängige organisatorische Existenz“42 zu führen; der Kommunist verfolge eine „Spaltungstaktik“43. Er wurde eingestellt, erschien jedoch im April neu als Wochenzeitung, diesmal mit Bucharin, Radek, W. W. Obolenski und W. M. Smirnow als leitenden Redakteuren. In dieser Ausgabe war die Agitation für den „revolutionäre[n] Krieg komplett fallengelassen worden“. An deren Stelle traten Diskussionen darüber, welche innenpolitischen Maßnahmen zu ergreifen seien angesichts der „Kapitulation“ gegenüber den Deutschen und der Kapitulation gegenüber „den weniger entwickelten und am wenigsten revolutionären Teilen des Proletariats und der Bauern“.44
Tatsächlich war der Handlungsspielraum aller Mitglieder des Zentralkomitees äußerst begrenzt. Lenin versuchte, seinen Sieg mit der Vermeidung einer innerparteilichen Spaltung zu koppeln. Bucharin trat zurück und organisierte einen Aufruf zum revolutionären Krieg, verhielt sich jedoch so, dass Lenin seinen Willen durchsetzen konnte, als die Entscheidung den Sowjetkongress erreichte. Trotzki ging, wie wir gesehen haben, bei seinen Stimmabgaben zur entscheidenden Frage innerhalb des Zentralkomitees höchst strategisch vor. Seine Begründung dafür, weshalb er Bucharins Aufruf zum revolutionären Krieg nicht folgen könne, ist bezeichnend: „Ein revolutionärer Krieg hätte eine Spaltung der Partei bedeutet“, schlussfolgert Fischer. Er zitiert Trotzki: „Es ist unmöglich, einen Krieg gegen die Deutschen und gegen unsere Bourgeoisie zu führen …, wenn man die halbe oder mehr als die halbe Partei unter Führung von Lenin gegen sich hat.“45 Pipes zufolge machte Lenin klar, dass Friede für Trotzki nichts anderes war als „eine Atempause für den Krieg“.46 Letztlich verschoben sich die Standpunkte aufgrund der Entwicklungen auf russischem Boden aber klar in Richtung Frieden: Während die deutsche Armee weiter vorrückte, wurde die Alternative eines revolutionären Kriegs immer weniger attraktiv und die Notwendigkeit einer Kapitulation immer deutlicher.
Deshalb waren die Linken Kommunisten auf dem VII. Parteitag entschieden in der Minderheit. Der Parteitag votierte 28 zu 9 für Lenins Position bei einer Enthaltung. Um Anschuldigungen zuvorzukommen, er habe seinen revolutionären Eifer verloren, „hatte Lenin daraufhin den Parteitag gebeten, eine geheime Resolution zu verabschieden, die auf unbestimmte Zeit nicht zu veröffentlicht werden brauchte und die |32|dem Zentralkomitee jederzeit die Befugnis [gab], alle Friedensverträge mit imperialistischen und bürgerlichen Regierungen zu annullieren und ihnen in gleicher Weise den Krieg zu erklären.‘“;47
Der Sowjetkongress trat schließlich in der Nacht vom 16. auf den 17. März zusammen und handelte. In der Vorwahl vor dem Parteitag lautete das Abstimmungsergebnis 453 zu 36 bei 8 Enthaltungen gegen die Position der Linken Kommunisten.48 Vom Parteitag insgesamt wurde der Friedensvertrag mit 784 Stimmen bei 261 Gegenstimmen und den Enthaltungen der Linken Kommunisten mit großer Mehrheit angenommen.49 Die Entscheidung des Sowjetkongresses gab den vorangegangenen Maßnahmen von Partei und Staatsorganen insofern den Firnis der Legitimität, als es sich um ein gesamtrussisches Gremium handelte, das mit überwältigender Mehrheit für eine Ratifizierung votiert hatte (siehe Tabelle 1.1).
Die Beurteilung des Ratifizierungsprozesses fällt aus der Rückschau leichter, wissen wir doch, was sich bald ereignen sollte. Das politische System wurde innerhalb weniger Jahre, und in einigen wesentlichen Punkten sogar innerhalb weniger Monate, immer restriktiver. Vor dem Hintergrund der späteren sowjetischen Politik sind verschiedene Aspekte des Entscheidungsprozesses besonders hervorzuheben.
Interessant ist erstens, dass es als wünschenswert erachtet wurde, die regionalen Sowjets zu einem Thema von so überragender Bedeutung wie der Ratifizierung des Friedensvertrags zu konsultieren. Dies lag zum einen an der großen Bedeutung staatlicher Instanzen gegenüber Parteiinstanzen zu dieser Zeit und zum anderen an der Tatsache, dass regionale Standpunkte bei wichtigen Beschlüssen der Außenpolitik 1918 durchaus Gewicht hatten.
Tabelle 1.150. Entscheidende Abstimmungen (alle 1918) der bolschewistischen Führung über den Friedensvertrag von Brest-Litowsk: Stimmen für Lenins Position, Stimmen gegen Lenins Position (für den revolutionären Krieg) und Enthaltungen (weder Krieg noch Frieden)
|33|Zweitens ist es aufschlussreich, wie Lenin, der von allen als Bolschewistenführer betrachtet wurde, in Bezug auf Trotzki und die Mitglieder des Zentralkomitees agierte, die sich gegen eine Annahme der deutschen Bedingungen gewehrt hatten. Er sah sich außerstande, seinen Willen durchzusetzen, ohne eine unwiederbringliche Spaltung der inzwischen regierenden Koalition zu riskieren.
