Читать книгу Wo du hingehst, will ich nicht hin! - Wilma Burk - Страница 6
Kapitel 4
ОглавлениеAuch Margot hatte bald von Susannes Entschluss erfahren. „Das ist hart für sie. Dennoch ist es richtig, was sie tut. Ich hoffe sehr, dass sie es eines Tages auch so sehen kann. Im Augenblick ist sie dazu noch zu verbittert“, sagte sie zu mir am Telefon.
Weiter kam sie nicht, ihre Tochter Katja nahm ihr offensichtlich den Hörer aus der Hand. „Hallo, Tante Kati! Da siehst du wieder einmal, wie man mit den Erfolgen einer Frau umgeht. Robert verfolgt einfach stur seinen Weg, und Susi muss sich anpassen, wenn die Familie nicht auseinanderbrechen soll. Ist das nicht wieder ein Beweis dafür, dass eben nur eins geht, Beruf oder Familie? Mir passiert so etwas jedenfalls nicht. Mich kriegt keiner als gottergebene Ehefrau. Darauf kannst du dich verlassen“, rief sie dazwischen.
Dann war Margot wieder am Apparat. „Katja kann es nicht begreifen, sie hätte Susanne am liebsten aufgestachelt. Kannst du dir ja sicher denken, bei ihrer Einstellung. Manchmal wundert es mich, dass dieses Mädchen bei mir groß geworden ist, wo mir doch die Familie stets über alles ging.“
„Vielleicht ist ihr gerade dadurch klar geworden, wie viel Zeit und Zuwendung eine Familie von einer Frau braucht. Vielleicht hat sie bei Schulkameradinnen gesehen, wie wenig davon eine zugleich berufstätige Mutter übrig haben konnte. Und dann das Beispiel Susanne, hektischer als es bei Susanne und Robert zugeht, ist doch gar nicht mehr möglich. Da ist es kein Wunder, wenn sie sich jetzt in ihrer Meinung bestärkt fühlt“, antwortete ich.
„Doch auf einen Partner will auch sie nicht verzichten. Wie lange ist sie schon mit Alexander zusammen. Und das, obwohl jeder seine eigene Wohnung hat. Manchmal glaubte ich, sie würden zusammenziehen. Aber, nein! ‚Ich bin doch nicht blöd! Der würde nur erwarten, dass ich ihm die Schuhe putze’, erklärte sie mir. Er ist sieben Jahre älter als sie und hat eine gute Stellung in einer Bank. Er könnte längst eine Familie gründen. Mich wundert es, dass er damit zufrieden ist, so, wie sie beide miteinander leben.“
„Vielleicht kommt ihm das sehr gelegen, weil er einer von denen ist, die ihre Freiheit behalten wollen, aber nicht auf die Beziehung verzichten.“
„Damit kannst du recht haben“, stimmte mir Margot zu.
„Es ist schon seltsam“, überlegte ich weiter, „von einem Mann erwartet man das viel eher als von einer Frau wie Katja, die obendrein noch hübsch, geistreich und liebenswert ist.“
„Helmut denkt, eines Tages werde entweder ein anderer kommen, oder sie heiraten doch noch, weil es ihnen auf Dauer lästig wird, für jedes Beisammensein erst zueinander fahren zu müssen. Er hofft, dass sie sich spätestens dann besinnen, wenn sich ein Kind anmeldet. Ich aber denke, da irrt er sich. Katja ist so entschlossen, steckt all ihre Kraft in ihr Studium und spricht auch in Alexanders Beisein von nichts anderem, als von der Karriere, die sie machen will.“
„Margot, Katja und ein Kind …? Ich kann sie mir als Mutter nicht vorstellen. Im Zeitalter der Pille, wird sie dies auch sicher zu umgehen wissen. Doch wie ist es mit Irmgard? Ich kenne sie noch nicht. Ist sie wirklich so entschlossen, ihren Beruf aufzugeben, wenn sie Niklas heiratet?“, wollte ich jetzt wissen.
