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1. Tag
ОглавлениеMan konnte nicht behaupten, dass er viel verlangte; streng genommen konnte man sogar behaupten, dass er überhaupt nichts mehr verlangte vom Leben. Abgesehen vom Funktionieren einiger Alltagsdinge. Den Frieden mit ihnen zu finden, wenn das schon mit den Mitmenschen nicht gelang. Letztere sollten ihn in Ruhe lassen, anstatt ihm die Zeitung aus dem Briefkasten zu klauen.
Es war einer seiner ersten Morgen hier am Fuß der Berge, und er wünschte sich aufrichtig, dass es nicht ein Morgen sein sollte, an dem alles anfing – sein Leben, sein neues, diese frisch gefundene Ungemütlichkeit, die er eben eingetauscht hatte. Er hatte seinen Wecker gestellt, etwas früher, als es hätte sein müssen, um einen Blick in seine Zeitung, das Wesentlichste, das er aus der großen Stadt hierher mitgenommen hatte, zu werfen. Und jetzt war sie ihm geklaut worden und sein Anfang hier, sein erster Bewährungsmorgen, damit versaut. Der Morgen, die Stadt – sie hatten sich zu bewähren wie er selbst und hatten schon versagt, doch anstatt zu fühlen, wie Druck von ihm wich, weil er jetzt weniger zu verlieren hatte, fluchte er auf diesen Tag und sein Leben, auf sein neues wie auf sein altes, das sich entschlossen hatte, dermaßen zu verkommen, dass er dieses neue hatte wählen müssen.
Das Messer fiel ihm das dritte Mal aus der Hand, fiel auf den Boden. Dieses dritte Mal, dachte Birne sich jetzt, anstatt zu fluchen, denn das hätte das Messer auch nicht wieder sauber gemacht, dieses dritte Mal wäre das Messer nicht auf den Boden gefallen, hätte ich nicht den Wecker früher gestellt wegen meiner Zeitung, die ich jetzt nicht lese. Genau diesen Frieden meinte er mit den Dingen, dass sie ihm nicht das dritte Mal aus der Hand fielen, weil er den Wecker früher gestellt hatte, und genau diese Ruhe meinte er, die seine Mitmenschen hätten respektieren sollen.
Jetzt fluchte er. Laut, denn es konnte ihn niemand hören. Außer vielleicht einer Person in diesem Haus, die jetzt, nur weil sie den Wecker auf eine frühere Stunde eingestellt hatte als Birne, gerade die Zeitung las.
Birne musste zum ersten Mal ein bisschen schmunzeln beim Gedanken daran, dass er morgen seinen Wecker so stellen würde, dass ihm zwar das Messer womöglich ein viertes Mal entgleiten würde, aber er dafür Zeitung lesen konnte. Die Dinge und Feinde in diesem Haus würden so gegeneinander ausgespielt. Birne würde einen kleinen Triumph feiern, beim Rausgehen die Türschilder studieren und erste Verdächtigungen anstellen.
Birne zog sich an, fand beinahe ausschließlich nicht zusammenpassende Socken in seinem Schrank, hatte dann aber doch Glück, nahm sich für den frühen Abend vor, Ordnung zu schaffen in seiner Umgebung, überlegte kurz, ob er auf seinem Weg nach einem Zeitschriftenladen schauen sollte, beschloss aber, dass er diese Zeitung nun schon bezahlt und sich nicht auch noch strafen wollte, indem er sie noch mal kaufte und bis zum Schlafengehen sowieso keine Gelegenheit mehr finden würde, sie zu lesen.
Birne ging aus dem Haus und dachte bei sich, dass er eigentlich nicht so einer sei, aber aufgefallen war es ihm jetzt schon, dass von den Namen an den Türen keiner ein deutscher war bis auf einen im ersten Stock links. Dann fiel ihm auf, dass er sich diesen Morgen über Messer, geklaute Zeitungen, seine Unfähigkeit, mit Dingen zurechtzukommen und mit Menschen Frieden zu schließen, aufgeregt hatte. Dann dachte er sich, dass sein Umzug in die kleine Stadt Kempten ihm einen gewissen Kleingeist in die Seele gepflanzt hatte und dass er damit ja nun wirklich hatte rechnen können. Der Birne.
