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Anfang September: Alte Kameraden

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Von der Haltestelle an der Potsdamer Straße zur Karl-Liebknecht-Straße waren es noch 200 Meter. Je näher er dem Haus seines ehemaligen Chefs kam, desto mehr hatte er den Eindruck, dass er sich einer Grenze näherte. So als ob er lange Zeit im Ausland gewesen wäre und jetzt wieder heimatlichen Boden betrat, so kam er sich vor. Aber wie ein verlorener Sohn musste er sich rechtfertigen für das, was er in der Fremde getan hatte. Er musste seinen alten Namen annehmen und Regeln beachten, die anderswo längst ihre Geltung eingebüßt hatten.

Die Jugendstilvilla lag etwas zurückgesetzt in einem großen Garten, der einen etwas ungepflegten Eindruck machte. Unsere Villa in Freiburg war größer und schöner, freute sich Prager und musste bei diesem Gedanken unwillkürlich grinsen. Das war kindlich und unreif und erinnerte ihn an seine Spielzeugeisenbahn, die ihm sein Vater nach mühevoller Heimarbeit unter den Weihnachtsbaum gestellt hatte. Das Brett mit der verlegten Eisenbahnstrecke den Häusern und künstlichen Gebirgen aus Gips und Pappe war größer als die Anlage im Pionierhaus. Aber die Eltern hatten ihm eingetrichtert, den Freunden nichts zu erzählen, das hätte nur Neid und böse Unterstellungen hervorgerufen.

Er hätte seinem ehemaligen Chef ein Bild von der schönen Villa in Freiburg mitbringen können. Aber eine Provokation, welcher Art auch immer, war hier fehl am Platz. Hier durfte man nicht nach Wessi-Art auftreten. Was hatte es auch für einen Sinn, heute, an Arnolds Geburtstag, einen Eklat zu provozieren: Wem nützte das? Arnold war ein starrsinniger alter Idiot, aber immer noch ein Idiot mit Einfluss.

Der Gehweg war so ramponiert wie vor dreißig Jahren. So was merkt man nur, wenn man lange weg war, denen hier fällt das gar nicht mehr auf, dachte Prager. Aber sonst war alles tip top, man hatte seit der Wende viel Geld in die Infrastruktur gesteckt. Jetzt stand er vor der grauen Villa, die sich ein neureicher Nazi noch in den letzten Kriegstagen unter den Nagel gerissen hatte. Nach hinten raus lag ein schöner Wintergarten, der in einen Park mit Springbrunnen und bröckelnden Figuren führte; das wusste Prager noch von seinem ersten Besuch her. Das muss Anfang der 70er Jahre gewesen sein.

Beginn der Feier um 18.00 Uhr , hatte Elfriede Hessler am Telefon gesagt und pünktlich um sechs drückte Prager auf den Klingelknopf neben der Gartentür in der Karl-Liebknecht-Straße. Die Gartentür war offen und so ging er auf das Haus zu. An der Haustür noch immer die Löwenköpfe mit den Türklopfern. Er wollte schon einen der dämlichen Türklopfer betätigen, da öffnete Elfriede, Hesslers Frau, die Haustür.

Eine kleine alte Dame mit hochgesteckten weißen Haaren und immer noch lebhaften Augen, redselig und aufgekratzt und voll des Lobes für seine Pünktlichkeit. Sie hatten sich seit mehr als zehn Jahren nicht gesehen, doch schien sie ihn gleich wieder zu erkennen und sprach ihn mit Vornamen an. Herrmann, wie schön, dich wieder einmal bei uns begrüßen zu können. Arnold hat eigentlich gar nicht mehr mit dir gerechnet. Er sagte, du hättest dich aufgehängt aber wie ich sehe, bist du quicklebendig. Wenn du was ablegen willst, du weißt ja, wo die Garderobe ist. Es ist alles so geblieben, du wirst sehen, bei uns hat sich nichts verändert. Nur ein Dienstmädchen können wir uns nicht mehr leisten. Sie hatte ihn mit Herrmann angesprochen, dabei wussten sie doch alles. Dem Netzwerk war nicht verborgen geblieben, dass er einen neuen Namen angenommen hatte, aber hier würde ihn keiner Prager nennen.

