Читать книгу Baron Grimm, Briefe an Lord Findlater - Winfried Wolf - Страница 2
Vorwort
ОглавлениеVon Friedrich Melchior Grimm sind 58 Briefe an seinen Freund, den 7. Earl of Findlater und 4. Earl of Seafield überliefert. Diese Briefe, die alle zwischen 1794 und 1801 geschrieben wurden, geben uns Aufschluss über Grimms Leben in Gotha und Hamburg.1 Aus ihnen erfahren wir etwas über den Privatmann Grimm, sein persönliches Leben, die Zeitumstände, seine Beziehungen zu Katharina der Großen und anderen Persönlichkeiten, die um 1800 in Europa eine wichtige Rolle spielten. Mehr als andere Schriftstücke gewähren uns diese Briefe auch Einblicke in den Seelen- und Gemütszustand eines Mannes, der sonst nur wenig über sich und seine Motive preisgegeben hat. Mit seiner Correspondance littéraire2 hatte er zusammen mit Denis Diderot zwischen 1755 und 1773 die europäischen Höfe mit Kulturnachrichten aus Paris versorgt; er war maßgeblicher Mitinitiator des sog. Buffonistenstreits Anfang der 50er Jahre des 18. Jahrhunderts; Grimm stand mit fast allen Vertretern der französischen Kultur auf vertrautem Fuß und half, die Ideen der Aufklärung in kommentierter Form Fürsten, Königen und Kaisern zu vermitteln. Friedrich Melchior Grimm tritt uns in seinen Schriften stets als Vermittler, Ratgeber und Kritiker gegenüber, über sich selbst, was ihn antrieb, was ihn bewegte, hat er nur wenig verlauten lassen, seine Briefe an Findlater schließen ein wenig diese Informationslücke.
Die Briefe an Lord Findlater schrieb Grimm, als er seine Lebensstellung in Paris schon verloren hatte. In der Weltkulturhauptstadt Paris war er vor der Revolution nicht selten erster Ansprechpartner für die aufgeklärten Höfe Europas, die gerne ihren Nachwuchs in die Obhut des kosmopolitisch orientierten Grimm nach Paris gaben. Nach seiner Reise nach St. Petersburg im Jahre 1773 stand er in persönlichem Kontakt mit Katharina II. Mit ihr führte er bis zu deren Tod 1796 einen sehr vertraulichen und nahezu intimen Briefwechsel. Grimm war ein Vielschreiber, der mit unzähligen Personen korrespondierte, einen persönlichen Ton aber fand er nur in den Briefen an Katharina und in den Briefen an Lord Findlater, dem schottischen Adeligen, der in Deutschland seine zweite Heimat fand.
Als Grimm 1793 mit seiner „Adoptivfamilie“ de Bueil nach Gotha kam und dort Aufnahme bei Herzog Ernst II. fand, hegte er noch die Hoffnung, dass Österreich zusammen mit Preußen die französische Monarchie retten und somit die alten Zustände wieder herstellen könnte. Mit Hilfe des zur europäischen Großmacht gereiften Russlands und mit Unterstützung der Engländer sollten, so Grimms Annahme, die Tage der Revolutionäre eigentlich gezählt sein, doch die Geschichte nahm eine andere Entwicklung. Die Republik wuchs sich zur Bedrohung für Europa aus, die Franzosen besetzten das linke Rheinufer, die südlichen Niederlande gingen für Österreich verloren und der in Oberitalien sehr erfolgreiche General Napoleon hatte gar den Plan, Wien zu erobern. Grimm fühlte sich in Gotha nicht mehr sicher und sah für sich und seine „Familie“ einzig in Russland am Hof der Kaiserin seine letzte Zufluchtsmöglichkeit. Dass Grimm nicht schon in den Jahren 1794 und 1795 eine Gelegenheit fand, nach Russland zu gehen, das erfahren wir aus den Briefen an Lord Findlater.
Wer war nun dieser Findlater, dem Grimm fast bis ans Ende seiner Tage Briefe schickte? In England ist nur wenig über diesen Lord bekannt. Details zu seinem Leben und seiner Geschichte erfahren wir in der Universitätsbibliothek von Edinburgh. Findlater gehörte zu der berühmten Familie der Ogilvys, einer seiner Vorfahren baute die Festung von Findlater, ursprünglich Fynn Leihter - die weiße Klippe; die Ruinen kann man noch heute an der Nordküste Aberdeenshires am Moray Firth auf einem hohen Kliff sehen. James, der 7. Earl of Findlater wurde am 10. April 1750 in Mittelschottland auf Schloss Huntingtower geboren, sein Vater war der 6. Earl of Findlater und 3. Earl of Seafield, seine Mutter war Lady Mary Muuray, die zweite Tochter des Herzogs von Atholl. Die Familie Ogilvy war weit verzweigt und spielte in der schottischen Geschichte mehrfach eine nicht unbedeutende Rolle. Der Ugroßvater unseres Lord Findlater bekleidete mehrere hohe Ämter, zuerst in Schottland und dann nach der Vereinigung mit England auch im nun so bezeichneten Great Britain.