Die waren alle ganz nett zu ihm. Mit denen würde er schon auskommen. Er hatte 15 Minuten zu gehen, dann war er an seiner neuen Arbeitsstelle, einem kleinen Verlag für Wander- und Naturliteratur, angekommen. Das Wandern in der Natur hatte ihn schon immer ein bisschen interessiert, er war ein Naturmensch, würde sich selbst jedenfalls als solchen bezeichnen. Deswegen war er auf den Verlag aufmerksam geworden, auf deren Anzeige – nicht in seiner Zeitung übrigens oder leider. Die meisten Wanderführer veralteten schnell, waren lieblos und oberflächlich gestaltet, entweder von fußlahmen verhinderten Literaten oder von sportwahnsinnigen Analphabeten geschrieben. Das meiste nichts für Menschen wie ihn, die für beides was übrig hatten, das jedenfalls behaupten konnten, wenn jemand sie danach fragte in einer Situation, in der es darauf ankam. Das hatte Birne schon kapiert und richtig gelogen hatte er damit nicht, war nur in letzter Zeit weniger dazu gekommen, war auch in der Stadt München gewesen ohne Auto, denn grün angehaucht war er auch.
Es war ein kleiner Verlag, drei außer ihm und dem Chef und einer Praktikantin, die nicht da war, die ihren Chef begleiten durfte bei einer Verlagsreise. Mehr wurde nicht gesagt und Birne fragte nicht und machte auch keinen Witz darüber, obwohl ihm einer einfiel. Er wusste ja nicht, wie diese Nettigkeit aufzufassen war, ob es am Ende eine katholische war, und dann wär’s wahrscheinlich bald vorbei gewesen mit dieser Nettigkeit. Birne war schon auch katholisch, ausgesprochen sogar, mit den Katholiken, mit den Christen insgesamt kam er hervorragend aus, kannte sogar einige Namenstage, ohne in den Kalender zu schauen, achtete an entscheidenden Stellen aber auch sehr darauf, einen Witz zu vermeiden, selbst wenn er gepasst hätte.
Bei der Erwähnung der Praktikantin fiel ihm ein, dass er selbst gerade keine Frau hatte, dass das ein bisschen auch der Grund war, warum er überhaupt hier war, und dass er sich auf das Ende der Dienstreise freute.
Er bekam seinen Computer in einem eigenen Raum, er könne jederzeit fragen, beschied man ihm.
Werner war älter und hatte viel Bart, er war von hier, beinahe ein Original, sein Händedruck war demonstrativ kräftig, fast krampfhaft kräftig, und sein Hemd war grün und spannte sich stolz über einer Bierwampe. Birne mochte Bier, und Birne mochte Gemütlichkeit. Birne würde vielleicht ein Freund Werners werden, wenn Werner zwischendurch Sehnsucht danach haben würde, seine Frau daheim allein zu lassen und einen Abend zu entspannen. Werner redete nicht viel, nur das Nötigste, oder versuchte, auf Birne so zu wirken, als ob er ihn erst prüfen müsse, als ob er dem Jungen aus der Stadt erst einmal xenophob entgegentreten müsse, als ob sonst die Freundschaft nichts gelte, wenn sie gleich herzlich und, wenn man so will, amerikanisch geschlossen werde. Werner war einer der Drei, der erste, mit dem er zu tun hatte, der Älteste, der, den er fragen konnte, jederzeit. Birne dachte, also gut.
Die Zweite war eine Frau, und Birne mochte sie nicht gleich. Es war die Sigrid, und Birne merkte, dass sie für ihn ungern die Sigrid war, sich von ihm lieber zuerst mit Nachnamen und »Sie« hätte anreden lassen wollen, aber nachdem schon Werner gleich das »Du« angeboten hatte, musste sie mitziehen. Sie war jünger als Werner, vielleicht zehn Jahre, und damit um die Mitte 40. Birne dachte, nicht unbedingt glücklich mit all dem insgesamt, mit den rotblond gefärbten Haaren, die dünn wurden oder immer schon waren, dem türkisfarbenen Landhaus-Westchen, den weißen Stoffhosen, der randlosen Brille, dem aggressiv nach außen getragenen Kleinbürgertum.
