Читать книгу Heilkräuter und Zauberpflanzen zwischen Haustür und Gartentor - eBook - Wolf-Dieter Storl - Страница 8
ОглавлениеBrennnessel
Urtica dioica
Wenn es eine Pflanze gibt, die die abwertende Bezeichnung »Unkraut« verdient, dann sicher die Brennnessel. In Scharen umstellt sie Haus und Hof und lässt bei Kindern manche Träne über die Wangen kullern. Berührt man sie, dann sticht, beißt und brennt sie. Urtica, der lateinische Gattungsname, bedeutet genau das: »die Brennende«.
Die Brennnessel hüllt sich in einen Mantel aus lauter kleinen, glasartigen spröden Brennhaaren. Bei leichtester Berührung brechen sie ab und spritzen – Injektionsnadeln ähnlich – schlangen- und bienengiftartige Toxalbumine sowie Histamine und Ameisensäure unter die Haut. Allein, so der Aberglaube, eine wahrhaftige Jungfrau könnte eine Brennnessel anrühren, ohne sich dabei zu verbrennen. Oder man macht es wie alte Gärtner, die zur Verblüffung ihrer städtischen Besucher die Nesseltriebe von oben nach unten streichend kräftig anpacken, sodass die gefährlichen Nadeln flach gedrückt werden und keine Gelegenheit zum Stechen haben. Solche kühne Gärtner haben allerdings oft auch dicke Schwielen auf den Handflächen.
Erwischt es einen trotzdem, so ist immer das Gegenmittel zur Hand. Ubi malum, ibi remedium, sagte der weise Paracelsus und meinte damit, dass die Abhilfe nie weit von der Ursache des Leidens entfernt zu finden ist. In diesem Fall ist es der Ampfer (Rumex), der gerne neben der Brennnessel wächst. Man zerknüllt seine saftigen Blätter und reibt sie auf die juckende Stelle. Um wirklich zu helfen, ist jedoch der richtige Spruch vonnöten. In England lautet dieser etwa so:
»Rein die Nessel, Ampfer raus.
Ampfer treib die Nessel aus!«
Im Wallis, wo man die schmerzende Stelle nicht mit Ampfer, sondern dem »Heimina«, dem Guten Heinrich (Chenopodium bonus Henricus), behandelt, wird folgender Spruch aufgesagt:
»Nomini Patre
Nessje mach und Blattre
Mit Heimina rib’n
Das tüets sus vertrib’n.«
Am allerbesten – und ohne sich der Zaubersprüche bedienen zu müssen – hilft jedoch das Einreiben mit dem Saft des Springkrauts, egal, ob es sich um das große, malvenfarbene Drüsentragende Springkraut (Impatiens glandulifera), das einheimische Rühr-mich-nicht-an (Impatiens noli-tangere) oder das kleinblütige Sibirische Springkraut handelt. Die Springkräuter enthalten balsamische Säfte, die den quaddelbildenden Histaminen entgegenwirken.
Andererseits gibt es auch Leute, die empfinden das Kribbeln als gar nicht so unangenehm. Sensitive beteuern sogar, dass von Brennnesseln gestochene Hände feinfühliger werden und die Erdstrahlen besser spüren.
Warum wehrt sich diese Pflanze gegen jede Berührung? Ist sie etwa selber von solch feiner, sensibler Natur, dass sie sich genötigt sieht, sich mit einer Aura aus giftigen Stacheln zu umgeben? Der große Schweizer Kräuterkenner Pfarrer Künzle meint dazu: »Hätte die Brennnessel keine Stacheln, wäre sie schon längst ausgerottet worden, so vielseitig sind ihre Tugenden!« Warum wohl hat Albrecht Dürer einen himmelwärts fliegenden Engel mit einer Brennnessel in der Hand gemalt? Und warum wurde bis ins 17. Jahrhundert die heilige Maria zuweilen auf Nesselzweigen rastend abgebildet, wenn die Pflanze nicht himmlische Eigenschaften in sich bergen würde? Rudolf Steiner, dessen hellseherische Fähigkeiten ich nicht in Frage stellen möchte, bezeichnete sie sogar als »die größte Wohltäterin des Pflanzenwachstums«. Einen »Allerweltskerl« nennt er sie in seinem Landwirtschaftlichen Kurs und sagt, »sie müsste eigentlich den Menschen ums Herz herumwachsen, denn sie ist wirklich in der Natur draußen (…) ähnlich demjenigen, was das Herz im menschlichen Organismus ist« (STEINER 1975:131).
Was sind das nun für Tugenden, die dieser Allerweltskerl besitzt? Schauen wir uns einmal genauer an, was er so alles kann.
NEUNKRÄUTERSUPPE
Unsere Vorfahren, insofern sie Kelten, Slawen oder Germanen waren, hielten das wehrhafte Kraut hoch in Ehren. Diese im frühesten Frühjahr hervorsprießenden Nesseltriebe waren stets Teil der »Neunkräutersuppe oder -küchlein«, mit denen sich die heidnischen Bauernstämme erneut mit den Lebenskräften der erwachenden Vegetation verbanden. Die Kelten personifizierten das frische Grün in der Gestalt des Grünen Mannes (»le feuillu«), des Gefährten der Erdgöttin. Dieser stürmische Vegetationsgeist war es, der Wald, Wiese und Feld dem eisigen Winterkönig streitig machte. Die Brennnessel, ein bewaffneter Krieger im Verbund des Grünen Mannes, half mit, nicht nur den äußeren, sondern auch den inneren Winter, den üblen Scharbock (Skorbut) und die Winterschwäche nämlich, zu vertreiben.