Der junge Findlater studierte in Oxford und nahm nach dem Tod des Vaters 1770 den Titel des 7. Earl of Findlater und 4. Earl of Seafield an. Der Vater hinterließ seinem Sohn ein ansehnliches Erbe mit jährlichen Einkünften von 4,5 Millionen Euro (nach heutigem Geld). Das waren nur die Einkünfte, das Vermögen war weit größer. An der Universität erwarb sich der junge Findlater einen hervorragenden Ruf, er begeisterte sich vor allem für lateinische Dichter, bewunderte Horaz, bevorzugte aber Vergil. Nach seinem Studium verließ Findlater die britische Insel und trat die damals übliche große Bildungsreise auf dem Kontinent an. Von Calais aus ging es zuerst nach Paris, weitere Stationen waren, immer wieder unterbrochen von längeren Aufenthalten, Lyon, Marseille, Genua, Rom, Neapel, dann wieder Rom, Venedig und Wien. 1775 ist er zurück im Haus der Familie in Cullen. Das Reisen auf dem Kontinent hat unserem Lord ausnehmend gut gefallen, brachte es doch den Vorteil mit sich, dass er sich dabei seiner Neigung zu Männern unauffälliger hingeben konnte.
Findlater war homosexuell, Andeutungen in seinen Briefen lassen vermuten, dass er einem ehemaligen Freund Geld zahlen musste, damit der ihn nicht „outete“. (Barczaitis 2016, S. 2, in: Der Elbhang-Kurier 5/2016) Es muss wohl schon am Ende seiner Tour gewesen sein, als Findlater im Frühjahr 1775 zum ersten Mal nach Dresden kam. In Briefen an die Mutter schrieb er von gesellschaftlichen Verpflichtungen, von einer berühmten Gemälde-sammlung war nicht die Rede. Etwas Ruhe findet er im Landhaus eines „Marechal Schomburg“, ein Mitglied der weit verzweigten Familie derer von Schönberg. Zur Erinnerung: Friedrich Melchior Grimm verdiente sein erstes Geld als Hofmeister im Haus des kursächsischen Gesandten von Schönberg, der mit seiner Familie 1747 noch das schöne Löschenkohl-Palais in Regensburg bewohnte. Mit Gottlob Ludwig von Schönberg, dem ältesten Sohn, hatte er das Gymnasium poeticum in Regensburg besucht.3
Der junge Findlater begibt sich bald wieder auf Reisen, seine Ziele sind jetzt Brüssel und der niederländische Kurort Spa, dass er in den nächsten fünfzehn Jahren seiner schwankenden Gesundheit wegen, immer wieder aufsucht. Gut möglich, dass sich Findlater und Grimm schon 1781 dort getroffen haben, als Grimm auf Einladung Prinz Heinrichs mehrere Wochen in Spa verbrachte.
1779 heiratet Findlater in Brüssel Christina Teresa Murray, sie trennen sich jedoch schon nach wenigen Jahren, war doch die Ehe wohl nur der gesellschaftlichen Konventionen wegen geschlossen worden. Findlater begab sich nun wieder auf Reisen durch ganz Europa, kehrte zwischenzeitlich 1785 nach England zurück, bewarb sich vergeblich um einen Platz im britischen Oberhaus, lebte fünf Jahre in London und Schottland und verkrachte sich mit seinem Nachbarn Brodie of Brodie. Darüber wird eine witzige Geschichte erzählt: Brodie taufte ein Schiff auf den Namen „Gräfin von Gordon“. Der kleine Küstensegler zeigte eine auffällige technische Neuerung: man hatte den Schiffsrumpf mit Kupfer beschlagen, um es bei Ebbe ohne Schaden auf Grund setzen zu können. Mit den Gordons waren die Grafen von Findlater nicht eben befreundet und unser Findlater machte nun anlässlich der Schiffstaufe folgende Bemerkung: „Ich wusste ja, dass die Gräfin einen Stiernacken hat und eine eherne Stirn, aber dass sie auch einen Kupferarsch hat, wusste ich noch nicht.“ Mit dieser Äußerung handelte sich Findlater einigen Ärger ein, er ergriff die für ihn einzig mögliche Konsequenz, er ging ins freiwillige Exil auf den Kontinent und verließ Cullen für immer.
1790 reiste er nach Deutschland und befand sich nacheinander in Frankfurt am Main, Hamburg, Dresden, Halle und Altenburg. Seine gelehrte und witzige Weise mit den Dingen umzugehen, machte ihn zu einem beliebten und geschätzten Gesellschafter. In Dresden erwarb Findlater das Herrenhaus Helfenberg sowie mehrere zusammenhängende Weinberge am Dresdner Elbhang. Hier ließ er sich von dem Architekten und Hofbaumeister Johann August Giesel ein Palais errichten. Auf den Grundmauern des Palais’, dessen Fertigstellung Ogilvy (Lord Findlater) nicht mehr erlebte, wurde später das Schloss Albrechtsburg errichtet. Findlater starb am 5. Oktober 1811 in Dresden. An der Loschwitzer Kirche befindet sich das gemeinsame Grab Ogilvys und seines Lebensgefährten Johann Georg Fischer. Auf der Grabplatte ist Ogilvys deutscher Titel und Name mit „Lord Jacob Graf v. Findlater, Pair v. Schottland“ angegeben. 4
In den böhmischen Bädern Karlsbad und Teplitz erinnert man sich noch heute an den großen Förderer und Mäzen Lord Findlater. Zusammen mit dem Grafen Clam gründete er in Teplitz ein Krankenhaus für Arme und in Karlsbad trug er zur Verschönerung des Kurbades bei; die Einwohner der Stadt stellten ihm zu Ehren auf einem bewaldeten Höhenrücken einen Obelisk auf. Findlater war ab 1793 insgesamt vierzehnmal als Sommergast in Karlsbad, zuletzt 1810. Hier traf er auch mit Goethe zusammen, der seine Besuche bei Findlater in seinen Tagebüchern erwähnte.