So berichtet erneut Wheeler-Bennett, Lenin sei überzeugt gewesen, Trotzkis „Weder Krieg noch Frieden“-Politik wäre zum Scheitern verurteilt, doch ohne „einen zweiten Staatsstreich und eine Spaltung der Partei, von der sie sich vielleicht nie erholt hätte, gelang es ihm nicht, seine Ansichten unter seinen Kollegen durchzusetzen. Er war bereit, Trotzkis Strategie auszutesten. ‚Wir [soll Lenin gesagt haben] riskieren nur, Estland oder Livland [das nach dem Zusammenbruch des Zarenreichs in Lettland und Estland geteilt war] zu verlieren, und ein guter Friede mit Trotzki‘, so fügte Lenin schmunzelnd hinzu, ‚ist uns den Verlust von Livland und Estland allemal wert.‘“51
Selbst Pipes, dessen Urteil über Lenin häufig vernichtend ausfällt,52 schreibt, dieser habe zwar bekommen, was er wollte, doch dafür „flehte er Trotzki und die Linken Kommunisten an, ihren Rücktritt erst dann wahrzumachen, wenn die russische Delegation aus Brest zurückgekommen sei“; er legte „brillante Führungsqualitäten an den Tag, mal schmeichelte er seinen Anhängern, dann wieder redete er ihnen gut zu und verlor weder die Geduld noch die Entschlossenheit“.53
Drittens hatten die Linken Kommunisten eine „unabhängige Organisationsstruktur“, um ihre Positionen zu stützen, und nutzten diese für kurze Zeit, um ihre Ansichten darzulegen – anfänglich vor allem jene zum „revolutionären Krieg“. Selbst nachdem Partei- und Sowjetkongress der Entscheidung des Zentralkomitees zugestimmt hatten, den Vertrag zu ratifizieren, waren die Linken Kommunisten noch für kurze Zeit weiter imstande, ein Wochenmagazin zu publizieren, das ihre Grundüberlegungen zu einer Reihe von Maßnahmen darlegte, die geeignet waren, ihre Innenpolitik angesichts der veränderten äußeren Rahmenbedingungen umzusetzen. Wenn man bedenkt, was sich in den folgenden Monaten herausstellte und wie nicht-bolschewistische sozialistische Parteien bereits zu dieser Zeit behandelt wurden, ist Fainsods |34|zusammenfassende Beobachtung zum Ratifizierungsprozess des Brest-Litowsk-Abkommens alles andere als eine Randbemerkung: „Über die Mitglieder der Opposition wurden keine Repressalien verhängt.“54
Das Elektorat schrumpft
Lenins Sieg in Brest-Litowsk hatte seinen Preis. Der sozialistische Widerstand – der Linken Kommunisten, der Menschewiki und der SR – gegenüber seiner Politik hielt selbst Monate nach der Ratifizierung des Friedensvertrags von Brest-Litowsk an. Trotz des Roten Terrors, der sich vor allem gegen die immer breiter definierten Klassenfeinde richtete, war die Unzufriedenheit der Arbeiterklasse bei den Kommunalwahlen in den großen europäischen Städten Russlands 1918 deutlich zu spüren. Bei diesen Wahlen spielten Menschewiki und Rechte SR eine maßgebliche Rolle. Laut Wladimir Browkin gewannen sie „die städtischen Sowjetwahlen in Tula, Jaroslawl, Kostroma, Sormowo, Brjansk, Ischewsk und anderen Industriezentren – in den meisten Provinzhauptstädten des europäischen Russlands, wo die Sowjetmacht tatsächlich existierte“. Und er unterstreicht im Folgenden: „Die Bolschewiki lösten all diese neu gewählten Sowjets mit Gewalt auf.“55
Zwar mussten die Linken Kommunisten bald schon hinnehmen, dass die Moskauer Version des Kommunist eingestellt wurde, auf nationaler Ebene setzten sie sich aber im Frühjahr und Frühsommer 1918 mit ihren Vorstellungen zur nationalen Wirtschaftspolitik durch. Was später als Kriegskommunismus bezeichnet wurde – die effektive Abschaffung von Geld als Tauschmittel, Verstaatlichung im großen Stil und die eingeschränkte Rolle von „bürgerlichen Spezialisten“ – wurde mit aller Macht und gegen den Widerstand Lenins umgesetzt.
Das daraus resultierende Durcheinander ließ Lenin und Trotzki den Versuch unternehmen, eher traditionell-hierarchische Beziehungen auf Unternehmensebene anzuordnen wie etwa die Ernennung alleiniger Betriebsleiter und das Einspannen der Gewerkschaften für Ziele der Partei. Mit Letzterem stimmten auch viele kommunistische Gewerkschaftsführer überein, wobei über die Einzelheiten und über die weitere gesellschaftliche Rolle der Gewerkschaften völlige Uneinigkeit bestand. Auseinandersetzungen über die Art betrieblicher Entscheidungsprozesse hielten bis zum X. und XI. Parteitag 1921 bzw. 1922 an. Im Mittelpunkt der Kontroversen standen der Streit über die Rolle der Arbeiter und der Gewerkschaften, über „bürgerliche Spezialisten“ und die Art |35|und Weise der Betriebsleitung in der sogenannten Diktatur des Proletariats. Die Auseinandersetzung fand anfangs zwischen einem weitgehend geschlossenen Zentralkomitee auf der einen Seite und verschiedenen regionalen und Gewerkschaftsvertretern auf der anderen Seite statt. Lenins Eintreten für die „Einmannleitung“ stieß auf besonderen Widerstand.
Wie auch bei der Besetzung von Posten in der Roten Armee durch ehemalige zaristische Offiziere gab es großen Widerstand gegen die Einstellung ziviler „bürgerlicher Spezialisten“. Dem gegenüber stand das Modell einer von Arbeitern gewählten kollektiven Unternehmensführung, die sowohl Betriebe als auch Industriezweige kontrollieren sollte. Lenin war entschlossen, die Einmannleitung einzuführen, um gegen die mangelnde Effizienz einer geteilten Betriebsführung vorzugehen. Die Liste der Widerständler, die Schapiro resümiert,56 ist beeindruckend. Lenin wurde auf dem Treffen der Parteifraktion des Allrussischen Zentralrats der Gewerkschaften Anfang 1920 überstimmt. Der sich anschließende Kongress der Nationalen Wirtschaftsräte verabschiedete eine Resolution zugunsten einer Kollektivführung, und auch auf Parteikonferenzen in Moskau und Charkiw wurde die Einmannleitung abgelehnt.
Tomski, Mitglied des Zentralkomitees und führender Gewerkschaftler, wandte sich auf dem IX. Parteitag 1920 gegen Lenins Politik wie auch sämtliche sogenannte Demokratische Zentralisten und Lutowinow (im Namen einer Minderheit der Gewerkschaftsführer), dennoch konnte Lenin sich durchsetzen. Dies lag zum einen daran, dass die Wirtschaft am Boden lag und der Bürgerkrieg anhielt. Zum anderen hatten institutionelle Entwicklungen, insbesondere die Einführung des Orgbüros 1919, Auswirkungen darauf, wie energisch Maßnahmen verfolgt wurden, die vom Konsens des Zentralkomitees abwichen. Über diese veränderten Rahmenbedingungen hinaus hatten zwar nicht die Arbeiter, durchaus aber die Gewerkschaftsführer häufig ein wirtschaftliches Interesse an den von Lenin vorgeschlagenen Maßnahmen, während Trotzki konsequent für eine Militarisierung des Arbeitsplatzes eintrat.57 Lenin verband in seinen Äußerungen auf dem IX. Parteitag eine Verteidigung der Zentralisierung mit Beschwichtigungen, die es einem Gewerkschaftsführer wie Tomski erlaubten, einerseits als Mitglied des Zentralkomitees weiterzumachen und andererseits zu argumentieren, er habe die Interessen der Arbeiter vertreten. (Tomskis |36|Schlingerkurs, der 1920 offen zutage trat, zeigte sich insbesondere in seinem Verhalten auf dem X. Parteitag 1921.)