Auch nach der Bekehrung zur Religion des Paulus, als die alten Götter und der Grüne Mann längst in Vergangenheit geraten waren, hielt man an der alten Kultspeise fest. Nun löffelte man die eher bitter schmeckende Suppe vor allem in der Karwoche zum Gedächtnis an die bitteren Leiden des Heilands oder im Gedenken an die bitteren Kräuter, welche die Kinder Israels zum Passah aßen. Hier und da kennt man sie noch immer als »Gründonnerstagssuppe«.
Die mittelalterlichen Doktoren dachten in diesem Zusammenhang weniger an die Passion Christi oder an die unsichtbaren Dämonenwürmer, die den Scharbock verursachten und ausgetrieben werden mussten, sondern vielmehr an »verdorbene Körpersäfte« und »schlechte Humore«. Es galt, diese »Humore« zu reinigen und ins Gleichgewicht zu bringen. Im Winter sammelt sich zuviel »schwarze Galle« an. Ebenso wie die Erde sich im Frühling verjüngt und alles wieder in flüssige Bewegung bringt, sollte auch der Mensch mit Hilfe der grünenden Vegetation seine Säfte in Bewegung bringen. Da die Frühlingskräuter – vor allem die Brennnessel – Harn und Schweiß treiben, den Stuhlgang fördern und den Schleim in der Lunge lösen, galten sie als die probaten Mittel. Sie sorgten wieder für »guten Humor«.
Noch bis zu diesem Jahrhundert waren derartige »Blutreinigungskuren« mittels Kräutern beim Landvolk gang und gäbe. Neben Nesseln sammelt man die kleinen, fettig glänzenden Blätter des Scharbockskrauts, das sich als Erstes auf den feuchten Weiden und unter dem noch kahlen Gebüsch hervorwagt. Dazu kommen die zarten Blättchen und Triebe verschiedener bitterer Kressen und Knöteriche, Vogelmiere, Schafgarbe, Gänseblümchen, Geißfuß, Löffelkraut und anderer frosttrotzender Frühjahrspflanzen.
Viele Zeitgenossen lächeln über den alten Kräuterglauben. Wir wissen inzwischen, dass Skorbut, dessen Symptome bleierne Müdigkeit, Gaumenbluten, Hautverfärbung und Gliederschmerzen sind, nichts weiter ist als eine Folge von Vitamin-C-Mangel. Südfrüchte, Multivitaminpillen und Solarien haben, so meinen wir, die Frühjahrskur überflüssig gemacht. Zudem können sich viele Ärzte unter einer »Blutreinigung« kaum mehr etwas vorstellen. Dennoch beklagen sich die Leute nach wie vor über die »Frühjahrsmüdigkeit«, die sich bleiern auf Glieder und Gemüt legt. Das Gewächshausgemüse und die Vitaminpillen verhindern zwar ein Ausbrechen akuter skorbutischer Symptome, aber die Vitalität und Kraft, die das frische Grün verleiht, besitzen sie dennoch nicht. Für die »Grüne Neune« gibt es keinen Ersatz!
Auch eine Brennnesselsuppe allein, ohne Beimischung anderer Frühlingskräuter, ist geeignet, die Schlacken (überschüssige Harnsäure) aus dem Gewebe zu schwemmen. Nach dem Verzehr dieser Suppe fühlt man sich tatsächlich wohler und vitaler. Zudem schmeckt sie ausgezeichnet. Wir haben gesehen, wie diese Pflanze mit ihrem Ameisen- und Bienengift fast in die Sphäre des »Tierischen« hineinragt (solche Verbindungen gehören eigentlich zur organischen Chemie animalischer Organismen). Kein Wunder also, dass der Geschmack – zum Entzücken des Gourmets – leicht an Meeresfrüchte oder eher an Fisch erinnert.
Brennnesselsuppe oder -gemüse enthalten wertvolle Nährstoffe, besonders viel Eisen und Kalzium, Vitamin A und C und, ihrer »tierischen« Natur entsprechend, besonders viel Eiweiß.
Bis zur Sommersonnenwende kann man die Brennnessel als Wildgemüse verwenden. Dann aber, wenn sie anfängt zu blühen, geht die Lebenskraft in Pollen und Samen über. Aber auch im Herbst und im Winter braucht man nicht auf dieses wunderbare Gemüse zu verzichten. Die im Frühling gesammelten, sorgfältig im Schatten getrockneten Blätter kann man das ganze Jahr über als Suppenzutat, für Tees oder zur Haarspülung verwenden.
Botaniker sind sich nicht einig, ob die Große Brennnessel in Amerika schon vor der Ankunft der Weißen heimisch war oder ob sie eines der vielen Kräuter ist, welche die Indianer als »Fußstapfen der Bleichgesichter« bezeichneten.