Wir wissen nicht genau, wann Grimm mit Lord Findlater zu korrespondieren begann. Sein Brief vom 12. Juni 1794 ist sicherlich nicht der erste. Grimm kannte den schottischen Grafen schon vor der Revolution und in den Briefen Katharinas II. an Grimm können wir schon 1787 etwas über Findlater lesen. Vermutlich begegneten sich die beiden zum ersten Mal 1791 oder 1792 in Frankfurt. Grimm verbrachte mehrere Monate in der Stadt, traf dort häufig seinen Freund, den Grafen Nicolas Romanzof und dieser wiederum war auch der Freund Lord Findlaters. Der Lord hatte großes Interesse daran, mit Katharina II. in Kontakt zu treten. Über Grimm konnte er das Ohr der Kaiserin für seine Projekte und Anliegen erreichen. Findlater war ein Liebhaber der Landschaftsgärtnerei und der Architektur. Um 1800 erschien sein Buch „Landwirtschaftliche Mannigfaltigkeiten und Ackerbau‘s Erfahrungen. Nach den neuesten Versuchen englischer Oekonomen“.
Grimm hatte mit den Brüdern Romanzof zwanzig Jahre zuvor eine gemeinsame Italienreise unternommen, nun konnte er in seiner Funktion als russischer Gesandter in Deutschland von Grimm zusätzlich in Anspruch genommen werden. Besonders nützlich für beide, Grimm und Findlater, sollte sich die Bereitstellung eines diplomatischen Kurierdienste erweisen: Grimm konnte über Romanzof seine Briefe an die Kaiserin schicken und Findlater fand hier eine bequeme Möglichkeit, Katharina mit Literatur und Vorschlägen über Reformen in der Landwirtschaft zu versorgen. Man muss sich dabei vergegenwärtigen, dass es um 1800 keine leichte Aufgabe war, Kunstgegenstände und Bücher an so entfernte Orte wie St. Petersburg bringen zu lassen. Ein regelmäßiger und verlässlicher Kurierdienst war nur über einen mächtigen und einflussreichen Hof zu organisieren.
Die Briefe, die wir von Grimm besitzen, wurden alle nach seiner Abreise aus Paris in den Jahren 1794 bis 1801 während seines Aufenthaltes in Gotha, Hamburg und Braunschweig geschrieben.
Um Grimms Situation in Gotha und Hamburg verstehen zu können, müssen wir ein wenig auf die Zeit vor seiner Emigration eingehen. Friedrich Melchior Grimm lebte im Jahr 1789 nach den Angaben des Almanach royal noch in der Rue d‘Antin, wohin er 1777 mit Madame d‘Épinay gezogen war. Er bewohnte hier Teile des Erdgeschosses und die erste Etage des Hauses. Er stand als Legationsrat in Diensten des Herzogs von Sachsen-Gotha und war Kulturagent und Geschäftsträger der Kaiserin von Russland, mit der er einen engen Briefkontakt hielt. Ihr galten seine größte Bewunderung und Verehrung, ihr war er regelrecht verfallen, sie war seine Schutzherrin, sie sorgte für sein Auskommen. Grimm fühlte sich in seiner Pariser Zeit stets als Kosmopolit, aber wenn er nach seiner Nationalität gefragt worden wäre, hätte er vielleicht „in erster Linie Russe“ angegeben. Katharina hatte ihm den Titel eines Staatsrates verliehen aber er war auch bevollmächtigter Minister des Herzogs von Sachsen-Gotha. Grimm war also gewissermaßen gleichzeitig Deutscher von Herkunft und Anstellung her, Russe vom Gefühl und vom Titel her und Franzose, weil er auch im Dienste des Hauses Orléans stand und zwischen den Höfen in Versailles, St. Petersburg und Berlin als inoffizieller Vermittler tätig war.