Es war kurz nach 12.30 Uhr und Birne hatte gerade beschlossen, sich übers Internet über die Freizeitmöglichkeiten seiner neuen Heimat zu informieren. Die waren alle so sportlich hier, angeblich. Es gab ein Schwimmbad. Schwimmen wäre in Ordnung. Könnte man machen. Ist gesund. Und man kann sich herzeigen. Wäre eine Möglichkeit, dachte Birne kurz nach 12.30 Uhr.
Werner kam rein. »Hast du schon was gegessen?«
»Nein. Zum Frühstück.«
»Gehst mit, ich zeig dir eine Wirtschaft, da kostet es mittags nicht viel.«
Birne war ausgesprochen froh, mitgenommen zu werden.
Sigrid hatte keine Lust. »Sie holt sich aus dem Supermarkt einen Salat«, erklärte Werner voller Verachtung.
Der Dritte, Tim, hatte Zeit. Der Tag war schön, Sonne im Frühjahr. Tim hatte ein hellblaues Hemd an, sagte nicht viel und bekam kleine dunkle Flecken unter den Achseln. Werner redete, kommentierte fast jeden Baum am Rand des Gehsteigs ihres Wegs, und Tim lachte laut und verlegen. Birne fühlte sich ihm jetzt schon überlegen – seinen sauber gescheitelten dunkelbraunen Haaren und seiner randlosen Designerbrille, seiner dürren Gestalt. Sie hatten Birne gesagt, er könne sich an ihn wenden, wenn er Probleme mit dem System habe oder allgemein irgendetwas nicht stimme mit dem Computer. Birne hatte sich innerlich bedankt und sich gedacht, er hätte sich ohnehin an diesen gewandt bei so einem Problem. Zu etwas waren diese Gestalten doch gut.
Birne hatte Mitleid auf dem Weg mit Tim, wollte ihn nicht immer nur höflich lächelnd nebenhertraben lassen und stellte ihm deshalb eine Frage, die ihn ein bisschen miteinbezog: »Bist du von hier?«
»Nein«, antwortete Tim schnäuzend – er hatte sicher Heuschnupfen. »Baden-Württemberg. Hab hier aber studiert – Tourismus.«
Birne liebte Baden-Württemberg. Das waren für ihn die deutschesten Deutschen. Er hatte vor Jahren einmal eine Frau von dort heimlich verehrt wegen ihrer Figur und Frisur, hatte Kaffeeautomaten belagert, um ihr nahe zu sein, um sie riechen zu können eines Tages, eines glücklichen. Doch dann war sie mal in Begleitung einer Freundin erschienen und hatte gesprochen, und dann war’s vorbei mit Birnes Liebe, schlagartig, nach Wochen innerhalb eines kurzen Satzes mit Sch. Aber ansonsten waren sie großartig, die Baden-Württemberger, ohne sie hätte man dieses Land längst zumachen können.
Nicht weit weg von da, wo Birne wohnte, war die Wirtschaft Korbinian, die bot jedem von ihnen für vier Euro ein Schnitzel und ein Getränk. Birne traute sich nur eine Apfelschorle, weil er nicht wusste, was für einen Eindruck er zu machen hatte, Tim eine verschissene Cola Light; als einziger Richtiger unter ihnen trank Werner ein Weizen, wobei er noch überlegte, ob er ein leichtes oder einen Russ nehmen sollte und dann mit den Worten, »Ach, leck mich doch am Arsch, gleich ein gescheites«, die Vollversion bestellte.
