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Ankunft

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Sommer 1945

Zuerst war es nur anders als sonst. Dass wir endgültig am Ende unserer mühseligen und gefährlichen Reise ange-kommen waren, stellte sich erst nach und nach heraus.

Bis jetzt hatten wir jede Nacht in einer Scheune oder einem Stall geschlafen. Wir waren in Straßengräben, mit oder ohne Wasser, in Deckung gegangen, wenn wir Schüsse oder ein Motorengeräusch hörten. Wir hatten gehungert, gefroren und geschwitzt.

Wir, das waren meine Eltern und ich, plus fünf weitere Kinder, sieben, neun, elf, zwölf und vierzehn Jahre alt. Ich war mit fünf Jahren der Jüngste, mein Bruder der Älteste. Die anderen vier waren Mädchen. Wir waren wie Buchstützen für unsere Schwestern.

Auf der Flucht mussten unsere Eltern jeden Tag für unseren Lebensunterhalt betteln gehen, oder fechten, wie man es auch nannte. Je nach Erfolg ging es uns besser oder schlechter, oder wir waren gesund oder krank.

Ich war oft krank.

Als es mir mal besonders schlecht ging und ich über Müdigkeit und Kopfschmerzen klagte, tröstete mich Mama: „Wenn wieder Frieden ist, kaufen wir dir einen neuen Kopf.“

Jetzt mussten wir nicht mehr jeden Tag endlose Kilometer laufen, jeder mit einer Tasche oder einem kleinen, aber auf Dauer immer schwerer werdenden Rucksack auf dem Rücken, in denen unser ganzes Hab und Gut enthalten war. Immer wieder blieb ich stehen und wollte nicht mehr weiter gehen.

Mit aufmunternden Sprechgesängen, wie:

Klotz am Bein, Klavier vorm Bauch,

wie lang ist die Chaussee,

Rechts ’ne Pappel, links ‘ne Pappel,

In der Mitte ’n Pferdeappel!

wurden wir von unseren Eltern zum Weitergehen animiert und von den wunden Füßen, dem quälenden Hunger und der andauernden Müdigkeit abgelenkt.

Statt Pappel rechts und links kann man dann ein anderes Wort nehmen und so weiter. In der Mitte hat sich meis-tens etwas mehr oder weniger gereimt. Je weniger es sich reimte, desto lustiger war es. Diese Gesänge machten die endlosen Wege in glühender Hitze, auf aufgeweichtem Asphalt oder staubigen Wegen etwas erträglicher.

Mein Vater musste jetzt nicht mehr in jeden Bauernhof gehen, um nur allzu oft mit versteinerter Miene und leeren Händen wieder heraus zu kommen.

Nun waren wir in einer Kleinstadt in Bayern angelangt und betteln konnte man hier nicht mehr, denn die Leute hatten selber nicht viel. Irgendwie wurde hier schon Vie-les organisiert und wir wurden mit dem Notwendigsten versorgt. Unsere große Wanderung, unsere Flucht war nun zu Ende.

Wir waren da!

Wo waren wir?

Wir wurden zusammen mit vielen anderen Flüchtlingen in einer Gaststätte einquartiert, die keine Gäste mehr hatte.

Der Schlafbereich für unsere Familie war eine enge Nische mit drei Fenstern, in der früher überwiegend fröh-liche Menschen beim nachmittäglichen Kaffeeklatsch saßen, vergnügt plauderten oder sich verliebt in die Augen sahen.

Am ersten Abend teilte unsere Familie die Schlafplätze ein. Ich als Jüngster durfte mir mein „Bett“ selbst aussuchen. Wir schliefen von oben nach unten oder von unten nach oben, das konnte man sehen wie man wollte. Auf Fensterbrettern, die gerade breit genug waren, dass man nicht gleich wieder herunterfiel, auf den harten Holzbänken und auf dem Boden. Ich wollte auf einer Bank schlafen. Matratzen gab es keine, auch kein Stroh. Es erschien uns trotzdem sehr komfortabel, nach der wochenlangen, entbehrungsreichen Flucht von Ort zu Ort, ohne ein festes Ziel und ohne zu wissen, wo und ob man für die nächste Nacht ein Dach über dem Kopf finden würde.