Grimm lebte mehr als vierzig Jahre in Paris, er liebte Frankreich und stand mit Fürsten und Hoheiten in ganz Europa auf vertrautem Fuß. Die revolutionären Unruhen in Paris hatten ihn zutiefst erschreckt, obwohl er aus unserer Sicht die Ereignisse hätte voraussehen können. Doch Grimm verkehrte nicht in Kreisen, in denen über die Möglichkeit eines Umsturzes gesprochen wurde; Voltaire hatte gesagt, dass er nicht das Vergnügen haben werde, eine Revolution zu erleben, die unweigerlich passieren musste - Grimm musste das nicht ernst nehmen, für ihn war dies wohl nur die Zuspitzung eines bekannten Spötters. Grimm beschäftigte sich nicht mit den Niederungen der Straße oder gar des Pöbels; zum einfachen Volk pflegte er, wenn wir einmal von wenigen Ausnahmen absehen, keinen Kontakt. Seine Welt war die Literatur, das Theater, die Kunst und am Rande auch die Wissenschaft. Grimm war ein polyglotter Mensch, der sich im geschliffenen Stil in höfischen Kreisen zu bewegen wusste, mit sozialen Fragen und mit den Lebensverhältnissen des dritten Standes hat er sich kaum beschwert. Er, der selbst aus eher einfachen Verhältnissen stammte, hatte sich spätestens nach seiner Ankunft in Paris ausschließlich intellektuellen und höfischen Kreisen zugewandt. Hier hoffte er Karriere zu machen und dies gelang dem ehrgeizigen jungen Mann auch, der bald Diderot und Rousseau zu seinen Freunden zählen konnte und ebenso über sein geschicktes Anpassungsverhalten Zugang in die Häuser des Adels fand. Mit seiner Correspondance littéraire versorgte er die Höfe Europas mit Kulturnachrichten aus der Weltkulturhauptstadt Paris. Zusammen mit Denis Diderot fand er in der Correspondance littéraire ein kritisches Publikationsorgan, das seine Abonnenten mit Nachrichten und Kommentaren aus allen Bereichen des Wissens und der Kultur versorgte.
Mit der Übergabe seiner Correspondance littéraire an seinen Nachfolger Heinrich Meister verlor Grimm bald das Interesse an Fragen, die sich mit politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Reformen befassten. Seine Aufgaben als Kunstagent und inoffizieller Vermittler in diplomatischen Diensten ließen ihm allerdings auch kaum die Zeit, sich weiter auch mit gesellschaftspolitischen Fragen zu beschäftigen. Es bedurfte eines so einschneidenden Ereignisses wie der Franzö-sischen Revolution, um ihn wieder auf den harten Boden der Realität zu setzen.
Mit der Revolution und ihren Auswirkungen verlor Grimm einen Großteil seines Vermögens, eine späte Entschädigung konnte er nur als einen Witz auffassen. Nach seiner Flucht aus Frankreich war Grimm fast ausschließlich auf das Wohlwollen seiner Schutzherrin Katharina angewiesen. Ihn belastete vor allem auch die Sorge um seine „Adoptivfamilie“. Den Grafen und die Gräfin de Bueil mit ihren Kindern Henri, Adèle und Katharina hatte ihm in gewisser Weise seine langjährige Freundin Louise d‘Épinay „vererbt“.
Mit seiner „Familie“ fand Grimm Aufnahme bei Ernst II. in Gotha. Vielleicht hätte Grimm auch beim Herzog von Braunschweig Zuflucht finden können, mit ihm stand er in einem fast freundschaftlichem Verhältnis, fast dreißig Jahre zuvor, hatte er den Erbprinzen durch Paris geführt. Auch bei Ludewig I., dem Großherzog von Hessen und bei Rhein hätte er vorsprechen können, mit ihm war er einst nach London und nach St. Petersburg gereist, als dessen Mutter, die große Landgräfin, Ludewigs Schwester Wilhelmine als Heiratskandidatin in St. Petersburg vorstellte. Ein alter Freund war auch Prinz Heinrich von Preußen, ihn hatte Grimm in Rheinsberg besucht, mit ihm hatte er sechs Wochen in Spa verbracht. Ob Grimm mit seiner Familie bei ihm Aufnahme gefunden hätte, wissen wir nicht, eine Anfrage von Seiten Grimms liegt nicht vor.
Zu Ernst II., dem Herzog von Sachsen-Gotha, pflegte Grimm ein herzliches Verhältnis, ihn und seinen Bruder August kannte Grimm schon aus der Zeit, als beide noch unter der Obhut ihrer Mutter Luise Dorothea standen. Mit dem Gothaer Hof unterhielt Grimm die vielfältigsten Beziehungen. Über den Gothaischen Legationsrat Hanß Adam von Studnitz machte er schon in Regensburg Bekanntschaft mit den handgeschriebenen Nouvelles littéraires des Abbé Raynal, die für die Herzogin Luise Dorothea bestimmt waren. Der Hofmeister Baron von Thun vermittelte Grimm eine Stelle als Deutsch- und Lateinlehrer beim Erbprinzen von Sachsen-Gotha, der sich in Paris aufhielt, als Grimm dort in Begleitung des jungen Grafen von Schönberg ankam. Die Bande an Gotha knüpften sich fester, als Grimm 1753 von Raynal die Nouvelles littéraiere übernahm und sie zur Correspondance littéraire machte; der Gothaer Hof gehörte zu den ersten Abonnenten von Grimms Periodikum, das alle vierzehn Tage über Diplomatenpost verschickt wurde. Bald gestalteten sich die Beziehungen zum Gothaer Hof zur festen Einrichtung. Grimm lieferte französische Kulturerzeugnisse aller Art nach Gotha: Bücher, Theatermanuskripte, Modeassecoirs ... . 1775 macht ihn der Herzog von Sachsen-Gotha zum bevollmächtigten Minister in Paris; Grimm erhält aus Gotha ein Jahresgehalt von 4 000 Livres.