Sie schauten in die Runde, ohne zu reden, sahen eine dunkel rustikal eingerichtete Gaststube, ein bisschen kitschig, fand Birne, was den Großteil der Gäste, Schüler der benachbarten Berufsschule in der Mittagspause, nicht störte. Sie ließen sich von der Bedienung im Dirndl mit Mohren abfüllen, genossen ihr schönes Lächeln bei jeder weiteren Bestellung und vergaßen mehr und mehr die Zeit des Nachmittagsunterrichts, die ihnen drohte.
Tim wollte etwas gegen das Schweigen machen und lobte einen neuen Titel ihres Programms, der weggehe wie warme Semmeln, in die Richtung müsse man weiterbohren, fand er.
Werner hatte Mittagspause und quittierte die geschäftliche Bemerkung mit einem »Ja, ja«.
»Kann sein, dass wir die Anna wiedertreffen?«, wechselte Tim das Thema.
»Die tät dir gefallen, ha?«
Tim wurde rot.
»Das darfst du ruhig zugeben, das macht mir nichts.«
Tim: »Ja schon.«
»Da schau, da musst du dich halt ein bisschen anstrengen. Aber hierher kommt sie nicht mehr, seit sie mitbekommen hat, dass wir öfter da sind. Ich weiß nicht, ob es an dir oder an mir liegt. Wahrscheinlich an uns beiden. Jetzt gehen sie lieber zu dem Türkenwagen da vor und fressen dem sein Zeug auf dem Parkplatz von der Schule. Na, wenn sie meinen, dass das besser ist. Mach mir noch ein Glas voll, bevors Essen kommt, sei so gut.«
Birne wollte jetzt auch ein Weizen: »Bring mir auch eines zur Feier des Tages.«
»Das will ich meinen.« Birne und Werner stießen an, nachdem sie bedient worden waren. Tim schaute ein bisschen zu und ein bisschen weg und versuchte einmal kurz sein Glas zu heben, um mit seinem Cola Light mit anzustoßen, ließ es aber dann schnell wieder sinken, um sich nicht zu blamieren, wenn er ausgeschlossen würde, was er sozusagen unangestoßen eh schon war.
Birne fühlte sich gleichermaßen als kleiner Sieger und Arschloch, aber so ist das Leben. Sie bekamen Schnitzel und aßen still schmatzend.
»Die Wirtschaft hat Tradition«, sagte Werner, »die gibt es, seit ich so jung war wie du – länger. Die macht aber bald zu. Im Sommer hätten die noch einen schönen Biergarten, den schönsten vielleicht, den es gibt in Kempten, aber solange werden die nicht mehr aufhaben. Da kommen wir vorher noch mal her und trinken ein paar Helle.« Er stieß noch mal mit Birne an, Tim tat, als bekäme er nichts davon mit, konzentrierte sich ganz auf seinen Salat und spritzte sich dennoch oder gerade deshalb ein paar Tropfen Joghurtsoße aufs Hemd, was Birne wiederum sehr sympathisch fand: Immerhin, sie standen beide mit den Dingen auf Kriegsfuß.
»Ich habe hier auch meinen Stammtisch«, erzählte Werner weiter. »Wir tun schafkopfen. Kannst du schafkopfen?«
»Logisch kann ich schafkopfen. Tut’s ihr schafkopfen?« Birne war stolz und freudig erregt.
»Hier tun wir schafkopfen, immer wieder. Kannst schon mal mittun, wenn einer aufs Klo muss. Bist gern eingeladen. Ist wichtig, dass man schafkopfen kann.«
»In Bayern.«
»Ihr entschuldigt mich, ja?« Tim musste aufs Klo.
»Das machen wir, kein Problem, und wenn die Anna kommt, schick ich sie dir gleich hinterher.«
Tim stand auf.
»Der ist aus Baden-Württemberg, der kann nicht schafkopfen, dem kann man es auch nicht beibringen, die haben das nicht in den Genen.«
»Der DNA.«
»Was?«
»DNA.«
»Jaja, DNA. Ist schon so. Und du?«
»Ich kann schon, freilich. Ich tät auch gern wieder.«
»Nein, ich mein, ob du schießt.«
»Schießen?«
»Ob du auf die Jagd gehst?«
»Nicht mehr.« Wäre Birne ehrlich gewesen, hätte er zugegeben, dass er noch nie geschossen hatte, dass er an dem Punkt in seiner Kriegsdienstverweigerung nicht gelogen hatte.