Was dieses Wohlbefinden schon bald sehr trübte, waren die vielen kleinen Mitbewohner, die sich in dieser überfüllten, zweckentfremdeten Gaststätte sehr wohl fühlten. Für Wanzen, Flöhe und Läuse waren solche Zustände ein wahres Schlaraffenland.

Wer noch keine dieser Plagegeister hatte, und das waren sehr wenige, der bekam sie hier über Nacht geliefert. Die hygienischen Einrichtungen waren für höchstens dreißig Gäste gedacht, die nur ab und zu die Toiletten und Waschgelegenheiten benutzten. Es befanden sich aber wesentlich mehr Menschen, auf Dauer, Tag und Nacht, in diesem Lokal. Sie waren aus allen Teilen Ostdeutsch-lands wild zusammengewürfelt. Dazu noch diese fast unsichtbaren, lästigen Mitbewohner. Es juckte überall. Auf dem Kopf waren es die Läuse, am sonstigen Körper Flöhe und in der Nacht bissen uns die Wanzen.

Jeder kratzte sich. Sonst konnte man nichts dagegen tun.

Eines Tages erschienen einige Leute mit großen Spritzen, wahrscheinlich vom Gesundheitsamt, und besprühten je-den Einzelnen von oben bis unten mit weißem Pulver. Auch Kleidung und Decken, alles wurde damit bestäubt. Dieses Wundermittel gegen Schädlinge aller Art hieß DDT. Die meisten der ungebetenen Plagegeister wurde man auf diese Weise vorübergehend los. Diese radikale Prozedur wurde noch mehrmals wiederholt. Vielleicht sind auch Menschen davon krank geworden. Erkran-kungen oder Todesfälle bei Menschen wegen einer DDT-Vergiftung hätte man vermutlich gar nicht bemerkt. Damals starben viele Menschen an den verschiedensten Mangelerkrankungen.

Wir haben es überlebt!

Todesfälle wegen eines zu hohen Cholesterinspiegels oder wegen Übergewicht gab es jedenfalls nicht.

Genau wie Butter.

Von den Dingen, die außerhalb unserer Herberge geschehen sind und sich nicht ums Essen drehten, blieb nicht viel in meinem Gedächtnis haften.

Das herausragendste Ereignis, an das ich mich sehr gut erinnere, war die Ankunft der amerikanischen Soldaten.

Mit ihnen kam Leben in den verschlafenen Ort in der Oberpfalz.

Kolonnen von Panzern, Jeeps und Mannschaftswagen rollten durch die Hauptstraße. Die Militärfahrzeuge er-zeugten einen fast unerträglichen Lärm. Die Motoren dröhnten und die Ketten der Panzer kratzten, quietschten und knirschten über das holperige alte Kopfsteinpflaster. Die stinkenden, qualmenden Abgase vollendeten diese beeindruckende Szenerie. Es war sehr aufregend für mich, gleichzeitig wunderbar und Furcht einflößend. Die Kinder, Einheimische wie Flüchtlinge, schrieen und bettelten in ihren oberpfälzischen, schlesischen, ost-preußischen und allen sonstigen Dialekten: “giff mi Schoklett“. Diese drei Worte hatten sich als die wir-kungsvollsten herausgestellt. Besonders, wenn man sich die Zeit nahm und noch ein „Pließ“ davor oder dahinter setzte. Manche der amerikanischen Soldaten, die zu Hause wahrscheinlich selber Kinder hatten, taten ihnen dann gern den Gefallen. Auf jede Süßigkeit, Schokolade oder Kaugummi, die aus den Fahrzeugen flog, stürzten sich mindestens ein Dutzend hungrige, ausgemergelte Kinder. Wer schneller oder stärker war, hatte die besten Chancen, etwas zu schnappen.

Ich habe fast nie was erwischt.

Außer blaue Flecke!

Meine ersten Fremdsprachenkenntnisse stammen aus dieser Zeit. Bei den Kämpfen um Schokolade und Kau-gummi lernte ich von meinen bayrischen Konkurrenten die ausdruckstarken, mit schmerzhaften Stößen bekräf-tigten Worte: „Du depperter Depp, du depperter“.

Meine Mutter hat nicht sofort verstanden, was damit gemeint war.


