Читать книгу Polnische Novellen - Wladislaw Reymont - Страница 4
Tomek Baran
ОглавлениеTomek stiess die Schankstubentür auf, ein scharfer Brodem, wie aus einem Kuhstall, schlug ihm entgegen und eine vor Dichtigkeit fast klebrige Stickluft presste gegen ihn an; er achtete nicht darauf, trat ein und zwängte sich durch das eng verschlungene Menschengedränge hindurch, das wie Roggengarben auf der Tenne einen grossen wirren Haufen bildete, in der Richtung des Lattenverschlags mit der Schanktafel dahinter.
»Ein Halbquart Schnaps, aber starken!«
»Ins Blech einschenken?«
»Nein, ins Glas.«
Die Schankwirtin goss ein. Er zahlte, nahm Flasche und Glas, wandte sich einem Tisch an der entgegengesetzten Seite der Schankstube zu, liess sich schwer an der Wand nieder, füllte sein Glas mit Schnaps und leerte es in einem Zuge. Dann spie er zwischen den Zähnen hindurch aus, wischte sich den Mund mit dem Ärmel und versann sich. Irgend etwas in seinem Innern schien ihn zu bedrängen, denn er konnte nicht einen Augenblick ruhig dasitzen, er spie immer wieder aus, schlug mit der Faust auf den Tisch, versuchte plötzlich aufzustehen, als müsse er eilig irgendwo hin und liess sich schliesslich mit einem leisen schmerzlichen Aufstöhnen auf die Bank zurückfallen; ab und zu rieb er mit der Faust über seine Augen, denn immer wieder rollte ihm eine Träne über die dürren, bläulichen wie zerfressenen Wangen und brannte wie Feuer auf seinem Gesicht.. Er merkte fast gar nicht mehr, was um ihn her geschah. Ein schwerer Kummer lag wie ein Stein auf seinem Herzen, man sah es ihm an, dass er sich nicht mehr zu helfen wusste und in eine immer grössere Ratlosigkeit verfiel, es war schon so, dass er die Arme hängen liess, ein ums andere Mal vor sich hinseufzte und sich verzweiflungsvoll seinen Schädel kratzte.
Die Schenke erdröhnte unter dem Schurren und Gestampf der Mazurkatänzer. Etwa zwanzig Paare kreisten eifrig, ganz dem Tanz hingegeben, unter frohen Juchzern und feurigen Hackenstossern in dem gedrängt vollen Raum.
Hopp! Hopp! Hopp! – wurden eifrig antreibende Zurufe laut.
Schnaps und Trunkenheit umnebelten bereits die Köpfe und immer wilder schwangen sich die Paare, denn ein solcher Tanztaumel hatte sie gepackt, dass sie wild auftrampelten und sich immer rascher im Kreise drehten.
Die roten Beiderwandröcke der Frauen blitzten neben den weissen Haartuchkitteln der Männer auf wie Mohnblumen in einem reifen Roggenfeld. Der zur Rüste gehende Tag warf Streifen rötlichen Lichts durch die kleinen, zugefrorenen Fensterscheiben, und ein ärmliches Lämpchen über dem Rauchfang des Herdes flackerte und zuckte wie im Takt des Tanzgetrampels vieler schwerer Füsse.
Ein dumpfes Stimmengewirr erfüllte den Raum, einem verworrenen, unbestimmten Rauschen gleich, aus dem jäh wie Blitze das derbe: Hopp! Hopp! Hopp! herausschnellte, um alsbald im allgemeinen Lärm wieder unterzugehen, der auf eine Weile alles verschlang; denn an allen Tischen, in allen Ecken der Schankstube, am Schanktisch selber und wo nur irgend ein Platz übrig geblieben war, standen Menschen und redeten miteinander über die Kartoffeln vom vorigen Jahr, über den Herrn Pfarrer, das Kinderzeug, das liebe Vieh und alles, was sie sonst noch auf der Leber hatten und worüber man sich viel besser in Gemeinschaft aussprechen kann und auch leichter unter Leuten Trost findet; denn selbst das Vieh zum Beispiel, wie gesagt, trinkt nicht einmal aus einer Quelle, wenn es allein draus trinken soll, aber in Gesellschaft, da trinkt es selbst aus dem Spülwassereimer, versteht sich, – so kann auch der Mensch nicht allein leben, sich für sich allein in der Schenke belustigen, oder in den Wald fahren, sondern muss, wie es der liebe Gott befohlen hat, immer gemeinsam mit den anderen solches tun – mit den Bruderseelen, richtig wie es sich gehört.
Alles redet durcheinander, trinkt einander zu, umarmt sich voll Herzlichkeit und die Behaglichkeit lässt jedes Auge heller aufleuchten, während die Hopphopp-hopp-Rufe immer deutlicher werden und schon gar kein Ende mehr nehmen wollen.
Die Fussbodenbretter knarren immer bedenklicher unter dem Stampfen der eisenbeschlagenen Absätze und die Bassgeigen, die mit ihren Musikanten hoch auf einem Sauerkrautfass untergebracht sind, singen schon mit ganz tiefer Stimme:
– Bom, tzick, tzick! bom, tzick, tzick! –
Worauf ihnen die Lindenholzgeigen mit feinen Stimmchen Bescheid geben:
– Tuli, tuli, tuli, tuli – tulity, tulity! –
Die Lust brennt lichterloh und unaufhaltsam. Gesichter neigen sich Gesichtern zu, Brust schiebt sich an Brust, Rücken streift den Rücken – und alles ist dermassen vom Tanztakt der lustigen Musik durchdrungen, dass der Oberek sich wild und frei entfalten kann, wie es sich für einen echten, rechten Bauerntanz geziemt. Die Fensterscheiben klirren wehmütig, aus dem Fussboden springen hier und da die dichten Astknorren heraus und die schweren, dickbäuchigen Schnapsgläser auf dem Schanktisch hüpfen immerzu so lustig, dass es einen wahrlich wundernimmt.
Ab und zu langt der Schankwirt nach der Trommel mit den Schellen, rüttelt sie derb, wie der Bauer den Juden, wenn er ihn am Schopf hält, und schlägt mit der Faust auf ihren strammen Bauch ein, im Takt der Geigenmusik.
– Dys, dys, dys! – klang es ein jedes Mal lärmig, verworren und mit betäubendem Geklirr – und gleich stampften die Stiefelabsätze draufgängerischer los, stiegen die heiseren Juchzer noch kecker auf, und das qualmende Lämpchen schien hüpfen zu wollen und paffte Russ auf die im Tanze wie Mäntel sich blähenden weissen Haartuchkittel der Männer. Der Dunst des auf den Stiefeln und an der Eingangstür tauenden Schnees, der Zigarettenqualm und das Halbdunkel, das in der grossen Schankstube herrschte, hüllte die Tanzenden wie in Schleier ein, so dass nur hin und wieder ihre roten Gesichter, undeutlichen Körperumrisse und die grellen Flecke ihrer Trachten aus dem selbstvergessen sich wiegenden, bunten Menschenknäuel hervorglühten.
– Und wer will mir die-nen, die-nen, cha ... cha ... cha ... hi ... hi ... hi ... – kicherten lustig die Geigen.
– Ich will's tun, gerne tun ... u ... u ... uh ... – brummelten die hopsenden Bassgeigen ihnen Antwort zu, und alsogleich hüben sie gemeinsam an zu lachen, zu schäkern und mit ihren lustigen Stimmen alle Ecken zu füllen, dass die Schenke unter der Flut einer trunkenen Lustigkeit zu erzittern schien.
Ein Weibstück ist ganz toll geworden
Und verrückt die zweite.
Die dritte hat der Teufel holen:
Reit zur Hölle, reite!
sang plötzlich einer laut los, wie zum Anreiz, und als Antwort stiegen von allüberall immer neue Liedlein und sprühten immer ausgelassenere Lustigkeit um sich.
Tomek sass noch immerzu in Gedanken versunken da; er hatte sich gerade ein zweites Glas eingeschenkt, als es ihm einer der vorüberwirbelnden Tänzer umstiess. Wütend holte er aus und versetzte der Tänzerin des Burschen einen Fusstritt, dann stand er auf, denn vom Fenster begann allmählich die Kälte auf ihn einzudringen. Allein sitzen mochte er nicht mehr, so begab er sich denn in die hinter dem Schanktisch gelegene Giebelkammer.
Auch dort war es gedrängt voll, die Leute hielten ihre Schnapsflaschen umkrallt, klammerten sich aneinander, umarmten sich, nahmen den Mund voll und tranken einander zu, dass es eine Art hatte. Die Weiber verdeckten schamhaft ihre Gesichter mit den Beiderwandschürzen und schlürften den Branntwein mit Begehrlichkeit. Eine ehrliche Bewirtung machte sich allenthalben breit – echt und recht wie es sein muss, katholisch! Hatte einer Geld, sich Arrak zu leisten – dann eben Arrak, reichte es zum Sprit mit »Essenz« – dann solchen, und kam er nur bis zum Fusel – .. dann Fusel auf den Tisch, oder auch Bier, wenn er Geld hatte sich so was zu leisten.
Jeder bewirtete von Herzen mit heller Festfreude.
Alle waren schon angetrunken, aber schaden tat das nichts: einmal muss ja doch die Ziege sterben! Ein Schnäpslein in Ehren hat noch keinen sündig gemacht, und die arme Menschenseele braucht ab und zu etwas zum Trost, wenn auch nur ein Tröpfchen gegen die Sorgen.
»Oh, du verfluchter Hund!« lallte ein betrunkener Bauer wütend gegen den Kamin an, »so ein Gevatter bist du! Hä ... hä ... warte einmal! ... Und ich ihn so, und er mich so ... Warte, du Aas! ... Und ich ihn an die Rockklappe, und er mir eins aufs Maul! ... Aufs Maul, sagst du! warte, du pestige Sau! ... So ein Gevatter bist du, du Hundesohn, so ein Christ! ... und er mir eins, und ich ihm in die Schnauze! ... Ich, der Bartek ... ich ... versteht sich, dass ich der bin! habe schon manchen rumgekriegt, auch du sollst dran glauben müssen ... Hundevieh, verfluchtes! ... dich krieg' ich schon noch ... warte einmal! ... Hähä ... Und ich ihn so, und er mich so – und ich sage zu ihm höflich: Bruderherz! ... und er mir eins aufs Maul, – und ich sage ihm: Gevatter! ... und er noch eins aufs Maul! ... und ich sage ihm: so ein Gevatter bist du, so'n Christ? ... dich werd' ich ...« er murmelte immer undeutlicher vor sich hin und hämmerte mit der Faust gegen den Kamin an, dass es dumpf dröhnte, dann horchte er noch eine Weile, stellte sich breit auf und nickte alsbald, schlaftrunken torkelnd, vor sich hin.
Hinterm Weiher steh' ich,
Hinterm Weiher geh' ich.
Möcht' dich gerne küssen,
Kann dich, Lieb, nicht missen ...
Will den Kuss dem Blättlein geben,
Trägt ihn wohl zu dir, mein Leben!
sang jetzt laut die Karline, dieselbe, die während der Kartoffelernte ihren Mann begraben hatte und jetzt als Witwe auf ihren fünfzehn Morgen Weizenboden mit einem Pferd und etlichen Kühen sass, ausserdem war da auch noch das guterhaltene Zeug des Seligen, für den etwaigen Nachfolger. Sie wandte sich stürmisch einem jungen Burschen zu, der etwas abseits an der Wand stand, und sang ihm abermals ein solches:
Wojtek, Wojtek, sei nicht bang,
Sitz nicht auf der Ofenbank!
Komm zur Wittib, wirst schon sehen,
Hast bei ihr nichts auszustehen.
»Wojtek, in deine Hände, mein Junge! Dumm bist du, was sollst du denn vor den Eltern bange sein. Wie ich gesagt habe: wenn ich dir den Grund und Boden verschreibe, dann werd' ich ihn auch verschreiben, ist doch mein Eigentum, etwa nicht?«
Wirst sein wie im Himmel, mein Schatz, ohne Sorgen:
Kriegst Käse zu Abend – ein Huhn jeden Morgen!
»Verneig' dich schön vor dem geistlichen Vater, bezahl' das Aufgebot, ein Schweinchen wollen wir schlachten, Napfkuchen wollen wir backen, Arrak kaufen, wollen lustig sein und saufen und eine Hochzeit herrichten, dass ... ha!«
»Sieh einer das Frauenzimmer, alt und immer noch dumm! Zähne hat sie keine und möchte beissen!« liess sich einer von der Seite vernehmen.
»Hale! Steck' deine Glotzen anderswohin, als einem zwischen die Zähne. Seht mal diesen Hundesohn! ...« wehrte Karline hitzig ab.
»Immer ruhig! ruhig, Gevatterin, ich will Euch etwas sagen.«
»Sagt es einem Hund! Mit einem Paletot hat sich das Gestell aufgeputzt und glaubt, dass er ein grosser Herr ist – und wenn du auch im Dorf herumkläffst wie'n Hund, von mir aus hast du keinen Schnaps zu erwarten. Ich werd' dir keinen in deinen Rachen giessen.«
Sie wandte sich wiederum dem Wojtek zu, zog ihn in eine Ecke und redete weiter auf ihn ein. Neben ihnen, an einem kleinen Tisch, sassen zwei Bauern, sie tranken ab und zu einen Schluck aus einer bauchigen Flasche. Der eine kratzte sich den Schädel und schwieg, der andere machte breite Armbewegungen und redete in einem fort.
»Merkt Euch das, ich, der Czerwinski, hab' es Euch gesagt: allerhand böses Zeug hat sich an mich gehängt, wie die Weiber an die Judenstute, ich aber ... nichts! Die Frau ist mir im Kindbett draufgegangen – ich nichts! Die Pferde haben mir die Diebe gestohlen – ich nichts! Ich warte bloss zu ... Der Jendrek hat die Pocken bekommen – oh, hundsverdammt! Da hab' ich aber Schnaps mit Fettigkeit getrunken, Hochwürden habe ich Geld für eine Messe hingetragen – und weg war es, – wie weggezaubert! Mach' es ebenso, Gschela, und du wirst sehen, dass es hilft. Czerwinski sagt dir das, dem Czerwinski kannst du es schon glauben, dass es so ist.«
»So'n Schwarm Kinder, wie auf dem Hof das liebe Federvieh, und die Frau dazu bettlägerig, die Steuern müssen bezahlt werden, die Kartoffeln sind mir erfroren, die Not pfeift bei einem nur so ein und aus – und gegen all das, was hat man: einen zerbrochenen Stecken! Ih, mein Gott, mein Gott! Trinkt mir zu, mein Guter. Es scheint mir, dass ich es nicht schaffen werde, ich überleg' mir alles von dieser Seite und von der anderen Seite, rein gar nichts, nichts lässt sich herauskalkulieren.«
»Dumm bist du, in deine Hände, Gschela; lass du dir lieber was von dem Aufseher aufs Maul geben, aber überleg' nichts mit deinem eigenen Verstand, denn damit wirst du nichts zustande bringen. Ab und zu kannst du schon was mit der Faust abkriegen, aber Arbeit wirst du am Bahndamm haben und immer frisches Geld. Merk' dir das – ich, der Czerwinski, sag' es dir! und dem Czerwinski kannst du glauben, denn wie Hochwürden gesagt haben, im ganzen Kirchspiel ist er, Hochwürden, ein Kopf und der zweite – das ist Czerwinski! Gott erhalt' ihn bei Gesundheit, das ist ein kluger Schlachtziz, unser Hochwürden, und ein gelernter Herr. In deine Hände, Gschela!«
... »Frau Jatzkowa, liebe Frau Jatzkowa: geben Sie uns ein Fläschchen Essenz und ein Quart Sprit, zwei Reihen Semmeln und 'n Pfund von der fetten Wurst!« rief man vom Tisch am Fenster, an dem vier Menschen sassen, der Schankwirtin zu; zwei von diesen Leuten trugen städtische Kleidung, die zwei anderen – bäurische.