„Das mag überraschend sein, doch sie bleibt dabei. Niklas ist überglücklich. Du hättest mal hören sollen, was er zu Susannes Problem gesagt hat. Natürlich fand er sich dadurch in seiner Meinung bestärkt. ‚Da seht ihr es, wohin das führt, wenn eine Frau auch wert auf eine eigene erfolgreiche Berufslaufbahn legt. Das bringt nur Schwierigkeiten in die Beziehung.’ Dabei frohlockte er regelrecht und fühlte sich doppelt berechtigt, von Irmgard den Verzicht auf ihren Beruf zu erwarten“, berichtete Margot.
„Wer hätte früher gedacht, die Berufstätigkeit könnte den Frauen einmal so wichtig werden, dass es sie in zwei Lager teilt, in die Berufstätigen und die Nurhausfrauen. Wenn sie doch nur mehr Verständnis und Achtung gegenseitig aufbringen könnten, das wäre gut. Und noch besser wäre es, Gesellschaft und Wirtschaft würde dafür sorgen, dass es ihnen möglich ist, beides zu sein.
„Ich muss dir zustimmen. Doch noch braucht es wohl viel Zeit bis dahin“, vermutete Margot abschließend.
*
Traudel schien sich langsam an den Gedanken zu gewöhnen, Susanne mit ihrer Familie bald nicht mehr weit entfernt von sich zu haben. „Wetten, dass sie hier wieder ein Geschäft aufmacht? Wenn Robert hofft, sie würde nun zu Hause bleiben, so irrt er sich bestimmt“, erklärte sie fast trotzig. Ich wusste, sie würde Susanne darin bestärken.
Karl-Heinz sagte nichts weiter dazu als: „Es ist ihr Leben. Sie muss wissen, was sie daraus macht.“
Ich aber spürte, wie sehr er sich auf seine drei Enkeltöchter freute, besonders auf den kleinen Irrwisch Petra, die in ihrer Art manchmal an sein Nesthäkchen Regina erinnerte, als sie noch klein war.
Die meinte dazu: „Ich weiß nicht, einfach die beiden Geschäfte aufzugeben, und vielleicht noch einmal von vorne zu beginnen, ob das richtig ist? So Unrecht hat Mutti nicht, wenn sie sagt, es sei egoistisch von Robert, das von Susi zu erwarten.“ Sonst war es Regina nicht so wichtig, ob ihre drei Nichten näher oder ferner waren.
Ich freute mich darauf, Susanne mit ihrer Familie bald nur ein paar Kilometer von mir entfernt in Harzerode zu wissen. Wenn ich jetzt durch diese Kleinstadt fuhr, versäumte ich nicht, einen Blick auf den großen Komplex des neu erbauten Krankenhauses oben am Hang über der Stadt zu werfen. Welch ein Erfolg für Robert, dass man ihn hier haben wollte. Wenn es nur nicht für Susanne mit dem Verzicht auf ihre Geschäfte verbunden wäre. Das trübte meine Freude. Sie klang jetzt so bedrückt, wenn wir am Telefon miteinander sprachen. Das machte mir Sorgen. Ich erfuhr, dass sie tatsächlich erwogen hatte, ihn allein gehen zu lassen und mit den Kindern in Berlin zu bleiben. „Das wäre aber das Ende unserer Ehe gewesen, und das wollte ich nicht“, sagte sie.
Ihre Geschäfte zu verkaufen, gelang mühelos. Der Interessent, der selbst drei ähnliche Geschäfte besaß, war sofort bereit, sie zu übernehmen, sogar zu einem sehr guten Preis. So kam der Tag heran, an dem Susanne zum letzten Mal am Abend ihre Ladentüren abschloss. Ich konnte mir denken, was sie dabei empfand. Und wenn auch noch ein gehöriger Zorn auf Robert dabei war, so würde es mich nicht wundern.
Wochen vergingen. Noch hörte ich nicht, wo sie in Harzerode wohnen würden. Es hieß nur, das Krankenhaus wollte für sie ein Haus mieten. Das Datum ihres Umzugs kam näher.
*
Doch vorher, am 1. Juli 1990, fand zwischen der Bundesrepublik und der Noch-DDR die Währungsunion statt. Die D-Mark wurde dort eingeführt.