In der Diele leuchtete die große hellbraune Muschel, ganz so, wie er es in Erinnerung hatte, nur dass ihm der Raum jetzt noch dunkler erschien als beim letzten Besuch. Elfriede kicherte, nahm Prager bei der Hand und zog ihn hinter sich her durch die Diele ins Wohnzimmer. Die kleine Frau, die ihre langen, weißen Haare zu einem Zopf zusammengebunden und nach oben gesteckt hatte, reichte ihm nur bis zur Brust. Prager hatte es früher schon komisch gefunden, sich so weit zur Frau seines Chefs herunterbeugen zu müssen.

Eine blonde Frau in Pragers Alter kam aus einem Nebenzimmer, grüßte Prager mit einem Nicken und wandte sich dann Elfriede zu: Mutti, du musst nicht jedes Mal zur Tür, wenn es klingelt, dafür bin ich doch da. Elfriede tätschelte ihrer Tochter die Hand: Weiß ich doch, mein Schatz, aber unsere Gäste will ich schon noch selber begrüßen. Das ist übrigens Herr Schmidt und so viel ich weiß, ist der junge Mann nicht verheiratet. Margot Hessler lachte: Sie müssen meine Mutter entschuldigen. Seit Jahren versucht sie mich zu verkuppeln. Prager verbeugte sich und nickte der Tochter seines ehemaligen Chefs zu. Sie erinnerte ihn an eine bekannte deutsche Schauspielerin, ihm wollte aber jetzt der Name nicht einfallen. Die Hand hätte er ihr nicht geben können, die hielt Elfriede immer noch fest und in der anderen hing noch immer die blaue Papiertasche mit dem Geschenk für Arnold Hessler.

Ich hätte nichts dagegen, grinste er, aber ich fürchte, dass ich in keiner Weise Ihren Vorstellungen entsprechen kann. Ich bin weder jung noch führe ich ein wildes Leben. Keine schlechten Voraussetzungen, lachte Margot Hessler und schob ihre Mutter zusammen mit Prager ins Wohnzimmer. Prager konnte der Tochter gerade noch das mitgebrachte Geschenk übergeben, es wäre ihm komisch vorgekommen, dem Alten jetzt die Tüte mit der Rotweinflasche in die Hand zu drücken.

Im großen Sessel, das Monstrum gab es schon, wie sich Prager erinnerte, vor mehr als dreißig Jahren als er das erste Mal zu Besuch im Haus seines Chefs war, saß Arnold Hessler, Jahrgang 1931, stellvertretender Leiter der Verwaltung Aufklärung. Letzter Dienstgrad Oberst. Ab 1954 in der Hauptverwaltung Aufklärung Geheimdienstbearbeitung und Spionageabwehr, spezialisiert auf deutsche Geheimdienste. Später Wechsel zur Militär-aufklärung der NVA.

Hessler saß unbewegt in seinem Sessel, nur die Augen flogen wie die eines Adlers hin und her und ließen sich nichts entgehen. Beim Eintreten Pragers hob er den Kopf in seine Richtung und streckte ihm schon von Weitem die Hand entgegen. Ich grüße dich, Herrmann, kam es etwas näselnd aus den Tiefen des wuchtigen Sessels. Wie ich sehe, bist du von den Toten wiederauferstanden. Prager schaute ihn fragend an. Ja, ja, ich verstehe, du willst nicht darüber reden, schmunzelte Hessler. Es hieß ja schon zu unseren Zeiten, Tote leben länger. Hessler kicherte in sich hinein. Prager musste nicht weiter auf die Andeutungen Hesslers eingehen, denn jetzt gesellte sich Hans Fährmann zu ihnen.

Fährmann stütze sich an der hohen Sessellehne ab und nahm eine leicht gebückte Haltung ein. Noch immer diese hündische Ergebenheit, dachte Prager. Zusammen mit Fährmann hatte Prager einmal Teile der Planungsunterlagen der NATO zu Wintex75 ausgewertet. Die westliche Allianz ging damals davon aus, dass für sie eine ungünstige Entwicklung in den internationalen Beziehungen eingetreten sei. Wenige Monate vor Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte wurde ein Szenarium angenommen, das eine Abspaltung europäischer NATO-Staaten von den USA vorsah. Sowohl für die Hauptverwaltung Aufklärung als auch für die Aufklärung der Nationalen Volksarmee unter Oberstleutnant a. D. Alfred Paul waren innerhalb der Übung eine Reihe von Einzelspielen interessant. Fährmann und er hatten damals ihr besonderes Interesse dem Logistik-Spiel gewidmet. Soweit er sich erinnern konnte, hatten sie es damals mit zwei besonders engagierten Quellen zu tun. "Eva" war im Verteidigungsministerium tätig und "Hagen" war Stabsoffizier bei der Bundeswehr in Koblenz.