»Frau Jatzkowa, liebe Frau Jatzkowa! hör' Sie, auch etwas Essig zur Wurst und einen Teller für den Herrn Jäger! ... Sehen Sie mal, Herr Jäger, ich will es gleich sagen, wie es gewesen ist ...«
»Sei mal still, Alter, ich werde es ganz genau erzählen, du erinnerst dich nicht mehr, wie es war,« unterbrach ihn die Frau ... »Ich geh' also durch die Waldschneise, sozusagen, ich geh' also ...«
»Halt's Maul! Die wird hier mit ihrer Zunge unnützes Zeug dreschen. Ich erzähl' es. Auf die Gesundheit, der Herr Jäger!«
»Wohl bekomm' er Euch, mit Gottes Hilfe!«
»Noch ein Glas, der Herr Jäger?«
»Eure Gesundheit, Andreas!«
»Frau Jatzkowa, nochmal denselben!«
»Gott bezahl's Euch, Andreas, ich kann nicht mehr.«
»Noch ein Gläschen, lieber Herr Jägermeister! nur ein Bisschen, nur einen einzigen Schluck, oh ... Gleich will ich es erzählen, wie das gewesen ist. Meine Frau sagt zu mir: ich geh' mich so durch die Waldschneise, durch das Revier, das dem Herrn Jäger gehört, hat sie gesagt, und da liegt mit einemmal etwas, wie ein Hase, und doch ist es kein Hase – nein, es hat keinen Schwanz, hat sie gesagt, kein Kalb ist es und auch kein Schwein, denn es quiekt nicht ein bisschen. Das Frauenzimmer ist stehen geblieben, ganz steif ist sie vor Schreck geworden und betet nur in einem fort: ›Wer sich in den Schutz des Herrn begibt‹, und dieses Tier liegt noch immerzu da, sperrt sein Maul auf, hat sie gesagt, und hatte solche Hauer, jeder wie ein Finger so gross – und da das Weibsvolk doch gleich so wütig und hitzig ist, im Schlechten wie im Guten – so nimmt sie in einem Nu den Klumpen vom Fuss, und mit ganzer Macht ihn diesem Tierzeug an den Schädel! ... und dann, heidi ... und mit Gewein nach Hause gerannt – hat sie gesagt. Sie ist ins Haus gelaufen gekommen und gleich auf mich zu: Alter, hörst du! – Was denn? frag' ich sie. – Ich hab' ein wildes Tier totgeschlagen, in der Waldschneise, sagt sie. – Ich antworte nicht darauf, denn ich habe mir gedacht, dass es sie wohl vom Gehen so benebelt hat und sie darum unsinniges Zeug daherredet, wie das so bei einer Frau einmal ist. Und die immer ein und dasselbe: Ein wildes Tier oder so was Ähnliches hab' ich totgeschlagen, in der Waldschneise ... Ich lange ihr eins mit der Faust über den Buckel, was soll sie unsinniges Zeug daherreden, und die immer wieder nur ein und dasselbe: Ich hab' ein wildes Tier im Wald ... totgeschlagen! Du lieber Gott, du lieber Gott! ... Mit dem Frauenzimmer wirst du nicht fertig, denk' ich jetzt, vielleicht hat sie auch einen Menschen totgeschlagen oder sonst was. Ich spanne also die Schimmelstute an und so bin ich denn hingefahren, weil ich nachsehen wollte, damals als mich der Herr Jäger im Wald trafen.«
»Das sind Zigeunergeschichten, mein Andreas! Ich habe Euch doch dabei abgefasst, wie Ihr die Rehkuh auf den Wagen ludet!«
»Noch ein Tröpfchen Schnaps, Herr Jäger – zum Abgewöhnen! Ich habe die Wahrheit gesagt, wie bei der Beichte, vor Hochwürden. Der Herr Jäger sind mir mehr als der Vater oder Bruder, der Herr Jägermeister sind mein lieber Wohltäter. Ich weiss, dass ich, wenn der Herr Jägermeister es wollen würden, meine Sache beim Gericht verliere, denn das ist schon so auf der Welt eingerichtet, dass der feine Herr obenauf ist und du, Bauer, musst leiden, arbeiten und zahlen! Ich weiss, dass der Herr Jägermeister ein ehrlicher, friedlicher und gerechter Mensch sind, so wird er mir auch kein Unrecht antun, und weil ich den Herrn Jägermeister von Herzen lieb habe, wie meinen eigenen Vater, so bringt meine Frau morgen freundschaftlich das Schweinchen hin, und alles ist zwischen uns wieder in Ordnung. Was sollen wir die Gerichte an uns verdienen lassen! Frau Jatzkowa, noch etwas von demselben Schnaps!«
»Ich lege auch noch ein paar Entlein und eine kleine Scheibe Honig hinzu, denn ich weiss schon, dass die Frau Jägerin eine edeldenkende und feine Dame sind und in den Schulen Bildung gelernt haben, wie der Herr Jäger selbst, – nicht wie wir Bauernpack, zum Beispiel,« fügte die Bäuerin schlau hinzu und beugte sich der Jägerin ergeben zu Füssen, diese aber schloss sie in die Arme, und sie begannen sich vor Rührung zu küssen. »Ich hab' schon ein so weiches Herz, dass ich Euch, Andreas, nicht nur diese Rehkuh schenken werde, sondern auch, wenn Ihr mal eine Fichte oder einen jungen Eichbaum nötig hättet, werde ich Euch Eure Bitte nicht abschlagen können.«
»Auf Eure Gesundheit, der Herr Jäger, mitleidige und christliche Seele!«
Sie tranken immer wieder einander zu, küssten sich und tuschelten miteinander, vom Nebentisch aber hörte man jetzt wieder die Stimmen der Bauern:
»Oh, hundsverdammt! Der Mensch ist gänzlich zuschanden gekommen. Ihr habt ja dort mit ihm zusammengewohnt?«
»Nur durch einen Grenzrain waren wir getrennt. Ich habe das alles mitangesehen. Es wird einem dabei ganz schlecht zumute, das versteht sich, als wäre man selbst schon krank.«
»Ich, Czerwinski, sage Euch dieses: er hätte noch leben können, Gott sei seiner Seele gnädig, das hätte er können.«
»Hale! Wegen zu viel ›grossem Bedürfnis‹ ging das nicht mehr bei ihm, es kam nur mehr wie Wasser aus ihm gefegt; er stöhnte herum und stöhnte herum und schliesslich ist er eingegangen, der Ärmste.«
»Der Doktor soll bei ihm gewesen sein?«
»Ih... die Doktoren. Wenn einer sterben soll, dann kannst du ihm eine Hufe Land geben und Hab und Gut bis hoch an den Hals, lebendig wird er doch nicht mehr.«
»Wahr ist es schon! in deine Hände, Gschela!«
»Wohl bekomm's. Und wer war daran schuld? Der Wahrheit und Gerechtigkeit nach einzig und allein seine Mastsau und sein Weib. Er hatte eine fette Sau, dick wie ein Holzklotz, so brachte er sie denn zum Verkauf, weil Geld im Haus nötig war. Mit diesem seinem Schwein ist er nun losgezogen. Es hatte geschneit, versteht Ihr, der Schnee lag bis an den Gurt hoch und herumgelaufen ist er, hat sich die Kräfte abgejagt wie gewöhnlich beim Handel. Dann hat er Wurst gegessen, die ist ihm im Magen geronnen und so ist er daran zugrunde gegangen. Hätte er sie gut mit Schnaps begossen, dann wäre ihm nichts geschehen, so wahr Gott im Himmel ist, aber er trank auch nicht ein halbes Quart.«
»Der Ärmste hatte Angst vor der Hölle zu Hause.«
»Ho! ho! ein übles Weib hatte der auch, mit festen Fäusten, das will ich meinen! Die prügelte ihn schon manches Mal, und was die ihn geprügelt hat!«
»Auf Euer Wohl, Gevatter!«
»Wohl bekomm's. Lasst Euch das von Czerwinski gesagt sein: hätt' er dieses Hundeschönchen geprügelt, dass ihr das Dunkel über die Augen gekrochen wäre, dann hätte er auch ein artiges Frauchen gehabt, wie sich's gehört!«
»Wahr ist es, was Ihr sagt, Herr Schultheiss, die reine Wahrheit. Der war in der Faust zu weich, hatte auch nicht die richtige Überlegung, wie sich das für einen Mann gehört, jetzt hat er ins Gras beissen müssen – ewige Ruhe seiner sündigen Seele.«
»In Ewigkeit, Amen. In deine Hände, Gschela.«
»So ein Ehegatte seid Ihr? die Frau ist fast am Sterben und ihr sauft hier wie die wahren Heiden!« schrie eine Frau, sich zu ihnen hindurchschiebend.
»Was schert mich das!... Man hat Kinder in Menge, wie Kehricht, und immer noch soll es kein Ende nehmen... pah...«
»Lästere nicht, Gschela, sonst nimmt dir der liebe Gott noch alles fort...«
»Trinkt ein Tröpfchen mit, Gevatterin, dann wollen wir gleich zusammen fortgehen ...«
»Mich hat das Jesuskindlein nicht auf meine alten Tage mit einem Kind erfreut,« begann die Frau auseinanderzusetzen, »und wie hab' ich gebeten, nach Czenstochau bin ich gepilgert, von den gelehrten Doktoren habe ich mich kurieren lassen und alles vergebens, ganz allein bin ich auf dieser Welt geblieben, wie so'n einziger sündiger Finger ... ganz allein ...« »Hale, krieg' einer einmal ein Kind, wenn hundert Jahr vorüber sind.«
»Ihr solltet nicht solches Zeug daherreden, Czerwinski, bin ich vielleicht nicht auch einmal jung gewesen, wie?«
»Unser Herrgott ist in den Himmel, der Teufel ins Weib und die Säure ins Bier gefahren – nur weiss keiner, wann das gewesen ist! – merk' dir das, Frau, denn so hat es dir Czerwinski gesagt.«
In der Ecke auf einer Lade sass ein junger Bursche, der Sohn des Dorforganisten, und vor ihm stand ein steinaltes Weiblein und murmelte mit gedämpfter, noch seltsam wohlklingender Stimme:
»Sechsundsiebenzig Jahre lebe ich schon, junger Herr, – da habe ich weisse und schwarze und verschiedene andere Jahre gesehen. Ich habe bei Herrschaften gedient, die mit Hengsten fuhren, von silbernen Schüsselchen assen und auf Ausländisch miteinander redeten – und wo sind die jetzt! wo? Und im Gebetbuch kann ich lesen, und die erste Hofbäuerin war ich im ganzen Dorf, habe eigene Kinder gehabt und Hab und Gut bis an die Gurgel ... oh ... und alles ist vorübergegangen, verblichen wie die Sommersonne, die der Herr Jesus uns Sündigen zum Trost schenkt. Ich weiss alles, junger Herr, ich weiss, dass, ob Herrenleben oder Bauernleben, alles doch nichts anderes ist als schlimme Quälerei. Ich bin eine ganz einfache Bauersfrau, sechsundsiebenzig Jahre hab' ich auf dem Buckel – da hab' ich mir denn schon alles gut zurechtgelegt. Die Welt steht doch schon sechstausend Jahre, junger Herr?«
»Fast sechstausend Jahre.«
»Sehen der junge Herr, dass ich alles weiss, und darum denke ich so: wenn die Welt so viele tausend Jährchen ohne mich bestanden hat, und alles ist gut gegangen, warum musste ich da so viele Jahre leiden? Was hatte sie davon, die Welt?«
»Na ja, was soll man tun, der liebe Gott hat einem das Leben gegeben, so ...«
»Junger Herr,« unterbrach ihn die Alte rasch: »ich bin nur eine einfache Bauersfrau und der junge Herr ist ein Studierter, er kann auch auf der Orgel aufspielen, lateinisch mit dem geistlichen Vater singen und weiss richtig, wie er einen feinen und einen tiefen Ton singen soll, aber ich will's doch sagen: vielleicht sind meine Gedanken sündig, – aber ich sag' es doch: dass es gewiss der Teufel ist, der die Seelen in die Welt setzt, damit sie leiden sollen, damit sie im ärgsten Menschenelend sich auf der Welt so viele Jahre herumtreiben wie ich. Das ist nicht der liebe Gott, der das macht, wenn das auch in den Büchern steht und die Priester es sagen, nein. Was hätte der liebe Herr Jesus davon, dass sich so viel Volk abquälen, abmoracken muss und einfach zugrunde gehen soll? ... Der liebe Gott ist ein guter Herr und ein gerechter ... Nicht süss ist das Leben und nicht aus weichem Samt – es kratzt über einen wie mit dem Pferdestriegel, bis der Mensch sein eigen Herzblut von sich geben muss.«
»Was Ihr bloss redet, Jagustynka, das ist doch Sünde ...«
»Nur dem anderen Menschen Unrecht zu tun, ist Sünde, ich würde nicht einmal den Hund mit einem Stecken anrühren, denn es ist ein lebendiges Geschöpf und leidet dadurch. Junger Herr, eine einfache Bauersfrau bin ich nur, aber mein Herz ist wie eine Kohle ausgebrannt, durch all die Bitterkeit, die ich mein leblang für mich und für die anderen habe trinken müssen, und das weiss ich, dass der Teufel uns das Leben gegeben hat, aus Bosheit gegen den lieben Gott, damit sich die armen Leute in alle Ewigkeit in der Welt zugrunde richten, aber unser geliebter Jesusherr hat sich unser erbarmt: er hat den Bösen herumgekriegt und sucht sich so bei und bei die Menschen für seine Seligkeit aus – und einmal wird er sie alle herausgeholt haben. Ich wart nur bloss, bis die Knochenfrau kommt und mir sagen tut: komm her, Jagustynka! ... ich wart' bloss und bitte Gott, dass ich doch schnellstens die Augen schliessen könnte und keine Qual und kein Elend mehr sehen brauch', dass ich ausruhen darf, gründlich einmal ausruhen, junger Herr!« ...
Sie reckte sich über den jungen Organistensohn, der eingenickt war, und neigte ihr dürres, von Alter und Sorge zerfurchtes Gesicht, und in den verblassten, vom vielen Weinen wie ausgelaugten Augen blitzten Tränen auf ... sie wischte sie rasch mit der Beiderwandschürze ab, seufzte leise auf und wandte sich Tomek zu, der für sich allein auf einer Lade sass mit seiner Schnapsflasche in der Hand.
»Tomek! Dir sieht was Schlimmes aus den Augen,« murmelte sie und berührte sanft seine Schulter.
»Was anderes als die Not? Wissen Mutter es nicht? ...«
»Ich hab' so etwas gehört, aber die Leute reden allerhand durcheinander, man weiss nicht, was wahr und was ausgedacht ist.«
»Sie haben mich verabschiedet,« murmelte er traurig.
»Weswegen denn?«
Aus ihrer Stimme klang besorgtes Mitgefühl.