Lenin insistierte daher recht explizit auf der Einmannleitung und dem Prinzip der persönlichen Verantwortung: „Das Wahlprinzip muss durch das Auswahlprinzip ersetzt werden“. „Das Kollegialprinzip … muss im Prozess der Umsetzung unbedingt hinter persönlicher Verantwortung zurückstehen.“58
Die Beschlüsse, die auf dem IX. Parteitag verabschiedet wurden, sahen ebenfalls vor, dass Gewerkschaftsführer entweder als Assistenten des Leiters oder als Kommissare (ähnlich wie militärische Berater) an der Leitung eines Betriebs teilhaben konnten; in manchen Fällen konnten Gewerkschaftsführer sogar Betriebsleiter werden. Außerdem durften erfolgreiche kollektive Unternehmensführungen weiter bestehen, während der Gewerkschaftsführung ein Konsultationsrecht bei Ernennungen zugesichert wurde.59 Die allgemeine Stoßrichtung von Lenins Position war klar: Er vertuschte geschickt die Streitigkeiten, um so das Zentralkomitee zusammenzuhalten – der Bürgerkrieg war noch nicht beendet –, spannte jedoch jene ranghohen Kommunisten, die wie Tomski zum Teil Mitglied des Zentralkomitees waren, für seine eigenen Zwecke ein, indem er die Durchsetzung der Einmannleitung mit Zusicherungen an die Gewerkschaftsführer verknüpfte.
Die Spaltung der Gewerkschaftsführer und Arbeiter über die Frage der Einmannleitung trug maßgeblich dazu bei, gewöhnliche Arbeiter aus dem Elektorat auszuschließen. Die Kompromisse, die auf dem IX. Parteitag angenommen wurden, waren ein riesiger Schritt in Richtung von Gewerkschaften, deren gesellschaftliche Rolle auf der Annahme gründete, die Partei – und nicht die Arbeiter selbst – wisse am besten, was im Interesse der Arbeiter sei. Die Gewerkschaften stellten eine ernst zu nehmende Macht dar, mit der zu rechnen war und die es einzudämmen galt. Die Kontroverse über die Betriebsleitung war ein erneuter Beweis dafür, dass regionale oder funktionale Organisationen sich zuweilen gegen Lenin und das Zentralkomitee auflehnten, jedoch weniger durchschlagend und weniger organisiert als die Linken Kommunisten beim Streit um den Friedensvertrag von Brest-Litowsk.
Die Entscheidung zugunsten der Einmannleitung brachte die Debatte über die Rolle der Gewerkschaften in einem proletarischen Staat nicht zum Abschluss. Vielmehr war sich das Zentralkomitee Ende der 1920er-Jahre über die Steuerung der Gewerkschaften uneins. Das zeigte |37|sich schon darin, dass das Zentralkomitee ein Gemeinsames Zentralkomitee der Transportarbeiter (Zektran) unter der Leitung von Trotzki gründete, um vor allem den Schienenverkehr zu überwachen, was einer direkten Kampfansage an die nationale Gewerkschaftsorganisation gleichkam.
Den gemeinen Arbeitern und Gewerkschaftsführern wie Tomski behagte Zektran folglich gar nicht, so dass eine größere Debatte über die Rolle von Gewerkschaften insgesamt entbrannte. Die Rhetorik, mit der Lenin und Trotzki ihr bevorzugtes Ergebnis in dieser Angelegenheit darstellten, war höchst unterschiedlich.60 Trotzki befürwortete ausdrücklich eine Fusion der Gewerkschaften mit der Regierung. Für ihn galt: „[I]m Arbeiterstaat … müssen die Überlegungen und Energien der kommunistischen Partei, der Gewerkschaften und der Regierungsorgane auf die Fusion zu wirtschaftlichen Organen und Gewerkschaften in der mehr oder weniger nahen Zukunft gerichtet sein.“61 Lenins politische Haltung war deutlich klüger. Er war überzeugt, dass „[d]ie rasche Fusion von Gewerkschaften im Staat ein großer politischer Fehler wäre … Die Gewerkschaften üben momentan bereits gewisse staatliche Funktionen aus, und diese werden stetig zunehmen.“ Er wandte sich gegen „jede künstliche Beschleunigung des Tempos einer Fusion von Staat und Gewerkschaften“.62 Trotzki hingegen äußerte erneut die Ansicht, dass Militarisierung für sozialistische Staaten eine gängige Praxis sein solle, und ging so weit, eine Unterscheidung zwischen „Militär“ und „Gewerkschafts“-Methoden als „ein Kautsky’sches-Menschewiki’sches-sozialrevolutionäres Vorurteil“ zu bezeichnen. Lenin war offenkundig ebendieser „Kautsky’schen-Menschewiki’schen-sozialrevolutionären“ Meinung, war aber im Vergleich zu Trotzki diplomatischer: „Die wichtigste Methode der Gewerkschaften ist nicht Zwang, sondern Überzeugung – auch wenn dies die Gewerkschaften in keiner Weise davon abhält, die Methode des proletarischen Zwangs, wo nötig, erfolgreich anzuwenden.“63
Eines der ältesten Axiome in der Politik besagt, dass kleine Gruppen, die sich einig sind und sich häufig treffen, die Agenda kontrollieren und größere, diffusere Gruppen dominieren, die weniger häufig zusammentreffen. Dieser Grundsatz gilt für Zentralkomitees (und im weiteren Verlauf für eine sogar noch kleinere Gruppe, das Politbüro) und Zentralkongresse ebenso wie für Exekutivkomitees der Fachbereiche amerikanischer Universitäten und Fakultätssitzungen.