Als ob Fährmann seine Gedanken erraten hätte, knuffte er ihm in die Seite: Na, Schmidtchen, immer noch in der Vorne-verteidigung tätig? Ich hörte, du bist nach der Auflösung unserer Abteilung beim Klassenfeind untergekommen. Das ist auch schon wieder Vergangenheit, lachte Prager. Man hat mich pensioniert und ab sofort stehe ich wieder der Altherrenriege von Horch und Guck zur Verfügung. Hört, hört, Genosse Schmidt bedient sich bereits der satirischen Sprache des Klassenfeinds.

Und was will Herr Schmidt von uns wissen, fragte Hessler. Der alte Fuchs hatte gleich geahnt, dass Schmidt/Prager nur gekommen war, um die Feindlage zu peilen. Prager wandte sich an Fährmann und legte dabei die rechte Hand auf Hesslers Unterarm, was soviel bedeuten konnte wie: Wenn Sie gestatten, Chef, kann Genosse Fährmann die untere Verhandlungsebene bestreiten. Hast du noch Verbindungen zu alten Kameraden von der Abteilung IV, wollte Prager wissen. Hat er, hat er, grinste Hessler. Vom Winde verweht, sagte Fährmann, aber wenn du wissen willst, ob die Freiburger Archive geöffnet werden sollen, ich kann dich beruhigen. Erstens ist da nichts Brisantes mehr drin und das, was Geschichtsschnüffler vielleicht noch heraus-finden wollen, ist längst bekannt. Schramm und Aichner haben erst kürzlich in ihrem Buch über die Militäraufklärung für alle nachlesbar das Wesentliche zusammengetragen. Das sind keine dummen Journalistenschwätzer, sondern Leute von uns und sie wissen, worüber sie reden.

Es gab immer schon drei Wahrheiten, sagte Fährmann: die historische, die persönliche und die tatsächliche. Was die beiden da publiziert haben, verdient jedenfalls Respekt. Viele glauben ja, mit uns verschwindet die Vergangenheit, aber mit solchen Büchern sind wir einfach nicht aus der Welt zu schaffen. Ja, ergänzte Hessler, Tatsachen schafft man bekanntlich nicht dadurch aus der Welt, dass man sie ignoriert. Das wusste schon der britische Schriftsteller Aldous Huxley. Heute will niemand mehr wissen, dass es eine NATO Doktrin zum Ersteinsatz von Nuklearwaffen gegeben hat. Ich erinnere nur an WINTEX, zu deutsch Winterübung. Dahinter verbarg sich das wohl gefährlichste und deshalb auch geheimste Manöver der NATO.

Ich erinnere mich, sagte Prager. WINTEX fand alle zwei Jahre statt. Im Westen blieb dieses Manöver weitgehend unbemerkt. Kein Wunder, ergänzte Fährmann, es wurden weder Panzer noch Flugzeuge eingesetzt.

Hessler versuchte ächzend in seinem Sessel eine bequemere Sitzhaltung einzunehmen. Prager war sich nicht sicher, ob der Oberst a. D. ohne Hilfe würde aufstehen können. Es handelte sich dabei um nichts weniger als um das Durchspielen eines Dritten Weltkrieges, knurrte der Alte und begann in seiner einschläfernden Art zu dozieren:

Das Szenario war eigentlich immer dasselbe: ausgehend von Jugoslawien entwickeln sich gefährliche politische Spannungen zwischen Ost und West, die schließlich zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der NATO und den Warschauer-Vertragsstaaten führten. Dieses Stadium war schon nach wenigen Tagen des Kriegsspiels erreicht. Nun setzten Friedensinitiativen von verschiedenen Seiten ein, begleitet von Unruhen in der Bevölkerung. Verhandlungsangebote der Warschauer –Vertragsstaaten wurden nur als Hinhaltetaktik und somit Kriegslist abgetan. In dieser Situation will keine Seite den Eindruck erwecken, dass man vor einem größeren Konflikt zurückschrecken würde. Kampftruppen werden an die Grenzen verlegt. Bis hierhin, meine Herren, war alles noch Vorspiel.