Dass Grimm also mit seiner „Familie“ zunächst in Gotha landet, ist kein Zufall, zumal Herzog Ernst ihm persönlich einen Aufenthalt in Gotha schmackhaft zu machen versuchte: „Der Gedanke, mich jenem Manne näher zu wissen, den ich von allen Sterblichen am meisten liebe, ehre und schätze, und dessen liebevolle Ratschläge mir nun fürder zum grössten Nutzen und Troste gereichen werden, ist zu schön und zu schmeichelhaft, als dass ich den Mut fände, mich ihm von ganzem Herzen hinzugeben.“5
In Grimms Briefen an Lord Findlater kommt Grimm immer wieder auf seine „Adoptivfamilie“ zu sprechen; das muss ein wenig erklärt werden. Die Comtesse Emilie de Bueil war eine geborene Belsunce und ihre Mutter Angelique war die Tochter von Louise d‘Èpinay. Wir kennen Madame d‘Épinay aus Rousseaus Bekenntnissen; sie stellte dem Philosophen ihr Gartenhäuschen zur Verfügung und schrieb in Anlehnung an Rousseaus Erziehungsroman „Emile“ den nicht minder interessanten Briefroman „Emilie“. Der Titel bezog sich auf ihre Enkelin Emilie, deren Erziehung die Großmutter eine Zeitlang übernahm. Aus Emilie wurde die Gräfin von Bueil, eine Sache, die auf Vermittlung Melchior Grimms zustande kam. Grimm überwachte ihre Ausbildung im Kloster Saint-Antoine, auf seine Veranlassung hin ernannte Katharina II. sie zu ihrer Ehrendame. Als Emilie de Belsunce 1786 den Grafen Roux de Bueil heiratete, erhielt sie dank Grimms guter Beziehungen zur russischen Kaisern einen ansehnlichen Geldbetrag geschenkt. Die Kaiserin war auch Patin der Tochter Catherine Alexandrine Helene (von Grimm später Katinka genannt) und des Sohnes Henry. Der Name Katharina war also im Hause der Bueils nicht zuletzt auf Grimms Betreiben hin, sozusagen ein geheiligter Name.
Als Grimm 1790 nach Deutschland reiste und zwei Jahre danach Frankreich für immer verließ, war ihm das Schicksal der Bueils nicht gleichgültig: „Je me suis dit qu‘ayant accoutumé Mme de Bueil, depuis qu‘elle existe, à compter sur moi, ce n‘était pas le moment de l‘abandonner, et que, puisqu‘elle était attachée à la glèbe par les petites possessions de son mari, il n‘était pas en mon pouvoir de la, tirer d‘ici, c‘était a moi à revenir ici partager le sort de mon enfant adoptif.“
Im Schatten der kleinen deutschen Fürstenhöfe erhielten die französischen Emigranten meist eine freundliche Aufnahme; Auswanderer von Rang dagegen traf man in Brüssel oder London, hohe Militärs kamen nach Koblenz, Mainz und Worms; wer nicht über die geeigneten Mittel verfügte, bat um Aufnahme in Solothurn, Lausanne oder Freiburg, hier konnte man ein wenig billiger leben. Manche Landgrafen stellten aber auch schon Schilder auf, die darauf hinwiesen, dass Juden, Vagabunden und Auswanderer nicht erwünscht seien.
Grimm kam nicht gerade als vermögender Mann nach Gotha, „Hab und Gut“ hatte er in Paris zurücklassen müssen. Im Mai 1793 erfuhr er, dass sein Name auf der Liste der Emigranten stand und seine Wohnung in der Rue d‘Antin, jetzt Rue de Mont-Blanc, versiegelt worden war. Sein Sekretär, Lecourt de Villière bestätigte ihm diese Maßnahme der neuen Verwaltung; Grimm kommentierte dies in seinen Erinnerungen so: „Apreès avoir été pendant dix-huit ans, de notoriété publique, ministre étranger accrédité près de Louis XVI., on vint un matin, sans autre formalité, faire une descente dans ma maison, enlever les scellés, s‘emparer de tout en notifiant à mes gens, j‘ignore encore aujourd‘hui par l‘autorité de qui et en vertu de quelle loi, que j‘étais déclaré émigré. J‘avais passé quarante-cinq ans de ma vie en France, j‘y avais placé de bonne foi toute ma fortune; je n‘avais pas un écu ailleurs. On saisit mes capitaux, mes rentes, tout mon revenu, au profit de la République.“ (Mémoire historique, p. 42)
Antoinette Marchais, die alte Hausangestellte, war im Haus zurückgeblieben, um auf die zurückgelassenen Sachen aufzupassen. Sie konnte nicht verhindern, dass im September 1793 Möbel, Kleidung, Haushaltsgegenstände, Geschirr, Gemälde, Büsten, Schmuck und Wertsachen, u.a. eine große Anzahl von Goldmedaillons, die Grimm von Katharina II. erhalten hatte, weggebracht wurden. Auch Grimms umfangreiche Bibliothek mit Werken zur Literatur und Musik, die er in vierzig Jahren zusammengestellt hatte, seine Archive, darunter mehrere bei ihm eingelagerte Manuskripte, die dann widerrechtlich dem Druck übergeben wurden. Gemeint waren damit u.a. die Romane von Denis Diderot, die Eingang in die Correspondance littéraire gefunden hatten, namentlich Jaques Le Fataliste, der 1796 veröffentlicht wurde. Über zehn Jahre verfasste Grimm Gesuche, in denen er die Rückerstattung von Besitz und Vermögen verlangte, das in Frankreich trotz seiner Immunität als Diplomat eingezogen worden war.