»Weswegen? ... weil man dem Aufseher hat immer was schenken müssen: im Herbst Gänse, zu Fastnacht Butter, ein Ferkel und Eier zu Ostern, dann wieder junge Hühnchen zu Pfingsten, – ich hab' ihm aber nichts hingetragen, wie das die anderen taten; wo sollte ich es denn hernehmen? Den Kindern konnte man kein Essen mehr geben – die Frau ist mir bei dem Elend zugrunde gegangen, die Kuh ist mir verreckt, und das auch nicht vor lauter gutem Leben; wie die Kartoffeln im vergangenen Jahr waren, wisst Ihr ja ... ich habe weniger herausgeholt als hineingesteckt. In Stücke gerissen hab' ich mich, aber helfen konnte man darum doch niemandem, weder der Frau noch sonst wem. Ich habe Tag und Nacht gearbeitet, im Dienst und zu Hause, das Elend hab' ich doch nicht rumkriegen können. Der Aufseher schimpfte nur immerzu auf mich ein – was sollt' ich ihm denn geben? mit der Faust eins zwischen die Rippen? Denn ich und die Kinder hatten doch selbst nichts zu beissen. Er trieb mich immerzu an und bewachte mich ganz niederträchtig aus lauter Bosheit, versteht Ihr. An den Streckenvorsteher hat er nur immerzu ›Laporten‹ geschrieben, dass ich frech bin und ein faules Wesen habe, dass ich im Dienst schlafe und den Eisenbahndamm nicht bewache, wie es sich gehört – und dann hat er auch gesagt, dass ich das Eisen aus dem Magazin gestohlen haben soll, und dass ...«
»Hast du es genommen, Tomek? Sag' mir die reine Wahrheit, jetzt ist es ja doch ganz gleich, wie?«
»Ich hab' es nicht genommen, Mutter, nein, das hab' ich nicht – dass ich hier auf der Stelle verreck' wie ein toller Hund! Ich sag' Euch die reine Wahrheit wie bei der heiligen Beichte; ich habe nie und nimmer gestohlen, die anderen Kameraden haben manches Mal sich etwas weggenommen, aber mein Vater haben nicht gestohlen, so wird auch der Sohn kein Dieb sein. Arm bin ich, aber ein Dieb bin ich darum doch nicht.«
»Und darum haben sie dich davongejagt? Die Leute erzählen doch, dass sie bei dir das Eisen gefunden haben ...«
»Versteht sich. Das ist so richtig wahr, nur dass ich es nicht dort hingebracht habe, wo sie es gefunden haben. Rafael sein Michal hat dem Aufseher fünfzig Rubel versprochen, wenn er ihn zum Bahnwärter macht, und da keine Stelle frei war, so hat er mir das Eisen untergeschoben und mich dann angezeigt. Sie haben revidiert bei mir, das Eisen gefunden und mich davongejagt. Alles ist umsonst gewesen, denn wenn ich auch wusste, wer das gemacht hat – einen Zeugen habe ich dafür doch nicht gehabt. Sechs Menschen sind ohne Brot geblieben. Zum Verdienen hat man keine Gelegenheit, zu essen gibt es nichts, zu leben hat man nichts, und wenn der barmherzige Herr Jesus nicht Hilfe schafft, dann ertrag' ich es nicht mehr, nein, dann ertrag' ich es nicht mehr!«
»Oh, Menschenlos: das Weinen wird einem die Wangen zerfressen, die Seele sich vor Schmerz zusammenkrampfen wie ein Vöglein im argen Frost, aber Hilfe wird von nirgendwo kommen. Dummes Volk kann nur reden, dass es Gutes in der Welt gibt; jawohl, es gibt so viel Gutes, dass es einem zur Gurgel hinausfährt!« murmelte die Alte bitter.
»Lass dich aber nicht unterkriegen, Tomek; auch den Bösen hat unser Herr Jesus besiegt, warum sollte nicht ein natürlicher Mensch unter Beihilfe der allerheiligsten Jungfrau mit der Not fertig werden?« versuchte sie ihn zu trösten; sie wandte sich darauf dem Schanktisch zu, kaufte zwei Reihen Semmeln und ein Quart Hirsegrütze und kehrte damit wieder zu ihm zurück.
»Hier, Tomek, nimm die Grütze und die Semmeln, das ist für die Kinder, ich bin nur eine arme Waise, geben würd' ich dir schon gern was, wenn ich es bloss hätte. Hat einer etwas, dann kann er kaufen, was er will, ich aber bin nur eine arme Kätnerin. Doch ich will dir einen Rat geben, Tomek ...«
»Gebt mir einen Rat, Mutter, dann werden Euch der Herr Jesus und die Allerheiligste für mich Armen belohnen.«
»Geh du morgen zum Aufseher, Tomek, und verneig' dich schön tief vor ihm, vielleicht erbarmt er sich deiner; er hat doch selber Kinder, denn dass du Hungers sterben solltest, macht nichts – aber solche armen Würmer, die sich nicht recht was überlegen können, die halten es nicht aus und das wäre doch die reine Sünde, wenn die Kinder vor Hunger jammern müssten.«
»Nein, Mutter, ich geh' da nicht wieder hin,« murmelte Tomek mit düsterer Verbissenheit. »Lass mich verrecken, wenn man Hungers sterben soll, dann sterb' ich, aber den bitten, das tu' ich nicht. Habe ich doch schon diesem Höllenvieh zu Füssen gelegen und habe wie ein Hund um Arbeit gewinselt und wie ein Hund gebettelt, dass er sich der Kinder erbarmen sollte, – da hat er mich zur Antwort mit dem Fuss von sich gestossen und mich zur Tür hinausschmeissen lassen! ... Nein, ich geh' nicht zu ihm hin, denn ich hab' Angst vor der Sünde, Angst hab' ich – wenn ich den bloss zu sehen bekomme, dann packt mich so ein Zittern, dass ich ihm an die Gurgel springen könnte und den Kerl wie ein böses Tier zu Tode schlagen!«
Er murmelte dieses mit einer scheuen und von Hass erstickten Stimme und ballte immer wütender die Fäuste, darauf griff er sich an die Brust und sprach weiter:
»Es tut mir schon ordentlich in der Brust weh davon, aber ich hab' schon so viel ausgestanden, dass ich nicht weiss, ob ich noch mehr aushalten kann.«
»Halt ihn in dir, diesen Wolf, Baran, halt ihn fest, ein Unglück ist leicht geschehen.«
»Ich will morgen in den Wald gehen, Holz hacken.«
»Muss der Magen entbehren, kann das Hemd nicht lehren.«
»Für ein Viertel Klafter zahlt diese Hundeseele von Judenmensch nur einen Silberling und zehn Groschen, und dafür muss man zwei gute Tage die Rippen ordentlich um und um racken.«
»Geh du jetzt gleich zum Pfarrer, Tomek, und bitte ihn – er ist doch mit den Herren Beamten gut bekannt, da könnt' er für dich ein Wort einlegen, damit sie dir eine Arbeit am Bahndamm geben.«
»Hale, der Pfarrer kennt doch den Vorsteher, er fährt immer zu ihm hin ...«
»Dummer, der Priester hält noch am meisten auf Gerechtigkeit und auf das arme Volk. Der kann dir was raten, und helfen kann er dir auch.«
»Ich habe nichts in die Hand zu nehmen und so ganz bloss, ohne etwas, da wag' ich mich nicht hin.«
»Dumm bist du, die Kinder kannst du ihm, versteht sich, nicht zum Geschenk bringen, und was anderes hast du nicht!«
»Das ist schon wahr, aber ... immer doch ... Hochwürden nichts hinzutragen ...«
»Dumm bist du; geh gleich hin, falle Hochwürden zu Füssen und sag' ihm alles – schlag dich immerzu auf die Brust, weine und rede nur von den Kindern – du wirst schon sehen, dass der Pfarrer gleich weich wird.«
»Te! dann will ich auch hingehen,« murmelte er schnell, schon ganz überzeugt, und stand von der Lade auf, zupfte seinen Schafspelz zurecht, setzte seine Schafspelzmütze auf und versuchte sich durch die Giebelstube und dann durch das Gedränge der Tanzenden hindurchzuzwängen.
Die Alte folgte ihm nach, und als sie vor der Schenke waren, sagte sie ihm:
»Sei nicht bockig, Tomek, bei Hochwürden, bitt ihn hübsch artig um seinen Beistand; ein Bauer ohne Land ist wie ein Vögelchen im Wasser, das seine Flügel flach ausgebreitet hat und laut um Hilfe schreien muss, sonst müsst' es ertrinken.«
Er entgegnete nichts mehr, denn eine solche Kälte wehte ihn draussen an, dass er ausser Atem kam, die Schafspelzmütze noch tiefer über die Augen drückte und von der Schenke geradeswegs über die Felder auf den ausgetretenen Fusspfad zu davoneilte.
... Wollen trinken! dideldei – wollen essen! dideldei – wollen immer fröhlich sein! ... sangen die Geigen hinter ihm drein.
»So Gott will, so Gott will, so Gott will! ...« knurrten die Bassgeigen gedämpft und hüpften lustig hinterdrein, aber Tomek hörte nicht auf all diese Stimmen, die unter dem Strohdach der Schenke hervordrängten und in der Frostluft wie ein kristallener Regenschauer zerstoben, sondern schritt rüstig aus.
Auf den Feldern war es hell vor lauter Schnee und Mondenschein, wie am lichten Tage.
Gewaltige weisse Wolken ruhten im Raume, der sich über der Erde in der Majestät der Stille und der Unendlichkeit wie silberfahle Vorhänge dehnte. Die leicht gewellte Ebene, auf der sich die nackten Baumgerippe und Steinhaufen schwarz abzeichneten, flutete wie ein Meer und blendete die Augen durch die glitzernde Weisse. Ein solches Schweigen lag über den Feldern, dass Tomek noch lange die Stimmen, die aus der Schenke kamen, hören konnte. Zuweilen blickte er sich um, auf das für sich stehende, erleuchtete Haus, und liess zugleich seine Blicke über die goldenen Lichtpunkte des Dorfes schweifen, aber sofort beschleunigte er wieder seine Schritte und eilte weiter, ohne auf den Frost zu achten, der ihn wie mit Nadeln in die Backen stach und ihm den Atem benahm.
Die bereiften Kreuze am Wege warfen lange bläuliche Schatten auf den Schnee; er nahm vor ihnen die Mütze ab, bekreuzigte sich fromm und seufzte tief auf – manchmal schlug er mit seinen frosterstarrten Händen gegen die Arme, blieb stehen, zog den Gurt fester an und ging dann wieder weiter.
Ab und zu flog eine Schar Rebhühner auf mit einem leisen, aber dennoch scharf klingenden Warnruf, kreiste eine Weile und versank in den weissen, silbrigen Glast, der über der Schneeweite hing – dann wieder rannte ein Hase über die Felder, hielt jäh an, horchte auf, machte Männchen und floh entsetzt davon; eine unförmige graue Wolke glitt über den Himmelsraum dahin und warf einen blauen Schatten auf die weisse Schneefläche, dann wieder flog die trockene Stimme des Frostes über die Erde hin und zu flimmernden Myriaden von Zuckungen zersplitternd, funkelte sie in glitzernden Sternkristallen auf und trübte die göttliche Ruhe der Mitternacht, oder ein dumpfes Murren, das einem Ächzen ähnlich klang, kam von der fernen Waldwand herübergegeistert, und wieder gewannen die grosse Stille, die Totenstarrheit und eine süsse Schlaftrunkenheit neue Gewalt über die frostgebundene Erde.
Tomek achtete auf nichts mehr, denn er war damit beschäftigt, sich in Gedanken zurechtzulegen, wie er zum Pfarrer kommen, ihm zu Füssen fallen und sagen würde: Hochwürden! ... Und dann würde er losheulen und diesem lieben geistlichen Vater alle seine Sorgen und all sein Elend beichten. Eine so grosse Rührung überkam ihn bei dem blossen Gedanken daran, dass Tränen in seinen Augen aufblitzten, über seine Wangen zu kollern begannen und in seinem Schnurrbart wie kleine Eisperlchen hängen blieben. Daraufwandten sich seine Gedanken wieder dem eigenen Heim und seinen Kindern zu.
»Die Maryscha geb' ich in Dienst, die Josefa auch – die Mädel werden es besser haben und mir wird es auch leichter sein,« aber es gab ihm plötzlich einen Stich mitten ins Herz bei dem Gedanken an die Trennung von den Kindern. »Sie schlafen, die armen Würmer, sie schlafen,« dachte er und tastete vorsichtig nach seinen Semmeln und dem Säcklein Grütze, die er unter dem Rock geborgen hatte. »Der Herr Jesus hilft uns schon bis zum Lenz auszuhalten, dann gibt es leichter Arbeit und die Mädchen können auch noch was dazuverdienen,« sann er weiter ... »Was der liebe Jesusherr einem mit Höllenfrost zusetzt,« murmelte er und begann sich das Gesicht mit Schnee abzureiben. »Er lässt sich was aus, der Herr Jesus, er lässt sich ...« und er blieb wieder stehen und horchte in die Nacht hinein. Von den Scheunen des Herrenhofes, deren graue Wände sich in der Ferne undeutlich abzeichneten, kam starkes Hundegegeifer. Er verlangsamte abermals seine Schritte und spähte immer angespannter und besorgter umher, denn diese Hundestimmen, ihr Gekläff und Gewinsel wurden immer deutlicher vernehmbar und schienen ihm immer drohender zu klingen. Zuletzt gewahrte er einen Haufen Hunde, die ganz wütend etwas untereinander zerrissen.
In dem Vorwerk verreckten um jene Zeit die Schafe haufenweise an der Drehkrankheit, die Knechte schleppten sie, nachdem sie den Kadavern die Haut abgezogen hatten, aufs Feld und vergruben sie im Schnee. Von allen Seiten kamen die Hunde jetzt zu diesem Festschmaus herangeschlichen und taten sich bei Tag und bei Nacht an dem Überflusse gütlich, sie bissen sich dabei wütend um die Beute.
Tomek umging die Stätte im weiten Bogen und wandte sich querfeldein dem Dorfe zu, das an den Abhängen einer Anhöhe zerstreut lag, deren Scheitel von einer Holzkirche und einer Schar mächtiger Linden gekrönt wurde, welche sich wie ein Haufen ehrwürdiger Greise rings um sie herumgesetzt hatten und mit ihren gewaltig ausladenden Leibern das Kirchlein vor Winden und allem Ungemach beschützten, leise miteinander in stillen Mondnächten plaudernd.
Der Pfarrhof lag etwas tiefer, inmitten eines Gartens, der den Abhang eines an die Dorfanhöhe stossenden Hügels bedeckte. Tomek blieb vor der Hauslaube stehen, die so gross war wie manch ein ganzes Bauernhäuschen, nahm die Schafspelzmütze ab und trat von einem Fuss auf den anderen, denn der Mut hatte ihn ganz verlassen; er sah in die erleuchteten, mit grünen Rollvorhängen verhangenen Fenster, kratzte sich über den Schädel, spie aus und bekreuzigte sich des öfteren, um sich Mut zu machen, aber einzutreten wagte er nicht.
Die Kirche stand so nahe, sah so geheimnisvoll schwarz aus und ihre Fenster gleissten so seltsam im Mondlicht, die Linden hatten heute ein so drohendes Aussehen und die Kreuze der uralten Gräber auf dem Kirchhof waren so riesig gross und zeichneten sich so scharf vom Hintergrund der Schneelandschaft ab, dass Tomek eine abergläubische Furcht gepackt hatte. Er fing an zu beben, stand aber immer noch wie festgewachsen an derselben Stelle.
Manchmal schob sich eine düstere Wolke zwischen Mond und Erde und warf einen durchsichtigen Fächerschatten auf den Schnee, dann wieder knackte etwas seltsam geheimnisvoll in den Büschen des Gartens; ab und zu barsten die Dachschindeln mit lautem Knall oder die Latten im Zaun, in die sich der Frost einbiss; Krähen flatterten auf und liessen ihr schrilles Krächzen von der Landstrasse her vernehmen, wo sie sich schweren Fluges auf hier und da aufgeworfene Dreckhaufen niederzulassen versuchten. Von irgendwo, aus einem Stall, wieherte ein Pferd auf, Schafblöken liess sich vernehmen und von den Schweineställen des Pfarrhofs drang das Aufquieken der am Trog sich drängenden Schweine herüber, bis die Stille sich wieder über alles ausbreitete und alles begrub.
Tomek stand noch immer da und starrte geistesabwesend auf die weissen Dünste, die sich von den Mooren erhoben, und auf die vereinzelt blitzenden Lichter des Dorfes. Es kamen ihm seine Kinder in den Sinn ... »Die armen Lieben ...« murmelte er, überwand seine Schüchternheit und trat, ohne länger zu zögern, in die Pfarrkanzlei ein.
Der Pfarrer erhob sich bei dem Geräusch der geöffneten Tür und versuchte schnell seine Brille aufzusetzen. Tomek warf seine Pelzmütze von sich und schlug, so lang er war, zu Füssen des Priesters hin.
»Vater! Geliebter Vater! Hochwürden!« murmelte er durch Tränen und umfasste seine Knie.
»Was ist das? Wer ist das? Was bist du für einer? Was willst du?« warf der Pfarrer erschrocken hin, durch die Leidenschaftlichkeit Tomeks beängstigt.