Ja, Wintex wurde erst in der zweiten Phase interessant, nickte Fährmann. Es kommt zu ersten Kampfhandlungen, nun geht es um die Freigabe für den Ersteinsatz von Atomwaffen. Das war ein Hauptübungsziel von Wintex. Es kommt für beide Seiten zu schweren und verlustreichen Kämpfen in deren Verlauf es den Roten gelungen war, auf Teile des NATO-Territoriums vorzudringen. Das westliche Verteidigungsbündnis hat nur noch Munition für einige Tage und der Nachschub reicht nicht. In dieser Situation stellt das militärische Oberkommando der NATO den Antrag zur Freigabe von Atomwaffen. Nur durch ihren Einsatz kann verhindert werden, dass der Widerstand der Allianz schon in kurzer Zeit zusammenbricht.

Meine Herren, wir sind schon mitten in der Analyse der Quellen. Wir waren damals über unsere Quellen „Michel“ und „Topas“ in der komfortablen Situation, vollständige Informationen erarbeiten zu können. Aber so weit ich weiß, waren Sie, mein lieber Schmidt, damals noch gar nicht bei der Truppe. Prager lächelte, nein, 1971 war ich noch einfacher Soldat, zur Militäraufklärung der NVA kam ich erst Mitte der 70er Jahre. Aber mir ist natürlich bekannt, dass es zwischen 71 und 77 keine Wintex-Übung gab, bei der es nicht zum Ersteinsatz von Atomwaffen gekommen ist. Anfangs war es nur eine Atombombe. Als ich ab 1975 an der Auswertung unserer Informationen beteiligt war, kamen schon Dutzende und zuletzt weit über Hundert zum Einsatz.

Auf einem silbernen Servierteller brachte Margot drei Kognakgläser vorbei. Ich habe etwas von Nachschubproblemen reden hören, lächelte sie. Sie ließ Prager und Fährmann die Gläser vom Tablett nehmen, sie selbst nahm sich das dritte Glas und zu ihrem Vater gewandt sagte sie: Auf dein Wohl, Papa, du weißt ja, dass dir der Arzt jeglichen Alkohol verboten hat. Dieser Quacksalber hat mir gar nichts zu verbieten, nur dir, mein Engelchen, gehorche ich aufs Wort. So ist es recht, aber wenn wir auf deinen Geburtstag anstoßen, brauchst du natürlich auch etwas zu trinken. Ja, hol mir den Lebertran, brummte Arnold Hessler und an Fährmann gewandt sagte Hessler: Hans, hilf mir mal beim Aufstehen. Die ganze Bagage soll sich jetzt am Buffet versammeln, es ist Zeit für eine Stärkung, ich kann sonst meine Rede nicht mehr halten.

Immer wieder hörte Prager die Türglocke. Weitere Gäste kamen. Prager kannte keinen von ihnen und begann sich in der Menge der Besucher zunehmend wohler zu fühlen. Hier traf sich die alte Abteilung mit ihrem Anhang, sicher waren auch einige Parteigrößen und Nachbarn dabei. Ein Mann mit einem runden, dummen Gesicht schüttelte ihm die Hand. Man sah ihm deutlich an, dass er ein Funktionär war. Der Mann wollte Pragers Hand gar nicht mehr loslassen, er schüttelte sie und nickte ihm auf eine unangenehm vertrauliche Art zu und Prager nickte zurück, um die Sache abkürzen zu können. Wodka gibt es in der Küche, aber verraten Sie mich nicht, Herr Schmidt. Und noch ein Tipp: Reden sie mit dem Genossen Hessler nicht über seinen Nachfolger, das kann er heute nicht gebrauchen. Ich weiß, sagte Prager, Generalleutnant Krause gehörte nicht zu seinen Freunden.