»Hättest mal wieder Lust?«
»Schon.«
»Also, wenn du Lust hast, nehme ich dich mal mit auf die Jagd, ich habe eine eigene Pacht, den Luxus leiste ich mir. Ich geh immer in der Früh, manchmal auch abends. Also, wenn du mal Lust hast …«
»Gern.«
»Geh, sei so gut, mach mir noch eines.« Werner hob sein Weizenglas, Tim kam vom Klo zurück, die konspirativen zwei Minuten waren vorbei. »Willst du auch noch eins?«
Birne wollte gern noch eins. Er wollte auch zahlen, war so eine Art Einstand jetzt geworden die Mittagspause. Aber Werner wollte ihn nicht zahlen lassen, wollte lieber selbst die Rechnung übernehmen, die von Birne; Tim, der so brav diese Weizenlänge neben ihnen gesessen und gewartet hatte, sollte selbst zahlen, weil er nicht neu war. Die Bedienung fand Birne jetzt auch so nett, dass er gern noch vorgeschlagen hätte, ein bisschen zu verhocken zur Feier des Tages und weil der Chef frühestens morgen von seiner Messe mit Praktikantin zurückkommen würde, aber irgendwann musste Schluss sein.
Sie gingen. Ihr Rückweg führte sie unter der Sonne an dem Türkenwagen vorbei, den Werner vorhin gemeint hatte. Und Tim hoffte, er werde jene Anna sehen unter den jungen Menschen, die dort standen und auf ihre Kebabsemmel warteten.
Werner hatte dafür nur Verachtung übrig. »Frisst du dieses ausländische Zeug?«, wollte er von Birne wissen.
»Ach, ja«, hatte der dafür übrig, manchmal kehrte er ganz gern dort ein.
»Gell, wenn es sein muss, dann friss ich es schon auch. Jetzt wär ein Mittagsschlaf recht.«
»Ja, das wär jetzt was.«
»Gell, das wär jetzt was«, bestätigte Werner.
Da waren zwei ja schnell Freunde geworden, dachte sich Birne. Ob er sich gut geführt hatte oder Werner weizenselig geworden war oder einfach jeden einlud, mit auf die Jagd zu gehen, konnte Birne nicht beurteilen. Dazu war er zu neu. Aber im Augenblick, dachte er sich, ist es egal oder in Ordnung, denn sie hatten gegessen, und ein Mittagsschlaf wäre jetzt recht. Mehr nicht.
Der Nachmittag verlief zwischenfalllos. Birne hatte ein kleines uneinsehbares Bürokabuff zugeteilt bekommen. Da standen sein Schreibtisch mit Computer und Internetanschluss darauf und ein Topf mit einer Yucca-Palme auf dem Boden. An der Wand hing nur eine Luftaufnahme eines Dorfes, könnte noch vom Vorgänger sein, meinte Birne und schlief ein. Die Tür zum Nachbarbüro stand offen, das teilten sich Tim und Sigrid, man hörte wenig von dort, nur gelegentlich einen Stift kratzen und das beruhigende Surren der Computerkühler. Manchmal ein Telefon mit einem Anrufer, dem gesagt wurde, dass der Chef frühestens morgen, wahrscheinlich besser übermorgen zu erreichen sei.
Birne schlief wunderbar und träumte, wie er auf der Jagd einen Bock geschossen habe und die nette Bedienung in der Wirtschaft Korbinian ihn zubereite und ihm und seinen Freunden, unter denen neben denen aus der großen Stadt auch Werner war, servierte für vier Euro. Dann setzte sie sich zu ihnen, und Birne legte seinen Arm um ihre Schulter und fragte sie nach ihrem Namen.
»Anna«, sagte sie im Traum.
Eine brodelnde Kaffeemaschine und Sigrid weckten ihn. Sie stand am Türrahmen, übersah diskret sein Erwachen und fragte, ob er eine Tasse mittrinke.