Längst waren mir die vielen verplombten Lastwagen aufgefallen, die über die ehemalige Grenze hinüberfuhren. Sie brachten die dort heiß ersehnten neuen Geldscheine und Münzen in die Städte und Dörfer. Und dann war der Tag da. Die Menschen im Osten konnten ihr Ostgeld in D-Mark eintauschen. Noch war die Summe begrenzt, und auch nicht alles, was sie besaßen, konnten sie 1:1 eintauschen. Doch jetzt war es ihnen möglich, mit D-Mark im Portmonee in den Westen zu kommen und einzukaufen wie wir.
Neugierig fuhr ich in den ersten größeren Ort hinter der Grenze hinüber. Ich nahm Julchen an die Leine und mischte mich unter all die Menschen, die an diesem Sonntag neugierig die Straße entlangschlenderten. Wie die andern blieb ich vor den Schaufenstern stehen, die plötzlich vollgefüllt waren mit Waren aller Art. In den letzten Wochen, war noch gähnende Leere darin gewesen, jetzt aber konnte man hier fast alles finden. Im Fenster eines Schuhgeschäftes drängten sich Schuhe und lederne Handtaschen. Neulich noch, als ich daran vorbeiging, sah ich hauptsächlich Schuhputzzeug darin ausgestellt. Jetzt holten die Geschäftsleute alles hervor, womit sie ihre Lagern längst aufgefüllt hatten, was sie aber vorher für Ostgeld nicht abgeben wollten. Sogar die ehemaligen staatlichen HO-Läden der DDR machten keine Ausnahme dabei. Hoffentlich wird es nun bei uns wieder etwas ruhiger in den Geschäften zugehen, dachte ich. Doch da hörte ich bereits das Gemurmel der Menschen um mich herum und die überraschten Ausrufe: „Das ist ja hier alles viel zu teuer!“ Und dann sah ich es auch: Die gepfefferten Preise! Wollten die jetzt mit Gewalt reich werden? Von hier aus konnten die Leute noch über die offene Grenze zu uns ausweichen und zum Einkaufen kommen, was aber machten diejenigen in den weiter entfernt liegenden Orten?
Und so war es dann. Statt weniger, kamen schlagartig mehr Menschen zum Einkaufen in die westlichen Orte am Rande der ehemaligen Grenze, sogar von weit her. Sie gingen auch nicht mehr scheu zwischen den Regalen hindurch. Vereinzelt kam sogar dieser oder jener stolz mit einem Westwagen angefahren und packte den Kofferraum voll mit allem, was er erstehen konnte. Dabei fand darin viel mehr Platz, als vorher in einem Trabi.
Es fiel schwer, das zu verstehen, waren die Geschäfte drüben bei ihnen jetzt doch voller Waren. Und trotzdem kamen sie zu uns mit ihren mit D-Mark frisch gefüllten Portmonees. Sie stürzten sich regelrecht in einen Kaufrausch. Weiterhin wurden Berge von Bananen und Apfelsinen gekauft, nun aber auch Kleidung preiswerte transportable Radios, Stereoanlagen und Fernseher. Das ging weg bis zum letzten Stück. Bald hieß es in den Geschäften: „Ausverkauft, die nächste Lieferung kommt dann und dann.“ Und die Geschäftsleute konnten sicher sein, auch diese Lieferung würden sie wieder völlig loswerden. So mancher Ladenhüter mag da noch seinen Käufer gefunden haben. Die Kassen der Geschäfte klingelten.
Ganze Paletten mit Joghurt, mit H-Milch, vielleicht zehn Pakete Fischstäbchen auf einmal aus der Gefriertruhe wurden aus den Supermärkten mitgenommen. Sie schienen gleich für einen ganzen Ort einzukaufen. Oft reichte ihnen für ihren Einkauf nicht ein Einkaufswagen. Dafür stand ich nun manchmal ratlos vor teilweise leeren Regalen und die Paletten mit neuer Ware versperrten die Wege durch die Gänge. Die Angestellten des Supermarktes kamen mit dem Auspacken der Waren nicht mehr nach.
Dabei rollten unentwegt riesige Lastwagen die schmalen Straßen zur Grenze hin nach dem Osten. Was wurde da nur an Waren hinübergeschafft. Doch für die Menschen, die einen Ort im Westen erreichen konnten, war es immer noch reizvoller bei uns einzukaufen als in ihren Läden. Wie oft hörte ich, drüben sei alles viel zu teuer.