»Um Erbarmen zu flehen bin ich zu Hochwürden gekommen.«
Der Priester hatte endlich seine Brille aufgesetzt, sah sich den Knienden an und sagte schon mit ruhigerer Stimme:
»Ah! Tomek Baran! Steh auf, mein Kind, steh auf!«
Er setzte sich, wischte mit dem buntbewürfelten Taschentuch seine Brille ab und warf es sodann wie unabsichtlich über einige Häuflein Kupfermünzen, die in regelmässigen Abständen auf dem Tisch lagen.
Tomek erhob sich und trocknete mit dem Ärmel seine tränennassen Augen.
»Was hast du mir zu sagen? hast du eine Angelegenheit, ist dir vielleicht jemand Nahes gestorben?«
»Schlimmer noch, geliebter Vater, denn alle sterben wir so bei kleinem Hungers,« entgegnete er und begann ziemlich ruhig von seiner Entlassung, von dem Mangel an Verdienst und der Not, die ihn und seine Kinder frass, zu erzählen; er hatte Tränen in den Augen und eine stille, grenzenlose Verzweiflung sprach aus seiner Stimme, während er voll Vertrauen mit dem Priester redete, so dass dieser ihm wenigstens zum Teil wohl Glauben schenken musste, denn über sein wie in Güte erstarrtes, blasses Gesicht, das einer Maske aus gebleichtem Wachs glich, huschte ein Schatten von Traurigkeit und Mitleid.
Tomek verstummte, der Priester schnupfte aus seiner silbernen Tabakdose und schwieg eine lange Weile. Er hatte ein sehr mitleidiges Herz, war aber schon so viele Male durch lügnerische Tränenergüsse und geheuchelte Offenherzigkeit getäuscht worden, dass er jetzt fürchtete, seinem Gefühl nachzugeben, darum legte er sein Gesicht in strenge Falten, warf seine Lippen drohend auf und suchte, so gut es ging, die Rührung, die von ihm Besitz ergriffen hatte, zu verbergen.
»Das sechste Gebot lautet: du sollst nicht stehlen!« sagte er mit einer harten Stimme. »Muss man euch das in einem fort von der Kanzel predigen, ihr Lumpen, he! Der liebe Gott straft euch, weil ihr nicht auf seine heiligen Gebote achtet!«
»Ich habe nicht gestohlen, geistlicher Vater, wie auf der heiligen Beichte sag' ich es: ich habe nichts genommen, nur aus Bosheit, dass ich keine Festgaben und keine Geschenke hab' geben können, haben sie sich zusammen verabredet und mich dann davongejagt.«
»Denk' an das achte Gebot: du sollst nicht falsches Zeugnis gegen deinen Nächsten ablegen! Betest du keine Gebete, Baran? Weisst du das nicht, he?«
»Ich habe die Wahrheit gesagt, geistlicher Vater, die reinste Wahrheit, der Aufseher hat immerzu auf mich eingeschimpft, ob er einen Grund dazu hatte oder ob er keinen hatte, weil ich ihm nichts habe schenken können; für diese neun Papierrubel, die sie mir den Monat zahlten, könnt' ich doch uns selber kaum durchbringen.«
»Die Zehnten und die Pflichten richtig abgeben, heisst es! Soll ich dich in einem fort daran erinnern, was der Herr Jesus und die heilige katholische Kirche lehrt, he!«
»Liebster Vater! Ein Christ bin ich, zur Beichte gehe ich, Messen lasse ich lesen, aber ich bin gekommen, mir Erbarmen zu erflehen, denn die Kinder sterben mir Hungers und mir selbst wird es schon im Kopf ganz verkehrt davon; schlafen kann ich nicht vor lauter Sorge und weiss mir keinen Rat mehr. Ich hab' mich bei den Juden und bei den Leuten ganz verschuldet, habe die letzten Lumpen verkauft, habe das Schwein verkauft, das ich noch als Letztes hatte, und jetzt bin ich ganz blank geworden, nur die Knochenfrau hat noch bei mir was zu holen! Mein Gott! Mein Gott!«, stöhnte er schwer auf, »länger halt' ich es nicht mehr aus; wenn mir der gute Vater nicht zu helfen wissen, dann wird es wohl schon nur noch ans Sterben gehen müssen.«
Tomek fiel dem Priester wieder zu Füssen und heulte unaufhaltsam, er bebte am ganzen Leibe und schluchzte so kläglich, dass der Pfarrer sich etwas wegwenden musste, um sich heimlich einige Tränen wegzuwischen, und sehr leise, mit bebenden Lippen zu reden begann:
»Mein Kind ... Unser Herr Jesus Christus hat für uns unwürdige Menschen gelitten, für uns, seine undankbaren Kinder, hat er sich kreuzigen und von dem niedrigen Pöbel verhöhnen lassen und hat kein Wort gesagt, obgleich sie ihm mit scharfen Nägeln die Hände und die Füsse durchbohrt haben, obgleich ihm das Blut über die Augen herunterfloss und ihn seine Wunden schmerzten; er klagte nicht, sondern sagte nur: Herr! Dein Wille geschehe! Mein Bruder ... Tomek Baran ...« er unterbrach seine Rede, denn Tränen der Rührung verschleierten ihm die Augen, er wischte sie eilig ab und murmelte nur noch: »Arm bist du, Baran, arm bist du ... arme Waise ... Armer ...«
Ein schweres Schweigen breitete sich aus, erfüllt von krampfhaften Zuckungen, unterdrückten Schluchzern und den Klagen Tomeks.
»Übermorgen werde ich für dich eine Messe lesen und Gott um eine gute Wendung bitten, vielleicht fügt er alles noch zu deinem Besten! Denn Gott ist grenzenlos in seiner Güte, vertraue nur auf ihn, bete und glaube,« redete der Pfarrer mit eindringlichem Ernst.
»Im Haus ist nicht ein Krümchen Brot mehr, die Kinder jammern in einem fort,« murmelte Tomek.
»Dagegen kann ich nichts tun. Komme zur Messe, beichte deine Sünden, dann wird es dir leichter fallen, das Kreuz weiter zu tragen, das dem Herrn gefiel, dir aufzuerlegen.«
Tomek blickte auf den Priester mit verblüfften Augen, ganz ratlos war er, was er darauf erwidern sollte, er bemerkte jetzt die Häuflein Kupfermünzen auf dem Tisch und fühlte einen Augenblick einen dunklen Drang, nach diesem Geld zu greifen und damit zu entfliehen, aber dieses ging sehr schnell vorüber, er rieb sich nur die Augen mit der Faust, seufzte tief und sagte:
»Vielleicht könnten der geistliche Vater für mich ein Wort bei den Herren Beamten oder auch auf dem Gutshof einlegen, es ist mir einerlei, was sie auch zahlen würden, wenn ich nur Arbeit hätte, aber sie haben sich alle gegen mich verabredet und werden mir nirgends Arbeit geben. Ich möchte doch so gern arbeiten, ... so gern ...«
»Du bist trotzig gewesen. Wer Wind sät, erntet Sturm, ein demütiges Kalb wird von zweien Müttern gesäugt. Vergiss das nicht. Ich werde wegen dir reden, weil du arm bist; was mich anbetrifft, würde ich dir gleich helfen, aber du weisst ja, dass es bei mir immer knapp ist ... Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst! ... Ich habe nichts ... Du weisst, den Rappen hat mir dieser Nichtsnutz Antek, möge er nicht in seiner Sterbestunde Gott schauen, so rehe gemacht, dass mir das arme Tier eingegangen ist. Ich habe mir etwas abgespart, um ein Pferdchen zu kaufen, aber der Laurenz ist dazwischen gekommen, du weisst, er ist abgebrannt, und dem Klemb ist die Kuh verreckt – und, Gott sei mir gnädig, nun hab' ich wieder keinen Heller mehr ... Was sollt' ich dir nur geben können, mein Kind ... hast du Hunger?«
»Versteht sich, aber das macht nichts, nur dass die Kinder schon den zweiten Tag nichts zu essen gehabt haben.«
»Mein Gott ...« murmelte er und wandte sich nach dem Wandschrank, holte einen kaum angebrochenen Brotlaib heraus und wollte ihn schon ganz Tomek hergeben, als er jedoch seine gierig auf das Geld gerichteten Augen bemerkte, hielt er noch zur rechten Zeit inne, schnitt nur ein beträchtliches Stück ab und reichte es Tomek.
Tomek dankte ihm herzlich und schickte sich zum Gehen an.
»Warte noch, ich will dir auch etwas Geld geben, viel kann ich nicht, denn es ist nicht meines.« Er nahm eine Handvoll Kupfermünzen vom Tisch. »Das ist nämlich, siehst du, das Geld für den Heiligen Vater!«
»Für den Heiligen Vater!« murmelte der Bauer mit frommer Ehrfurcht, und bekreuzte sich rasch.
»So ist es! Gute, barmherzige Christenmenschen opfern das Geld, damit der Heilige Vater was zu leben hat ... Man hat ihm alles genommen, was er besass, und so ist er ganz bettelarm geblieben. Ja! Der Nachfolger des heiligen Petrus! So ist es. Er, der die Macht hat, auf Erden zu lösen und zu binden, er ist auch arm, muss auch Mangel leiden, mein Kind,« er tat fast unbewusst die Hälfte der aufgenommenen Kupfermünzen in die andere Hand, »aber die treue Herde lässt ihren Hirten nicht umkommen,« er tat noch einige Münzen beiseite, »jeder bringt seinen Notgroschen mit Kindesliebe, denn was du dem Bedürftigen gibst, das ist so, als ob du es Gott selbst gegeben hättest!« Abermals schaffte er von dem in seiner Hand übriggebliebenen Geld einige Kupfermünzen beiseite. »Hier hast du, mein Kind, mehr habe ich nicht, gehe mit Gott! Ich werd' schon für dich ein Wort einlegen, wo es nötig sein wird. Arm bist du, mein Tomek, aber Gottes Erbarmen und Macht können alles bewirken ...« Er küsste ihn aufs Haupt und machte das Zeichen des Kreuzes über ihm, wobei er halblaut ein Gebet murmelte.
Tomek verliess das Pfarrhaus in innerster Seele gestärkt und aufs tiefste gerührt.
»Dass dich Gott gesund erhält, du bist ein guter Herr!« redete er vor sich hin und wandte sich sogleich vom Pfarrhof, ohne auf Weg und Steg zu achten, in der Richtung seiner Hütte.
»Mein Gott! auch der Heilige Vater sind arm. Alles haben sie ihm weggenommen! O diese Deutschen, diese Hundeäser, diese Ketzer!« sann er bitter und ballte drohend die Fäuste beim Gedanken an das traurige Los des Statthalters Christi.
Es war ihm nun viel leichter zumute, als hätte er nach all der Sorge und Qual neue Zuversicht geschöpft. Die frommen und mitfühlenden Worte des Priesters erfüllten sein einfältiges, gutes Herz mit Rührung – ein warmer Hoffnungsstrahl war in sein Inneres gedrungen.
»Arm bist du, Baran, eine arme Waise bist du, Tomek! ...« wiederholte er sich die Worte des Priesters, und war durch die blosse Erinnerung an den Klang der sanften Stimme des Pfarrers so bewegt, dass ihm Tränen der Rührung über die Backen flossen. Ohne es selbst zu wissen, verbeugte er sich im Gehen, als wollte er jemandes Knie umfassen.
Der immer fester zupackende Frost brachte ihn wieder ganz zur Besinnung, so dass er fast den Priester und das erhaltene Essen vergessen hatte und mit immer sehnsüchtigeren Augen nach seiner Hütte ausschaute, die wie ein blasser, grauer Schatten am Walde sichtbar wurde. Sein Herz klopfte unruhevoll, in der Sorge um die Kinder. Die Hütte, die man einst für einen Ziegelmacher und -brenner erbaut hatte, war jetzt schon ganz baufällig geworden. Das flache Lattendach war eingebrochen und hing schief über der Balkendecke, die Wände waren altersgekrümmt und wurden nur noch durch die Stützen gehalten, die man in den Boden gerammt und von einer Seite mit Erde und Kiefernnadeln beworfen hatte.
Ringsum war eine solche Einöde, dass einem die Angst wie ein eisiger Hauch durch die Glieder fuhr; der düstere Tannenwald reckte sich unmittelbar hinter dem Hause als eine drohende, dumpfe Wand auf, aus deren Schattenbereich es rauschte, flüsterte und mit tausend wunderlichen Stimmen oft so unheimlich heulte, dass die Leute diesen Ort, wenn irgend möglich, schon von weitem scheu mieden. Während besonders strenger Frostnächte und zur Zeit der Schneeschmelze im März sah man die Wölfe haufenweise aus diesem Tannenforst herauskommen und sich, Atzung suchend, nach den Dörfern wenden. Es war eine wilde und menschenleere Gegend, Tomek hatte die Hütte vom Gutshof gemietet, weil sie dicht am Bahndamm lag, wenig Miete kostete und weil die Kinder im Sommer hier die Kühe hüten konnten. Er hatte sich an diese Einöde gewöhnt und den Verkehr mit den Menschen und dem Dorf ganz aufgegeben, wodurch er etwas verwildert war, aber er fühlte sich hier wohl, im Kreise seiner Lieben.
Als er endlich laufend das Haus erreicht hatte, versuchte er sofort durch das vereiste Fenster in die Stube hineinzusehen, sie war ganz dunkel. Leise trat er ein und zündete ein Lämpchen an. Die Kinder schliefen, aneinandergeschmiegt, tief im Stroh vergraben und mit allerhand Lumpen sorgfältig zugedeckt, in dem einzigen vorhandenen Bett. Im Haus war es kälter noch als unter freiem Himmel; die dumpfe, von einem faulen Geruch durchdrungene Feuchte benahm ihnen den Atem. Die Wände, von denen der Kalk abblätterte, waren mit einer dichten Frostschicht bedeckt, so dass sie wie versilbert gleissten. Der festgestampfte Lehmboden, der den Holzfussboden ersetzte, hatte durch die Kälte eine solche Härte angenommen, dass er unter seinen Füssen dumpf dröhnte. Tomek beugte sich besorgt über das Bett, um nach den Atemzügen der Schlafenden zu lauschen, denn es hatte ihn eine plötzliche Angst befallen, sie könnten inzwischen erfroren sein.
»Es schläft sich, das liebe Zeug schläft sich ruhig,« murmelte er freudig.
Von der Diele holte er emsig Holzspäne herbei und fachte im eisernen Kanonenofen ein Feuer an, dann schlug er mit der Axt etwas Eis in einem Eimer klein und legte die Stücke in einen Topf, den er sogleich ans Feuer stellte. Die Hälfte des mitgebrachten Brotes schnitt er in eine Schüssel hinein, bestreute es mit Salz und wartete, dass das Wasser ins Kochen käme. Er bewegte sich fast geräuschlos in der Stube und trat immer wieder ans Bett heran, um einen Blick auf die Kinder zu werfen ... Aus seinen blauen, wie verblassten Augen leuchtete dabei eine so tiefe Kinderliebe auf, wie sie nur im bäuerlichen Leben und nirgendwo sonst in der Welt gedeihen mag.
»Arme Würmer, gleich sollt ihr was zu essen haben, gleich,« murmelte er erfreut und legte immer neues Holz aufs Feuer, und als das Wasser zu brodeln anfing, ging er gleich wieder ans Bett heran.
»Marysch! Juswa! Wacht auf, Kinder!« rief er und schüttelte sie. »Aufstehen, Abendbrot ist da!«
Die Kinder wurden gleich wach. Es waren fünf an der Zahl, vier Mädchen und ein Junge; dieser mochte wohl der jüngste und im Alter von sechs Jahren sein. Diesen nahm Tomek auf den Arm, hüllte ihn in den Schoss seines Schafspelzes ein und setzte sich ans Feuer, – der verschlafene Junge weinte und liess sich nicht beruhigen.
»Still, Söhnchen, still! Hier ist ein gutes Brötchen, das der geistliche Vater für euch gegeben hat, da, mein Söhnchen, iss!«
Der Junge rieb Nase und Augen und kaute gierig am Brot.