Prager hatte jetzt Gelegenheit, auch andere Gäste kennenzulernen und sich ein wenig im Raum umzusehen. Margot stellte ihm einen Mann im braunen Anzug vor. Er hielt eine rote Mappe in der Hand, darin offenbar eine Urkunde oder eine Rede, die bald gehalten werden sollte. Der Mann sah aus wie ein Schuldirektor, hieß Gregori und war, wie Prager später erfuhr, früher einmal der Fahrer von Hessler gewesen. Ein Dicker, dessen Gesicht an einen Pavianarsch erinnerte, sprach ihn mit Genosse an und wollte wissen, ob es lohne, auf Kreta Urlaub zu machen. Bevor Prager eine Antwort geben konnte, sagte der Dicke nur: Wir wissen alles. Dann drehte er sich weg und ging zum Buffet.

Prager wusste, dass sich die Spionageorganisation des Militärs unter Krause nach der Wende in aller Stille aufgelöst hatte aber es gab bis heute Kameradschaften. Man traf sich einmal im Monat, immer donnerstags zu sog. Vorstandssitzungen. Die stramme Garde hatte sich in der „ Kameradschaft Ehemaliger Berlin-Treptow “ zusammengeschlossen, einer Untergliederung des „ Deutschen Bundeswehr-Verbandes e.V. “. Wortführer in diesem Bundeswehr-Verein waren ehemalige NVA-Offiziere, die ihre Schlachten früher an der unsichtbaren Front geschlagen hatten: als Spione und Agentenführer des Militärischen Nachrichtendienstes der DDR. Hessler hatte es einmal so ausgedrückt: Wir sind zwar übergelaufen, aber wir haben nicht kapituliert und Arthur Franke, ein ehemaliger Chef der Militäraufklärung hatte gesagt: Wir sind erhobenen Hauptes eingeschwenkt, nicht mit erhobenen Händen.

Der Tisch mit den Leckereien stand im Wintergarten. Prager angelte sich ein Wurstbrötchen. Er sah, wie sich der alte Hessler von Fährmann Fisch und Kartoffelsalat auf einen Teller geben ließ. Margot kümmerte sich weiter um die Getränke und Elfriede hatte sich zu einem jüngeren Mann in die Palmenecke gesetzt, der ihr mit großen Gesten etwas Wichtiges zu beschreiben schien. Die Eltern des jungen Mannes standen mit einem anderen Ehepaar am Fenster und redeten über Studienabschlüsse, ganz offensichtlich hatten sie mit ihren Kindern ähnliche Probleme. Prager ging zum Buffet und holte sich ein weiteres Wurstbrötchen und betrachtete die Bilder an der Wand, ausnahmslos Fotografien, die Hessler im Kreise von Mitarbeitern und Genossen zeigte. Prager erkannte die Genossen Honnecker, Mielke und Franke. Auf einem Bild sah man den Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Ernst Thälmann, auf seinem Schoß der zweijährige Arnold Hessler. Das war zwei Jahre vor seiner Verhaftung, sagte Margot, die neben ihn getreten war. Prager nickte: Ich wusste nicht, dass die Familie Ihres Vaters mit Thälmann bekannt war. Das Bild hat ihm geholfen, Karriere zu machen. Die Eltern meines Vaters waren Kommunisten, aber gekannt haben sie den Thälmann eigentlich nicht. Das Foto entstand am Rande eines Parteitreffens.

Elfriede klatschte in die Hände, Genossen, ich bitte um Ruhe! Jemand hatte Arnolds Sessel auf die hölzerne Stufe, die zum Wintergarten führte, geschoben. In der leicht erhöhten Position hatte Hessler fast majestätische Präsenz und leicht hätte man ihn hier zum König ausrufen können, wenn es denn eine andere Zeit gewesen wäre. Ihm zur Seite stand der Mann mit dem braunen Anzug, der immer noch die rote Mappe in der Hand hielt. Jetzt nahm er ein Schriftstück heraus und übergab es Hessler. Liebe Genossen, begann Hessler und sein Tonfall war schon bei den ersten Worten so ermüdend, so typisch die Rede eines DDR-Bonzen, dass Prager, der auf Kreta ein mitreißender Führer durch die römische Geschichte geworden war, innerlich zusammensackte und jetzt gern einen Kognak mehr getrunken hätte, nur bitte dieses Mal keinen Goldbrand. Doch was half es, es gab keinen Kognak, nur einen Schrank, an den er sich lehnen konnte.