Rezepte
Einfache Brennnesselsuppe
Fein gehackte Zwiebel in Fett (Butter, Öl) andünsten, mit Fleisch- oder Gemüsebouillon ablöschen, fein gehackte junge Brennnesseltriebe (eine Tasse pro Teller Suppe) hinzugeben, kurz aufwallen lassen. Zum Schluss noch ein Ei hineinrühren, etwas Butter, Sojasauce und Brot-Croûtons hinzufügen.
Irische Brennnesselsuppe
6 Stangen Lauch, in Stücke geschnitten, in Butter dünsten, mit einem Liter Milch ablöschen und unter ständigem Rühren weich kochen. Danach 4 Tassen fein gehackte Brennnesseln, etwas Salz und 2 bis 3 Esslöffel gekochte Haferflocken hinzufügen. Aufkochen und heiß servieren.
Englischer »Nettle Pudding«
1 Schüssel (4 l) frische, junge
Brennnesselspitzen
2 große Stangen Lauch
oder Zwiebeln
2 Broccoli oder 4 Rosenkohl
oder 1 kleiner Kohl
250 g Reis
Salz
Das Gemüse klein schneiden und mit den Brennnesseln mischen. Schichtweise abwechselnd mit dem Reis in einen Musselinsack füllen und diesen fest zubinden. In Salzwasser so lange kochen, bis Gemüse und Reis gar sind. Mit Butter oder Fleischsauce servieren.
Japanische Brennnesseltempura
Brennnesselblätter in Pfannkuchenteig tauchen und im heißen Fett frittieren. Mit Sojasauce servieren.
Meine Freunde aus dem Stamme der Cheyenne kennen diese Pflanze kaum. Sie wächst auch nicht gerade üppig in den eher trockenen Bergen von Montana. Als ich dem Pflanzenmedizinmann Bill Büffelstier eine Brennnesselsuppe vorsetzte, stocherte er eine Weile missmutig in seinem Teller herum und fragte eher misstrauisch: »Wo sind die Nadeln?« Als ich ihn davon überzeugen konnte, dass diese mit dem Kochen verschwinden, aß er die Suppe mit höchstem Genuss.
PFLANZE DER ERLEUCHTUNG
Für die Inder und Tibetaner ist die Nessel – Bichhu Booti auf Hindi – geradezu eine heilige Pflanze, die bei den Himalaja-Völkern in der Ernährung und Heilkunde eine wichtige Rolle spielt. Aus den Samen wird sogar ein Speiseöl gewonnen. Die Hänge des Kailasha, des im Westen Tibets gelegenen heiligsten Berg Asiens, sind von dichten Brennnesselwäldern bewachsen. Der Berg, der als Sitz des Gottes Shiva gilt, als das höchste Chakra (Sahasrara-Chakra) des Erdenleibes und als das Mandala der Dhyana-Buddhas, ist das Ziel vieler Erleuchtung suchender Pilger. Selbstverständlich gibt es keine Nahrungsmittelläden in der menschenleeren Einöde, die diesen Nabel der Welt umgibt. Die furchtlosen Pilger sind also gezwungen, sich fast ausschließlich von den Samen und Blättern dieser Pflanze zu ernähren. So wird auch hier die Brennnessel zum Wegweiser zum Himmel, zum Vorboten der Erleuchtung.
Milarepa, der größte Dichter Tibets, lebte als Einsiedler am Fuße des Berges. Viele Jahre nahm er nur Brennnesseln zu sich, sodass sich seine Haut grün verfärbte. Auf den Thankas, den Meditationsbildern, und den buddhistischen Ikonen wird der erleuchtete Meister noch immer grün dargestellt. Seine Brennnesseldiät half ihm, Siddhi-Fähigkeiten zu entwickeln. (Ein Siddhi ist ein Vollkommener voller magischer Potenz.) Auf diese Weise erlangte Milarepa eine solche Leichtigkeit, dass er wie eine Wolke vom Berg herabschweben konnte. Als er in seinem Heimatdorf landete, kochte seine Schwester ihm Reis und Gemüse. Der grüne Heilige wollte aber nichts anderes essen als seine geliebten Brennnesseln.
DER GROSSE HEILER
»Niemals kann sich Bösartiges bilden, wenn wir unsere gute Brennnessel nicht nur ehren, sondern in regelmäßigen Abständen uns ihre wunderbare Kraft in Form von Tee einverleiben«, das rät uns Maria Treben. Im Frühjahr und ebenso im Herbst, wenn nach dem Grummet, dem zweiten Heuschnitt, die Triebe erneut sprießen, zieht die fast Neunzigjährige, mit Handschuhen und Schere gewappnet, in die Brennnesseln. Die Ausbeute ist nicht nur für den Kochtopf bestimmt, für cremige Suppen und Gemüse mit saurem Rahm, sondern sie unterzieht sich auch öfter einer vierwöchigen Brennnesselkur (TREBEN 1988:29). Die Kur besteht darin, dass man vor dem Frühstück eine Tasse Brennnesseltee trinkt, dann im Laufe des Tages schluckweise noch zwei weitere Tassen. Sie macht diese »beste der Heilpflanzen« dafür verantwortlich, dass sie und ihre Familie seit Jahren keine Medikamente einnehmen müssen und dass sie sich im hohen Alter noch »jung und elastisch« fühlt. Die begnadete Kräuterfrau, die – wie sie sagt – ihre heilerischen Inspirationen von der Gottesmutter erhält, fügt noch hinzu, dass das frische grüne Kraut mehr Heilkraft enthält als das getrocknete. Nur im Winter greift sie auf ihren getrockneten Vorrat zurück.