Grimm erhielt auf seine Beschwerden zunächst keine Antwort, später versprach man ihm immerhin, sich kümmern zu wollen aber bis 1795 erhielt Grimm keine Entschädigung, am Ende waren es drei Paar Spitzenmanschetten und einige wertlose Gutscheine (Assignate).
Grimm musste das als schäbig empfundene Verhalten der republikanischen Administration um so mehr treffen als andere Diplomaten, so etwa der päpstliche Nuntius oder der österreichische Botschafter Graf Mercy-Argenteau, keinerlei Einbußen hinnehmen mussten. Katharina II., die sich für Grimms Unglück gewissermaßen mitverantwortlich fühlte, schickte ihm 20 000 Rubel und versprach weitere 50 000 für ein Haus, das er sich davon hätte kaufen können. Außerdem kam sie für einen Teil seiner Reisekosten auf. Insgesamt, so hat man errechnet, ließ sie ihm bis zu ihrem Tod eine Summe von 306.441 Rubel, 233.279 Livres und 200.000 holländische Gulden überweisen. Eine solche Rechnung ist aber im Nachhinein schwer aufzumachen, da wichtige Angaben fehlen: Wir wissen nicht, welche Summen Grimm in den Jahren 1792, 1793 und 1794 zugesprochen wurden, außerdem dürfte ein Teil des Geldes auch für Ankäufe verwendet worden sein und wir können auch davon ausgehen, dass ein Teil des überwiesenen Geldes nie bei Grimm angekommen ist. Grimm hat in seinen Briefen häufig notwendige Ausgaben für den Unterhalt seiner „Familie“ in einer Weise angesprochen, die beim Adressaten den Eindruck hinterlassen mussten, dass Grimm ein Leben am Rande des Existenzminimums führte. Wie die meisten Emigranten sieht sich Grimm selbst als ruinierten und verarmten Mann. Auch während seiner Tätigkeit als umfassend bevollmächtigter Vertreter Russlands in Hamburg von 1796 bis 1798 jammert er ständig, das Leben sei zu teuer.
So schlimm aber muss es am Ende aber nicht gewesen sein, denn er hinterließ seiner „Familie“ Bueil ein ansehnliches Erbe. Im übrigen erhielt Grimm auch in seiner Zeit in Gotha regelmäßig Geld für seine Dienste im Auftrag der russischen Kaiserin.
Mit finanziellen Dingen hatte Grimm auch in ganz anderer Hinsicht zu tun: er verwaltete die Emigrantenkasse Katharinas II. Grimm war von 1793 bis 1805 Direktor des Hilfsfonds für franz. Emigranten. Nach dem Tod der Kaiserin betraute ihn Maria Feodorowna mit der „Austeilung“ der Hilfeleistungen: „Übernehmen Sie freundlichst, mein Herr, die Austeilung der leider nur kleinen Hilfeleistungen, die ich der Unterstützung unserer armen Emigranten weihe, welche durch ihre Grundsätze und ihre Lebensführung gewiss die vollste Hochachtung verdienen.“ Die Kaiserin nennt Beispiele, um welche Summen es sich handeln kann: „Herr von Nicolai wird Ihnen am nächsten Posttage einen Wechsel auf 3.000 Rubel aus meiner Privatschatulle zugehen lassen. Weitere 2.000 Rubel werden Sie zu demselben Zwecke im September erhalten und können überhaupt mit Bestimmtheit darauf rechnen, alljährlich die gleiche festgesetzte Summe von 5.000 Rubel aus meinen persönlichen Einkünften zu empfangen.“ Maria Feodorowna knüpfte ihre Spende jedoch an Bedingungen: „Nur möchte ich Sie bitten, mich, wenn es nicht unumgänglich notwendig sein sollte, niemandem zu verraten, denn es wäre in der That mein sehnlichster Wunsch, dass die Quelle dieser Hilfeleistungen unbekannt bleibe. Alle mir etwa von Emigranten zugehenden Bittgesuche will ich Ihnen gleichfalls persönlich einsenden. Da Sie sich ja mitten unter jenen befinden, so können Sie noch am ehesten die Bedürftigkeit herauswählen und beurteilen.“
Unter den „bedürftigen“ Emigranten war auch einer der Söhne der Herzogin von Orléans. Es ist schon eine Ironie des Schicksals, dass Grimm in die Unterstützungsbemühungen um den Enkel seines ehemaligen Dienstherrn einbezogen war. Louis-Philipp, der einmal als letzter französischer König regieren sollte, war 1798 gerade einmal 25 Jahre alt und hätte, wenn es nach dem Wunsche seiner Mutter gegangen wäre, in den Dienst des russischen Kaisers eintreten sollen. Diesem Wunsch aber wollte man auf russischer Seite nicht entsprechen und Grimm wurde gebeten, dies der Herzogin von Orléans möglichst schonend beizubringen. „Sie würden wohlthun, Herr Baron“, schrieb ihm Kaiserin Maria Feodorowna am 15. März 1802, „sie von diesem Schritte und von dieser Idee abzubringen. Dies ist, wie Sie wohl einsehen werden, unter den jetzigen Verhältnissen in jeder Beziehung ganz unthunlich: sein Rang, seine Charge und die böse Erinnerung an seinen Vater dürften wohl die Haupthindernisse sein, und nach reichlicher Überlegung werden Sie mir wohl beistimmen.“
In Grimms Leben spielten zwei Frauen eine besondere Rolle: das waren Louise d‘Épinay und Katharina die Große. Louise d‘Épinay lernte Grimm 1754 über seinen Freund Jean-Jaques Rousseau kennen und lieben. Grimm blieb dieser außergewöhnlichen Frau bis zu ihrem Tod im Jahr 1783 eng verbunden. Die Urenkelin von Madame d’Épinay, Grimms „Katinka“, war Grimms letzte Sekretärin. Als er blind wurde und ihm die Hände den Schreibdienst versagten, übernahm sie es, seine Briefe zu schreiben. Grimms letzte Mitteilungen an seinen Freund Findlater waren mit einem hingekritzelten „G“ unterschrieben, den Brief selbst, hatte die zehnjährige „Katinka“ zu Papier gebracht.