|38|In der Frage nach dem Umgang mit Gewerkschaften war das Zentralkomitee gespalten: Lenin und Sinowjew waren die beiden wichtigsten Vertreter der einen Position, Trotzki und Bucharin die der anderen. Beide Seiten waren sich einig, dass die Partei – und nicht die Gewerkschaften – die tragende Rolle in der Betriebsführung spielen sollten, die Meinungen gingen jedoch weit auseinander darüber, wie dies zu erreichen sei. Die Spaltung, die durch Sinowjews persönliche Angriffe auf Trotzki verschärft wurde, rief das Schreckgespenst auf den Plan, das Zentralkomitee könne beim anstehenden X. Parteitag im März 1921 seinen beherrschenden Einfluss auf den größeren Kreis der Kommunisten verlieren. Menschen außerhalb des Zentralkomitees strebten eine weitaus wichtigere Rolle für die Gewerkschaften bei der Kontrolle der Industrie an und nutzten die Spaltung des Zentralkomitees, um ein breiteres Spektrum an Fragen aufzuwerfen. Sie kritisierten zu Recht die zunehmend diktatorische Beziehung des Zentralkomitees zu untergeordneten Parteigremien sowie staatlichen und gesellschaftspolitischen Institutionen wie Gewerkschaften und machten sich als Arbeiteropposition und als Demokratische Zentralisten einen Namen.
Zweierlei macht die Spaltung des Zentralkomitees besonders interessant. Erstens beschlossen seine Mitglieder, eine Art großer Aussprache zuzulassen, um die Vorteile der jeweiligen Positionen zu prüfen. Hieraus entspann sich eine öffentliche Debatte, die rund zwei Monate andauerte. Sie wurde mit großer Geste im Moskauer Bolschoi-Theater am 30. Dezember 1920 eröffnet. Bei jenem Treffen wurden der Öffentlichkeit die unterschiedlichen Standpunkte vorgestellt, insbesondere die von Lenin und Sinowjew auf der einen Seite und die von Trotzki auf der anderen. Im Verlauf der Debatte kamen viele Positionen zur Sprache, von denen nur drei abschließend auf dem X. Parteitag im März 1921 diskutiert wurden. Diese waren Trotzkis Thesen, die Thesen der Arbeiteropposition und eine Kompromissformel von Lenin und neun anderen (die als das „Programm der Zehn“ bekannt wurde).
Zweitens entschied das Zentralkomitee mit einem Wahlergebnis von acht zu sieben64 – Lenin war diesmal in der Mehrheit –, dass die Delegierten zum Parteitag von getrennten Gremien gewählt werden sollten. Der Vorschlag ging von der Petrograder Parteiorganisation aus, die vollständig von Sinowjew beherrscht wurde. Daniels charakterisiert sie als etwas, „das einem von den Kommunisten legalisierten Mehrparteien-System in den eigenen Rängen am nächsten kam“.65 Schapiro |39|hingegen verstand die praktischen Implikationen der Annahme einer solchen Regelung besser: Sie „verpflichtete ihre Gegner dazu, sich offen in oppositionellen Gruppen zu positionieren und zwang alle Parteimitglieder aufgrund der fehlenden geheimen Stimmabgabe bei Parteitreffen und -konferenzen ganz nebenbei auch dazu, ihre Position offenzulegen“.66
Der von Petrograd aus initiierte Vorschlag erzürnte viele Mitglieder der Moskauer Parteiorganisation, die sich Anfang 1921 fast zu gleichen Teilen in Befürworter und Gegner des „Programms der Zehn“ teilte.67 Es herrschte jedoch ausreichend Geschlossenheit, so dass die Moskauer Stadtorganisation mit 14 zu 13 Stimmen die Petrograder Organisation dafür tadelte, „nicht die ordnungsgemäßen Vorschriften der Auseinandersetzung eingehalten zu haben“. Genauer bemängelte sie „die Tendenz der Petrograder Organisation, sich zu einem besonderen Zentrum für die Vorbereitung des Parteitages zu machen“.68
Über das Fehlverhalten der Parteiorganisation in der nördlichen Hauptstadt – und über die Anfeindungen durch Sinowjew – waren sich die Anhänger von Trotzkis Militarisierungs-These mit den Befürwortern einer führenden Rolle für Gewerkschaften in der Industrie einig. Weiter reichte diese Einigkeit aber auch nicht. Diejenigen im Moskauer Komitee, die sich Trotzkis Meinungen oder Bucharins Positionen anschlossen (ich verwende hier bewusst den Plural),69 lehnten etwa die Meinungen der Arbeiteropposition mit aller Entschiedenheit ab.
Trotzki und Sinowjew gingen klar auf Konfrontationskurs zueinander. Dennoch stellte keiner von beiden – wie auch weder Bucharin noch selbstverständlich Lenin – die Entscheidungskompetenz des Zentralkomitees bei der Frage über die Rolle der Gewerkschaften in der Industrie zur Disposition.
Die Demokratischen Zentralisten überschätzten die Ähnlichkeit des „Programms der Zehn“ mit dem von Trotzki. Ihrer Lesart nach waren beide „Militarisierer“. In gewissem Sinne war das richtig: Lenin war eindeutig davon überzeugt, dass die Gewerkschaften die Rolle des „Transmissionsriemens der Kommunistischen Partei gegenüber den Massen“ spielen sollten.70 Seine Äußerungen implizierten jedoch auch, dass Bildung und Agitation die ersten Schritte sein sollten, um die Gewerkschaften und daraufhin die Arbeiter zu kontrollieren. Für Trotzki hingegen waren die Arbeiter das zivile Pendant zur Roten Armee, die ihrerseits |40|aus Arbeitern und Bauern bestand. Blair Rubles argumentiert in seinen kurzen Ausführungen über die Gruppe der Zehn und die Entwicklung der Gewerkschaften in den 1920er-Jahren, Lenin habe Trotzkis Standpunkt geteilt, die „Gewerkschaften sollten zur Steigerung der Produktivität beitragen“; anders als Trotzki ergänzte er aber einschränkend: „unter der Bedingung, dass sie die legitimen Rechte der Arbeiter vor Verstößen durch die Betriebsleitung schützen“.71 Trotzkis Militarisierung der Gewerkschaften zur Produktion wurde erst in den 1930er-Jahren unter seinem Erzfeind Stalin vollständig umgesetzt.