Hessler sprach von Geschichte und Aufgabe der Hauptverwaltung, von ihrem Beitrag zur Sicherung des Friedens und dass es höchster Anstrengungen zur Beschaffung von Informationen bedurfte, um politische und militärische Gefahren für die DDR und die anderen sozialistischen Länder erkennen und ihnen begegnen zu können. Wir haben mit den westlichen Diensten Katz und Maus gespielt, lachte Hessler auf merkwürdig gequälte Art. Prager horchte auf, jetzt wurde es doch etwas interessanter. Wir haben Mitte der siebziger Jahre jährlich circa 1.000 bis 1.500 militärische Gegnerdokumente und –informationen beschafft, näselte Hessler weiter. Über die bis 1980 geplante Entwicklung der Bundeswehr waren wir bestens im Bilde. Hessler blickte auf: Das haben wir auch den Genossen Schmidt und Fährmann zu verdanken. Hans Fährmann suchte Pragers Blick, die beiden nickten sich zu. Als Quellen dienten uns, fuhr Hessler fort, verteidigungspolitische Richtlinien der Bundesregierung, militärstrategische Konzep-tionen der Bundeswehrführung, Grundzüge der neuen Wehrstruktur, langfristige Rüstungs-planungen bis 1985 und die Streitkräfteplanung bis 1988.

Hessler Tochter Margot, die sich neben Prager gestellt hatte, stieß ihn sanft gegen die Schulter: Seit 1985 muss ich mir jedes Jahr das Gleiche anhören. Ich wette, jetzt kommt gleich die Sache mit der Abschirmung. Ein Geheimnis unseres Erfolges, war eine perfekte Abschirmung, fuhr Hessler in seiner Rede fort. Im Gegensatz zur HVA gab es keinen Hinweis auf die Existenz unseres Nachrichtendienstes. Sechsmal wurde der Deckname der geheimen Legion verändert, von „Allgemeine Abteilung“ bis zu „Bereich Aufklärung“. Viermal wechselte unser Hauptquartier den getarnten Standort, zuletzt waren wir das „Mathematisch-Physikalische Institut der Nationalen Volksarmee“. Unter uns, Kameraden, wir stehen heute besser da als die Kameraden von der HVA. Unsere Ruheständler erhalten standesgemäße Offizierspensionen. Prager dachte an seine Pension von 3 500 €. Er war vorzeitig im Range eines Majors ausgeschieden. Das hätte gereicht, aber die Pension für einen Studiendirektor brachte gut 1000 € mehr im Monat. Doch das war nicht das Ausschlaggebende für seinen Identitätswechsel gewesen. Er fürchtete eine späte Enttarnung und die Herabsetzung seines Ruhegehalts um die Hälfte. Dass Prager mit dem Tod seiner Frau auch ein reiches Erbe antrat, setzte dem Ganzen das Sahnehäubchen auf.

Die Geburtstagsfeier für seinen ehemaligen Chef empfand Prager, der hier als Genosse Schmidt vorgestellt wurde, als eine gruselige Sache. Dieses Haus mitsamt seinen Bewohnern und Besuchern kam ihm jetzt vor wie ein Weckglas für Ewiggestrige, die ihre Lebenslügen konservieren wollten. Er hatte auch einmal zu diesem Verein gehört, aber ihm war es immer um die technische Seite gegangen. Frieden, Sozialismus, Völkerverständigung, der Kampf der Völker um Freiheit und Unabhängigkeit, das waren für ihn immer nur hohle Phrasen geblieben. Ihn interessierten stets nur der klare Auftrag und dessen technische Umsetzung. Das Gequatsche auf der Metaebene widerte ihn an. Und er wusste ganz genau, dass Typen wie Fährmann in Wirklichkeit nur auf den eigenen Vorteil achteten und sich keinen Deut um die Fahne scherten, wenn es ernst wurde. Das hatte er mit ihnen gemeinsam, aber er machte kein so großes Gedöns daraus.