Louise d‘Épinay verhalf Grimm in Paris zu seinem gesellschaftlichen Aufstieg, ob sich zwischen beiden ein intensives Liebesverhältnis entwickelte, kann bezweifelt werden. Die für Grimm wichtigste Frau trat 1773 in sein Leben; es war keine Geringere als Katharina die Große. 23 Jahre lang blieb er ihr aufs innigste verbunden. Zwei Monate nach seiner Ankunft in Russland schrieb Grimm im Dezember 1773 an den Grafen Nesselrode die folgenden Worte: „Les bontés de l’Imperatrice m‘ont rendu fou; si je la quitte, j‘en mourrai de douleur; mais comment rester?“ und er fährt fort: „Je suis malheureux à force d‘etre comblé de bontés par l‘Imperatrice.“ (Brief vom 28. Dezember 1773)
Die Zuneigung beruhte auf Gegenseitigkeit, Katharina hatte keinen Gesprächs- und Briefpartner, mit dem sie so ungezwungen reden und korrespondieren konnte wie mit Grimm. Grimm war von den Briefen Katharinas mitunter so elektrisiert, dass er nach dem Lesen ihrer Zeilen oft die halbe Nacht aufgewühlt in seinem Zimmer auf und ab gehen musste. Als Katharina ihn 1791 inständig darum bat, all ihre Briefe an ihn zu verbrennen, konnte er dieser Aufforderung nicht nachkommen, ein solches Opfer wäre über seine Kraft gegangen. Grimm konnte jedoch seine Korrespondenz sicher nach Deutschland bringen, nach seinem Tod wurden sie von russischen Kurieren nach St. Petersburg gebracht und liegen seitdem in russischen Staatsarchiven.
Welche Bedeutung kommt den Briefen von Grimm an Findlater zu?
Zunächst einmal muss gesagt werden, dass in den Briefen, ein erster Blick darauf könnte zu dieser Vermutung Anlass geben, nicht nur Höflichkeiten ausgetauscht wurden. Was uns bei der Lektüre der Briefe vor Augen geführt wird, ist die ungeheure Fülle eines unaufhörlichen, nie versiegenden Austausches von Nachrichten zwischen Gotha und St. Petersburg. Friedrich Melchior Grimm ist Verteiler und Vermittler von Nachrichten aller Art. Er ist die Knotenstelle für Botschaften, Anfragen, Gesuche und Mitteilungen an Katharina II. Seine „boutique“, wie Grimm seine Schreibstube nennen würde, verbindet die Freunde Findlater und Romanzof mit der russischen Machtzentrale; Grimm gibt Richtlinien der Kaiserin an ihre ausländischen Gesandten weiter, über ihn ergeben sich Kontakte zwischen England und Russland, manchmal auch zwischen Ludwig XVIII., dem Exilkönig der Franzosen, und Katharina II.
Die Briefe an Findlater offenbaren uns Details zur dritten Teilung Polens, sie spiegeln die Rolle der franz. Emigranten in Deutschland wieder; wir erfahren interessante Details über die englisch-russische Politik zwischen den Jahren 1794 und 1801. In seinen Briefen diskutiert Grimm mit Lord Findlater die „beschämende“ Friedenspolitik ihres gemeinsamen Freundes Prinz Heinrich von Preußen, der mit seinen Denkschriften nicht wenig zum Frieden von Basel beigetragen hat. Grimm kommentiert die „Katastrophe“ von Quiberon und bedauert, dass England und Russland den Kampf gegen die Franzosen nur mit Worten, nicht aber mit Taten führen. Kritisch kommentiert wird auch die Politik Österreichs; Grimm, der nach wie vor in engem Briefkontakt mit Katharina II. steht, zeigt sich hier als Propagandeur seiner Herrin und kann kaum Sympathien für die Wiener Hofpolitik entwickeln.
