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Die Faszination des Abgrunds

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Der Zug raste über die Gleisstrecke dahin, meist durch die langen Tunnel dunkler Schwarzwaldtannen, dann und wann öffnete sich ein Stück hügeliges Ackerland und in der Ferne grüßte ein Dorf.

Stella gab sich dem bekannten Gedankenspiel hin: Nicht der Zug bewegte sich, sondern diese Landschaft aus Tannen, Äckern und Dörfern raste in großer Geschwindigkeit an ihr vorbei. So immerhin könnte es ebenfalls sein, der Flug über die Gleise geschah fast geräuschlos und ohne ein Rütteln.

Jahre hatte sie ihr Zuhause in Freiburg nicht mehr gesehen. Wuchs die Freude in ihr mit den Kilometern, mit denen sie sich dem Ort wieder näherte? Wuchs die Beklemmung? Beides war stark.

Nur eine Mitfahrerin saß ihr im Abteil gegenüber, eine schon ältere Dame mit Hut, aus dem Korb neben lugten unter einer kleinen Wolldecke winzige Katzenköpfchen hervor.

Jetzt zog sie die Decke fort, sechs schwarz- und braungefleckte Katzenbabys lagen im Korb, jedes kaum so groß wie eine gestreckte Hand, sie begannen ein Raufspiel und verknäulten sich ineinander, so dass Stella mit dem Zählen noch einmal von vorn begann.

„Sie fahren nach Freiburg?“ fragte die Dame.

Stella trieb wieder im Karussell der eigenen Gedanken. Sie nickt flüchtig.

Die ältere Dame zog aus einer Reisetasche drei Fläschchen, sie hob drei Kätzchen auf ihren Schoß und ließ sie die weiße Flüssigkeit schlürfen, die anderen miauten in Eifersucht und begannen, über den Korbrand auf ihren Schoß zu klettern.

„Die Katzenmutter habe ich vor sechs Monaten an eine Familie in Lörrach gegeben,“ erklärte die Dame. „Die Familie konnte mit diesem Wurf von Jungen nichts anfangen. Also habe ich ihn mir jetzt abgeholt.“ Sie setzte die drei gestillten Katzenbabys in den Korb zurück, die drei anderen durften nun schlürfen. Sie nannte jedes dieses Katzenbabys mit einem Namen.

„Sie kommen aus Kanada?“ fragte die Dame.

Stella blickte erstaunt.

„Ich habe es an ihrem Aufkleber auf dem Koffer gesehen,“ sagte die Frau.

Ja, diesen Aufkleber gab es. Stella war es so gewohnt, dass sie dem keine Aufmerksamkeit mehr schenkte.

Die Dame holte ein schmales Buch mit einer bunt bestickten Buchhülle aus der Reisetasche, blätterte es auf und drehte es Stella zu.

Es war ein Buch mit eingeklebten Fotos - alles Katzenfotos, häufig nur ein Portrait. Unter jedem Foto stand ein Name. Eine Stammbaumauflistung.

„Ich habe dreiundzwanzig Katzen zu Haus, jede hat einen Eintrag in diesem Buch. Geburtsdatum und Horoskop. Und natürlich hat jede ihren eigenen Namen. Er beginnt immer mit dem Buchstaben ihrer Großfamilie, ihrer Großväter und Großmütter, ihrer Nichten und Cousinen. Etwas Ordnung muss sein.“

Die Kätzchen, alle jetzt gut gesättigt, balgten im Korb und dann wieder auf ihrem Schoss, plötzlich griff sie eins und setzte es Stella aufs rechte Knie. Das Kätzchen äugte unsicher zwischen Ängstlichkeit und Neugier, dann siegte die Neugier und es begann, an Stellas Pullover hinaufzuklettern.

Die winzigen Krallen fanden gut Halt darin, Stella konnte es kaum davon ablösen, dann hielt sie es in der Hand, ein weiches warmes atmendes Bündel, in dem man jeden der kleinen Knochen spürte.

„Sie glauben nicht, wie unterschiedlich Katzen in ihrem Charakter sind,“ fuhr die Dame fort. „Manche wollen immerzu Aufmerksamkeit und sind unersättliche Schmusetiere. Andere sind Philosophen. Sie dösen vor sich hin und üblicher Weise hält man sie für träge und faul. Doch sie beobachten scharf. Sie machen sich ihre Gedanken über die Welt.“

Stella hob das Kätzchen nun sanft an die Wange, Wärme strömte mit Wärme zusammen, das Kätzchen streckte die Krallen, es war nicht sicher, ob es sich in diesem Moment um den Versuch einer kleinen Gegenwehr und Attacke handelte oder nur ein wohliges Sich-Recken ausdrückte.