Es ist tatsächlich guter Rat, den uns die Kräuterfrau gibt. Brennnesseltee wirkt erwiesenermaßen tonisierend, blutreinigend und blutbildend. Hier ein kurzer Überblick der Indikationen:
Brennnesseltee hilft bei:
• Ekzemen, Pickeln, schlechter Haut.
• Diabetes. Der Tee eignet sich als Zusatztherapie bei Zuckerkrankheit, da er die Funktion der Bauchspeicheldrüse günstig beeinflusst und den Blutzucker senken hilft.
• Erkrankungen der Harnwege. Eine Kur ist angesagt bei Nierensteinen und Harngriesbildung.
• Verdauungsstörungen. Brennnesseltee wirkt leicht stuhlgangfördernd, tonisiert die Leber und die Galle und kann als Unterstützungstherapie bei Gallenblasenentzündung, Magen- und Darmgeschwüren getrunken werden.
• Milzleiden. Die Milz ist ein wichtiges Organ des Immunsystems. Sie dient als Auffangstelle für Bakterien, Parasiten, Zelltrümmer, weiße Pulpa und andere Blutverunreinigungen. Auch hier kommt die blutreinigende Wirkung des Tees zum Tragen. Seit der griechischen Antike wurde Brennnessel bei »Drüsenschwellung« verwendet.
• Allergien. Bei Autoimmunkrankheiten, wenn das Abwehrsystem sich gegen den eigenen Körper wendet, kann eine Brennnesselteekur Hilfe leisten.
• Ermüdungs- und Erschöpfungszuständen, die auf Blutarmut (Anämie) zurückzuführen sind. Die Brennnessel ist ein regelrechtes Eisentonikum.
• Rheuma und Gicht. Diese Stoffwechselerkrankungen haben viel mit der Ansammlung von toten Stoffen und Schlacken im Gewebe zu tun. Der leicht harntreibende Brennnesseltee bringt die Ablagerungen wieder in Bewegung und schwemmt überschüssige Chloride und Harnstoffe aus.
Familie:
Brennnesselgewächse
Volksnamen:
Donnernessel
Esternessel
Habernessel
Hanfnessel
Haarnessel
Krauskopf
Sennnessel
Seuznessel
Tissel
Zingel
franz. ortie
engl. stinging nettle
ital. ortica
• Bei Allergien, Raucherbein und Durchblutungsstörungen. Brennnesseltee oder eine Abkochung des Krauts kann man als Badezusatz ins Bad geben.
• Haarwuchsproblemen. Nach dem Shampoo werden die Haare gründlich mit Brennnesseltee gespült. Das kräftigt die Haare.
Als Haarwuchsmittel noch besser geeignet ist eine Abkochung aus Brennnesselwurzeln. Pfarrer Kneipp meint dazu: »Solange die Haarwurzeln noch leben, hilft es«, mit anderen Worten bei psychosomatisch verursachtem Haarverlust. Der Glaube, dass das behaarte Gewächs die Glatze verhindern könnte, ist uralt und beruht auf der Lehre der Signaturen. Nicht nur die Ärzte und Alchimisten des Mittelalters waren überzeugt, dass der Schöpfer jeder Pflanze die Merkmale gibt, die es einem erlauben, auf ihre Heilkraft zu schließen; auch die Schamanen und Medizinleute der Indianer, Afrikaner und anderer Naturvölker teilen diese Ansicht. So war man zum Beispiel überzeugt, dass das Johanniskraut ein gutes Wundmittel ist; zerdrückt man nämlich die gelben Blüten zwischen den Fingern, quillt ein roter, blutähnlicher Saft heraus. Die Feigwurz (Scharbockskraut) hat kleine Speicherwurzeln (»Feigen«), die durch ihre Form an Hämorrhoiden erinnern – daraus ergibt sich, sie gegen dieses peinliche Leiden einzusetzen. Das Schöllkraut galt als das beste Leberheilmittel, denn seine Blätter sind nicht nur lappenförmig wie die Leber, sondern riechen auch wie frische Leber, wenn man sie zerquetscht. Interessant an den Signaturen ist, dass sie meistens zutreffen: Johanniskraut ist tatsächlich ein hervorragendes Wundheilkraut; Scharbockskraut kann bei Mastdarmkrampfadern wirklich hilfreich sein; das Schöllkraut ist ein erprobtes Lebermittel. Und so können wir auch annehmen, dass die Brennnessel mit ihrer haarigen Signatur tatsächlich die Kopfhaut vitalisiert und den Haarwuchs stimuliert.