Ich schon!

Bei einem anderen Erlebnis in dieser Zeit stand seltenes Obst im Mittelpunkt.

Mein Vater war akademischer Bildhauer. Künstler waren in dieser Zeit nach dem Krieg keine sehr gefragten Leute. Seine zeichnerischen Fähigkeiten, verbunden mit englischen Sprachkenntnissen, sollten sich aber positiv auf unseren kargen Speisezettel auswirken.

Hauptsächlich die amerikanischen Offiziere ließen sich gerne von ihm portraitieren. Die Bilder schickten sie an ihre Familien in Amerika. Als Bezahlung für diese klei-nen Kunstwerke brachte mein Vater manche Köstlichkeit mit nach Hause. Einmal war es eine Banane!

Ich hatte bis dahin weder eine gesehen noch von deren Existenz gewusst und war äußert skeptisch.

Der Familienrat hatte beschlossen, dass ich die Banane essen durfte. Nach einem vorsichtigen, winzigen Biss in die mir fremde Frucht, lehnte ich dieses Angebot mit angewidertem Gesichtsausdruck dankend ab. So kamen meine Geschwister in den Genuss dieser außerge-wöhnlichen Delikatesse.

Unser Aufenthalt in dieser Notunterkunft dauerte nicht sehr lange. Vielleicht zwei oder drei Wochen.

Mir kam es viel länger vor.

Wegen der bedrohlichen Enge in den Notunterkünften versuchte man alle Flüchtlinge so schnell wie möglich besser oder zumindest anders unterzubringen.

Mit unserer achtköpfigen Familie tat man sich schwer. Nirgends war genügend Platz für uns. Wohl deshalb schickte man uns in ein Dorf, nicht weit entfernt von der Stadt. Ein kleiner verlassener Bauernhof wurde uns als vorläufige Herberge zugeteilt. Wir hatten zwar auf der Flucht aus Schlesien manchen Bauernhof kennen gelernt, aber wir Stadtmenschen konnten alleine damit nicht viel anfangen. Zuerst erkundeten wir das, was unser neues Zuhause sein sollte. Es gab leere Ställe, eine baufällige Scheune, mehrere Holzschuppen mit allerhand Gerümpel und das altersschwache Wohngebäude.

Der Hof sah ziemlich heruntergekommen aus und die Vegetation war schon auf dem Vormarsch, um sich Ver-lorenes zurückzuholen. Alles war in einem desolaten Zustand. Vieles schrie nach Instandsetzung und Arbeit.

Natürlich gab es auch keine Tiere mehr auf dem Hof.

Na ja, keine großen Tiere.

Dafür hatten es sich hier viele kleinere und kleinste Lebe-wesen häuslich eingerichtet. Ratten und Mäuse hatten den Hof während der Abwesenheit von Menschen er-obert. Das merkten wir nicht sofort. Listigerweise hielten sie sich bei unserem Erscheinen erst einmal diskret im Hintergrund. Allerdings benutzten sie schon die erste Nacht, um uns auf eindrucksvolle Weise klar zu machen, wer hier Herr im Hause war. Und wie!

Nach dem langen schweren Tag, der voller Ungewissheit über unser neues Heim war, fielen uns an dem Abend, trotz der neuen ungewohnten Umgebung, schnell die Au-gen zu. Es war jedoch ein merkwürdig unruhiger Schlaf auf den Strohsäcken, aus dem man immer wieder, schein-bar grundlos, aufschreckte. Bald merkten wir jedoch, dass hier nichts grundlos geschah.

Irgendwann waren wir alle wach. Wir brauchten Licht. Leider konnte man nicht einfach zum Schalter gehen und Licht anknipsen, denn elektrischen Strom gab es nicht in unserer Nobelherberge. Unsere einzigen Lichtquellen bei Dunkelheit waren Kerzen. Nachdem wir also auf diese Art Licht „gemacht“ hatten, sahen wir, dass ein Grund für den unruhigen Schlaf Kalk war, der von der undichten Decke herab rieselte. Er rieselte allerdings nicht einfach so, sondern wurde von allerlei Getier zum Rieseln veranlasst. Diese wollten uns ihr Zuhause nicht ohne Gegenwehr überlassen. Ein paar zweite Gründe sahen wir grade noch durch den Raum in die nächst-gelegenen Löcher flitzen.