»Gern«, sagte Birne.
Bevor er ging, schaute Werner noch mal kurz rein: »Also dann, bis morgen.«
Sie waren verabredet.
Birne blieb auch nicht mehr lange, kaufte sich noch eine Leberkässemmel auf dem Heimweg und aß die als sein erstes Arbeitsabendessen in Kempten.
Daheim war niemand. Er saß eine Weile an seinem Küchentisch, hatte keine Zeitung und lauschte darauf, was sein Haus an Geräuschen hergab.
Unter ihm schrien Kinder, sie könnten zehn und elf Jahre alt sein. Es klang nach einem kleinen Bruder, der seine größere Schwester ärgerte und an den Haaren zog. Eine Männerstimme schrie lauter, dann waren die Kinder leise und erklärten dem mit der Männerstimme die Situation.
Jemand saugte Staub. Könnte Birne auch mal machen, dachte er sich, nicht heute, nicht diese Woche, aber bei Gelegenheit.
Ein anderer schaute in seinen Fernseher. Birne überlegte, ob der schlechte Ohren hatte oder das Haus hellhörig war. Fast konnte er mithören. Das wollte Birne nicht, da sah er schon lieber selber fern.
Er machte seinen an und probierte, ob er den Kanal fände. Als es ihm gelungen war, sah er sich zwei Minuten einer Seifenoper oder Telenovela auf ProSieben an. Das ertrug er nicht, das war nichts für ihn und seinen Feierabend, das ging ihm zu langsam vorwärts. Er überlegte sich, ob er, noch bevor die Läden im Forum schlössen, einen DVD-Spieler kaufen und sich einen Film ausleihen sollte. War an sich nicht seine Art, aber keiner machte einen besseren Vorschlag.
Eine Zeitung wäre nicht schlecht.
Er musste aufhören an die blöde Zeitung zu denken, das würde ihn noch zum Kleingeist machen.
Er könnte, solange die Geschäfte offen hatten, noch einmal rausgehen und sich ein paar Halbe Biere kaufen, eventuell auch mal bei diesem Korbinian vorbeischauen, wenn es mit dem bald rum war, sollte man ihn nutzen, um ihn später gescheit bedauern zu können. Einfach mal reinschauen, und wenn es nett war nach dem ersten Bier, einfach sitzen bleiben und den Abend an sich vorbeiziehen lassen. Allerdings, wenn es zu nett würde, könnte es auch sein, dass ihm der nächste Morgen mehr zum Feind würde als der vergangene, und das konnte er nicht wollen, nicht am zweiten Tag, an dem er hier etwas zu leisten hatte. Birne grinste. Zu leisten hatte.
Er zog sich den Kittel noch mal über – es wurde kalt am Abend trotz der Versprechungen, die die Frühlingssonne tagsüber gemacht hatte – und ging aus seiner Tür in den Hausgang, wo er die Kinder wieder hörte und auch den Fernseher etwas lauter und erkannte, dass derjenige zwar schlecht hörte, das Haus aber auch großzügig mit den Geräuschen durch seine Wände umging. Im ersten Stock schepperte eine Tür, dort, wo er meinte, den einzigen deutschen Namen in der Früh entdeckt zu haben, und der Fernsehlärm wurde lauter. Er bremste seinen Schritt, blieb stehen, nichts änderte sich. Unten wartete jemand auf ihn. Das passte ihm nicht. Er wollte seine Ruhe, er konnte jetzt aber auch schlecht zurück hinter seine sichere Tür, wie hätte das denn gewirkt?
Irgendjemand hatte bemerkt, dass er noch mal raus war, und lauerte ihm jetzt auf. Er hatte keine Lust auf eine Begegnung, aber was konnte sie ihm anhaben? Er würde freundlich grüßen, den Blick fest auf den Boden richten und ins Freie abhauen. Er schuldete niemandem etwas und er wollte auch nicht, dass ihm jemand etwas schuldete.
Er ging nach unten.