»Na, kommt doch her, Mädchen, es gibt gleich Wassersuppe.«
Er goss das kochende Wasser über die Brotbrocken.
Sie krochen vom Bett herunter, hockten rund um die Schüssel und machten sich mit wahrem Heisshunger daran, die Suppe zu essen.
Die bläulichen, ausgehungerten Kindergesichter hatten im Ton der Hautfarbe etwas von den kahlen, reifüberzogenen Stubenwänden, sie ergänzten sie gewissermassen. Ein langes Elend, so ein richtiges Bauernelend, das ganz allmählich bis an die Gurgel hochkriecht und langsam abwürgt, hatte diesen Gesichtern einen besonderen Ausdruck verliehen, ihnen jede kindliche Rundung genommen, bis nur Haut und Knochen blieben, stechende, stumpfe Blicke und herabhängende, zuckende Münder voll willenloser Müdigkeit. Tomek umfasste die Kinder mit einem väterlich sorgenden Blick und langte selbst nur selten nach dem Essen in der Schüssel, um ihnen möglichst viel zukommen zu lassen, nur dem Jungen schob er ab und zu einen Extrabissen in den Mund.
»Iss, Söhnchen, iss. – Habt ihr sehr viel Hunger gehabt?«
»Versteht sich,« entgegnete Maryscha. »Um Mittag bin ich ins Dorf gegangen, die Muhme Adamowa hat mir Kartoffeln gegeben, die habe ich gekocht, dann haben wir sie gegessen – und jetzt bei Dunkelwerden haben der Jusek und die Anka geweint und gesagt, dass es sie in der Bauchgrube schmerzt – sie hatten wohl Hunger, ich habe sie schlafen gelegt, mehr ist nichts gewesen.«
»Esst, Kinder, – dieses Brot hat euch Mutter Jagustynka gegeben und dieses der geistliche Vater.
»Marysch, nimm mal dies – das ist Hirse, die kannst du ihnen morgen kochen. Der liebe Gott ist barmherzig, er wird uns helfen, und findet sich eine Arbeit, dann wird man sich vielleicht einen Sack Kartoffeln oder ein Mass Grütze kaufen können, um erst einmal bis zum Lenz durchzuhalten.«
»Dann kaufen wir uns eine Kuh, nicht wahr, Vaterle?« fragte Jusek.
Das Feuer brannte hell und von dem rotglühenden Ofen her breitete sich eine ganz angenehme Wärme in der Stube aus, so dass selbst irgendwo an der Ofenbank ein Heimchen laut zu zirpen begann; die Mädchen duckten sich in einem Häuflein zusammen zu Füssen des Vaters und starrten auf ihn wie auf ein Heiligenbild. Nur Maryscha sass etwas abseits auf der Bank und stocherte ab und zu mit einem Stöckchen in der Glut.
»Kauft Ihr eine Kuh zum Frühjahr, was Vaterle?«
»Jawohl, ich kauf eine, mein Söhnchen. Du sollst sie mit Jaguscha gemeinsam hüten.«
»Sie hat mich doch aber heute verprügelt, Vaterle!«
»Hab' keine Angst, wenn' ich sie verprügele, dann wird sie es gleich aufgeben, dich zu schlagen.«
»Eine bunte werdet Ihr kaufen, Vaterle?«
»Eine bunte oder auch eine graue, mein Söhnchen.«
»Und wird uns die Maryscha denn die Milch zu trinken geben, Vaterle?«
»Ja, das wird sie, mein kleiner Wurm!«
»Wann denn, Vaterle?«
»Zum Frühjahr, wenn erst der Herr Jesus Wärme macht.«
»Und warum ist es jetzt kalt und kein Frühjahr, Vaterle?«
»Dem Herrn Jesus zur Freude und den sündigen Menschen zur Besinnung.«
»Sind wir denn sündig, Vaterle? Die Juswa und die Marysch, die Jaguscha, die Anka und ich, Vaterle?«
»Alle sind sündig, mein Söhnchen.«
»Und warum sind wir sündig, Vaterle?«
»Mein Gott, so ein kleiner Wurm und überlegt sich schon was.«
»Da sind dann alle Bauern sündig, Vaterle?«
»Die Bauern und die Herren, mein Söhnchen, alle sind sündig.«
»Und kauft Ihr auch ein Schäflein, Vaterle?« fragte das Kind abermals nach einem längeren Schweigen, indem es mit Mühe versuchte, die zufallenden Augenlider zu heben.
»Ich kauf es dir, mein Söhnchen, ich kauf es. Marysch wird die Wolle spinnen und macht dir ein Paar Höschen daraus.« »Und eine Jacke! mit Knöpfen? wie dem Wawschon sein Franek eine hat, nicht, Vaterle? Und der Juswa einen Rock und der Anka auch einen Rock, nicht, Vaterle?«
»Dir eine Jacke und der Juswa einen Rock und allen Kleider, – wenn uns nur die allerheiligste Mutter Gottes hilft, dann werdet ihr alles haben, meine lieben Würmer.«
Er trug den Jusek ins Bett und deckte ihn sorgsam zu.
»Geht, Kinder, geht schlafen, dann ist die Nacht schneller zu Ende.«
Die Mädchen fingen an, laut zu beten, er brachte ein Bund Stroh aus dem Flur herein, breitete es zwischen dem Bett und dem Ofen aus, löschte das Lämpchen, wickelte sich in seinen Schafspelz und legte sich ebenfalls zum Schlafen nieder.
Es wurde still in der Stube, die gleichmässigen Atemzüge der schlafenden Kinder und ein leises Aufschluchzen unterbrachen nur in gleichmässigen Abständen die Stille.
»Marysch!« fragte der Vater nach einer Weile, als er plötzlich das Weinen vernahm, »was fehlt dir denn, mein Kind?«
»Nichts, Vaterle, es ist mich nur so angekommen, dass wir so arm sind, und wir haben doch keinem etwas Schlechtes getan!«
»Sei still, Kind, weine nicht. Der geistliche Vater hat uns versprochen zu helfen und hat so schön geredet, dass es wohl kommen wird, wie er sagt, und der Herr Jesus uns eine Besserung schickt; irgend eine Arbeit kriege ich vielleicht, dann wird auch die Not ein Ende haben. Fürcht' dich nicht, der liebe Gott hat keine Eile, aber gerecht ist er.«
Es wurde wieder still, das Weinen riss ab, nur das Heimchen zirpte ganz laut, durch die Wärme angeregt, und ab und zu knallten ein paar Kohlen im Ofen und zerstäubten zu einem in der Dunkelheit verglimmenden Purpurstaub – ein immer tieferes Dunkel und eine wachsende Schlaftrunkenheit begannen die Stube zu füllen.
»Schläfst du, Marysch?«
»Kann ich denn das! Das Schlafen ist ganz von mir weggeflogen und wenn ich nur die Augen zumache, dann scheint mir, dass Mutterle vor mir stehen, und dann wieder kommt immer eine feine Dame, die ganz wie eine Gutsfrau angezogen ist, sie winkt mir, und manchmal ist mir so, als wenn dieses Schweinchen, welches Ihr verkauft habt, hinter der Wand quiekt.«
»Bete ein Gebet, Tochter; das ist nur vom Hunger, wenn einem solche Träume kommen. Wir wollen morgen in den Wald gehen, vielleicht wird man morgen das Holz hauen können.«
»Hale! Die Muhme Adamowa hat gesagt, dass man nicht auf den Wegen und nicht auf der Waldschneise durchkommen kann, denn der Schnee liegt mannshoch. Und der Klemb haben erzählt, dass der Waldschreiber einen Zehner mehr zahlen will, wenn ihm die Leute das Holz nur hauen wollten.«
»Gehen denn welche aus dem Dorf?«
»Wie sollen da welche gehen, wenn so viel Schnee ist, dass ich kaum wieder herausgekrochen bin, als ich hin war, um Holz zu holen.«
Sie schwiegen abermals. Ein Eisenbahnzug kam vorübergerattert, dass die ganze Hütte erbebte und es in den Wänden bedrohlich zu knarren und zu rasseln anfing, worauf der schwache Widerhall der Bahnwärterhörner hörbar wurde.
Es trat wieder Stille ein, nur das dumpfe Rauschen des Waldes und das trockene Pfeifen des Windes drangen jetzt durch die kleinen Scheiben in die Stube. Tomek konnte nicht einschlafen, er warf sich von einer Seite auf die andere und grübelte schwer.
»Würdest du in den Dienst gehen, Kind?« fragte er leise und ängstlich.
»Wenn Vater befehlen, dann werd' ich hingehen – nur dass ich allein es besser haben werde, euch wird es nicht helfen.«
Tomek antwortete nicht mehr darauf, und bald hatte auch sie beide der Schlaf übermannt.
Am nächsten Tag schlug das Leben wieder denselben Gang des Elends ein, auf dass es sie mit immer festerem Kreis umspannte.
Gegen Mittag assen sie den Rest des Brotes vom vergangenen Tag und die Grütze dazu.
Tomek sah nur immerfort den Kindern in die Augen, streichelte ihre Köpfe und sagte nichts, denn die Verzweiflung wühlte in ihm. Er ging ums Haus herum wie ein Schlafwandelnder, hackte Holz, behaute irgendwelche Pflöcke, bereitete sich vor, irgendwohin aufzubrechen, und sah stumpf den unmittelbar an seinem Haus vorüberjagenden Zügen nach; zu den Stunden, in denen er sonst in den Dienst gemusst hatte, schickte er sich auch jetzt an, fortzugehen, wandte sich eilig dem Eisenbahndamm zu und kehrte noch schneller um, denn das bittere Bewusstsein kam über ihn, dass er nunmehr nirgends hinzugehen brauchte!
Die vielen Jahre im Joch des maschinenmässig ausgeführten Dienstes hatten in ihm eine tiefe Spur hinterlassen – eine verhängnisvolle Ratlosigkeit. Er verlor einfach die Geistesgegenwart und wusste nicht, wie er jetzt weiter leben sollte ohne seinen Dienst und ohne seinen Grundbesitz. Er hatte es niemals nötig gehabt, über irgend etwas auch nur nachzudenken, denn sechzehn Jahre hindurch hatte für ihn seine selige Frau gedacht und vorher die Menschen, bei denen er diente. Er war einer von dieser Art, denen man durchaus sagen muss: gehe dorthin, tue das, denke dieses; dann wäre er hingegangen und hätte es getan, aber jetzt fiel auf ihn die Mühe des Denkens zugleich mit der Not, und obgleich er in sich tobte, mit sich rang und in seiner Hilflosigkeit am liebsten aufgeheult hätte, konnte er ganz und gar nichts ausdenken. Die Not bleckte ihm die Zähne entgegen und biss seine Kinder, er aber sass, ganze Tage lang gedankenlos vor sich hinbrütend da, und wusste nicht, wie er all dieses abwenden sollte. Ins Dorf zu den Leuten ging er nicht, um sich Hilfe zu erbitten, denn es kam ihm einfach gar nicht in den Sinn, etwas Derartiges zu unternehmen. Sein ganzes Leben lang musste er um jede Krume Brot schwer arbeiten, musste sie sich mit eigenem Blut und Schweiss erringen, niemals war ihm etwas von selbst in den Schoss gefallen – so war es auch jetzt, und wenn er an irgend etwas dachte, dann war es immer nur das eine: zum nötigen Verdienst zu kommen. Es gab aber jetzt nirgends eine Möglichkeit, Geld zu verdienen – er sank müde von all dem Denken nieder.
Erst gestern war ihm in der Schenke der Gedanke aufgeblitzt, Holz im Walde zu zerkleinern, und die alte Jagustynka hatte ihm den Rat gegeben, sich um Hilfe an den Priester zu wenden.
Nach Mittag, als der Frost etwas nachgelassen hatte, nahm er die Maryscha mit und wandte sich dem Hau zu, wo ganze Mengen im Herbst gefällter Baumstämme lagen, die aber so hoch mit Schnee bedeckt waren, dass der ganze Hau wie eine einzige blendend weisse Ebene aussah.
»Marysch, kriegen wir es?« murmelte Baran und kratzte sich dabei besorgt den Schädel.
»Das ist ein Hund von Winter!« knurrte das Mädchen düster und stiess den Spaten in den Schnee.
Ohne mehr zu reden gingen sie daran, die Tannenstämme freizumachen.
Sie machten sich mit Fiebereifer an die Arbeit. Tomek schaffte für vier, und Maryscha grub unermüdlich mit einer verzweifelten Wut, ohne auf den Schweiss zu achten, der ihr über die Augen herabfloss, noch auf die Erschöpfung, die sie nur allzubald verspürte. Sie gingen auf die Schneemassen los wie auf einen verhassten Todfeind, wie auf die Verkörperung all ihrer bitteren Not, und hieben auf sie ein mit ihren Spaten in einem wilden, steinernen Bauerntrotz.
Der Schnee war hart gefroren und fast so fest wie Eis, sodass man ihn nur mit grosser Mühe mit dem Eisenspaten durchstechen konnte, die Arbeit ging deshalb sehr langsam vorwärts, und dieser Widerstand versetzte sie in verzweifelte Wut. Tomek warf seinen Schafspelz ab, so dass er nur in Hemd und Hose dastand und, ohne um sich zu sehen, in einem wahnsinnigen Eifer schaffte – sein dickes Leinwandhemd färbte sich auf dem Rücken dunkel von all dem Schweiss, auch die Schafspelzmütze hatte er abgetan, so dass sein Haar bei jeder Bewegung hin und her flog wie ein zerzauster Strohwisch.
»Schwein, Hundeaas!« knurrte er ab und zu hasserfüllt dazwischen; sein ermüdetes und drohende Verbissenheit atmendes Gesicht leuchtete über dem Schnee auf wie ein dunkelroter, blutiger Fleck. Maryscha musste sich hin und wieder niedersetzen, um Atem zu schöpfen und etwas auszuruhen, sie sprang dann aber gleich wieder auf und hieb mit ihrem Spaten voll neu erwachenden Trotzes auf die weisse Schneedecke ein.
Der durch die auf allen Zweigen lastenden Schneemassen wie weissverhüllte Wald stand wie eine ragende Mauer rings um sie herum da, in tiefen Winterschlaf versunken, still und friedlich. Manchmal nur zuckte ein Zweig unter der Schneelast, und eine Kaskade weissen Staubes rieselte zur Erde herab, Krähen zogen krächzend über den Waldeswipfeln vorüber, dann liess sich eine Schar Elstern auf die hochragenden Samenbäume nieder; sie schaukelten sich in den Zweigen, schlugen mit den Flügeln und kreischten, als wollten sie sich über Tomek lustig machen:
»Dummer, Baran, dummer, hä!« und sie schrien dermassen, dass es Tomek schien, die Vögel hielten ihn zum besten. – Er warf mit Schneeklumpen nach ihnen und jagte sie schliesslich fort. Wieder umhüllte sie eine die Augen blendende Stille voll Schnee und Sonnenglast, die nur durch das Knirschen ihrer Spaten, durch das schneidende Pfeifen der durch die Luft sausenden Schneeschollen und durch das schwere Keuchen der Grabenden unterbrochen wurde.
Die Stunden flossen langsam dahin, der Wald begann unmerklich trüber zu werden, sich in veilchenfarbene Purpurnebel des Sonnenunterganges zu hüllen; dann wurde er grau und sog allmählich die Dämmerung ein, die sich aus den kupferfarbenen Gluten der Abendröte am Himmel zu ergiessen begonnen hatte, bis dass er zuletzt langsam in die Untiefen der nahenden Nacht zu versinken anfing, mit dem Schnee und dem Raum in eine Masse ohne Ende verschmolz und in schlaftrunkene Starrheit sich hüllte.
Es war schon richtig dunkel geworden, als sie die Arbeit beendigt hatten. Drei gewaltige Tannen lagen vom Astwerk gesäubert da.