Ratten!?

Mindestens sehr große Mäuse!

Offenbar warteten unsere Vormieter, bis die letzte Kerze gelöscht war, um sich dann über uns her zu machen. Mäuse liefen über unsere Gesichter und unsere Zu-decken. Wir waren alle in hellem Aufruhr. Keiner wollte und konnte mehr schlafen. Trotz bleierner Müdigkeit machte in dieser Nacht niemand mehr ein Auge zu.

Am Tage darauf wurde, neben vielen anderen notwen-digen Dingen, eine Jagdstrategie entwickelt, wie man sich der nächtlichen Mäuseplage erwehren konnte.

Wie wir auch feststellten, waren wir in unseren Bemüh-ungen nicht allein. Mit ein paar halbwilden Katzen auf unserem neuen Grund und Boden hatten wir schnell Freundschaft geschlossen. Sie halfen uns auf ihre Weise das große Mäuseheer zu verkleinern

Es gab aber zu viele Mäuse.

Wir bereiteten uns gründlich vor. Wir wollten, in unserer Einfalt, das Übel auf einen Schlag und möglichst restlos beseitigen.

Sobald der Abend nahte, bewaffneten wir uns mit allem, was aufzutreiben war: Stöcke, Besenstiele, mit und ohne Besen dran, verrostete Schaufeln, verbogene Mistgabeln und andere landwirtschaftliche Geräte. Wir stellten eine furchteinflößende, achtköpfige Truppe dar.

Das meinten wir jedenfalls.

Wir beschlossen, uns bei Einbruch der Dämmerung hinzulegen und schnell die Kerzen zu löschen. Jeder hatte sein Kriegsgerät griffbereit unter der Decke versteckt. Keiner schlief! Alle waren bereit. Nach nicht allzu langer Zeit hörten wir die ersten, kaum wahrnehmbaren Geräu-sche. Wir warteten noch eine kurze Zeit, um unseren Geg-ner in Sicherheit zu wiegen.


Dann schlugen wir los. Schnell wurde eine Kerze entzündet und wir stürzten uns auf die überraschte und flüchtende Mäusemenge. Es gab ein gewaltiges Durch-einander und wir konnten von Glück sagen, dass wir uns nicht gegenseitig behinderten und verletzten. Alle Mäuse aber kamen mit dem Schrecken davon, außer eine, die sich wohl in der Aufregung verlaufen hatte und aus Versehen unter die Schaufel meines Bruders geriet.

Wir beschlossen, diese unbefriedigende, anstrengende und gefährliche Strategie aufzugeben und haben uns Mausefallen besorgt.

Wir mussten uns aber trotzdem an ein Leben mit allen Mitbewohnern gewöhnen und haben uns letztlich mit ihnen arrangiert. So gut es ging!

Auch mit allen Arten und Größen von Spinnen, Küchen-schaben, Ameisen und sonstigen Krabbeltieren.

Es gab noch andere aufregende Dinge.

Die Tierliebe meiner ältesten Schwester Rosa führte dazu, dass sich meine Schwester Lotte, die dritte, ihren Zeigefinger fast gebrochen hätte.

Das kam so:

Rosa, eigentlich heißt sie Rosalinde, musste jede Katze streicheln, die ihr über den Weg lief. Diese ließen sich das gerne von ihr gefallen und so sah man sie oft irgendwo Katzen streichelnd sitzen. Wir anderen hatten die Tiere auch gerne, aber nicht so hingebungsvoll wie Rosa.

Eines Tages hielt sie ein besonders süßes, noch sehr junges Kätzchen auf dem Schoß und streichelte es liebevoll. Durch ein lautes Geräusch erschreckt sprang das Tierchen von ihrem Schoß herunter und lief ins Haus hinein und blitzschnell die schmale, baufällige Treppe zum Dachboden hinauf. Rosa lief, trotz des strengsten Verbotes diese Treppe zu betreten, der Katze hinterher. Das Verbot war nicht umsonst ausgesprochen worden, denn das gesamte Haus, besonders aber die oberen Räume unterm Dach, war morsch und unsicher. In ihrem Eifer, das Kätzchen zu retten, kroch sie, inzwischen ebenfalls auf allen Vieren, diesem immer weiter nach. Wir anderen, Dora, die zweitälteste, Lotte, Birgit, die vierte und ich, standen unten im Haus an der Treppe und kommentierten das Ganze und gaben kluge Ratschläge.