So musste ich mich an den Kampf um einen Parkplatz beim Supermarkt gewöhnen und an das Gedränge im Laden. Wie oft bekam ich jetzt nicht alles, was ich haben wollte und musste kurzfristig umplanen, was wir doch längst nicht mehr gewöhnt waren. Ja, ich erwischte mich sogar dabei, als ich endlich wieder einmal Fischstäbchen in der Gefriertruhe vorfand, nahm auch ich nicht nur eine Packung mit, sondern gleich drei. Denn wer konnte schon wissen, wann es wieder welche gab.
Irgendwann jedoch musste sich das wieder normalisieren, irgendwann musste auch der Trubel im Ort wieder abnehmen. Längst sprachen nicht mehr Fremde mit Fremden als wären sie langjährige Freunde. Es war vorbei, dass es, wie in den ersten Tagen nach der Grenzöffnung, einen aus dem Osten drängte, jemandem seine Freude darüber mitzuteilen und der aus dem Westen ihm ebenso freudig zustimmte. Im Gegenteil, jetzt konnte man bereits dies und jenes ungeduldige Wort von einem Einheimischen über diese Invasion aus dem Osten hören, wenn die Straßen wieder verstopft, die Läden überfüllt und die Regale teilweise leer waren.
*
In West-Berlin war es auch nicht anders. „Im Berufsverkehr ist kaum noch ein Durchkommen auf den Straßen. Aus dem Grunewald brauche ich jetzt am Morgen ewig lange bis ich zum Betrieb in die Stadt komme“, berichtete Helmut.
Auch Susanne machte das zu schaffen, besonders jetzt, weil sie alles zum Umzug fertig machen musste. „Zu meinen Geschäften brauche ich mich ja nicht mehr durch den Verkehr zu kämpfen“, sagte sie bitter. Die waren nun endgültig verkauft.
Mit den Mädchen hatte sie auch ihren Kummer. Christine, die Große, meuterte, sie wollte nicht in so ein Kaff ziehen und von ihrem ersten Freund getrennt werden. Daniela tat sich wie immer schwer mit Veränderungen und war von Angst vor allem Neuen beherrscht. So war es bereits gewesen, als sie in den Kindergarten und später zu einer fremden Frau in eine zeitweise Pflegestelle musste. An Susanne festgekrallt hatte sie sich geweigert, dort zu bleiben. Nur bei Margot hatte sie nie Schwierigkeiten gemacht, die schien sie mitunter sogar mehr zu akzeptieren als ihre eigene Mutter. Jetzt aber sollte sie noch ihre einzige Freundin zurücklassen. Dabei war sie sich sicher, so eine Freundin nie wieder finden zu können. Also ging sie Susanne klagend und jammernd auf die Nerven. Nur die kleine Petra war zufrieden. Sie, die gebockt und getobt hatte, als sie mit ihren drei Jahren nur begriff, dass ihr geliebter Vati allein nach Harzerode ziehen könnte, sie war wohl die Einzige, die sich auf diesen Umzug freute, weil sie damit auch in die Nähe von Julchen kam, in die sie vernarrt war.
Am liebsten hätte ich Susanne in den Arm genommen, wenn sie mir von all ihren Sorgen erzählte. Der Termin ihres Umzuges kam näher, und sie wussten noch nicht, wo sie in Harzerode wohnen würden. Schließlich kam ein Hilferuf von ihr.
„Jetzt wird es eng für uns“, berichtete sie. „Die Nachmieter drängen uns, zum abgemachten Termin auszuziehen. In Harzerode aber haben sie noch immer nicht entschieden, welches Haus sie für uns mieten wollen. Sie sagen, sie hätten drei Häuser in Aussicht, und es wäre gut, wenn wir selbst die Entscheidung treffen könnten, weil zwei davon eigentlich verkauft werden sollten und nur vorübergehend ein Mietverhältnis möglich wäre. Mit der Umzugsfirma haben wir bereits gesprochen. Unsere Sachen können bei ihnen auf dem Speicher bleiben, bis wir sie abrufen. Wo aber bleiben wir? So dachten wir, wenn du vielleicht ... aber das ist nur eine Frage ... denke nicht, dass wir das von dir erwarten ... Doch schön wäre es, wenn wir vorerst bei dir bleiben könnten, wo du doch so in der Nähe wohnst.“
Zunächst war ich sprachlos. Damit hatte ich nicht gerechnet.