Totnek reckte sich auf, streckte seine Glieder und, mit dem Spaten gegen den Schnee stossend, sagte er rauh:
»Rumgekriegt haben wir die Äser!« Er zog sich schnell an. »Geh nach Hause, Marysch. Ich will gleich zum Juden, mein Geld für die Arbeit abholen, denn morgen werde ich wie nichts mit einem Viertelklafter Holz fertig. Gleich hole ich euch auch was zu essen. Geh, Tochter, und pack dich gut ein, denn du hast mächtig geschafft, und der Nachtfrost kommt. Er streichelte ihr liebkosend über die Backen und wandte sich der Waldtiefe zu.
Maryscha wickelte das Tuch fester um den Kopf, nahm die Spaten und ging langsam durch die Waldesdämmerung heimwärts. Sie fühlte sich weniger müde, als hungrig und schläfrig. Zuerst ging sie gedankenlos vor sich hin, dann aber fing der Wald an, ihr so drohend und düster zu scheinen, nahm ein so finsteres Aussehen an und liess aus seiner Tiefe solch ein ächzendes Stöhnen vernehmen, dass sie eine unerklärliche Angst packte. Es war ihr, als ob zahllose Baumstämme auf sie zukämen, um ihr von allen Seiten den Weg zu versperren, als ob rötliche Augen von überall her sie böse anfunkelten und dreieckige Wolfsschnauzen um sie herum im Dunkel vorbeihuschten; sie schloss fortwährend ihre Augenlider, aber die Angst wuchs nur immer stärker in ihrer Brust. Sie fing an immer schneller zu rennen, und um sich Mut zu machen sang sie schon halb bewusstlos vor Angst laut vor sich hin:
Mazuren, Mazuren! Kerle wie die Eichen.
Hühner könnt ihr hüten und nicht unseresgleichen!
Hu –ha!
und darauf:
Ich fürchte keine Wölfe und wären es selbst zwölfe.
Ich fürchte keinen Bock, und wären's selbst ein Schock!
Hu –ha!
Aber sie hatte doch eine grosse Angst, das arme Ding.
Tomek erhielt auf die Arbeit hin vom Waldschreiber für ganze acht Gulden Nahrungsmittel und einen Rubel in bar. Der Jude gab ihm alles gern, denn er kannte seine Ehrlichkeit, ausserdem hatte er auch das Holz dringend nötig der Bahnlieferungen wegen.
Am nächsten Tag liess Tomek die Maryscha sich am frühen Morgen festlich ankleiden, wickelte seinen Rubel in ein Tuch, und beide begaben sich nach der Kirche, aber der Pfarrer wollte von ihm nichts für die Messe annehmen und wurde so gerührt durch seine Bereitwilligkeit, dass er ihm noch einen Scheffel Kartoffeln und ein paar Mass Grütze hinzuschenkte.
Tomek hatte gebeichtet und lag während der ganzen Messe kreuz; er betete und flehte so inbrünstig, schluchzte so herzerweichend, bat so heiss um Gottes Erbarmen, ächzte so schwer in seinem Kummer und gab seinen Klagen und Bitten so innigen Ausdruck, dass die Leute voll Achtung auf den wie ein Gekreuzigter vor dem Altar mit ausgebreiteten Armen daliegenden Mann hinschauten.
»Jesus! Czenstochauer heilige Jungfrau ... erbarme dich des Sündigen ... Nach Czenstochau will ich zu Fuss pilgern ... den Rosenkranz jeden Tag beten ... eine Kirchenfahne werd' ich kaufen ... Kerzen für den Altar werd' ich kaufen ... erbarme dich nur des Sündigen ... Oh, süsse Jungfrau, ... oh, Königin ... dir weih' ich mich, dir Mutter mit all meinen Kindern ... lass es uns besser gehen ... Allerheiligste ... Für ganz wenig Lohn will ich arbeiten, wenn ich nur nicht betteln muss, wenn mir die Kinder nicht Hungers zu sterben brauchen ... Oh, Heiliger, ... oh, Heiliger! ...« stöhnte er und weinte unaufhaltsam in blutiger Pein und flehte demutsvoll um Erbarmen.
Die Orgel klang in einem gedämpften, feierlichen Lobgesang, der wie eine purpurne Welle von Klängen ihm zu Häupten zerstäubte und sein Herz in Ehrfurchtsschauern erbeben liess; die Stimme des Priesters hatte etwas wie ein regenbogenfarbenes Leuchten und durchdrang ihn mit einer solchen süssen Besänftigung, erfüllte ihn dermassen mit Rührung, dass seine Tränen immer reichlicher und immer leichter flossen. Die altersschwarzen Vergoldungen der Altäre, das Summen der Glocken, die tiefen Seufzer der Andächtigen ringsum, das Gemurmel der Gebete, die gütigen Blicke der Heiligen aus den Altarbildern, die regenbogenbunte Dämmerung, die durch die gemalten Fenster drang, die goldenen Zungen der Kerzen und immer wieder die balsamischen Klänge der Musik, die unaufhörlich vom Chor herab auf ihn zugeflutet kamen – alles dieses, zu einem geheimnisvollen Einklang verschmolzen, der namenlos beseligend war, bewirkte, dass Tomek sich noch ehrfürchtiger zu Füssen der göttlichen Allmacht niederwarf, war er doch erfüllt von einer tiefen Zuversicht und ganz durchdrungen von Trost und Glauben; so dass er gegen das Ende der Messe nicht mehr seiner Gedanken Herr zu werden vermochte und immerzu nur seufzte, den Fussboden küsste und Tränen auf Tränen vergoss.
Er verliess die Kirche, neu gestärkt in seinem zuversichtlichen Glauben und voll frischer Arbeitslust.
»Marysch!« sagte er mitten auf der Landstrasse, als sie schon heimkehrten, er blieb etwas stehen, denn das Mädchen ging hinter ihm. »Marysch! es scheint mir, dass uns der Herr Jesus eine Wendung zum Guten zuteil werden lässt, denn, wie der geistliche Vater gesagt haben: er sorgt für die Lilien und Vögelein und selbst für den kleinsten Wurm und das sollte der liebe Herr Jesus nicht auch für die Menschen ... was?«
»Es muss so sein, dass der Herr Jesus ein gleiches Stück auf alle hält,« entgegnete sie ernst.
Das Leben kam jetzt Tomek freundlicher vor, denn für einige Tage war Essen im Haus und der Frost hatte beträchtlich nachgelassen, zu Mittag kam selbst ein leichtes Tauwetter auf. Nach und nach bemächtigte sich aber wieder eine Unruhe seiner Seele, denn die Sonne fing an sich zu verstecken und ein Haufen grauer Schleierwolken begann sich am Himmelsrand zusammenzuziehen.
»Der Schnee wächst, aber das macht nichts, denn der Herr Jesus braucht nur darauf zu blasen, dann weht alles auseinander,« sagte er zu den Kindern und begab sich in den Wald, Holz zu hacken. Bis zum Abend war es ihm gelungen, ein Viertelklafter zurechtzuschlagen und fertig aufzuschichten, obgleich er sich dabei tödlich abgemüht hatte. Er ging froh zu Bett, denn die Kinder waren satt und er selbst fühlte sich wieder im alten Lebensgeleise – er arbeitete.
Am nächsten Morgen wachte er auf, sah hinaus nach dem Wetter und wurde sehr besorgt.
Es schneite in so dichten Flocken, dass man die Welt schon gar nicht mehr sehen konnte, dazu war ein pfeifender Wind aufgesprungen. Es schien ein Schneesturm im Anzug zu sein, man konnte nicht daran denken, im Wald Holz zu hauen.
Und als die Schneemassen endlos zu rieseln begannen, die Winde ihre wilden Tänze über den Feldern ausführten, Schneewirbel die ganze Welt verdunkelten, wurde es ihm selbst nicht mehr möglich, auch nur aus seinem Hause ins Freie zu gelangen.
Man konnte jetzt Tag und Nacht nicht auseinanderscheiden, eine eisige, düstere, graue, sturmentfesselte Raserei wälzte sich über die Felder durch den Raum dahin, brandete unermüdlich in gewaltigen Flutanstürmen gegen Barans armselige Hütte und gegen den Forst an, der sich tief niederbeugte in diesem Ringen mit dem Unwetter, immer wieder aber sich unbesiegt und drohend aufrichtete. Der Kampf machte ihn furchtbar, ein Rauschen, Beben und Krachen ging durch seine Äste, er heulte so wild und so durchdringend und tobte so drohend, dass die Kinder in den Nächten nicht schlafen konnten und die Waldvögel aus ihren Verstecken hinaus in die Felder flohen. Tomek bewachte besorgt das Haus, das einzustürzen drohte, bis es der Sturm zuletzt ganz in Schnee vergraben hatte – so dass es wie ein Schneehügel aussah.
Die Lebensmittel gingen nun abermals zur Neige, es war kein Geld da, neue zu kaufen, und dann war es auch ganz unmöglich, zum Dorf hindurchzugelangen, dermassen hatte der Schnee die Wege und die Felder verschüttet. Am zweiten Tag, an dem der Schneesturm nur noch stärker raste, blieben die Züge im Schnee stecken und jeglicher Verkehr stockte, die Menschen machten den Elementen Platz und verkrochen sich ängstlich. Erst morgens am dritten Tag hörte das Schneegestöber etwas auf, aber die gewaltigen Schneewehen ringsum liessen ganze Wolken zerstäubten Schnees unaufhörlich aufsteigen und hatten das Aussehen feuerspeiender Berge.
Tomek zog seinen Schafspelz an, holte den Spaten hervor und wandte sich dem Eisenbahndamm zu. Der Aufseher, dem die Strecke unterstand, seine Gehilfen, der Distanzingenieur, und ganze Haufen Bauern, die man aus den Dörfern zusammengetrieben hatte, alles machte sich an dem in einer Schlucht eingeschneiten Eisenbahnzug zu schaffen. Man verteilte Schnaps und Wurst unter die Leute, damit sie so schnell wie möglich den Fahrdamm von den Schneemassen säuberten.
In den weissen Wolken des fliegenden Schneestaues sah Tomek hunderte von Menschengestalten, die frisch drauflos arbeiteten, hörte das Stimmengemurmel ihrer Unterhaltungen, ihr Gelächter und das Knirschen ihrer fleissigen Spaten – gierig horchte er auf diese Stimmen, sein Gesicht jedoch verfinsterte sich dabei immer mehr, denn für ihn war da weder Platz noch Arbeit vorhanden. Niemand rief ihn. Er stand einige Stunden lang, durchfroren, hungrig und verzweifelt am Bahndamm, bis schliesslich ein Gendarmeriewachtmeister erschien; Tomek neigte sich ihm zu Füssen und bat ganz demütig um Arbeit.
»Baran weiss doch, dass man in einem Zirkular auf der ganzen Strecke unter Verwahrung angekündigt hat, ihn zu keiner Arbeit an der Bahn anzunehmen, weil er wegen Diebstahl entlassen worden ist. Was kann ich Euch helfen, mein Lieber ...?«
Tomek antwortete nichts, liess nur den Kopf traurig hängen und schleppte sich nach Hause.
»Ah, diese Äser! diese Äser! Aasvolk!« fing er mit einemmal an zu schreien und eine solche Wut hatte ihn gepackt, dass er seinen Spaten in Stücke schlug, die Maryscha verprügelte, dem Jungen einen Fusstritt versetzte und schliesslich wie besessen in der Stube tobte und sich die Haare raufte, es half ihm aber nichts, er erschöpfte sich bald, wurde ruhiger und verlegte sich wieder aufs Warten.
Vom Pfarrer war immer noch keine Nachricht da, die Tage schlichen langsam dahin und waren voll Entsetzen und endloser Hungerqual. Eines Abends, nach einem den ganzen Tag dauernden Fasten, blitzte ihm plötzlich ein Gedanke auf.
Die Kinder weinten und Jusek klagte leise vor sich hin, über Drücken unter der Brust und Pfeifen in den Eingeweiden, er war ganz in Fiebergluten, sprang immer wieder aus dem Schlaf auf, weinte und bettelte um Brot.
»Weine nicht, mein Sohn, ich bring' euch etwas zu essen,« sagte Tomek kurz. Er nahm den Sack, griff nach der Axt und ging in der Richtung des Herrenhofs davon.
Er watete bis fast an den Gurt im Schnee, erreichte aber schliesslich sein Ziel, jene Scheunen, wo er vor kurzem die Hunde ihr Festmahl halten gesehen hatte. Er suchte umher nach dem Aas – tastete im Schnee mit den Füssen, dann wieder mit dem Axtgriff, aber er fand nichts. Schon wollte er unverrichteter Dinge gehen, als ein leises Knurren von der Firstseite des Gebäudes sein Ohr traf – dorthin wandte er sieh jetzt eilig.
Einige Hunde zerrissen untereinander ein totes Schaf und knurrten sich dabei an. Er jagte sie mit der Axt auseinander. Die Hunde machten nur widerwillig Platz und fletschten die Zähne gegen den unerwarteten Nebenbuhler.
Tomek schnitt sich die am wenigsten verdorbenen Teile des Schafkadavers heraus, steckte sie in den Sack und wandte sich, nachdem er ihn auf den Buckel geladen hatte, heimwärts.
Die Hunde verfolgten ihn, wild aufwinselnd, sie sprangen gegen seinen Sack an, rissen an seinem Schafpelz und gingen ihm gierig zu Leibe. Er versuchte sie mit der Axt von sich abzuhalten und lief, so schnell er laufen konnte, nach Hause; da aber ein verschneiter Graben seinen Weg kreuzte, geriet er ins Stolpern und fiel der Länge nach hin. Die Hunde stürzten über ihn her. Es entspann sich ein kurzer Kampf, aus dem er als Sieger hervorging – aber mit einem im Rücken ganz zerfetzten Schafspelz, einer durchbissenen Hand und blutendem Gesicht.
Zwei Hunde wälzten sich, vor Schmerz heulend, in ihrem Blut im Schnee, der Rest war entflohen. Er stand mühsam auf und schleppte sich langsamen Schritts, mit seiner Beute beladen, heimwärts.
»Hier habt ihr was zu essen,« sagte er scheu zu der Maryscha und schleuderte den Sack in die Stube.
Sie hatten jetzt wirklich zu essen, aber der Jusek, sein Lieblingskind, wurde am zweiten Tag nach diesem Essen schlimm krank.
Er lag rot, geschwollen und schweissgebadet da und war so kraftlos, dass er nicht einmal den Kopf erheben konnte. Tomek rannte schon mit dem Schädel gegen die Wand vor tödlicher Verzweiflung, war es doch sein einziger Sohn, und schliesslich machte er sich sogar auf den Weg, eine Medizin aufzutreiben.
Der Milchpächter vom Herrenhof, der heimlich verschiedene Arzneimittel verkaufte, gab ihm ein paar Pulverchen auf Borg, desgleichen etwas Lebensmittel. Die Pulver hatten gar nicht geholfen, denn schon am dritten Tag nach deren Einnahme lag sein Jusek bewusstlos da und redete unverständliche Dinge im Fieber vor sich hin.
In seinen höchsten Nöten rannte Tomek ins Dorf zur alten Jagustynka, die sich auf Krankheiten auskannte und sehen konnte, ob einer einen Weichselzopf bekam, oder Schmerzen im Inneren hatte, oder ob nicht gar Zauber vorlag, den man bannen musste. Kinder nachmessen verstand sie auch und es gelang ihr alles mit gleichem Glück durch Besprechungen, Beschwörungen oder Kräuter zu kurieren.
Sie kam gleich mit und griff sich an den Kopf, als sie den kranken Jungen erblickte.
»Du mein Gott! dem kann nur noch der Herr Jesus helfen,« murmelte sie entsetzt.
»Versucht es, Mutter, heilt mir doch meinen lieben Burschen!«
»Man müsste ihn abmessen oder auch beräuchern und besprechen ... Weiss ich denn, was man tun soll! ...«
»Macht alles, damit mir das arme Ding nicht wegstirbt. Mein Gott! solch ein lieber Bursche. Zum Frühjahr hätte er schon hüten können – und so artig immer, und solch ein Observant, so ein gutes Kind, mein Gott!« wehklagte Tomek, die Augen voller Tränen.