Früher waren zu Hesslers Geburtstag hin und wieder ganz interessante Leute erschienen. Frank Jähn, einmal Divisionskommandeur der Internationalen Brigaden, oder Karl Ilg, der einmal einen deutschen Weg zum Sozialismus hatte durchsetzen wollen. Oder auch Helen Spiro, die Brecht-Schauspielerin, die Elfriede und Arnold bei einem Empfang bei Hans-Joachim Hoffmann, dem ehemaligen Kulturminister der DDR kennengelernt hatten. Die Spiro hatte unter Ruth Berghaus im berühmten Berliner Ensemble gespielt. Sie gab am Geburtstagstisch stets komische, oft auch politisch anrüchige Geschichten vom Theater zum Besten. Der Funktionärstyp mit dem dummen Gesicht hieß übrigens Schädlich, wie Prager jetzt hörte. Er gehörte zu Hesslers größten Bewunderern, eigentlich ein netter Kerl, wie Prager feststellen musste, aber von einer geradezu tragischen geistigen Einfachheit. Seine irgendwie kranke Frau, eine ehemalig Polizistin, passte mit ihrem Mopsgesicht gut zu ihrem Mann.

Prager sah wieder zu Hessler hinüber. Vor seinem Sessel hatte eine noch recht junge Frau mit einem etwa zehnjährigen Jungen Aufstellung genommen. Die Frau beugte sich zu Hessler herunter und überreichte ihm ein Bild. Die Frau trug einen knallkurzen Rock und gemusterte Strümpfe. Prager war durch den Anblick ihrer gemusterten Strümpfe stark abgelenkt und überlegte schon, was er dieser Frau Freundliches sagen konnte.

Hesslers Tochter brachte ihm einen Kognak. Sie war Pragers Blicken gefolgt. Werden Sie mir nicht untreu, Herr Schmidt. Die Kleine ist mit meinem Bruder verheiratet. Den habe ich ja heute noch gar nicht gesehen, wunderte sich Prager. Der musste aus dienstlichen Gründen in Koblenz bleiben. Ach, ich wusste nicht, dass Ihr Bruder in Koblenz arbeitet, ich war ja auch eine Zeitlang... Ich weiß, Herr Schmidt. Ich habe das jetzt auch nur erwähnt, damit Sie wissen, dass Sie im Westen nach wie vor die richtigen Ansprechpartner haben. Ich werde übrigens über Weihnachten meinen Bruder besuchen.

Kurz vor zehn deutete Prager bei Elfriede an, dass er jetzt aufbrechen müsse. Der Zug nach Berlin warte nicht. Du kannst leider nicht hier bleiben, die Zimmer sind alle belegt, aber bei Schädlichs könntest du übernachten, schlug ihm Elfriede vor. Nein, nein, er wolle sich jetzt verabschieden. Er habe aber gesehen, das Arnold in seinem Sessel eingeschlafen sei und er wolle ihn natürlich jetzt nicht wecken, aber wenn Sie ihm... Kommt nicht in Frage, unterbrach Elfriede mit einer unwirschen Handbewegung. Wir machen das gemeinsam. Sie hängte sich bei Prager ein und steuerte ihn in Hesslers Richtung. Arnold, wach auf, Genosse Schmidt will sich verabschieden. Oberst a. D. Arnold Hessler schlug die Augen auf, gab Prager die Hand und ließ sie nicht mehr los. Heute ist kein guter Zeitpunkt zum Reden, Herrmann. Aber wenn du Hilfe brauchst, du kannst immer auf mich zählen. Prager versuchte ein Lächeln. Danke Genosse Hessler, ich komme zurecht. Ich muss jetzt gehen, mein Zug wartet. Kameraden lassen sich nicht im Stich, Herrmann. Ich weiß, dass du Probleme hast, aber wir lassen dich nicht fallen, verstehst du das, Herrmann? Prager nickte, er brauchte jetzt dringend frische Luft. Hessler ließ seine Hand los und sank wieder in seinen Sessel zurück, das Gespräch war beendet.

Margot brachte ihn zur Tür. Sie lächelte: Ich bin Ihnen nicht böse, Herr Schmidt, wenn es heute nicht mit uns geklappt hat. Ja, schade, sagte Prager, vielleicht ein anderes Mal. Warten Sie nicht zu lange, mein Vater lebt nicht ewig. Prager sah sie fragend an: Wie meinen Sie das? So, wie ich es sage. Wenn er tot ist, kann er Ihnen nicht mehr helfen.

Er nahm die S-Bahn Richtung Westend stieg in Ostkreuz um und fuhr mit der S43 weiter zum Alexanderplatz. Von hier wollte Prager zu Fuß zum Hotel laufen. Das war einmal seine Stadt gewesen, lange her, damals waren die Scheiben in den Zügen nicht so zerkratzt.