Dabei entdeckte Lotte, dass kein Schloss in der Tür zur Treppe war. Um dies anschaulich zu machen, steckte sie ihren Zeigefinger in das dafür vorgesehene Loch, sodass der Finger gerade noch vorne heraus schaute. In diesem Moment hörte man von oben einen kurzen, spitzen Schrei, dann splitterte und krachte es, vielleicht war die Reihenfolge auch umgekehrt, und meine Schwester Rosa kam mitsamt dem Kätzchen von oben durch die ver-faulten, alten Bretter geflogen und berührte dabei den Finger von Lotte.

Die Katze blieb unverletzt und sauste verängstigt um die nächste Ecke. Da die alten, morschen Bretter den Auf-schlag milderten, kam Rosa mit ein paar blauen Flecken und dem Schrecken davon. Lotte hatte einen dicken Finger.

Und ich hatte meinen Spaß!

Natürlich bedauerte ich meine Schwestern auch ein bisschen!

Da sich das Leben zunehmend normalisierte, fingen auch die Pflichten wieder an. Flüchtlingskinder mussten jetzt auch wieder zur Schule gehen. Inzwischen war ich sechs Jahre alt geworden und war mit dabei.

In dem Dorf, in dem wir wohnten, gab es keine Schule. Er bestand nur aus ein paar Höfen mit wenigen Ein-wohnern. Unsere Schule befand sich in der Nachbar-gemeinde und war eine sogenannte Zwergschule. Sie bestand aus einer Klasse. Alle acht Klassenstufen in einem Raum! Ich ging mit allen meinen Schwestern in die gleiche Klasse. Mit einem Lehrer. Einem bayrischen Lehrer. Am Anfang haben wir nicht viel verstanden. Weder unsere Mitschüler noch unseren Lehrer, obwohl dieser sich redlich bemühte, sich seinen neuen Schülern gegenüber verständlich auszudrücken.

Die einheimischen Schüler waren da viel weniger bemüht, nannten uns „Saupreißn“, was ich zuerst gar nicht als Beleidigung verstand, und sprachen weiter in ihrem, für uns fast unverständlichen Dialekt.

Der Nachbarort war ungefähr zwei Kilometer entfernt. Wir mussten natürlich jeden Tag hin und zurück laufen. Von Schulbussen keine Spur. Das Hauptverkehrsmittel auf dem Land war damals das Pferdefuhrwerk. Wir hat-ten natürlich keines. Wir hatten eigentlich nichts, nicht einmal richtige Schuhe. Wir gingen immer barfuß, auch zur Schule. Bis es zu kalt dafür wurde.

Wir mussten auf unserem Schulweg ganz dicht am Nachbarhof vorbei, wahrscheinlich sind wir sogar ein bisschen über den Hof gelaufen. Es war ein Bauernhof wie im Bilderbuch. Man hörte es grunzen und schnattern, quaken und gackern. Auf der nahen Wiese sah man braunweiße Kühe im Gras liegen oder stehen und mit der ihnen eigenen stoischen Ruhe wiederkäuen.

Wenn man um die Mittagszeit vorbei kam, konnte man die Familie vor dem Essen beten hören. Verstanden haben wir davon allerdings kein Wort!

Alles war eigentlich wunderbar.

Aber offenbar gefiel es dieser Bilderbuchbauernhoffami-lie nicht, dass ein paar Flüchtlingskinder ihren Hof als Abkürzung benutzten. So ließen sie eines Morgens ihren großen Schäferhund von der Leine.

Von dem Tage an war unser Schulweg ein paar hundert Meter länger. Es hat uns aber nicht geschadet, wir sind nur zäher und schneller geworden.

Und meine Fußsohlen dicker!

Gebetet haben sie wahrscheinlich immer noch!

Jeder kennt die Eiszeit, die Bronzezeit oder die Steinzeit.

Wir hatten eine Eierzeit!

Ganz für uns allein!