Was alle Mitglieder des Zentralkomitees und sogar die Führung der Demokratischen Zentralisten gegen Einwände der Arbeiteropposition verteidigten, war die Vorrangstellung des Zentralkomitees gegenüber den Gewerkschaften. Schapiro behauptet zu Recht, dass weder diejenigen, die als Arbeiteropposition bekannt wurden, noch die Demokratischen Zentralisten „eine Opposition im echten Sinne [waren]. Sie hatten keine eigene Organisation, keine feste Mitgliedschaft, keine eigene Presse oder Publikationen“.72 Er zeichnet jedoch ein irreführendes Bild, wenn er hinzufügt, „[sie besaßen] keine Position oder Politik als Alternative zum offiziellen kommunistischen Programm“.73 Im Vorfeld des X. Parteitages (im März 1921) präsentierten und veröffentlichten beide durchaus alternative Positionen im Hinblick auf die Rolle der Gewerkschaften in der Sowjetunion. (Ich sage „irreführend“, weil man gerechterweise einwenden könnte, dass die Veröffentlichung dieser Positionen nur möglich war, weil das Zentralkomitee verschiedenen Gruppen gestattete, ihre Standpunkte in verschiedenen Foren darzulegen.)
Die Arbeiteropposition wollte die Leitung der Industrie und einzelner Fabriken in die Hände gewerkschaftlich organisierter Kommunisten legen. Führungspositionen sollten – und das war ein entscheidender Aspekt – gewählt werden. Gewerkschaftsfunktionäre sollten nicht vom Zentralkomitee oder den sich rasch entwickelnden Zentralorganen – dem Orgbüro, dem Sekretariat oder dem Politbüro (sie alle waren 1919 gegründet bzw. im Falle des Politbüros neu gegründet worden) – ernannt werden. „Dieser Grundsatz[,die Leitung zu wählen]“, so Schapiro, „zielte darauf ab, die Macht des Zentralkomitees der Partei und selbst der örtlichen Parteiorganisationen über die Gewerkschaften zu brechen.“74 Auch wenn der sowjetische Historiker S. N. Kanew75 1956 in einem Artikel die Unterschiede zwischen Lenins und Trotzkis Position |41|maßlos übertrieb, hatte er recht mit seiner These, der Streit um die Gewerkschaften sei Teil eines viel größeren Problems gewesen: Im Mittelpunkt der Diskussion standen „die Frage über die Partei, ihren Platz im System der Diktatur des Proletariats, die Methoden, auf die Massen zuzugehen“, und die Maßnahmen, die Massen am sozialistischen Aufbau zu beteiligen. Abgesehen von seinem Jargon bringt er die Herausforderung auf den Punkt, welche die Kontroverse um die Gewerkschaften darstellte. Gewerkschaften und Arbeiteropposition wollten die Diktatur des Proletariats, nicht aber eine Parteidiktatur über das Proletariat. Diese Provokation wäre unabhängig von den Beschlüssen, die auf dem X. Parteitag im März 1921 gefasst wurden, nicht toleriert worden, auch wenn Ruble76 zu Recht behauptet, Lenins Reaktion darauf sei stark von anderen Ereignissen beeinflusst gewesen.
Mit „anderen Ereignissen“ ist hier vor allem der Kronstädter Matrosenaufstand gemeint – mit seinem für die Bolschewiki rätselhaften Slogan „Sowjets ohne Bolschewiki“ –, der während des X. Parteitages stattfand. Der Parteitag leitete einen fundamentalen Wandel in der russischen Politik ein, der bis zur Ära der Perestroika in den späten 1980er-Jahren anhalten sollte. Im Hinblick auf die Beziehungen zwischen Regime und Gesellschaft kam die Verabschiedung der Neuen Ökonomischen Politik einem Waffenstillstand mit den Bauern und der Wiederherstellung einer Marktwirtschaft gleich, bei welcher der Staat Kontrolle über die Kommandohöhen behielt.77 Es handelte sich eindeutig um einen Rückzug.
Lenin wusste, was bei einem Rückzug zu sagen und zu tun war. Während die Auflagen der Bauern gelockert wurden, fand die bescheidene Duldung von nichtkommunistischer sozialistischer Partizipation auf regionaler Ebene sowie auf Ebene der Gewerkschaftspolitik ein Ende. Die Menschewiki hatten den Fehler gemacht, recht zu haben. Es sollte ihnen nicht gegönnt sein, das Volk daran zu erinnern. Zusammen mit der Arbeiteropposition hatten sie die Äußerungen über Diskussionsfreiheit von 1920 ernst genommen und bezahlten den Preis dafür. Lenin machte klar, dass das wenige, was von der SR- und der Menschewiki’schen Teilhabe an der Politik 1921 noch da war, ausgeschaltet werden würde. „Wir werden die Menschewiki und Sozialrevolutionäre (ob sie nun offen oder als ‚Unparteiische‘ getarnt sind) im Gefängnis halten.“78
Lenin war jedoch nicht nur fest entschlossen, den nicht-kommunistischen, sozialistischen Widerstand zu beseitigen. Ihm ging es vielmehr |42|darum, die kommunistische Ablehnung von Entscheidungen des Zentralkomitees massiv einzudämmen. Die Ära der relativ freien Diskussionen fand ein abruptes Ende. Weil die Ansichten der Arbeiteropposition in gewisser Weise mit denen der Menschewiki verflochten waren, wurde ihnen vorgeworfen, mit Letzteren zu sympathisieren. In einem seiner am häufigsten zitierten Zitate erklärt Lenin: „Ich muss sagen, dass es jetzt viel besser ist, ‚mit Gewehren zu diskutieren‘ als mit Thesen, wie sie von der Opposition aufgetischt werden. Wir brauchen jetzt keine Opposition, Genossen, es ist nicht die Zeit danach! Entweder hier oder dort mit dem Gewehr, aber nicht mit einer Opposition … Und ich denke, der Parteitag wird diese Schlussfolgerung ziehen müssen, … dass es jetzt mit der Opposition zu Ende sein, ein für allemal aus sein muss, dass wir jetzt der Opposition müde sind!“79
Die Beschlüsse, die auf dem X. Parteitag gefasst wurden, gipfelten in einem Prozess, der bereits seit der Machtergreifung der Bolschewiki im Gang war. In nur dreieinhalb Jahren war aus einer Partei die Partei geworden. Sie hatte ihre Forderung nach der Ernennung von Gewerkschaftsmitarbeitern geltend gemacht und damit praktisch die Arbeiter entrechtet, ob sie nun Kommunisten waren oder nicht. Auf dem X. Parteitag hatte sich das, was Lenin 1902 in Was tun? beschrieben hatte, in Marxismus verwandelt. In der Resolution, welche die Arbeiteropposition attackierte, hieß es: „Der Marxismus [Hervorhebung W. Z.] lehrt uns, dass nur die politische Partei der Arbeiterklasse, d.h. die kommunistische Partei, in der Lage ist, eine solche Vorhut des Proletariats und der werktägigen Massen zu vereinen, zu erziehen und zu organisieren, genau wie sie in der Lage ist, dem unvermeidlichen kleinbürgerlichen Wankelmut dieser Massen … [und] ihrer Vorurteile gegenüber den Gewerkschaften zu widerstehen.“80 Und um all dem die Krone aufzusetzen, verabschiedete der Parteitag die Resolution „Über die Einheit der Partei“ mit ihrem berühmten Artikel 7, der Fraktionsbildung verbot:
Um innerhalb der Partei und in der gesamten Sowjetarbeit strikte Disziplin herbeizuführen und die größte Einheit bei der Ausmerzung jeglicher Fraktionsbildung zu erzielen, ermächtigt der Parteitag das Zentralkomitee, in Fällen von Disziplinbruch oder Wiederaufleben oder Duldung der Fraktionsbildung alle Parteistrafen bis zum Ausschluss aus der Partei und gegenüber Mitgliedern des Zentralkomitees deren Überführung in den Stand von Kandidaten des Zentralkomitees, |43|ja als äußerste Maßnahme sogar den Ausschluss aus der Partei in Anwendung zu bringen.81
Die Kommunistische Partei verwandelte sich außerdem rasant in einen großen Verwaltungsapparat, dessen Führung in der Lage war, ihre politischen Anliegen durchzusetzen. Sie war im März 1921 eine radikal andere Organisation als noch zwei Jahre zuvor. Die Entwicklungen in den folgenden Jahren verwandelten die Partei als Organisation weiter hin zu dem Konstrukt, das im Wesentlichen bis zu Glasnost und Michael Gorbatschow Mitte der 1980er-Jahre bestehen sollte.