„Du kannst mir ehrlich sagen, wenn dir das zu viel wird“, beeilte Susanne sich, mir zu versichern. Doch es klang beklommen.
Da kam ich zu mir. Natürlich, das war keine Frage. Nie würde ich Susanne abweisen. „Nein, nein! Das wird gehen“, beeilte ich mich zu versichern. „Ich überlegte nur einen Moment, wie ich euch fünf hier unterbringen kann.“
Ich glaubte, den befreiten Atemzug zu hören, als ihr ein Stein vom Herzen fiel, und sie sofort erklärte: „Mach dir um Betten keine Sorgen. Wenn du uns nur zwei Zimmer zur Verfügung stellen kannst. Wir haben bereits alles so geregelt, dass ein Kleintransporter die wichtigsten Sachen von uns zu dir bringt. Dabei sind auch Matratzen für die Kinder. Für uns, dachte ich, geht vielleicht die alte Doppelbettcouch von Euch, die du noch immer hast.“
Verblüfft schwieg ich einen Moment. Dann musste ich lachen. „Ihr habt also schon alles überlegt und geregelt. Dann war das wohl nur noch eine Frage pro forma?“
Da lachte auch Susanne befreit. „Ich konnte mir tatsächlich nicht vorstellen, dass du es uns abschlagen würdest.“
Erst eine Weile nach diesem Telefongespräch fragte ich mich: Und wo bleibe ich in dieser Zeit? So groß war mein Haus ja nicht. Im Erdgeschoss war neben einem kleinen Duschbad die geräumige Küche, in der es sogar eine Essecke gab. Dann waren da noch das Wohnzimmer mit den großen Glastüren und der Terrasse davor sowie daneben, durch breite Schiebetüren miteinander verbunden, ein geräumiges Zimmer mit Blick zum Garten. Früher, als Konrad noch lebte, hatten wir darin unser Schlafzimmer, damit er nicht jeden Tag die Treppen nach oben laufen musste. Nach seinem Tod hatte ich aus diesem Zimmer mein Arbeitszimmer gemacht. Hier stand jetzt mein Schreibtisch, hier saß ich und ließ meiner Fantasie freien Lauf, wenn ich meine Geschichten schrieb. Hier hatte ich auch Platz für einen Computer gefunden. Mein Schlafzimmer war längst wieder oben, wo es noch zwei Zimmer, eine Kammer und ein Bad gab.
Ich könnte mein Bett in mein Arbeitszimmer herunterholen und ihnen die beiden Räume oben überlassen, so überlegte ich. Unsere alte Doppelbettcouch stand ohnehin in einem der oberen Zimmer. Eigentlich hätten wir sie längst nicht mehr gebraucht. Doch trennen hatten wir uns von ihr auch nicht können. Mehrmals neu aufgepolstert wurde sie sogar. Sie war die erste mühsam ersparte Anschaffung in unserer Ehe gewesen, als wir noch zur Untermiete in einem Zimmer bei der Witwe Willinger wohnten, ein besonderes Erinnerungsstück eben. Nun war es gut, dass es sie noch gab. Doch damit war es nicht getan. Ich musste auch Platz für ihre Sachen schaffen. Das hieß, meine persönlichen Dinge mussten aus den Zimmern raus und in die Kammer, die sonst nie richtig genutzt wurde. Mit Julchen würde es keine Schwierigkeiten geben, sie war stets zufrieden, wenn sich ihr Körbchen in meiner Nähe befand. Nachts stand es an meinem Bett und am Tage meistens neben meinem Schreibtisch. Ja, so würde es gehen. dann hätten sie oben die Etage für sich und ich könnte hier unten vielleicht weiterhin ungestört arbeiten. So hoffte ich!