Außer den vielen Katzen hatten wir gelegentlich noch andere willkommene Tiergäste auf unserem Hof. Dazu gehörte eine große weiße Hühnerfamilie, die unsere fast leere Scheune, in der nur ein paar alte, halb verrottete Strohballen herumlagen, als ihr Nest entdeckt hatten. Sie legten auch fleißig Eier.

Selbst wir ahnungslosen Stadtmenschen erkannten sofort die Chance, die sich uns da bot. Seit langer Zeit hatten wir keine Eier mehr gesehen, geschweige denn gegessen. Auf der Flucht hatte ich mal eins gegessen. Eine Bäuerin hatte es uns geschenkt, als sie hörte, dass ich Geburtstag hatte. Jetzt wurden sie uns frei Haus geliefert. Wir empfanden es als Geschenk des Himmels. Wir haben nicht lange über Recht oder Unrecht nachgedacht, son-dern das Geschenk angenommen und die Eier gegessen. Normalerweise ernährten wir uns hauptsächlich von Mehl, Brot und Wasser. Dazu kam alles, was wir in der Natur fanden. Beeren, Pilze, Brennnesseln als Spinat-ersatz und verschiedene Kräuter für Tee. Löwenzahn-blätter waren als Salatersatz sehr beliebt. Nach und nach kannten wir jede essbare Pflanze.

Trotzdem machten wir ständig eine unfreiwillige Fasten-kur.

Wir hatten immer Hunger.

Satt sein kannten wir gar nicht.

Jetzt gab es plötzlich Spiegelei, Rührei und Eierkuchen. Doch so schnell der Segen gekommen war, war er auch wieder weg.

Obwohl wir niemandem etwas davon erzählt haben, muss es unserem Nachbarn, dessen Hühner es wahrscheinlich waren, doch zu Ohren gekommen sein. Er erzählte überall herum, das wir seine Hühner, wenn wir sie schon nicht gestohlen, so doch zu uns gelockt hatten.

Lockt mal Hühner ohne Futter!

Als der Bauer sie zurückgeholt hat, ist er mit erhobenen Fäusten auf meinen Bruder, der alleine zu Hause war, los gegangen. Er konnte sich gerade noch ins Haus retten.

Unsere Hühnerfamilie waren wir nun los.

Wahrscheinlich hat er unsere liebgewonnenen Eierliefer-anten eingesperrt oder geschlachtet. Auf die Idee, dass wir unsere gefiederten Mitbewohner auch essen könnten, sind wir bezeichnenderweise überhaupt nicht gekommen. Da hätten wir sie ja töten müssen!

In der ganzen Zeit, in der wir noch da wohnten, hat sich kein Huhn mehr bei uns blicken lassen.

Das war das Ende unserer Eierzeit.

Bestimmt das kürzeste aller Zeitalter!

Dann wurde es kälter, der Winter kam. Für mich war nun schulfrei. Ohne Winterschuhe keine Schule, so ein-fach war das.

Unser Leben spielte sich fortan hauptsächlich in einem Raum um den einzigen kleinen Ofen herum ab. Das kann man wörtlich nehmen, denn einen Meter vom Ofen ent-fernt war es bereits kalt. Am besten kam man zurecht, wenn man sich laufend um sich selbst drehte. Wie am Spieß.

Winterkleidung hatten wir kaum, also sind wir nicht viel nach draußen gegangen. Wenn es schneite, zog es uns Kinder natürlich auch ohne richtig warme Schuhe ins Freie, um Schneemänner zu bauen oder uns mit Schnee-bällen zu bewerfen. Anschließend haben wir uns dann ganz schnell wieder um den Ofen versammelt, uns gedreht und dabei trocknen lassen.

Wir waren die einzigen Flüchtlinge im Ort. Nachbars-kinder kamen nicht zu uns. Wir waren unerwünscht und das gab man uns dadurch zu verstehen, indem man so tat, als wären wir gar nicht da. Zum Glück waren wir selber genügend Kinder. Langeweile gab es nie. Bei uns war immer was los.

Es wurde Weihnachten auf dem Bauernhof.

Große Vorbereitungen gab es nicht, denn da war nichts vorzubereiten. Es gab weder Weihnachtgebäck, noch eine knusprige Weihnachtsgans oder Geschenke. Das einfache karge Essen unterschied sich nicht von dem anderer Tage.