»Guten Abend.« Eine alte, kleine Frau streckte ihre weißen Haare wirr in die Luft und schaute durch große, fensterglasdicke Brillenscheiben auf ihr Opfer, Birne. Sie steckte mit ihrer rosafarbenen Bluse in einer blauen Blumenschürze. Birne wusste, dass er, wenn er jetzt irgendwie reagierte, Lebkuchen fressen musste, bis er fett genug war für den Grill. Er nickte lässig.
»Neu hier?«, wollte die Alte ihn weiter zu einem Gespräch locken.
»Neu ist relativ.«
»Neu ist relativ«, wiederholte sie und lachte zahnlückig. »Noch ein bisschen an die frische Luft?«
»Ein bisschen.«
»War ein schöner Tag heute, aber wird kalt am Abend, da soll man sich nicht täuschen. Aber Sie sind ja warm eingepackt, Ihnen wird nichts passieren.«
»Hoffen wir’s.«
»Ja, hoffen wir’s. Sagen Sie, junger Mann, haben Sie schnell zwölf Minuten Zeit für eine arme, schwache Frau?«
Jetzt hatte Birne praktisch schon verloren.
»Worum geht es denn?«, wollte er wissen.
»Ich habe es doch gewusst, schon als ich Sie einziehen sah, dass Sie ein feiner Mensch sind. Ich habe es gewusst.«
Birne hatte große Lust, ihr das Gegenteil zu beweisen und sie einfach mit ihrem nackten Lob auf der Treppe stehen zu lassen.
Ein Enkel von ihr war wohl während des Tags da gewesen und sie in dieser Zeit gerade beim Einkaufen. Er hatte ihr einen Zettel auf den Küchentisch gelegt, dass der Schrank, den eine unlängst verstorbene Cousine hinterlassen und ihr vermacht habe, nun von ihm gebracht und im Keller gelagert sei. Ob er, Birne, nun so freundlich sein und das Möbel zu ihr in den ersten Stock tragen könne. Sie sei alt und schwach und er jung und kräftig. Birne fragte sich, warum das nicht der blöde Enkel machen konnte, mochte aber lieber schnell hier wieder raus und willigte ein.
Die alte Frau, die sich als Frau Renate Zulauf vorstellte, führte ihn in den Keller, wo ein meterhoher absolut uninteressanter Wohnzimmerkasten stand.
»Der wär’s. Schaffen Sie den?«
»Kein Problem.«
Birne machte sich dran und hasste sich vom ersten Augenblick an. Er musste unbedingt an seiner Unhöflichkeit arbeiten. Er war zu gut zu den Menschen. Was taten sie dafür?
Umständlich und unter starkem Schwitzen schob er den Schrank die Kellertreppe hoch. Frau Zulauf äußerte sich zunächst sehr positiv über die Stärke Birnes, begann aber bald, ihn zu ermahnen, er solle doch aufpassen, nicht zu oft die Wand zu touchieren, sie habe keine Lust, neu lackieren zu lassen, so viel sei das Erbstück nun auch nicht wert.
»Ich geb schon Obacht, keine Sorge.«
»Ich meine ja nur.«
Schwer schnaufend knallte Birne den Kasten vor der Eingangstür hin.
»Was ist?«
»Nur kurz schnaufen und Jacke ausziehen.«
»Allein würde ich das nie schaffen.«
»Das ist doch kein Problem.« Birne packte wieder an. Woher kam diese ganze Höflichkeit auf einmal? Wollte er gut sein zu den Menschen? Wollte er wieder Liebe geben? Schon möglich.
Konnten sie nicht aufpassen? Die Eltern kamen ums Eck. Die wohnten hier seit Jahren und wurden doch nicht gebeten von der alten Frau, die sie jetzt übertrieben freundlich grüßte. Als ob sie Angst hätte. Birne grüßte auch, so freundlich, wie es ihm die Last erlaubte. Ein türkisches Ehepaar mit zwei wilden Kindern, nahm Birne unter Schwitzen wahr, kam aus dem Erdgeschoss geschossen und zwängte sich an ihm vorbei.