»Ist der Herr Jesus einem gnädig, dann knausert er mit nichts ... Aber was ich da sagen wollte, Tomek, der geistliche Vater haben gesagt, dass Ihr gleich nach dem Bahnhof gehen sollt; es kommt da der Vorsteher hin, der die Schneewehen besichtigen soll. Geht gleich hin und seid nur nicht halsstarrig, umfasst schön seine Knie und bittet ihn demütig. Der Pfarrer kommt später auch hin und wird mit ihm reden, das hat er mir gesagt.«
»Und den Jungen soll ich allein lassen!«
»Geh, Tomek, den Jungen werde ich hier beaufsichtigen, was er braucht, werde ich schon tun.«
»Gut seid Ihr, Mutter, auch die eigene könnte nicht besser sein.«
»Sieh mal an! warum sollt' ich denn schlecht sein! ...«
»Die anderen Frauen haben aber nicht ein solches Verstehen.«
»Weil die anderen nichts sehen ausser ihren Männern, ihrem Kinderzeug und ihren Sorgen ... Na geh doch schon.«
Tomek begab sich, wenn auch etwas widerstrebend, nach dem Bahnhofsgebäude.
Die Alte hatte Kräuter mitgebracht, dazu einen silbergrauen irdenen Topf mit einem Deckel und begann alsbald darin etwas zu kochen. Sie entkleidete den Jungen und legte ihn mitten in der Stube auf einem ausgebreiteten Bund Stroh zurecht; er lag ganz still da, war nicht mehr bei Besinnung und schien kaum zu atmen.
Darauf tat sie etwas Wachs von einer Totenkerze in den Topf, und als es in dem heissen Absud zerschmolzen war, begann sie damit das Kind einzureiben, wobei sie etwas Unverständliches vor sich hinmurmelte.
Die Mädchen hatten sich ängstlich am Ofen zu einem Häufchen zusammengedrängt und sahen der Alten zu.
Sie goss das vom Einreiben des Jungen übrig gebliebene Wasser in einem Dreieck aus, in dessen Mitte der Jusek lag, und in die nächste Stubenecke tretend, sagte sie laut und salbungsvoll:
»Dem Schwarzen ein Tröpflein ... dem Weissen ein Mass!« Sie besprengte mit einigen Tropfen die Ecke vor ihr und goss einen ganzen Stoss Flüssigkeit nach der Stube zu aus. Dieses wiederholte sie dreimal. Dann nahm sie den irdenen Deckel, legte glühende Kohlen darauf, bestreute sie mit getrockneten Schaflorbeeren, tat getrocknete Wiesenraute hinzu und einen halben Kranz Sonnentau, der in der Fronleichnamswoche geweiht worden war. Neunmal blies sie darauf, bis alles in Glut geriet und ein dünner Streifen Rauch emporstieg – da erst begann sie den Daliegenden zu beräuchern und eine Beschwörungsformel vor sich hinzuflüstern.
Zum Schluss beräucherte sie noch die Wände und trat vors Haus hinaus. Ungeachtet der Schneewehen umkreiste sie die Hütte dreimal ohne anzuhalten, dabei immerwährend weiterräuchernd.
Jusek lag immer noch steif und unbeweglich da. Sein mit bläulichen Flecken bedeckter Körper war aufgedunsen, seine Haut trocken und glänzend.
Jagustynka wickelte das Kind, nachdem sie es nochmals mit Wasser abgerieben hatte, in ein Leinentuch und legte es aufs Bett, dann erst nahm sie sich der übrigen Kinder an.
Tomek hatte inzwischen den Vorsteher auf dem Bahnhof ausfindig gemacht, dieser wandelte gerade mit dem Streckenaufseher in dem prachtvoll grossen, schmutzigen Wartesaal dritter Klasse auf und ab. Darum blieb er dicht an der Tür stramm wie eine gespannte Sehne stehen und wartete, denn weiter wagte er sich nicht vor.
Die beiden anderen durchmassen indessen den Wartesaal und waren so stark durch ihre Unterhaltung in Anspruch genommen, dass sie nicht einmal seinen Eintritt bemerkt hatten. Jedesmal, wenn sie näher kamen, reckte sich Tomek noch strammer und war schon im Begriff seinen Mund zu öffnen, aber die Herren wandten sich immer so schnell ab, dass es zu spät dazu war, etwas zu sagen. Schliesslich, nach einem längeren Schweigen und Warten auf eine passende Gelegenheit, fasste er sich den Mut und sagte mit gedämpfter, bebender Stimme:
»Ich möchte den wohlgeborenen Herrn Streckenvorsteher um die Gnade gebeten haben ...«
Der Vorsteher hörte ihn aber nicht, denn der Aufseher redete jetzt gerade halblaut auf ihn ein...
»Ich möchte mir erlauben, die Aufmerksamkeit des Herrn Vorstehers darauf zu lenken, dass auch uns die Politik des Vatikans nicht passt, dieses Schöntun der römischen Kurie mit diesem Frankreich von heute ...«
»Immerhin ein prachtvolles Land, mein Lieber, ganz prachtvoll,« murmelte der Streckenvorsteher und steckte sich mit einer nachlässigen Bewegung das Einglas ins Auge.
»Dieses Land der Revolutionäre, Freimaurer und Gottesleugner; es ist doch wahrlich das Land der ewigen Anarchie ...«
»Gewisslich, aber auch das Land des zweiten Kaiserreichs.«
»Der Herr Vorsteher neigen zu dem, was man so Bonapartismus nennt?«
»Vor allem neige ich zum ›Parismus‹, das heisst zur Herrschaft von Paris über die Welt,« er lächelte beseligt den eigenen Erinnerungen an diese einzigartige grosse kosmopolitische Luststätte zu und zupfte dabei an seinem leicht ergrauten, wahrhaft senatorenhaften Bart.
»Ich möchte den wohlgeborenen Herrn Streckenvorsteher um die Gnade gebeten haben ...« liess sich abermals Tomek vernehmen, jedoch schon etwas lauter, denn er wurde allmählich ungeduldig und die Sorge um seinen Jusek bedrängte ihn immer mehr.
»Der Herr Vorsteher haben lange in Paris gelebt?«
»Fünfzehn Jahre. Kurz wie ein Augenblick, sag' ich Euch, wie ein einziger Augenblick der Lust! ...«
Er schwieg; der Aufseher zwirbelte seinen üppigen Schnauzbart, während sich der andere seine Nägel beschaute und mit dem Monokel spielte.
»Ich möchte den wohl geborenen Herrn Streckenvorsteher um die Gnade gebeten haben!« schrie ihn plötzlich Tomek schon fast an, denn der Gedanke, dass dort zu Hause vielleicht sein Jusek inzwischen im Sterben liegen könnte, erfüllte ihn mit einer solchen Angst, dass er nicht mehr wusste, was er tat.
Der Vorsteher, der ihn jetzt bemerkt hatte, blieb stehen, warf sich mit Präzision sein Monokel ins Auge und sagte:
»Ha! Was hast du denn zu sagen, mein Freund?«
Tomek fiel ihm zu Füssen und redete schnell und wirr durcheinander:
»Ich habe den Abschied bekommen, wohlgeborener Herr Vorsteher, sie haben mich fortgejagt. Fünfzehn Jahre habe ich gedient und bin jetzt ohne Beschäftigung ... zur Arbeit wollen sie mich nicht mehr nehmen ... fünf arme Waisen sind bei mir zu Hause und haben kein Brot ... Hergekommen bin ich, um die Gnade des wohlgeborenen Herrn Vorstehers anzuflehen ... die Not hat mich schon so drangekriegt, dass ich nicht mehr zu Atem kommen kann ... An dem Eisenbahndamm kenne ich alle Arbeiten ... ehrlich habe ich gedient ...«
»Das ist dieser Tomek Baran, Herr Vorsteher, ein Bahnwärter, der aus dem Dienst entlassen worden ist wegen Diebstahl. Er hat der Eisenbahn gehörendes Eisen entwendet.«
»Ich habe nicht gestohlen ... Wohlgeboren ... Herr Vorsteher ... und sie haben mich davongejagt. Ich hab' nichts genommen, wie auf der heiligen Beichte sag' ich das ... Man hat mich arme Waise fortgejagt ... die ›Lemeritur‹ haben sie mir weggenommen, den Abzug von dem Gehalt auch, wohlgeborener Herr Vorsteher ... die Kaution auch ... Ich bin ganz ohne was geblieben, wie dieser blosse Finger hier.«
»Man hätte ihn zur gerichtlichen Verantwortung ziehen können,« murmelte der Streckenaufseher, gleichgültig zum Fenster hinaussehend.
»Siehst du, Freund, der Gefängnisstrafe hast du dich schuldig gemacht, ha!« sagte der Vorsteher würdevoll.
»Wofür sollte ich ins Gefängnis gehen? habe ich vielleicht einen erschlagen? habe ich was gestohlen?« schrie Tomek heftig und erbebte vor plötzlicher Wut.
»Aus Mitleid hat man die Sache beigelegt, weil er so viele Kinder hat.«
»Man hat dich nicht eingesteckt, weil man Mitleid mit deinen Kindern gehabt hat, verstehst du, ha? Dankbar solltest du sein, ha!« wiederholte der Vorsteher langsam und feierlich.
»Ich bin hergekommen, mir Gerechtigkeit zu erbitten. Der Herr Aufseher wissen doch, was sie mir getan haben. Der Herr Aufseher haben selbst ...«
»Eine Denunziation! Gleich werden der Herr Vorsteher unser liebes Volk kennen lernen.«
»Denunzianten sind wir seit Grossvater und Urahn nicht gewesen und werden auch keine sein. Ich trete dem Herrn hier vor die Augen und werde es sagen, wie es gewesen ist ... und die fünfzehn Jahre Abzug, wenn es auch ohne Prozente sein sollte, die werde ich Euch nicht schenken, und Kaution auch nicht ...«
»Er bekommt keine Pensionsbeiträge zurückerstattet, das Recht ist ganz klar.«
»Das Recht ist das, was Gerechtigkeit ist, und das soll eine gerechte Sache sein, einen fortjagen, der keine Schuld hat! ... und eine gerechte Sache, das Geld nicht wieder herausgeben, das einem für so viele Jahre blutigen Schweisses abgezogen worden ist! das soll Gerechtigkeit sein! ... An die Gerichte gehe ich, um mein Recht, weil mir Unrecht geschehen ist!« schrie Tomek, immer mehr ausser sich geratend.
»Rede mal einer mit einem Bauernlümmel! Kennst du nicht die Instruktion?«
»Die kenn' ich schon, und dass die Herren die Instruktion für sich geschrieben haben und dem Volk die Wahrheit teuer auf Borg geben, weiss ich jetzt auch. Betrügen kann auch ein Krätzjud oder sonst welcher Hund ...«
»Maul halten, Bauernlümmel! Was fällt dir, Hundesohn, ein! Wirst du hier das Maul aufreissen und schnauzen?« schrie ihn der Aufseher herrisch an.
»Benachteiligt bin ich, dann werd' ich schon das Maul aufreissen müssen.«
»Ein Dieb bist du, du dummes Vieh.«
»Ich Dieb! – du pestiger Stadtlump, ich Dieb! – du englisches Fieber! ... ich! ...« schrie Tomek seine Fäuste ballend und trat, ohne es selbst zu wissen, vor.
»Portier! Schmeiss diesen Bauernlümmel raus und wenn er sich beruhigt hat, nach der Polizei mit ihm! Gehen wir, Herr Vorsteher. So ein Pack! Was man bei denen nicht mit dem Stock herauskriegt, das kriegt man überhaupt nicht.«
Die beiden Beamten traten auf den Bahnsteig.
»Ich werd' dir schon die Rippen abzählen, du Stadtlump ... ich werd' dich schon zurichten, du verdammter Hund, dass du krumm und schief wirst wie vom englischen Fieber,« murmelte Tomek, und ein solcher Erguss von Zorn und Hass überflutete sein Herz und sein Gehirn, dass dicke Schweissperlen auf seine Stirn traten und er wie in einem Krampf am ganzen Körper bebte. Eine wilde Lust packte ihn, dem Aufseher nachzulaufen, ihm an die Gurgel zu springen und ... schlagen ... schlagen ... immerzu nur schlagen ... Bald schüttelte er jedoch dieses Gefühl ab, verliess das Bahnhofsgebäude und rannte, was er rennen konnte, seiner Hütte zu.
Er fand dort viele Menschen und den Jusek schon im Sterben.
Der Junge lag mit der Totenkerze in der Hand auf dem Rücken, steif wie ein Stück Holz, und röchelte, mühsam ab und zu nur noch mit dem fieberheissen Mund nach Luft schnappend.
Es waren allerhand Menschen aus dem Dorf zusammengekommen, sie knieten um das Bett herum und beteten dem alten Kirchendiener Andreas die Worte der Litanei nach. Ihre Gesichter hatten einen strengen Ausdruck und aus ihren Augen blickte eine wie zu Stein gewordene Ergebenheit. Die kleinen Schwestern des Sterbenden schluchzten kläglich, eine schicksalsschwere düstere Stimmung lag über der vom Widerschein des gelben Totenkerzenlichts durchzuckten Stube.
»Jesus, Maria! Jesus, Maria!« heulte Tomek auf und bohrte die wie geistesabwesenden Augen in das Gesichtchen seines einzigen Sohnes. In seiner hilflosen Verzweiflung begann er sich zuletzt das Haar zu raufen.
»Still, Tomek, still! Dem Herrn Jesus hat es gefallen, dieses Seelchen zu seiner Herrlichkeit aufzunehmen, was kannst du, armes Wurm, dagegen tun?« beruhigte ihn die Jagustynka halblaut.
»Mein Söhnchen, mein liebes Kindlein, mein Silber und Gold!« jammerte Tomek unaufhaltsam.
»Beräuchert habe ich ihn, abgemessen – alles umsonst ... Dein Wille geschehe ...«
»Von aller schlimmen Verzweiflung!« –
murmelte mit zitternder Stimme der Kirchendiener.
»Erlöse uns, Gott, Heiliger Geist!«
antworteten schnell die Frauen, und inbrünstiges Stimmengeflüster, Seufzer, Weinen und Wehklagen ergossen sich durch die Stube wie ein gelber Strom und kehrten zu dem Sterbenden zurück, der in dem Glorienschein der Totenkerze dalag, sich immer tiefer reckte, den Mund immer weiter öffnete und mit der linken Hand an dem Bauernkittel zerrte, der ihm die Brust bedeckte.
»Oh, wehe! mein goldenes Söhnchen! mein liebes Kindlein!« heulte Tomek abermals auf. »Du gehst jetzt von uns weg, du liebes, armes Wurm ... Oh! ... auf das Weinen des Vaters achtest du nicht mehr, erbarmst dich nicht unseres Herzenskummers, lässt uns arme Waisen allein! ... du gehst, mein Kind, zum lieben Herrn Jesus ein ... oh! ... oh! ... oh! ...«
»Herzensbrüderlein, lass uns nicht allein zurück, – Liebes, Gutes, geh nicht von uns fort!« jammerte Maryscha, die Totenkerze in den Händen des Sterbenden stützend.
»Von der ewigen Verdammnis
Errette uns, Gott, Heiliger Geist ...«
schwollen wieder die Stimmen des Gebetes an.
»Und die lieben Kühchen wirst du nicht mehr auf die Weide treiben können, lieber Bursche. Die Schwestern nicht mehr an den Haaren reissen, mein Einziger, wirst nicht mehr ins Dorf laufen können und zur Lenzzeit die Vöglein ausnehmen ... niemals mehr, ... niemals mehr ... oh! ... oh! ... oh!«
»Tomek, weine nicht, Tomek, sonst ...«
»Vom plötzlichen und unerwarteten Tode
Errette uns, Gott, Heiliger Geist.«
»Und am Morgen schon hat er geklagt: Vaterle, sagt er, ich sterb' doch nicht weg. Vaterle, gebt mich nicht der Knochenfrau heraus, Vaterle, ich geh' nicht von euch weg! ... hat er gesagt ... und so gejammert hat er wie ein Hündchen, das die Vernichtung und den sicheren Tod sieht. Oh, wir armen Waisen, wir armen! Womit soll ich dir helfen, mein Sohn, womit? – Und den Armen hat nur immerzu etwas in den Eingeweiden gedrückt: hat sich das liebe Bäuchlein gehalten und gestöhnt vor Schmerzen ... Das Gebet hat er mit der Maryscha gesprochen, dabei sind ihm die lieben Tränen über die Backen gelaufen und geschüttelt hat es ihn wie eine Espe!«
Plötzlich hörte Jusek auf zu röcheln, öffnete den Mund zu einem langen, ächzenden Atemzug, zuckte über den ganzen Leib, hob den Kopf etwas, überflog mit einem abwesenden Blick die Anwesenden und sank auf die Kissen zurück; so blieb er einen Augenblick liegen, mit glasigen Augen auf die Balkendecke starrend, dann reckte er sich lang aus und verschied, während ein angstvolles, grausiges Aufwimmern auf seinen Lippen erstarrte.