Aber nicht nur der Tee, sondern auch die Wurzeln und die frischen Stängel lassen sich therapeutisch einsetzen. Seit einiger Zeit wird zum Beispiel bei chronischer Prostataentzündung und Reizblase ein Wurzelextrakt verschrieben. Die Allgäuer Kräuterfachfrau Susanne Fischer-Rizzi verrät, wie man eine solche Tinktur herstellt (FISCHER 1984:60): »Die frischen Wurzeln werden gesäubert, klein geschnitten und in ein Glas mit Schraubverschluss gefüllt. Mit 45%igem Alkohol aufgießen, 2–3 Wochen ziehen lassen, gelegentlich schütteln, abseihen und in dunkle Tropfflaschen füllen. Dosierung: 3mal 20 Tropfen täglich.«
Noch eine weitere Verwendung der Brennnessel in der Heilkunde wollen wir uns anschauen: Schmerzende, rheumatische Gelenke bearbeitete man mit frischen Brennnesselruten. Urtifikation wurde diese Behandlung genannt. Sie wurde auch in Fällen von Lähmungen und Schlafsucht angewendet. Ich persönlich habe positive Erfahrungen mit dieser alten Methode gemacht. Beim Radfahren im eisig kalten Regen bekam ich ein schmerzendes, steifes Knie. Weder Salben noch warme Bäder halfen. Als ich nach einigen Tagen mit schmerzverzerrter Miene an einem Brennnesselhorst vorbeihumpelte, kam mir der Gedanke, das Knie mit Brennnesseln zu schlagen. Es tat gar nicht so weh, wie ich es mir vorgestellt hatte. Das Gelenk wurde knallrot und schwoll an. Ich spürte, wie Blut und Lymphe in Wallung gerieten. Eine einzige Behandlung genügte, um mich von dem Rheumabefall zu befreien. Es ist übrigens eine alte Erkenntnis der Naturheiler, dass Blutzufuhr Heilung bringt. Durch Kaltwassergüsse, Hitze oder – wie in diesem Fall – Urtifikation lenkten sie das Blut in die erkrankten Organe und Gewebe.
Auch die Bauern bedienten sich dieser Methode: Mit Schlägen der Brennnesselrute trieben sie störrische Rinder und alte Hengste zur Paarung. Und was beim Vieh wirkt, wirkt auch beim Menschen. Jene, deren Manneskraft abhanden gekommen war, ließen sich ebenfalls mit Nesselruten traktieren.
MARS IN SEINER PFLANZLICHEN VERKÖRPERUNG
Der schwedische Naturforscher Carl von Linné, genannt Linnaeus (1707–1778), war ein echter Sohn der Aufklärung und ein Verfechter des modernen rationalen Weltbildes. Er machte es sich zum Lebenswerk, die Pflanzen und Tiere nach ganz natürlichen Kriterien zu ordnen. Die Pflanzen klassifizierte er nach der Anatomie ihrer Sexualorgane: den Blüten. Er zählte die Stempel und Staubblüten, die Blütenblätter und Kelchblätter und verzeichnete die jeweilige Anordnung. Auf dieser Grundlage sortierte er die Gewächse säuberlich in Gattungen und Arten. Ein System, das bis heute seine Gültigkeit bewahrt hat.
Die Alchimisten, Ärzte und Apotheker der Zeit vor der Aufklärung hatten dagegen ein ganz anderes System der Klassifizierung. Sie erlebten die Pflanzen als Lebewesen, die ganz den Rhythmen und Einflüssen des Kosmos ausgesetzt sind und dessen Gesetzmäßigkeiten widerspiegeln. Sie ordneten also die Pflanzen in Bezug auf die zwölf Tierkreisregionen und vor allem nach ihrer Planetenzugehörigkeit. Die Planeten drücken den jeweiligen Pflanzenarten ihr unverwechselbares Siegel auf. Diese Siegel oder Signaturen gilt es zu erkennen.
Unter Planeten verstanden die mittelalterlichen Weisen alle »wandelnden Sterne«, welche im Gegensatz zu den Fixsternen ihre Position am Himmel verändern. Sieben solche Wandelsterne konnten sie ausmachen: die erdnahen Planeten wie Mond, Merkur und Venus und die erdfernen wie Mars, Jupiter und Saturn. Die Sonne galt dabei als das Herz des Systems, als der mittlere Planet (STORL 1994:167).
Im Gegensatz zu unseren Astrophysikern stellten sich die alten Astronomen die Planeten weniger als stofflich-materielle Körper in orbitaler Bewegung vor, sondern als ineinander fließende, schöpferische Energien. Man war überzeugt, das ganze Dasein sei aus den sieben planetarischen Wirkkräften gewoben, und der Botaniker, der sich auskannte, konnte an der jeweiligen Pflanze recht gut ablesen, welche dieser Kräfte in ihr wirksam sind. Zwar sind alle sieben Kräfte an der Entwicklung einer jeden Pflanze beteiligt, aber je nach Art dominiert einmal der eine und ein andermal der andere Planet. Der pflanzenkundige Apotheker konnte also durchaus von saftigen Mondgewächsen, schnell wachsenden Merkurpflanzen, lieblichen Venuspflanzen, süßen, ölhaltigen, safrangelb blühenden Jupitergewächsen oder trockenen, dunklen Saturngewächsen sprechen.
Bei der Brennnessel – da herrscht unter den alten Botanikern kein Zweifel – handelt es sich eindeutig um eine Marspflanze. In ihren positiven wie in ihren negativen Eigenschaften gibt sie die Signatur des heißen, feurigen Planeten zu erkennen. Wir sollten uns diesen Planetengott etwas näher anschauen.