Was hatte ihm der Ausflug nach Königswusterhausen gebracht? War schon seltsam, die Kameraden wussten alle Bescheid. Der alte Hessler hatte ihm seine Hilfe angeboten und Fährmann war sich sicher, dass nichts über ihn in den Akten stand, die man jetzt in Freiburg öffnen wollte. Keiner hatte gefragt, warum er sich nicht mit seinem neuen Namen Prager vorgestellt hatte. Irgendwie war das unheimlich, aber was hatte er jetzt schon zu befürchten. Dass er zusammen mit Fährmann nicht nur Informationen ausgewertet hatte, sondern auch für besondere Aufgaben herangezogen wurde, darüber gab es keine Belege mehr, sonst hätte ihm Fährmann etwas gesagt. Die Sekretärin im Verteidigungsministerium hatte den Decknamen „Eva“ und wollte plaudern, das konnten sie doch nicht zulassen, eine ganze Informationskette wäre zusammengebrochen. Man hatte ihn als Vertreter des Aufbau-Verlages zur Buchmesse nach Frankfurt geschickt. In einer Bar hatte er „Eva“ zu einem Drink eingeladen. Erst versagten ihr die Beine, dann verlor sie das Bewusstsein. Der Wirt hatte Verständnis, dass er seine Freundin nach Hause bringen wollte. „Eva“ starb im Ostpark. Warum hatte man eigentlich ihn und nicht Fährmann geschickt? Egal, er wollte jetzt nicht weiter darüber nachdenken.

Prager überlegte, ob er noch die Kneipe in Kreuzberg finden würde. Wie hieß die Kollegin noch, die mit ihm auf den Lehrgang Operative Aufklärung in Treptow war? Hilde? Ja, mit der Hilde war er öfters in Kreuzberg, eine Kneipe in der Manteuffelstraße oder war es die Gneisenaustraße? Doch man sollte sich keinen Sentimentalitäten hingeben. Prager entschloss sich, noch ein Bier an der Hotelbar zu trinken. Morgen würde er mit Gerlinde zusammentreffen, dann lief wieder das Kulturprogramm ab: Schön zusammen frühstücken, am Nachmittag Pergamonmuseum, am Abend Theater und nachts die Liebe, so machen wir das.

Prager dachte an die kommenden Tage. Mit Dr. Liebermann von der gleichnamigen Galerie Liebermann hatte er schon telefoniert. Der Galerist war bereit, die Bilder zu schätzen und evtl. zum Verkauf anzubieten. Morgen würde er mit Gerlinde zu Liebermann gehen. Gerlinde wird die Veräußerung der Bilder beobachten, das hat er mit ihr schon abgesprochen. Mit den Bildern aus der Reitzensteinschen Villa in Littenweiler war sie ja bestens vertraut, sie kannte die Bilder länger als er. Wie sie erzählte, hatte ihre Freundin Hannah ja keine Ahnung, welche Schätze sie in ihrem Haus beherbergte.

Ich habe eine gute Entscheidung getroffen, dachte Prager, Gerlinde ins Vertrauen zu ziehen, sie sozusagen zur Geschäftspartnerin zu machen. Sie hat Sachverstand und kann gut verhandeln. Wir werden viel Gelegenheit haben, in den nächsten Tagen über Bilder und Kunst im Allgemeinen zu sprechen. Mit ihrem Studium der Kunstgeschichte ist sie mir in diesen Dingen überlegen, aber das ist nun mal ihr Beitrag, ich will ihn nicht schmälern. Meine Stunde schlägt in der Antikensammlung des Alten Museums, da kann ich den Gelehrten herauskehren. Prager grinste selbstzufrieden: In der Welt der Götter und Heroen kenne ich mich aus. Momentan wird die Ausstellung Schmelztiegel Rom - Von Fremden lernen gezeigt . In Wirtschaft und Handel hatte er sich gut eingelesen und konnte mit interessanten Geschichten aufwarten. Schon erstaunlich, welche Veränderungen ein Mensch in seinem Leben durchmachen kann!

Von der S-Bahn-Station am Alex waren es nur vier Gehminuten zum Holiday Inn. An der Bar hatte auch heute Abend wieder der lange Egon Dienst und Egon wusste noch, was er gestern getrunken hatte: ein Eschenbräu Dunkel.

Die Keule des Herakles

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