Grimm verwaltet für Katharina die Hilfsgelder für franz. Emigranten in Deutschland. Bittgesuche gehen häufig über Grimms Adresse in Gotha und Grimm hat entscheidenden Einfluss auf die Verteilung der Gelder. Auch darüber erfahren wir zumindest in Andeutungen das eine oder andere interessante Detail. Grimm und Findlater waren jeder auf seine Art in der Unterstützung von Emigranten tätig: Findlater als großzügiger Spender und Grimm als Vermittler von Hilfsgeldern. Grimms ehemaliger „Vorgesetzter“ zu Zeiten des Siebenjährigen Krieges, der Marechal de Castries, gehört nun u.a. zu seinen „Schützlingen“. Auf Grimms Betreiben hin erhielten auch ehemalige Offiziere der royalistischen Armee Ludwigs XVI. in Russland eine neue Anstellung.
Mit Lord Findlater kann Grimm darüber sprechen, welche Chancen sein „Mündel“, der Graf von Bueil hätte, sich in Russland oder Kanada als Siedler niederzulassen; in dieser Angelegenheit kommen auch Anbaumethoden und die Aufzucht von Rindern zur Sprache, auf beiden Gebieten vermag sich Lord Findlater als Fachmann zu erweisen. Damit wird Findlater in die internen Angelegenheiten und Sorgen der „Familie“ seines Briefpartners einbezogen.
Findlater wird in Grimms Briefen auch gern als „Klagemauer“ benutzt. Ihm kann Grimm sein ganzes Elend schildern und das tut er ausführlich und mitunter recht larmoyant. Mal ist es die angegriffene Gesundheit, mal sind es die materiellen Verluste und die Einschränkungen in der Lebensweise, die Grimm und die Seinen hinnehmen mussten.
Aus seinen Briefen können wir auch Rückschlüsse auf Grimms psychische Verfassung ziehen. Als Diener der Höfe, musste sich Grimm stets als Person mit eigenen Befindlichkeiten zurücknehmen, seinem Freund Findlater gegenüber kann er sich erlauben auch, auf persönliche Schwächen einzugehen.
Grimm ist auf Gedeih und Verderb dem Wohlwollen und der Großzügigkeit der russischen Kaiserin ausgeliefert. Er hat keine eigenen Grundfesten, auf denen er bauen könnte, sie ist ihm der Stern in der finsteren Nacht. Diese Abhängigkeit unterscheidet ihn von seinem Briefpartner, der aus altem schottischen Adelsgeschlecht kommt, mit weltlichen Gütern reich gesegnet ist und selbstbewusst zu leben versteht. An Grimm fressen die Sorgen um seine „Familie“; was soll aus den Kindern werden, womit wird Graf Bueil einmal seine Familie ernähren können? Werden die eigenen Kräfte ausreichen, die nächsten Jahre zu überstehen, wird Katharina ihm auch in Zukunft zur Seite stehen? In Grimms Gefühlshaushalt mischen sich Trauer und Verlustängste, die angegriffene Gesundheit verstärkt das Gefühl von Schwäche und Ausweglosigkeit, die äußeren Ereignisse und politischen Verhältnisse bestätigen in einem Fort seine pessimistische Weltsicht und sein zögerlicher Charakter lassen ihn in einem Zustand verharren, der geradezu auf Erlösung wartet. Diese Erlösung kann für Grimm nur von außen kommen, jeder neue Brief aus St. Petersburg kann, so seine Hoffnung, die Wende zum Guten bringen.
Als ihn die Nachricht vom Tod der Kaiserin erreicht, ist Grimm am Boden zerstört. Mit ihrem Tod ersterben alle Hoffnungen auf eine Wende zum Guten. Die geplante und mehrfach angekündigte Reise nach Russland verliert ihren Zweck und ihr Ziel, Grimms Stellung am russischen Hof ist nun in Frage gestellt, die Hoffnungen auf eine Wiederherstellung der franz. Monarchie mit Russlands Hilfe können begraben werden, Geldsendungen aus Russland werden, so ist zu befürchten, ausbleiben und Grimm wird mit seiner „Familie“ ins Elend fallen - das sind Grimms Ängste. Doch Katharinas Nachfolger, Paul I., bestätigt die Berufung Grimms zum bevollmächtigten Minister für den niedersächsischen Kreis in Hamburg. Aber das ist nicht das, worauf Grimm gehofft hatte. Er fühlt sich dem Posten nicht gewachsen, er fühlt sich alt, ist krank und verfügt nicht über die Mittel, die er für die hohen Lebenshaltungskosten in Hamburg aufbringen muss. Wenige Monate nach Antritt seines neuen Amtes wird er so gut wie blind und er wird sich der Nutzlosigkeit seiner Dienste bewusst. Er bittet um seine Abberufung und kehrt über Umwege nach Gotha zurück. Seine letzten Briefe an Lord Findlater hat er nur noch seiner kleinen „Katinka“ in die Feder diktieren können. Grimm hat in seinem Leben wohl einige Tausend Briefe selbst geschrieben, seine Briefpartner waren über ganz Europa verteilt. Er korrespondierte mit fast allen Königen, Fürsten und Ministern, die etwas zu sagen hatten. Die Briefe an Lord Findlater erzählen über sein Leben in Gotha, es sind die Briefe eines Mannes, der an sein Ende gekommen war.