Mars ist der archetypische Krieger, der Eroberer. Bewaffnet tritt er auf. In allen stacheligen, spitzen, stechenden, scharf brennenden Pflanzen erkennen wir seine Signatur. Seine Pflanzenkinder sind keine wässrig aufgedunsenen, weichen Gewächse, wie sie etwa der Mond hervorbringt, und auch keine schleimigen, schlangenähnlichen Schlingpflanzen, wie sie dem Merkur angehören, sondern Gewächse mit streng geordneter Physiognomie – eben wie die Brennnessel. Mit ihrem kerzengeraden vierkantigen Stängel und den geordneten, gegenständigen Blattpaaren, die sich rhythmisch von Knoten zu Knoten dem Blütenpol zu bewegen, mit ihren spitzen Brennhaaren ist sie ganz die Erscheinung eines Kriegers oder Soldaten, der in strenger Selbstzucht verharrt.
Auch die Blüten haben nichts Verschwenderisches, nichts Prahlerisches an sich. Sie haben weder Farbe noch Nektar noch einen besonderen Duft. Sie kleiden sich, wenn man so will, in ein schlichtes Feldgrau. Und dennoch hat die Brennnessel bezaubernde Farben. Nur hat sie diese auf Armeslänge von sich geschoben – sie wird umflattert von den schönsten bunten Schmetterlingen, von dem rötlichen Kleinen Fuchs, von dem Landkärtchen, dem Tagpfauenauge und dem prachtvollen Admiral. Die Raupen dieser Falter ernähren sich mit Vorliebe von den Blättern der Nessel.
Zu der Signatur des Mars gehört die feurige Hitze. Die galenischen Humoralpathologen der Antike und des Mittelalters erkannten in der Brennnessel, dieser typischen Marspflanze, ein heißes, trockenes »Temperament« des dritten Grades. Das ist sehr heiß. Entsprechend verordnete man sie, wenn es galt, etwas zu erwärmen oder auszutrocknen, etwa bei Milzverhärtung, Steinleiden, kalten Geschwüren, Asthma, Brustfellentzündung oder Lungenentzündung. Aber auch bei verschiedenen hitzigen Erkrankungen und Fiebern fand sie Anwendung nach dem (homöopathischen) Prinzip, man solle Gleiches mit Gleichem heilen. Schon Plinius, der römische Schriftsteller, der das Naturwissen der Antike zusammentrug, schrieb, dass die Wurzel der Herbstnessel, dem Kranken aufgebunden, das drei- oder viertägige Fieber heile. Man müsse aber beim Ausgraben der Pflanze den Namen des Kranken nennen und ihr sagen, wessen Sohn dieser sei.
Es ist noch gar nicht so lange her, dass man in ländlichen Gebieten versuchte, sämtliche Fieber auf dieses feurige Kraut zu übertragen. Auch wurde die Pflanze dabei rituell angesprochen. So sollte der Fiebernde drei Tage hintereinander, vor Sonnenaufgang und abends nach Sonnenuntergang, zum Nesselhorst gehen und sagen:
»Guten Morgen (bzw. Guten Abend) liebe Alte!
Ich bringe die Heiße und Kalte.
Mir soll es vergehen.
Du sollst es bekommen!«
Oder der Fiebernde bestreute die Pflanze mit Salz und sprach:
»Ich streue den Samen durch Christi Blut.
Es ist für 77erlei Fieber gut!«
Als Medizin gegen »Hitze und Brand« bei Mensch und Vieh grub man zu Mariä Himmelfahrt Brennnesselwurzeln aus, die unter einer Dachtraufe wuchsen, trocknete sie und verrieb sie mit Schneckenschalen und einem Schädelstück zu Pulver. Zum Einreiben gefrorener Glieder hingegen wurden Brennnesseln vor Sonnenaufgang gepflückt und in Öl gesotten. Derartige Rezepte könnten beliebig aufgezählt werden. Der kritische Zeitgenosse mag da die Nase rümpfen und ungläubig den Kopf schütteln – dennoch, in den Zauberrezepten der alten Volksmedizin liegt sicherlich ein Quäntchen Wahrheit. Beim genaueren Hinsehen entpuppt sich der Aberglaube als überaus wirksam, wenn er von einer gesellschaftlich getragenen Erwartungshaltung begleitet wird.
POTENZ UND FEURIGE LIEBE
Die traditionellen Kräuterkundigen lehrten, dass jeder Planet am Pflanzenwachstum beteiligt ist: der Mond am Keimen und am Wurzelwachstum, Merkur am Aufschießen der jungen Triebe und Sprossen, Venus an der Entwicklung des grünen Laubs, der Blüten- und Fruchtblätter. Mars ist als Verkörperung der männlichen Sexualität in den Staubblättern und im befruchtenden Blütenstaub vorhanden. Wenn Mars und Venus sich als Ovum und Pollenkorn vereinen, kommt Jupiter zum Zuge. Er lässt die Frucht anschwellen und ausreifen. Zuallerletzt kommt Saturn daher. Er bedeutet den Tod der Pflanze, zugleich aber trägt er als kosmischer Sämann die Saat durch den Winter in die kommende Jahreszeit, wenn die Vegetation erneut ergrünt.