Zunächst war Swerdlow bis zu seinem Tod im März 1919 das Sekretariat gewesen. Auf dem VIII. Parteitag 1919 waren dann das Orgbüro und das Sekretariat gegründet worden. Außerdem wurde das Politbüro (das 1917 existiert hatte, aber nach der Oktoberrevolution nicht mehr genutzt wurde) wieder eingesetzt und dazu ermächtigt, wichtige Beschlüsse zwischen den Treffen des Zentralkomitees zu fassen. Diesen institutionellen Entwicklungen folgte 1920 die Gründung einer Zentralen Kontrollkommission, die Anfang der 1920er-Jahre eine immer wichtigere Rolle spielte.
Genau genommen war das Politbüro anfänglich ein Unterkomitee des Zentralkomitees gewesen. Das Gewicht der beiden Organe wurde zunächst vor allem durch den fortschreitenden Bürgerkrieg bestimmt. Obwohl das Politbüro bereits in den ersten Monaten des Jahres 1920 tagte, traf es sich häufiger als das gesamte Zentralkomitee. Als die Gefahr schließlich gebannt war und die Mitglieder des Zentralkomitees nach Moskau zurückgekehrt waren, kehrte sich das Verhältnis der Sitzungen in der zweiten Hälfte 1920 um,82 und ab 1922 war das Politbüro das dominantere Organ der beiden. Die Erweiterung des Zentralkomitees (Tabelle 3.1.) ging also mit einem Machtverlust einher, bis das Komitee nur dann noch eine Rolle spielte, wenn im Politbüro Uneinigkeit herrschte – wie etwa im berühmten Streit 1957 zwischen Nikita Chruschtschow und der Anti-Partei-Gruppe, die ihn von seinem einträglichen Posten als Parteiführer verdrängen wollte.
Auch die Zahl der Mitarbeiter des Sekretariats stieg deutlich an: „zwischen 1919 und 1921 von 30 auf 602; im August 1922 waren 325 ‚verantwortliche Arbeiter‘ in den Zentral- und Regionalbüros beschäftigt und geschätzte 15.000 in Organisationen auf Provinz- und Ortsebene“.83 Die gestiegene Zahl der Mitarbeiter verschaffte dem Sekretariat |44|die Möglichkeit, Ämter nicht nur in regionalen Parteiorganisationen, sondern auch in nicht-parteilichen Institutionen in Moskau (insbesondere in der Regierung, den Gewerkschaften und in den Streitkräften) zu besetzen.
Da es hier um die Folgen institutioneller Entwicklung für die Größe des Elektorats geht, ist zu betonen, dass sowohl Jewgeni A. Preobraschenski als auch N. M. Krestinski, die ersten aktiven Parteisekretäre, relativ tolerant gegenüber abweichenden Meinungen waren.84 Insbesondere Preobraschenski setzte sich für freie Diskussionen innerhalb der Partei ein und wandte die Waffen der Organisation nicht in fanatischer Weise an, wenn es darum ging, abweichende Auffassungen in regionalen Parteiorganen einzufangen.85 Beide waren Unterstützer von Trotzki. Dennoch schwächten die Ernennungen durch die Partei im Staatsapparat rasch die Rolle der Regierung bei Entscheidungen, obwohl Lenin den Vorsitz des Sownarkom innehatte und Preobraschenski und Krestinski Trotzki unterstützten. Die erste Nomenklatura-Liste von rund 5.000 Staatsbeamten, die der Genehmigung der zentralen Parteiorgane bedurfte, erschien im Oktober 1923.86
Ein weiteres Indiz für die zunehmende Machtkonzentration betrifft die Sitzungen vieler staatlicher Institutionen. Wenn auch der Staat an sich keinesfalls Verfallserscheinungen zeigte, setzte seine Verwandlung in einen Parteistaat bereits im Dezember 1919 ein. Zu dem Zeitpunkt „hatte sich der Allrussische Sowjetkongress ein Jahr lang nicht getroffen … das Zentrale Exekutivkomitee hatte sich überhaupt fast nie getroffen und über kaum ein Dekret debattiert oder abgestimmt; die Gesetzgebung erfolgte entweder durch das Präsidium des Zentralen Exekutivkomitees oder durch den Rat der Volkskommissare (die beiden Instanzen waren in ihrer Zusammensetzung weitgehend identisch)“.87
Durch ihren beherrschenden Einfluss auf die wichtigsten Ernennungen in der Gewerkschaft beseitigten die Kommunisten faktisch andere Arbeiter aus dem Elektorat, obwohl sie die Gewerkschaften weiter als ernst zu nehmenden Faktor betrachteten. Wäre allerdings der Aufstand der Kronstädter auf die Arbeiter in den zwei Hauptstädten übergesprungen, könnte man heute eine Geschichte erzählen, in der die Arbeiter das Kronstädter Motto – „Sowjets ohne Bolschewiki“ – umgesetzt, sich selbst zum Ejektorat ernannt und den Bolschewiki die Macht entzogen hätten.