„Katzen sind Charakterköpfe. Jede ist ein besonderes Individuum,“ sagte sie weiter. „Ich habe lange genug mit Katzen zu tun, um mir ein solches Urteil zu bilden.“

Eine zweite, dann eine dritte Katze fand ihren Weg auf Stellas Schoß, die Dame meinte, in Stella ein natürliches Talent zur Katenmutter zu erkennen. Stella dachte daran, dass Bauern, die mit einem solchen Wurf neuer Kätzchen ungewollt beschenkt worden waren, diese früher häufig in einen Sack packten, sie zum Bach trugen und ertränkten. Jedes dieser kleinen Knäuel war ein Wunder an Geschmeidigkeit und Possierlichkeit. Und die Natur schenkte sie oft ungefragt und im Überschuss. Doch wer war zu so etwas fähig: sie in einem Sack gefangen ertrinken zu lassen?

Stella hatte nicht reden wollen. Doch jetzt fühlte sie sich wie eingesponnen von diesem Spiel der Katzenpfoten, Katzenschnauzen und Katzenohren; die Ablenkung tat ihr gut, wie sie spürte.

„Übrigens,“ sagte die Dame jetzt, „ich habe vor zwei Tagen von Ihnen geträumt.

Das mag für Sie seltsam klingen.

Doch es ist häufig, dass ich Dinge vorausträume – nun nicht häufig, doch es geschieht dann und wann.

Ich träumte, dass Sie mir in diesem Abteil gegenübersitzen. Es war genau ihr Gesicht, ihre Frisur, ihre Kleidung.

Sie erzählten mir, dass Sie lange nicht mehr in Freiburg waren.

Sie haben im Ausland gearbeitet, sie hatten dort mit Zeitungen zu tun, wohl als Journalistin.“

Stella war verblüfft. Eine solche Information hatte sie der Frau nicht gegeben, sie konnte sich auch an keinem ihrer Gepäckstücke befinden.

„Nun – ich korrigiere es etwas:

Ich kann nicht sicher sagen, ob Sie diese Sätze gesprochen haben. Ob Sie überhaupt etwas redeten.

Es ist in Träumen oft so, dass die andere Person im eigenen Kopf spricht. Man sieht sie nur, und im selben Moment weiß man etwas von ihrer Geschichte. Sie werden dies selbst schon erlebt haben.“

„Was wussten Sie noch über mich?“ fragte Stella. „Über meine Geschichte?“

„Das ist es,“ sagte die Dame. „Ich möchte Ihnen etwas mitteilen.

Bitte verstehen Sie es nicht falsch. Ich möchte Ihnen keine Angst machen, im Gegenteil.

Doch was ich noch sah, das war dies: Dass Sie den Bahnhof nicht über den Ausgang verließen.

Sie steuerten zielstrebig auf einen Abgrund zu, der sich auf der rechten Seite befand. Dieser Abgrund, das weiß ich, war natürlich nur ein Symbol. Träume machen das, dass sie eine Umgebung plötzlich verwandeln – um damit etwas auszudrücken.

Ich will Ihnen nur freundlich sagen: Bewahren Sie eine gewisse Vorsicht. Der Abgrund faszinierte Sie. Ich rief Ihnen nach, um sie anzuhalten. Doch Sie kümmerten sich nicht darum.

Sie sollten wissen: Dieser Abgrund bedeutet eine tatsächliche Gefahr.“

Stella prüfte die Frau jetzt mit den Blicken genau. War diese Dame etwas verrückt? Zugleich sah sie doch ernsthaft besorgt aus.

Die ersten Vororte von Freuburg näherten sich.

Drei Kätzchen spielten weiter auf Stellas Schoß, auf ihrem rechten Arm, auf ihrer Schulter.

Die Dame öffnete wieder ihr Katzenalbum. Sie zeigte Stella den Katzenfriedhof in ihrem Garten.

Er gab kleine Grabsteine mit eingravierten Namen und ein kleines Medaillon mit einem Bild der Katze war davor in den Sand gedrückt. Es mussten über hundert solcher Grabsteine sein. Und alles war umgeben von langen Reihen zahlloser Blumen.

„Katzenleben sind kurz. Von all diesen Katzen wusste ich, dass ich sie einmal beerdigen werde. Und noch viele weitere werde ich sterben sehen.

Es ist traurig. Wie es dann doch wieder eine Überraschung und Wonne ist, wenn sie mir einen neuen Wurf schenken.“

Sie sammelt die drei Kätzchen jetzt behutsam von Stellas Pullover ab und senkte sie zurück in den Korb.

Der Zug hielt an diesem Vorortbahnhof und die Frau musste den Zug verlassen.

„Zergrübeln Sie sich nicht den Kopf über das, was ich Ihnen sagte. Nur tanzen Sie nicht in den Abgrund.“

„Tanzen?“ fragte Stella.

„Ja tanzen. Ich sah Sie tanzen dabei. Die Faszination des Abgrunds war groß.“

Tanz am Abgrund

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