Nach dieser Anschauung müsste die Brennnessel als Marspflanze besonders potent sein und besonders viel Blütenstaub erzeugen. Diese Vermutung trifft durchaus zu. Die Große Brennnessel ist, wie ihr lateinischer Artname dioica andeutet, zweihäusig: das heißt, die Staubblüten und die Fruchtknoten befinden sich in »zwei verschiedenen Häusern«, also auf getrennten »männlichen« und »weiblichen« Pflanzen. Zur Befruchtung muss der Wind den Pollenstaub auf die begattungsbereiten Narben tragen. Weht aber kein Wind, was kümmert’s diese Marspflanze! Die Spannung in den männlichen Blütenhüllen ist dermaßen stark, dass die Staubbeutel bei der ersten Berührung der morgendlichen Sonnenstrahlen nach außen schnellen und explosionsartig eine kleine Wolke Blütenstaub in die Luft schleudern. Wenn man sich die Zeit nimmt, kann man diesen Vorgang gut beobachten.
Früher, ehe es eine wissenschaftliche Botanik gab, wusste man noch nicht, dass diese Pflanze zweihäusig ist. Aber an ihrem erotischen Drang bestand kein Zweifel. Sie braucht ein weibliches Gegenüber. So meinte man, die Nessel nehme sich die sanfte weißblütige Taubnessel (Lamium album) zur Frau. Und genau so, wie man die Taubnessel als Venusgewächs bei weiblichen Unterleibsstörungen (Weißfluss, Menstruationsstörungen, Blasenentzündung) einsetzte, wurde ihr Buhle, die Marspflanze, bei Potenzstörungen des Mannes empfohlen. Überhaupt galt die Brennnessel als sicheres Liebes- und Lenzmittel. Darauf deutet auch die auf keltischer Überlieferung basierende Blumensprache der Minnesänger hin: »Wer heiß brennende Liebe in seinem Herzen fühlt, soll die sengenden Nesseln tragen.«
Mit der Pflanze konnte man dem oder der so innig Begehrten eine unausweichliche, »heiße, brennende Liebe« anzaubern. Dazu musste man an einem Freitag, dem Tag der Liebesgöttin Venus, vor Sonnenaufgang heimlich auf eine Nesselstaude urinieren, den Namen des oder der Begehrten aufsagen und die Pflanze mit Salz besprengen. Nach Sonnenuntergang desselben Tages grub man die Nessel aus, legte sie in die Glut und beschwor drei Dämonen:
»Öl, Ammel und Ingrimm,
So wie die Nessel hier brennt,
So brenne auch sein (ihr) Herz nach mir!«
Wenn wir annehmen, dass Gedanken und Wünsche eine Art von Energie darstellen und dass es so etwas wie Telepathie gibt, dann hat man mittels dieses Rituals gewiss eine Wirkung erzielt. Der davon Betroffene, der vermutet, auf diese Art und Weise verzaubert worden zu sein, vermag sich dennoch zu wehren: Wenn er etwas Johanniskraut oder eine Wegerichwurzel bei sich trägt, wird man ihm nichts anhaben können.
Die Brunst des Mars ist also nicht nur eine physische, mit dem Thermometer messbare Hitze, sondern ebenso die Hitze des Kampfes, der Begeisterung und der sinnlichen Leidenschaft. Die kühle Venus hat den Hitzkopf zu ihrem Liebhaber auserkoren, er ist ihr Eroberer. Mars verkörpert immer das eindringende, begattende Prinzip, die holde Göttin immer das empfangende Prinzip.
Liebesfeuer und Manneskraft lassen sich tatsächlich mit Brennnesselsamen anfachen. In mittelalterlichen Klöstern, wo es unter den Bettstellen nur so von Buhlteufeln wimmelte, unterlagen Brennnesselsamen einem strikten Verbot. Schon die Ärzte der Antike hatten verkündet, dass der Brennnesselsamen feurig in der Liebe mache und die Wehen der Geburt lindere. Dioskorides, der griechische Feldarzt im Dienst der römischen Kaiser Claudius und Nero, bemerkt, dass »Nesselsamen, in Wein getrunken, macht ein Begierd zu Unkeuschheit und öffnet die verstopfte Gebärmutter«. Otto Brunfels (1489–1534), einer der »Väter der Botanik«, fügt hinzu: »Der Same in süßem Wein getrunken reyzet zur Unkeuschheit und thut auf die Macht (Scheide). Ettliche andere, wenn sie wöllen eheliche Werk treiben, essen sie den Samen mit Zwiebeln und Eidottern und Pfeffer.« In abgelegenen Winkeln des Schwabenlandes gibt es noch heute Kräuterfrauen, die den Samen der »Nessele« als fruchtbarkeitsfördernd ansehen. Sie sammeln die Samen im Feuermonat August, wenn sich der Mond in einem Feuerzeichen (Schütze, Widder, Löwe) befindet. Im Emmental sammelt man im Augustmond Nesselsamen gegen Wassersucht.