»Ausgesprochen nette Leute«, berichtete Frau Zulauf. »Ich wohne hier seit 64 Jahren. Können Sie sich das überhaupt noch vorstellen? Da war noch Krieg. So, jetzt haben wir es gleich. Mein Mann ist 1969 gestorben. Das war schlimm. Gott hab ihn selig. Und diese Familie wohnt hier seit drei Jahren. Ausgesprochen nette Leute. Auch die Kinder grüßen immer freundlich, wo man doch sonst immer meint, die Kinder von den Ausländern grüßen nicht. Aber die hier grüßen. Wenn Sie das einfach dorthin stellen, mein Enkel kommt die Tage noch mal vorbei und schiebt es dann richtig hin. Mei – vielen Dank. Warten Sie.«
Birne hatte den blöden Kasten die zwei Treppen in den ersten Stock getragen, hatte trotz Aufpassens mehrmals die Möbel im Gang der Wohnung der Zulauf gestreift, war im Wohnzimmer angekommen und endlich erlöst worden. Hier, dachte Birne, sah es aus, wie er es erwartet hatte. Ein grüner Teppichboden, eine 20 Jahre alte Sitzgruppe, die mit nach Katzenhaar stinkenden Decken belegt war. Den halben Bildschirm des Fernsehers, der in einer dunkelbraunen Wohnzimmerschrankwand steckte, bedeckte ein gehäkeltes Tüchlein, darauf standen Familienbilder, Enkelzeichnungen, Engelstatuen, eine Maria, eine Pieta – jede freie Fläche des Schranks bedeckte Tand. Es stank nach Altfrauenwohnung. Im Fernsehen lief jetzt die Tagesschau – Birne hatte den Ladenschluss verpasst durch seine Freundlichkeit.
»So.« Sie war wieder da mit einem Tablett aus der Küche, darauf stand wiederum eine Flasche mit bescheuertem Likör, den Birne aus einem verstaubten Glas zu trinken hatte. Außerdem bekam er zehn Euro geschenkt, die er, so beschloss er, stehenden Fußes versaufen würde.
»Allein hätte ich das nicht geschafft, ich bin alt, seit über 60 Jahren wohne ich hier. Einmal – im Krieg war das noch – hatten wir Fliegeralarm. Und wir mussten uns im Keller verstecken. Können Sie sich das vorstellen?«
»Nein, danke für den Schnaps.«
»Sie sind jung. Seien Sie froh, dass Sie jung sind. Das Alter ist nicht schön, besonders nicht, wenn man einsam ist. Haben Sie eine Frau?«
»Nein«, gab Birne zu.
»Schauen Sie, dass Sie schnell zu einer kommen, Sie sind jung, Sie bekommen schon noch eine. Einsam ist scheiße.«
Da hatte die Alte recht.
»Manchmal läuft’s halt nicht so, wie’s soll.«
»Das ist wahr. Wollen Sie noch einen Schnaps?«
»Ein anderes Mal gern. Jetzt muss ich weiter, ich bin dringend verabredet.«
»Ich versteh schon, die jungen Leute.«
An der Tür drehte sich Birne noch mal um: »Sagen Sie mal, die Zeitung …«
»Ja?«
»Die kommt schon hierher, wenn man sie bestellt?«
Frau Zulauf schaute ihn fest an, als ob etwas mit ihm nicht stimme. »Wieso?«
»Weil sie mir heute Morgen gefehlt hat.«
Frau Zulauf schaute apathisch ins Leere. »Komisch.«
»Aber Sie wissen nichts?«
»Nein. Aber Sie müssen unbedingt mal wieder vorbeischauen, ich hab noch ganz anderen Schnaps, den werden Sie mögen. Das war nicht das letzte Mal.« Sie lachte wie eine Hexe.
Birne versprach wiederzukommen, ohne zu ahnen, dass es diesmal wirklich das letzte Mal bei ihr war, dass er tausend Mal leichter wieder ihren Likör getrunken hätte als den scheußlichen Kelch, den das Schicksal schon für ihn am Brauen war.
Jetzt musste er sich um seinen eigenen Rausch kümmern.