Traudel, der ich gleich davon erzählte, sagte: „Typisch Susanne! Hätte mich gewundert, wenn dieser Umzug ordentlich über die Bühne gegangen wäre. Manchmal frage ich mich, wie sie es überhaupt geschafft hat, mit ihren Geschäften so erfolgreich zu sein, wenn sie alles so gerne bis zuletzt aufschiebt.“
„Nun sei nicht ungerecht. Robert hat sich wohl auch nicht ausreichend um den Ablauf des Umzugs gekümmert“, verteidigte ich Susanne.
Margot war überrascht als sie erfuhr, dass sie bei mir vorübergehend einziehen werden. „Ich dachte, das mit dem Haus in Harzerode sei längst klar. Lieb von dir, dass du helfend einspringst. Doch mach dich auf Einiges gefasst. Bei der quirligen Familie wirst du dich nach deiner gewohnten Ruhe sehnen“, warnte sie.
Na, dachte ich, mal sehen, was da auf mich zukommt! Damals, in Berlin, hatten wir einen engen Kontakt zu Susanne gehabt. Doch inzwischen waren Jahre vergangen und seit wir aus Berlin weg waren, fanden Begegnungen fast nur noch bei Traudel in Hannover statt. Aber Bange wollte ich mir nicht machen lassen. Ich freute mich auf die junge Familie.
Gleich, als das nächste Mal meine Putzfrau zu mir kam, begannen wir mit dem Umräumen. Als Erstes nahm ich auch meinen Schaukelstuhl aus dem Wohnzimmer und stellte ihn ans Fenster neben meinen Schreibtisch im Nebenraum. Das war ein guter Platz. Hier sollte mein Hort sein, in den ich mich zurückziehen konnte, wenn es mir unter meinem Dach zu lebhaft zuging. Auch dieser Schaukelstuhl war ein altes Erinnerungsstück. Er hatte Konrads Mutter gehört. Wie oft schon hatte ich mich gerade in diesen Schaukelstuhl zurückgezogen, wenn mich Kummer oder Enttäuschung quälten. Ich strich mit der Hand über sein schnörkeliges Rohrgeflecht und lächelte, denn auch glückliche Träume hatte ich darin geträumt. Jetzt also würde er wieder zu einer Zuflucht für mich werden. Und Margot meinte ja, Trubel würde es geben.
*
Dann war der Tag gekommen, an dem sie bei mir einziehen sollten. Unruhig ging ich oben noch einmal durch die Zimmer, Schränke und Fächer waren leer, Platz für ihre Sachen gemacht. Mit Hilfe der Putzfrau und ihres Sohnes hatte ich in die Kammer und auf den Dachboden gebracht, wovon ich meinte, dass es im Wege sein könnte. Julchen folgte mir auf Schritt und Tritt. Irgendwie war sie ratlos, wusste nicht, was die Unruhe bedeuten könnte. Als ich mich zum hundertsten Mal davon überzeugt hatte, dass alles vorbereitet war, fiel ich endlich in meinen Schaukelstuhl in meinem Zimmer und Julchen sprang sofort auf meinen Schoß. Ich sah mich auch hier noch einmal um. So ungemütlich, wie ich erst befürchtet hatte, war es nicht geworden. Der Schreibtisch musste nicht einmal verrückt werden, und trotzdem hatte ich einen Sitzplatz am Fenster. Das Zimmer war auch groß genug, so dass mein Bett gleich neben der Tür an der Wand nicht riesig wirkte. Der alte Aktenschrank allerdings, war wieder ein Garderobenschrank geworden, was er früher einmal gewesen war. Dafür stapelten sich die Akten daneben auf einem Regal. So würde es also für einige Zeit gehen.
Julchens Körbchen hatte sogar seinen Platz beim Schreibtisch behalten. Doch jetzt saß sie lieber auf meinem Schoß. Bei dieser verwirrenden Unruhe bisher, wollte sie mich nicht aus den Augen lassen, am liebsten ständig Kontakt zu mir haben. Vielleicht befürchtete sie, ich könnte gleich meine Tasche nehmen und verschwinden. Doch als es vorm Haus hupte, vergaß sie das. Mit einem Satz sprang sie hinunter und lief laut bellend zur Tür.