|45|Auf dem IX. Parteitag 191988 hatte das Orgbüro die Befugnis erhalten, Parteifunktionäre unter Ausschluss des Politbüros oder des Zentralkomitees „außer für Ernennungen innerhalb des zentralen Apparats“ zu versetzen und zu ernennen. Ab 192089 war es in der Lage, seine Versetzungs- und Ernennungsbefugnis als wirksame Waffe zu nutzen, um kommunale Parteiorgane zumindest in den wichtigsten Industriezentren zu kontrollieren. Anfangs wurde von dieser Macht in Bezug auf regionale Parteiorgane nur begrenzt Gebrauch gemacht. Roeder erwähnt das Beispiel des Ukrainischen Zentralkomitees, das 1920 vom Zentrum aufgelöst wurde, und das des Samara Regionalkomitees, das 1921 von Moskau abgeschafft wurde. In beiden Fällen wählte Moskau den Ersatz.90 Vor März 1921 waren Beispiele wie diese selten.
Die Situation ein Jahr vor dem X. Parteitag 1921 unterscheidet sich erheblich von der ein Jahr darauf. Nach dem März 1922 wurde das, was Roeder als reziproke Rechenschaftspflicht bezeichnet, zum neuen Trend: Sie „tritt da auf, wo [Wahlmänner] … von genau den Führern ernannt und abgesetzt werden können, die sie ernennen und absetzen.“91 Über das Sekretariat und das Orgbüro ernannte das Zentralkomitee diejenigen, deren Positionen die Teilnahme an Parteitagen erforderten. Das Tempo beschleunigte sich. „1922 berichtete [das Sekretariat], es habe 37 guberniia (Provinz-) [Vorläufer der Oblast] Sekretäre abgesetzt oder versetzt und bei 42 Wahlen Empfehlungen ausgesprochen … Es habe ungefähr 5.000 Stellenzuweisungen ‚verantwortlicher Beamter‘ vorgenommen und mindestens so viele Zuordnungen anderen Personals“92 auf niedrigerer Parteiebene im selben Jahr.
Diejenigen, deren Position eine Teilnahme an Parteitagen erforderlich machte, wählten im Gegenzug die Mitglieder des Zentralkomitees in einem Verfahren, das Robert Daniels mit der berühmten Formel vom „zirkulären Machtfluss“ auf den Punkt gebracht hat. Darin nutzte zum Beispiel der Generalsekretär den zentralen Parteisekretär dafür, regionale Sekretäre zu ernennen. Letztere ernannten dann Delegierte (durchaus auch sich selbst) für den Parteitag der KPdSU. Der Parteitag bestimmte sodann das Zentralkomitee, das wiederum das Politbüro und den Gensek wählte.93 Dasselbe Verfahren galt in der Folge, als die Parteitage inhaltlich zunehmend irrelevanter wurden – eine „Versammlung der Getreuen“94, wie Fainsod sie genannt hat. So war es nicht mehr angebracht, das Zentralkomitee – mitunter erweitert durch das Zentrale Kontrollkomitee – als Siegerkoalition zu betrachten, vielmehr war es das |46|Elektorat des Politbüros. In der post-leninistischen sowjetischen Phase (Lenin starb 1924) stellte wiederum das Politbüro oder immer häufiger eine Mehrheit seiner Mitglieder das wahre Elektorat dar. In den 1930er-Jahren nahmen die Sitzungen des Politbüros dann rapide ab, bis sich das Elektorat faktisch auf eine Person reduzierte, auf Stalin.95
Folgen für das Elektorat
Ohne eigenes Zutun gründete die Macht der Bolschewiki anfänglich auf einem fast universellen Elektorat. Dieses fand mit der Auflösung der Konstituierenden Versammlung ein rasches Ende. Mit Repression und dem Ausbau des Parteiapparats entrechteten, tyrannisierten und schlachteten die Bolschewiki in vielen Fällen diejenigen in Stadt und Land systematisch ab, die sie als ihre Klassenfeinde betrachteten. Sie ahmten ihre zaristischen Vorgänger nach, indem sie ein Wahlsystem schufen, das auch die kleinbäuerliche Landbevölkerung, die sie theoretisch nicht als Feind betrachteten, erheblich unterrepräsentierte. Durch die Ausweitung der Ernennungs- und Versetzungsbefugnis zentraler Parteiorgane auf die Gewerkschaften machten sie ihre Stammwählerschaft – die große Masse der Arbeiterklasse – selbst im Hinblick auf die Wahl der Betriebsführung faktisch machtlos und für die Wahl der politischen Führer irrelevant.
Im Laufe der ersten drei oder vier Jahre der Sowjetmacht trafen die Kommunisten Entscheidungen, die nicht-kommunistischen Sozialisten ihre Rechte entzogen und häufig zu deren Inhaftierung führten. Auf dem X. und XI. Parteitag (1921 bzw. 1922) schränkten sie außerdem die Art von innerparteilichem parlamentarischem Mehrheitsprinzip ein, das noch die Entscheidung, den deutschen Forderungen in Brest-Litowsk nachzugeben, geprägt hatte. Unter diesen zunehmenden Einschränkungen waren zwei besonders bemerkenswert, da es sich bei ihnen um institutionelle Entwicklungen handelte, die der Manipulation Vorschub leisteten. Die eine war die Entscheidung, die Wahl von Blöcken zu verlangen, die sich durch ihre Unterstützung von Resolutionen vor einem bevorstehenden Parteitag definierten. Die andere war die Forderung, auf Parteitagen grundsätzlich öffentlich abzustimmen. Beide erstickten solche Stimmen, die vom Standpunkt des Zentralkomitees oder dessen Mehrheit abwichen.