Ich erinnere mich an eine sehr kleine mickrige Fichte, die spärlich mit Lametta geschmückt war. Außerdem hingen an wenigen Ästen ein paar Äpfel und Nüsse.

Unsere Weihnachtsbäume waren trotzdem immer die schönsten! Davon waren wir fest überzeugt.

Diesen Heiligen Abend werden wir aber trotzdem nie vergessen.

Meine Mutter las gerade etwas vor und wir lauschten an-dächtig, als plötzlich an eines der mit dicken Eisblumen verzierten Fenster geklopft wurde. Wir sind alle sehr er-schrocken. Keiner konnte sich vorstellen, wer an diesem Abend etwas von uns wollte.

Wir kannten hier niemanden.

Durch die gefrorenen Scheiben konnte man nichts sehen. Ängstlich schauten wir uns an. Im Zimmer wurde es still.

Schließlich stand mein Vater auf, ging zum Fenster und öffnete es einen kleinen Spalt. Als er niemanden sah, machte er das Fenster weiter auf, um besser hinaus sehen zu können.

Da entdeckte er es.

Auf dem schmalen Fenstersims lag ein Päckchen. Er nahm es, machte das Fenster wieder zu und legte es mitten auf den Tisch. Eine ganze Weile haben wir es nur verwundert und neugierig staunend angesehen. Dann ergriff Mama die Initiative und öffnete behutsam das kleine Paket. Zum Vorschein kam ein großes, rosiges Stück Fleisch. Wir standen sprachlos um den Tisch herum und starrten ungläubig auf dieses überraschende Geschenk.

Der triste, kalte Raum schien plötzlich ein bisschen heller und wärmer zu sein.

Irgend einer dieser flüchtlingsfeindlichen, sturen bay-rischen Bauern hatte uns einen Weihnachtbraten ge-schenkt.

Seinen Nachbarn durfte er sicher nichts davon erzählen!

Es war das schönste Weihnachtsgeschenk, an das ich mich erinnern kann.

Irgendwann ging auch dieser lange kalte Winter zu Ende. Langsam konnte man sich wieder im Freien bewegen und an den Bäumen und Büschen waren erste Knospen zu erkennen. Wir freuten uns schon auf den Frühling.

Da geschah das Furchtbare.

Mein Vater machte, wie so oft, Spiele mit uns und wir tollten mit ihm herum. Ich saß gerade auf seinen Schul-tern, als er plötzlich einen heftigen Hustenanfall bekam.

Als er sein Taschentuch vor den Mund hielt, merkten wir, dass es sich dunkelrot färbte.

Wir wussten natürlich nicht gleich, was das zu bedeuten hatte, aber wir ahnten Schlimmes und starrten ängstlich und besorgt auf ihn und das blutige Tuch. Meine Mutter reagierte als erste und Papa musste sich auf sein Bett legen. Immer wieder wurde er von Hustenanfällen ge-schüttelt und jedes Mal spuckte er Blut. Meine Geschwis-ter und ich saßen irgendwo im Zimmer herum und wein-ten. Meine Mutter saß auf der Bettkante und weinte auch.

Ich dachte, mein Papa muss sterben.

Erst am nächsten Tag konnte jemand in die Stadt gehen und einen Arzt holen.

Nach ein paar Tagen lautete die schreckliche Diagnose: Offene Lungentuberkulose

Da diese Krankheit höchst ansteckend ist, wurde mein Vater sehr schnell in ein Lungensanatorium geschickt. Dieses Sanatorium befand sich in Berchtesgaden, weit weg in den Alpen. Wir haben ihn lange nicht gesehen. Besuchen konnten wir ihn natürlich auch nicht. Nicht einmal meine Mutter. Sie musste sich um uns kümmern.

Wir wurden alle geröntgt, um festzustellen, ob wir uns bereits angesteckt hatten. Glücklicherweise haben sie nichts gefunden. Diese Untersuchungen wurden noch sehr oft durchgeführt.

Papa kam erst zurück, als wir schon lange nicht mehr auf dem Bauernhof gelebt haben.

Fast ein halbes Jahr später.

Mir kam es unendlich lange vor.


Kindertage

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