Sie waren da, eine kleine Karawane. Robert mit seinem silbergrauen Mercedes vorneweg und Susanne mit ihrem kleinen Kombi hinterher. Beide Autos waren randvoll gepackt und dazwischen klemmten die Kinder. Erschöpft und verschwitzt von der Fahrt stiegen sie aus, Robert schlank und groß, die sonst glatten dunklen Haare, die dünner geworden waren, durcheinander geweht und Susanne klein, quirlig, ihre lockigen blonden, kurz geschnittenen Haare zurückwerfend, als wären sie noch eine lange Pracht.
Christine, dreizehn Jahre alt, kroch stöhnend aus Susannes Auto. Wie die Mutter, mit der gleichen Geste, warf sie ihre im Nacken zusammengebundenen blonden lockigen Haare ärgerlich zurück. „Endlich sind wir da. Länger hätte ich das in der Enge nicht mehr ausgehalten. Konnte mich ja kaum bewegen“, moserte sie.
„Glaubst du, wir hätten mehr Platz gehabt?“ fragte Daniela, die mit Petra bei Robert mitgefahren war. Sie strich erst einmal ihren Pulli und ihre Jeanshosen glatt, dann ihre schulterlangen rotbraunen Haare.
„Das will ich wohl meinen. Schau mal genau hin! Ihr hattet viel mehr Platz als ich“, wies Christine sie zurecht.
„Du spinnst ja“, giftete die zehnjährige Dani zurück.
„Hört auf, euch zu zanken, ehe ihr Kati begrüßt habt?“, fuhr Susanne ärgerlich dazwischen, kam auf mich zu, umarmte mich und drückte mich, als wollte sie mich nicht mehr loslassen. „Ich weiß nicht, wie ich dir dafür danken soll, dass du uns bei dir aufnimmst“, sagte sie.
„Wirklich, uns fiel ein Stein vom Herzen. Ich hoffe, wir müssen dir nicht zu lange auf den Wecker fallen“, ergänzte Robert.
„Kommt erst einmal herein!“, forderte ich sie auf. Jetzt erst wunderte ich mich, wo Julchen war. Sie, die zur Begrüßung sonst an jedem hochsprang, war nicht zu sehen. Doch auch Petra war nicht bei uns. Wir fanden sie im Garten. Sie hockte vor einem Busch, unter dem sich Julchen verkrochen hatte, und versuchte vergeblich, sie da hervorzulocken. Achtlos hingeworfen lag daneben Petras geliebter Stoffhund, den sie eben noch im Arm gehalten hatte, als sie aus dem Auto stieg. Wie sehr er geliebt wurde, sah man ihm an, er hatte nur noch ein Ohr und der Schwanz war ziemlich ausgefranst. Jetzt aber war ihr wohl Julchen wichtiger. Was die jedoch nicht zu erfreuen schien. Wahrscheinlich war sie vor einer allzu stürmischen Begrüßung lieber geflohen.
„Was machst du da?“, fragte ich.
Ungeduldig flog der kleine blonde Lockenkopf herum, und zwei braune Augen sahen mich enttäuscht an. „Sie soll rauskommen! Warum kommt sie nicht zu mir?“
Noch ehe ich etwas antworten konnte, war Dani bei ihr. Sie nahm den Stoffhund auf, Petra an die Hand und sagte: ,,Sie kommt von allein vor, wenn du sie in Ruhe lässt. Du darfst nicht so auf sie zu rennen, damit machst du ihr Angst.“
„Ach, so!“ Brav folgte Petra ihr ohne jede Widerrede.
Nun kroch auch Julchen vorsichtig wieder hervor und sah zu mir auf. „Ist die Luft rein?“, schien sie damit zu fragen. Ob sie befürchtet hatte, bald genauso auszusehen wie der Stoffhund von Petra? Noch misstrauisch folgte sie mir.
Robert und Susanne nahmen erst einmal die wichtigsten Sachen aus ihren Autos, dann gingen wir ins Haus. Die Mädchen sausten sogleich nach oben. Sie wollte sich die Zimmer ansehen.
Kurz darauf beugte sich Christine über das Geländer und rief zu uns herunter: „Muss ich etwa mit den Kleinen zusammen in einem Zimmer schlafen?“
„Das wird wohl eine Zeitlang gehen“, rief Robert mit warnendem Unterton zurück.
