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2. Kapitel: Pragers Villa

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Als er den Mann das erste Mal sah, wusste er sofort, das ist die Lösung. Wenn ich er bin und er ich, dann bin ich aus dem Schneider, dachte er. Aber bis es soweit ist, ist noch eine Menge zu tun und es blieb ihm nicht so viel Zeit. Er war dem Mann bis zur Buchhandlung Rombach gefolgt, dort lag in der Abholung ein Buch für ihn bereit. Er hörte, wie ihn die Buchhändlerin am Tresen begrüßte. Wir hätten Ihnen das Buch auch zugeschickt, Herr Prager. Die Adresse Gärtnerstraße 5 stimmt noch? Er konnte es kaum fassen. So schnell war er selten an brauchbare Informationen herangekommen. Das war ein Geschenk des Himmels. Ach so ja, er glaubte nicht an himmlische Mächte, das war ihm von den Genossen in der Spezialabteilung der NVA gründlich ausgetrieben worden. Nun musste er die Gunst der Stunde nutzen.

Herr Prager verließ mit seinem Buch, ohne sich weiter umzusehen, die Buchhandlung. Er sah ihn durch die Scheibe in Richtung Bertolsbrunnen davoneilen. Er lief hinter ihm her, machte es genau so, wie man das vom Fernsehen kennt und wie er es einmal gelernt hatte. Er hielt immer genügend Abstand, war aber stets darauf gefasst, dass unvermutet ein anderer Weg eingeschlagen werden musste. Er war etwas aus der Übung, aber der Mann, den man in der Buchhandlung mit Prager angesprochen hatte, war kein Gegner für ihn. Trotzdem verlor er ihn am Augustinerplatz kurz aus den Augen. Er war nur einen Augenblick unaufmerksam gewesen, hatte sich von einer Passantin, die im Wege stand, ablenken lassen.

Beim Naturkundemuseums bog Prager, so konnte er ihn ja jetzt nennen, nach links ab, querte die Straße und steuerte den Biergarten der Hausbrauerei Feierling an. Im Biergarten wurde er von einer Frau angesprochen, sie hatte hier offenbar auf ihn gewartet. So wie sie sich begrüßten, war es wohl die Ehefrau, eine hübsche Frau Mitte vierzig, halb langes, blondes Haar, hinten mit einer Spange gebändigt. Das geblümte Sommerkleid stand ihr gut. Er liebte es, wenn schöne Frauen die runden Oberarme zeigten. Er verzog den Mund zu einem leichten Grinsen, die Frau gefiel ihm, aber ohne Frau wäre es ihm lieber gewesen.

Das Paar suchte sich einen Tisch am Zaun. Der Biergarten bot um diese frühe Nachmittagsstunde noch reichlich Platz und so konnte er einen geeigneten Beobachtungsposten am Nebentisch beziehen. Er verstand nur wenig von dem, was die beiden miteinander besprachen, aber er wusste die Sprache der Gesten zu deuten. Sie zeigte ihrem Mann, was sie gekauft hatte, zog jedoch das Kleidungsstück nicht aus der Tasche, welche die Aufschrift eines Freiburger Modehauses mit dem Namen „Adèle“ trug. Sie ließ ihn nur einen Blick hineinwerfen. Herr Prager nickte anerkennend, schmunzelte, schien aber nicht wirklich interessiert zu sein. Er bestellte ein Bier, seine Frau bevorzugte eine Weinschorle. Frau Prager war, wie man unschwer erkennen konnte, eine lebhafte Person. Sie strich ihrem Mann mehrmals mit der Hand über den Unterarm, sah ihn zwischendurch forschend an, sprach eindringlich auf ihn ein, lachte über seine Erwiderungen und warf immer wieder neugierige Blicke auf die anderen Gäste des Biergartens. Das ist eine Frau, die sich nichts entgehen lässt und sie gibt den Ton an, dachte er. Wenn sie den Kopf hob und herübersah, senkte er den Blick oder drehte den Kopf in eine andere Richtung. Das Modehaus, dessen Logo die geschwungenen Buchstaben eines französischen Mädchennamens zeigte, war sicher eine gute Adresse, vielleicht war sie dort Stammkundin, das könnte ihm evtl. helfen, wenn sich das mit der Buchhandlung als ein Flop erweisen sollte. Er zahlte, blieb aber auf seinem Platz, bis das Paar den Biergarten verließ. Mit seinem Handy hatte er schnell herausgefunden, dass die Gärtnerstraße in Littenweiler lag, einem Freiburger Vorort im Südosten der Stadt.