Die Totenkerze fiel ihm aus den Händen, die Finger streckten sich, das Gesicht aber ward jäh heiter, und so blieb er denn von nun an gegen alles Gute und jegliches Elend fühllos.
Es erhob sich ein Geschrei und herzzerreissendes Weinen.
»Still, Leute!« rief Jagustynka, die Tür sperrangelweit aufreissend, »still, nur ein Vaterunser lang. Lasst das Seelchen in Stille davonfliegen, dass es euer Herzleid nicht vom lieben Herrn Jesus zurückhält.«
Es wurde wirklich still, und bald darauf gingen alle auseinander, nur noch die Alte blieb.
Bis zum Begräbnis fühlte sich Tomek dermassen durch sein Elend und die Verzweiflung über den Verlust des einzigen Sohnes niedergebeugt, dass er die ganzen Tage unbeweglich am Ofen sitzen blieb, gleichgültig gegen alles um ihn herum; er wickelte sich in seinen eigenen Schmerz ein und hatte das Gefühl, als hätte eine eiserne Hand seine Seele gepackt und presste sie ihm so furchtbar zusammen, dass er sich weder bewegen, noch aus Übermass an Schmerzen schreien konnte.
Er ging im Trauerzug und hatte gerade noch so viel Besinnung, dass er den Sarg auf dem Wagen stützte, aber er sah die Leute um sich herum nicht, sah nicht, was um ihn geschah, und hörte die Totengesänge kaum, hörte weder die Worte des Trostes, die ihm der Priester reichlich spendete, noch die Tröstungen der Menschen.
»Das ist der Tod, der sich so in mir breit macht,« sann er und fühlte eine einsame Stille und Ruhe von seiner Seele Besitz ergreifen.
»Es scheint mir, dass ich sterben muss!« murmelte er, vom Friedhof ganz allein heimkehrend, denn die anderen Leute hatte der Pfarrer zurückgehalten und redete lebhaft auf sie ein, aber Tomek achtete nicht auf das, was der Priester sprach, obgleich er seinen Namen nennen hörte. Er ging für sich und starrte in die riesige Weite der Felder, die mit Schneedaunen ganz zugedeckt waren und nur ab und zu durch Birnbäume gekennzeichnet wurden; dann blickte er den hellen Himmel an oder das goldene Sonnenschild, und es war ihm, als schaukelte dieses alles langsam wie eine Glocke und als schlüge der Sonnenklöppel gegen die schwarzen Wände der Wälder wie gegen Kerben aus Erz, und süsse Klänge, ähnlich dem Rauschen der reifenden Getreidefelder, dem Raunen des Waldes an heissen Sommertagen, dem Vogelgezwitscher in den Strohdächern, umgaben ihn, erfüllten sein Gehirn und seine Seele mit einer grossen Seligkeit und wiegten ihn, wiegten ihn immer traumhafter, immer traumhafter...
»Es scheint mir, dass ich sterben muss,« sann er, ohne sich darüber Rechenschaft geben zu können, was mit ihm geschah.
Er kam nach Hause, setzte sich hin, wo er vorher gesessen hatte, und wusste nicht mehr, was um ihn geschah. Er hatte mit dem Lehen gekämpft, so gut er konnte, aber er fühlte, dass dieser letzte Schicksalsschlag ihn ganz erschöpft hatte; er wusste jetzt, dass er gegen das alles nicht angehen konnte, dass er zugrunde gehen müsste, darum wurde ihm alles gleichgültig, und mit einer steinernen Ergebenheit beugte er seinen Kopf und unterwarf sich seinem Schicksal. Er dachte weder an sich, noch an die zurückbleibenden Kinder, er dachte an nichts mehr – und wartete nur noch auf irgend ein Ende, das bald kommen musste.
Er hörte, dass eine Anzahl Menschen in die Stube gekommen war, dass sie um ihn herumgingen, etwas redeten, aber er verstand nichts. Er streckte sich auf der Bank aus, wandte den Leuten den Rücken zu, zog den Schafspelz über den Kopf und blieb so wie tot liegen. »Gevatter!« redete ihn der mit den anderen hereingekommene Czerwinski an, nachdem er sich überzeugt hatte, dass Tomek von ihrer Anwesenheit so gut wie gar nichts wusste. »Gevatter! dass es Euch zu Herzen gegangen ist, das versteht sich.«
Tomek drehte sich etwas nach ihm um und sagte mit einer stumpfen, erloschenen Stimme:
»Gewisslich sterbe ich bald, das ist der Tod, der sich so in mir breit macht.«
»Gevatter, das sind sündige Gedanken, die Ihr da habt. Hört einmal, was Euch Czerwinski sagen wird. Wir sind hierher aus freiem Willen gekommen, um Euch zu trösten und Hilfe zu bringen, wie ein jedes kann. Arm bist du, Tomek, und ehrlich, aber halsstarrig bist du. Bei den Herren bist du gewesen, um Hilfe zu bitten, und wir sind dir doch näher. Versteht sich, dass keiner zuerst zu dir mit der Hilfe gerannt ist, denn jeder hat ja seine liebe Not, die an ihm nagt, und sein Weib, das ihm in den Ohren liegt, und seine Sorgen hat er auch – aber es gibt doch kein Fleisch ohne Knochen und auch keinen Menschen ohne Mitleid ... Merk' dir das, und dass Czerwinski dir solches sagt ... Wir haben gewartet, bis du kommst und wie zu Brüdern sagst: »Gebt, helft! In Armut bin ich, gebt, auf Abarbeit, oder leihweise, oder für ein: Gott bezahlt; wir hätten es dir gegeben, denn wir wissen, dass dir Unrecht geschehen ist und dass du arm bist. Wir sind doch deine Leute und Christenseelen – und nur der Aff' tut den Affen in den Hinteren zwacken, der Mensch aber soll zum Menschen halten. Wir haben uns verabredet, und was ein jeder gekonnt hat, das haben wir mitgebracht. Nimm es, Tomek, und dass es euch allesamt gut bekommt.«
»In secula seculorum, ament!« schloss der Kirchendiener andächtig.
Die Weiber begannen die Knoten ihrer Tücher zu lösen, die Beiderwandschürzen auseinanderzubreiten, die Körbchen zu öffnen und legten eine jede neben Tomek hin, was sie gebracht hatten; die eine einen mächtigen Brotlaib, die andere Kartoffeln, dann Grütze, ein paar Mass Mehl, einen Klumpen grünen Salzes, einen Kranz getrockneter Pilze, eine Speckschwarte, einen Quarkkäse, und zu guter Letzt legte Jagustynka eine an den Beinen gefesselte Glucke neben ihm hin.
»Sie legt dir schon was, Tomek; Eier wirst du haben und zum Lenz auch Kücken, wie es sich gehört.«
Tomek aber erhob sich von der Bank, sah alles der Reihe nach an, hörte zu und wunderte sich; allmählich fing etwas in seinem Herzen an zu zucken und eine süsse Wärme durchdrang ihn ganz und es begann ihn immer stärker im Halse zu würgen, so dass er nicht mehr länger an sich halten konnte und in ein mächtiges Weinen ausbrach.
»Liebe Brüder, Christenseelen, womit soll ich das bei euch gutmachen!« murmelte er unter Tränen, aber sie liessen ihn nicht weiter reden, sondern nahmen ihn der Reihe nach in die Arme und küssten ihn, er aber gab die Umarmungen zurück, neigte sich den Älteren zu Füssen und dankte; alles bebte in ihm vor grosser Rührung.
»Mit Güte bezahlst du es uns wieder oder mit einem Gebet,« sagte Czerwinski ernst.
»Dominus vobiscum, ament!« fügte der Kirchendiener hinzu.
»Wir haben ausserdem auf den Rat von Hochwürden beschlossen, damit es dir leichter wird, durch den Winter zu kommen, dass ich die Juswa, der Klemb die Maryscha, der Gulbas die Jaguscha und Boryna die Anka nimmt; den Mädchen soll bei uns kein Unrecht geschehen, und du wirst dir allein schneller helfen können. Die Jagustynka haben gesagt, dass sie zu dir übersiedeln werden, damit du immer was Warmes in den Leib bekommst und Frauenfürsorge hast.«
»Ich bleibe bei dir, Tomek, eine Waise bin ich so wie du, arm werde ich dich nicht essen, selbst verdiene ich was dazu und es wird mir doch auch unter Männerschutz besser sein.«
»Mein Gott! liebe Leute, von eurer Güte ist mir doch so, als hätte ich den Frühling im Herzen.«
»Mit der Not hast du dich zu sehr verbrüdert, Tomek, so dass man dich mit Gewalt von ihr losreissen muss.«
»Vom fremden Wagen muss einer herunter, selbst mitten ins Wasser.«
»Ora pro nobis, Domine, ament!« schloss der Kirchendiener, holte aus der Tasche eine Schnapsflasche, räusperte sich, goss das Glas voll und begann also:
»Hofbauern, so zum Beispiel redet die Heilige Schrift: Ave marysteli Deo gratias, ament ...« und er trank das Glas leer. »Da es gut ist, ein Gläschen Schnaps zu trinken, um die bösen Säfte aus der Leber zu vertreiben, so trinkt auch Ihr, Tomek Baran, und dann wollen wir gemeinsam ein Gebet zu des heiligen Josephs Ehren beten und zum Schluss: Mea culpa, mea maxima culpa, ament.«
Sie setzten sich, wo ein jeder Platz fand, tranken etwas Schnaps vor lauter Rührung, assen Brot dazu, sangen fromme Lieder für den Verstorbenen und gingen schliesslich auseinander.
Gleich am nächsten Tag kamen die Frauen, um die Mädchen zu holen.
Es wurde Tomek schwer, sich von den Kindern zu trennen, denn sie weinten, fielen ihm zu Füssen, baten, dass er sie nicht zu den Leuten fortgeben sollte, aber der Tomek hatte sich ganz in sich verbissen und herrschte sie zuletzt rauh an:
»Macht, dass ihr fortkommt, sonst werd' ich euch verprügeln wie gottverdammtes Vieh!«
Und kaum dass sie fort waren, machte er sich selbst auf und davon, um den ganzen Tag im Wald umherzustreifen.
Der Winter begann milder zu werden, es kam ein grosses Tauwetter und so viel Schnee schmolz dabei weg, dass man im Walde unaufhörlich das Aufschlagen der Äxte hören konnte und die Holzstösse sich unübersehbar schichteten.
Tomek ging alltäglich auf Arbeit.
Er sehnte sich nach den Mädchen, besonders an den Abenden, wenn er von der Arbeit heimgekehrt war, und obgleich immer das Abendessen fertig war, fehlten ihm doch die lieben Kinderköpfe um die Schüssel herum sehr, dann auch das frohe Gezwitscher seines Jusek.
Manchmal kam eins der Mädchen aus dem Dorf angerannt, blieb eine Weile sitzen, erzählte allerlei über ihre Wohltäter, über das Essen und ihre neuen Kleider und eilte sich wieder davonzukommen, denn schon hatte sie Sehnsucht nach dem Dorf und nach den Menschen; die elende, verwahrloste Hütte stiess sie alle ein wenig ab. Tomek verstand das recht gut, denn einmal nach dem Fortgang von Maryscha sagte er zu Jagustynka, welche die ganze Zeit, die ihr von der Besorgung des armseligen Haushalts übrig blieb, dazu benutzte, Flachs zu spinnen, Wolle zu krempeln oder Garn zu haspeln:
»Mein lieber Toter wäre nicht so von mir gegangen. Gut sind die Mädchen schon, so wie die Meinen auch, aber es sind doch bloss Mädchen,« und er machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Wahr ist es schon, ich selbst bin doch eine Frau, aber das sage ich: ein Junge, das ist – ein Junge. Zur Zügellosigkeit ist so einer bereit, versteht sich, und schneller bei der Hand, aber auch bei der Arbeit ist es so. Wenn er so alt gewesen wäre wie die Maryscha, dann hätte er doch an der Bahn Geld verdienen können, nicht wahr?«
»Versteht sich, dass er was verdient hätte, denn wenn sie mir auch keine Arbeit geben wollen, ihm würden sie sie gegeben haben.«
Und im Anschluss daran begann Tomek sich seines Elends und des ihm geschehenen Unrechts zu erinnern, bis er endlich die Alte fragte: »Warum ist denn das so, Mutter, dass, obgleich wir mit den Herren des gleichen Glaubens und der gleichen Sprache sind, diese gegen uns immerzu was zu bellen haben, wie die bissigen Hunde, nicht ein gutes Wort sagt so einer dem Menschen, und wenn er einen benachteiligen kann, dann tut er es auch sicher – und alles gehört ihnen oder den Juden?«
»Warum? Eine Teufelseinrichtung ist das und nichts anderes. Wodurch hält denn der Teufel die Seelen im Pech, wie unsereiner Hanf unter Wasser?« fragte sie und liess ihre Spindel auf dem Lehmboden aufsurren.
»Es scheint mir dadurch, dass die Seelen der Menschen sündig sind.«
»Und das dumme Volk ist vielleicht nicht sündig?«
»Warum ist es denn dumm?«
»Hale? Wenn jeder wüsste, wie? was? und wofür? – dann würde ihn niemand am Kopf festhalten wie einen hilflosen Beissker und würde ihm nicht den Atem abdrücken, wie einem Schwein, das geschlachtet werden soll; das versteht sich.«
»Schlecht geht es zu in dieser Welt.«
»Es muss wohl so sein müssen, wenn es so ist.«
»Gewiss. Ein Bauernkopf findet dagegen keinen Rat.«
»Auch ein anderer nicht, wenn er selbst so gelehrt wäre wie dem Pfarrer seiner und so klug wie ein zweiter Papst.«
»Sondern? ...«
»Sondern es wird von selbst geschehen, wenn die Zeit danach sein wird. Merk' dir dies bloss: warum sät einer nicht Hafer in der Zeit der Kartoffelernte?«
»Na, es ist doch nicht die Zeit, Hafer zu säen im Winter.«
»Warum geht keiner im Februar, zu Maria Lichtmess, mit dem Pflug oder mit der Egge ins Feld? Warum schert man nicht die Schafe zur Fastenzeit? – Weil es die Zeit nicht ist, weil der Herr Jesus für alles seine Zeit und seine Stunde festgesetzt hat. Merke es dir, dass dieses alles Gottes Einrichtung ist.«
»Es ist schon wahr, Mutter, ich merk' es wohl, aber es tut einem leid, dass der Mensch, wenn er im voraus was Gutes haben möchte, doch nichts bekommen kann.«
»Aber wollen muss jeder und seine Zeit abfassen. Kommt die Zeit, im Lenz die Kartoffeln zu pflanzen, Hafer zu säen – und du würdest weder säen noch pflanzen wollen – wie würdest du dann zur Zeit der Kartoffelernte etwas einnehmen können, wo doch die Zeit da ist?«
»Recht habt Ihr, Mutter, das ist wahr, Ihr habt aber auch einen klugen Verstand – mein Gott.«
»Jedes sollte für sich und für die anderen denken, denn es werden doch die Schweine nicht für die Menschen nachdenken.«
»Ihr habt Recht, Mutter, Recht habt Ihr!«
So redeten sie miteinander in der Zeit der langen Märzabende, Tomek Baran und die alte Jagustynka. –