Auch wenn Streitfälle innerhalb des Zentralkomitees weiterhin durch Abstimmung gelöst wurden, kam darüber hinaus zunehmend eine |47|Vielzahl von Verfahren zum Einsatz, um regionale Gremien auf Linie zu bringen. Vertreter wurden zu regionalen Parteitreffen entsandt, um die Position des Zentralkomitees darzulegen. Drei Monate nach dem X. Parteitag im März 1921 reagierte das Zentralkomitee zum Beispiel scharf auf eine Resolution, die mit 1500 zu 30 Stimmen auf dem IV. Allrussischen Gewerkschaftskongress verabschiedet worden war und die einerseits die „Federführung der Partei“ bei der „Auswahl der Führung für die Gewerkschaftsbewegung“ bestätigte, andererseits aber dafür eintrat, dass „die Auswahl der Führer in den Gewerkschaften … vor allem durch die organisierten Parteimassen selbst vorgenommen werden sollte“.96
Ein Aufruhr war die Folge. Tomski wurde als Vertreter des Zentralkomitees im Parteitag abgelöst, und die kommunistische „Fraktion“ musste ihre Entscheidung zur selben Resolution, die sie am Vortag mit einer überwältigenden Mehrheit von 1.500 zu 30 Stimmen verabschiedet hatte, auf dem Parteitag zurückziehen.97 Schließlich kann nicht genug betont werden, wie stark die Loyalitätsnorm selbst in den ersten Tagen nach der Oktoberrevolution unter den Kommunisten war. Sie nahm zum Teil die Form von Ehrerbietung gegenüber Lenin als Person an. Trotzkis Verhalten in der Debatte über die Gewerkschaften Anfang 1921 war sicherlich von solchen Gefühlen geprägt.98 Eine Vielzahl kleinerer Lichter beugte sich Lenin ebenfalls. Darüber hinaus hatten viele Kommunisten die Vorstellung verinnerlicht, die Partei habe immer Recht. Diese Vorstellung sollte den Kommunisten – insbesondere denjenigen, die vor der Revolution Parteimitglieder gewesen waren (die Altbolschewiki) – in den 1930er-Jahren zum Verhängnis werden. In seiner oft zitierten Erklärung, warum er für das „Programm der Zehn“ stimme, fasste Karl Radek 1921 das Dilemma vieler zusammen: „Wenn ich dieser Resolution zustimme, so fühle ich wohl, dass sie auch gegen uns angewendet werden kann und trotzdem unterstütze ich sie … Das ZK mag in Augenblicken der Gefahr die strengsten Maßnahmen gegen die besten Parteigenossen ergreifen, wenn es das für nötig hält … mag das ZK sich sogar irren! Das ist weniger gefährlich als die Unentschlossenheit, die man jetzt sieht.“99
Darüber hinaus war noch eine weitere Art der Loyalitätsnorm im Spiel. Wie wir gesehen haben, machte die kommunistische Führung ungeachtet der geteilten Meinungen innerhalb des Zentralkomitees keine Anstalten, Macht an die Gewerkschaften abzugeben. Das Zentralkomitee |48|sowie die Führungsriege entscheidender regionaler Parteiorgane und eine Handvoll derer, die die regionalen Parteiorganisationen kontrollierten und keine ordentlichen Mitglieder des Zentralkomitees waren, einte die Überzeugung, es müsse seine Macht erhalten und Abtrünnigkeit sei gefährlich. Trotzki und Sinowjew mochten erbitterte Feinde sein und aus ihrer Verachtung keinen Hehl machen. Bucharin mochte nett über die Arbeiteropposition reden, aber wenn es darauf ankam, war noch nicht einmal er bereit, die beherrschende Stellung des Zentralkomitees aufs Spiel zu setzen und die von der Arbeiteropposition vorgeschlagenen Maßnahmen zu unterstützen, um die zentrale Entscheidungsbefugnis des Zentralkomitees abzuschaffen. Er war sogar ein starker Befürworter des Gebrauchs von Ernennungen und Versetzungen, um so die Organisation in Moskau-Stadt, einer Hochburg der Arbeiteropposition, gefügig zu machen: „Die Moskauer Organisation muss gesund gemacht werden … Es ist notwendig, … das aufwieglerischste Element … zu entfernen, um neue, frische Gesichter zu entsenden.“100
Kurz gesagt, hatte die kommunistische Führung das Elektorat erheblich verkleinert und eine Situation geschaffen, in der die Machtverteilung zwischen dem Zentralkomitee und dem wachsenden Staatsapparat auf der einen Seite sowie den potenziellen Herausforderern auf der anderen Seite Erstere erheblich begünstigte. Der Parteitag spielte weiter eine gewisse Rolle. Als Mitglieder der Arbeiteroppositionen beharrlich darauf bestanden, ihren Standpunkt vorzubringen, und sogar so weit gingen, ihrer Bestürzung über die Entwicklungen gegenüber der Kommunistischen Internationale Ausdruck zu verleihen,101 versuchte das Zentralkomitee, fünf der führenden Oppositionsmitglieder vom Parteitag aus der Partei ausschließen zu lassen. Der Parteitag gab bei zwei der fünf nach, wehrte sich jedoch erfolgreich gegen den Versuch, drei langjährige Kommunisten auszuschließen. Trotz der wachsenden Bedeutung des Sekretariats bei der Ernennung und Versetzung von Parteitagsmitgliedern – Roeders reziproke Rechenschaftspflicht, Daniels’ zirkulärer Machtfluss – verhielten sich diejenigen, die nominell befugt waren, als Elektorat zu dienen, in bescheidenem Maße weiter so, als ob dies der Fall wäre.
Diese Beobachtung schmälert indes nicht das zentrale Fazit dieses Kapitels. In den ersten Monaten nach dem Oktober 1917 verkleinerte sich das Elektorat erheblich und wurde durch das sich rasant entwickelnde |49|System reziproker Rechenschaftspflicht, das wiederum vor allem ein Produkt des wachsenden Parteiapparats war, immer weiter eingeschränkt. In der Folge verkleinerte sich auch die regierende Koalition. Das Zentralkomitee kämpfte energisch und erfolgreich gegen Versuche, wonach andere Gruppen amtliche Entscheidungen hätten treffen können, und bildete eine einheitliche Front gegenüber allen anderen Gruppen. Intern war es jedoch zerstritten. Als der explodierende Apparat (insbesondere im Zuge der Verschlechterung von Lenins Gesundheitszustand) zu einer politischen Ressource wurde – die Parteiregeln von 1919 schrieben vor, dass das Zentrum „die Kräfte und Gelder der Partei verteilt“102 –, wurde klar, dass eine Mehrheit, zunächst im Zentralkomitee und bald auch im Politbüro, diese Waffe nutzen konnte, um regionale Parteieinheiten und das Zentralkomitee gegen Gegner, einschließlich der Mitglieder des Zentralkomitees, zu mobilisieren.