Seine Vermutung bestätigte sich. Die Pragers hatten ihr Auto in der Nähe geparkt. Sie liefen zur Schlossberggarage, keine 100 Meter entfernt. Wenn er sich jetzt beeilte, könnte er vor ihnen in Littenweiler sein. Wenn es dann doch nicht die Gärtnerstraße sein sollte, müsste er noch einmal in die Stadt zurück, kein Vergnügen bei dem Feierabendverkehr am Freitagnachmittag.

Keine 10 Minuten später meldete ihm die sympathische Stimme seines Navigationsgeräts: Sie haben ihr Ziel erreicht . Er fuhr am stattlichen Anwesen mit der Hausnummer 5 vorbei. Er stieß einen anerkennenden Pfiff aus. Wenn er sich nicht irrte, bewohnten die Pragers eine ansehnliche Villa in einer gut bürgerlichen Gegend. Wie sagt man: Lage mit Aussicht. Das große Haus lag etwas zurückgesetzt an einer leicht ansteigenden Straße und musste von seinen Fenstern aus einen herrlichen Blick auf die Laubwälder zwischen Littenweiler und Günterstal gewähren.

Er parkte sein Auto 20 Meter weiter auf der Straßenseite der Villa. Im Rückspiegel konnte er beobachten, wer die Straße heraufkam; er musste nicht lange warten. Der schwarze Audi Q3 der Pragers hielt vor dem Haus. Frau Prager stieg aus und lief mit ihren Einkaufstüten zur Haustür, ihr Mann brachte das Auto in einer Doppelgarage unter. Er konnte es nicht genau sehen, aber es schien ihm, dass dort schon ein kleiner Wagen untergestellt war. Er war mit sich zufrieden, heute würden die Pragers das Haus vielleicht nicht mehr verlassen. Er fuhr jetzt in die Stadt zurück, zurück in seine kleine Wohnung in der Frank-Kohlhepp-Straße. Seine Zweizimmerwohnung lag in einem Wohnblock für neunzig Parteien.

Seit zwei Jahren wohnte er hier. Er hätte sich eine größere Wohnung durchaus leisten können, immerhin bekleidete er den Rang eines Majors, aber der Posten bei der Güteprüfstelle der Bundeswehr in Freiburg sollte der letzte in seiner beruflichen Laufbahn sein. Die Beschaffungsbehörde hatte ihn von Koblenz nach Freiburg entsorgt, er war ein Auslaufmodell. Dabei hätte er einmal Karriere machen können aber das hatte sich mit der Auflösung der Nationalen Volksarmee erledigt. Damals wurde ein Drittel der Aktenbestände vernichtet, die Weisung kam von ganz oben, von Rainer Eppelmann, dem damaligen Minister für Abrüstung und Verteidigung der Deutschen Demokratischen Republik. Es ist schon ein Witz der Geschichte, meiner Geschichte, dachte er, dass die noch vorhandenen Materialien gerade in Freiburg eingelagert wurden, hier, wo ich in zwei Monaten in meinen Vorruhestand gehe. Was sagte Maywald zu ihm? Deine besondere Altersgrenze ist die Vollendung des 59. Lebensjahres. Ist doch viel zu früh, meinte der Kollege im Amt. Das stimmt, ich bin noch ganz gut beieinander, aber jetzt ist es an der Zeit, mein drittes Leben in Angriff zunehmen.

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