„Hauptsache ihr habt euer Zimmer für euch“, maulte sie daraufhin und ihr Kopf verschwand wieder hinter dem Geländer.
Ich mischte mich nicht ein. Während Robert und Susanne die ersten Sachen nach oben brachten, ging ich in die Küche. Das fängt ja gut an! So dachte wohl Julchen auch. Sie blieb in meiner Nähe und kroch unter die Bank der Essecke. Während ich Kaffee zubereitete und Kuchen aufschnitt, hörte ich von oben, wie sie noch weiter debattierten. Dann rauschte das Wasser im Bad. Sie machten sich frisch.
Plötzlich stand Susanne in der Küchentür. „Der Kleinlaster wird bald hier sein. Dann können wir richtig einziehen. Schön, wie du alles vorbereitet hast. Noch einmal danke dafür, dass wir die Zimmer oben für uns haben können. Hoffentlich ist es für dich hier unten in deinem Zimmer nicht zu eng“, meinte sie. Doch eine Antwort wartete sie nicht ab. Sie griff sich Tassen und Teller, fragte noch: „Trinken wir auf der Terrasse Kaffee?“ und als ich nickte, war sie damit schneller draußen, als ich mich umdrehen konnte.
Da saß ich nun also an der Kaffeetafel auf meiner Terrasse in einem Kreis, der mich in der nächsten Zeit umgeben sollte. Julchen lag unter meinem Stuhl. Ob sie sich mit dem unruhigen Leben anfreunden konnte? Doch kaum war der Kaffee oder Kakao getrunken, nur noch ein paar Reste Kuchen auf dem Teller, da nahm Dani Petra an die Hand, lockte Julchen mit einem Leckerbissen unter meinem Stuhl hervor und ging mit beiden hinunter in den Garten. Hier nahm sie Julchens Ball und zeigte Petra, wie sie mit ihr spielen konnte. Zuerst hielt sich Julchen misstrauisch zurück. Dann aber war ihr das Spiel zu verlockend und sie sprang fröhlich dem Ball hinterher. Petra jauchzte vor Freude und schlug die Hände zusammen. Dani wurde nicht müde, ihr immer wieder zu erklären, dass sie Julchen nicht stürmisch bedrängen dürfe. Ich seufzte erleichtert, das wenigstens schien geschafft zu sein.
Christine stand auch bald auf. Sie wollte einige ihrer Sachen oben in den Schrank einräumen. Ich aber hatte den Verdacht, sie versuchte sich auf diese Weise, das beste Fach zu sichern.
Nun, ohne die Kinder dabei, begann Robert gleich von seiner neuen Stellung zu erzählen. Dabei betonte er keineswegs bescheiden, wie sehr er diesen Posten für sich als Auszeichnung empfand.
Susanne saß schweigend daneben.
Als selbst ihm das auffiel, änderte er schnell das Thema und berichtete davon, welchen guten Preis ihre Geschäfte erzielt hatten. „Ist wirklich beachtenswert, was Susi mit den Jahren aus der kleinen heruntergewirtschafteten Boutique gemacht hat“, lobte er.
Doch es blieb ein kläglicher Versuch. Als Susanne nun auch über dies und jenes zu berichten begann, klang alles, wie ein zurzeit ruhiger Vulkan, in dessen innerem Kern es brodelte.
Aufmerksam hörte ich beiden zu. Ich wollte verstehen, weshalb das bei ihnen so sehr zum Problem werden konnte. Doch ich fand nur bestätigt, dass Susanne den Kürzeren bei ihrer Entscheidung gezogen hatte. Ich sah sie nebeneinander sitzen und doch sah das früher anders aus. Ich konnte den Eindruck nicht loswerden, als hätten sie sich voneinander entfernt.
Ein Hupen vor der Tür unterbrach unser Gespräch. Der Kleinlaster der Umzugsfirma war da. Jetzt wurde nur noch ausgepackt und eingeräumt. Julchen und ich, wir brachten uns in unserem Zimmer in Sicherheit, während es draußen treppauf und treppab polterte. Gut, dass ich mir diesen Raum so eingerichtet hatte, um mich zurückziehen zu können. Vermutlich würde das öfter sein, als ich zuerst angenommen hatte.
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