Tatsächlich bewirken die Samen eine deutlich spürbare Kräftigung der Konstitution. Man kann sie im Herbst sammeln, trocknen und bis zur nächsten Ernte im Glas aufbewahren. Brennnesselsamen sind eine Schatztruhe wertvollster konzentrierter Mineralien, Vitamine und Phytohormone. Sie regen die Körperfunktionen an, helfen bei chronischer Müdigkeit und Leistungsschwäche und fördern bei stillenden Müttern die Milchbildung. Als immunstärkendes Mittel sind die Brennnesselsamen wahrscheinlich dem teuren, aus Korea importierten Ginseng ebenbürtig. Mit den Samen kann man nach Belieben Suppen würzen oder zur Stärkung einen Teelöffel pro Tag kauen. Die winzigen Nüsschen schmecken gut und werden beim Kauen recht schleimig, wie es sich für Träger von Lebenskraft gehört.
BLUT, EISEN UND BLATTGRÜN
Bestimmte Pflanzengattungen und -familien spezialisieren sich auf ganz bestimmte Stoffe. Schmetterlingsblütler zum Beispiel saugen sich mit Hilfe kleiner Wurzelbakterien mit Stickstoff voll. Gänseblümchen, die gewöhnlich auf kalkarmen Wiesen wachsen, sammeln Kalk. Der Stechapfel ist auf Phosphor spezialisiert. Und der Schachtelhalm ist dermaßen auf Kiesel (Silizium) versessen, dass man einst mit seinen harten, kieseligen Stängeln die Zinnbehälter polierte. Jeder Pflanzengattung kommt im Haushalt der Natur eine besondere Aufgabe zu. Auch der Brennnessel. Sie hat als zünftige Marspflanze ein besonderes Verhältnis zum Eisen, dem Metall des roten Planeten. Nesselkolonien besetzen mit Vorliebe Böden, auf denen Schrott und alte Maschinen dahinrosten. Gierig saugen die Nesseln das Metall auf und regulieren auf diese Art und Weise den Eisenstoffwechsel des Bodens.
Brennnesseln enthalten viel Eisen, bis zu sechs Prozent des Aschengehalts. Das Eisen der Brennnessel ist von großer biologischer Verfügbarkeit, es kann leicht von unserem Organismus aufgenommen werden. Wir alle brauchen Eisen. Als Baustein der roten Blutkörperchen hilft es, den Sauerstoff, der für jede einzelne Zelle lebensnotwendig ist, zu transportieren und zu speichern. Gelegentlich kann es vorkommen, dass Menschen nicht genug von diesem Marselement in sich haben. Sie sind dann blass, lustlos, träge und schlapp: Sie leiden an »Blutarmut«. Besonders Schwangere sind davon betroffen. Werdende Mütter – so der Bergbauer Arthur Hermes, der Mystiker aus dem waadtländischen Jura – wären gut beraten, jeweils morgens, mittags und abends einen Esslöffel frischen Brennnesselsaft einzunehmen.
Auch willensschwachen Menschen, jenen, denen es schwer fällt, ihren irdischen Leib voll in Besitz zu nehmen, gibt Arthur Hermes diesen Rat. »Eisen macht wach«, sagt der passionierte Brennnesselteetrinker, »es zieht unser höheres Ich in unseren Körper hinein und lässt uns als geistige Wesen voll inkarnieren. Das ist bei uns Menschen der Fall ebenso wie bei unserer Mutter Erde, der Gaia. Ein Eisenkorn gliedert ihren Leib in zwei magnetische Pole und durchzieht ihn mit jenen Kraftlinien, die der Kompass registrieren kann. Vergleichsweise vermittelt uns das Eisen im Blut einen Bezug zu den Gesetzen des materiellen Raums und ermöglicht unsere irdische, karmische Betätigung. Ohne Eisen könnte das spirituelle Selbst gar nicht innerhalb materieller Dimensionen agieren. Ohne Eisen kann sich dieses Selbst gar keinen Körper als irdisches Fahrzeug aufbauen, also brauchen Schwangere viel davon.«
Fleißige Chemiker haben die molekulare Struktur des Hämoglobins, des roten Blutfarbstoffes, genau untersucht. Das Molekül besteht aus einem ringförmigen Porphyrgerüst, in dessen Mitte sich ein Eisenmolekül befindet. Nun ist es äußerst interessant, dass das Chlorophyllmolekül (das Blattgrün), welches die Sonnenenergie auffängt und allen Lebewesen das Leben ermöglicht, genau dieselbe molekulare Struktur besitzt wie das Hämoglobin! Das Blattgrün ist praktisch ein Spiegelbild des roten Blutfarbstoffes. Es stellt dem Rot die Komplementärfarbe Grün entgegen. Es sondert den Sauerstoff ab, den das Hämoglobin aufnimmt; es atmet den Kohlenstoff ein, den das Hämoglobin absondert.
Was nun den Unterschied zwischen diesen Zwillingen ausmacht, ist, dass das Chlorophyllmolekül in der Mitte des Porphyrringes anstatt eines Eisenatoms ein Magnesiumatom aufweist. Dennoch braucht jede Pflanze Eisen, um nicht bleichsüchtige, weißliche Blätter zu bekommen, ebenso wie jeder tierische Organismus Magnesium braucht. Hätte die Pflanze aber Eisen inmitten des Chlorophyllmoleküls, dann hätte sie keinen grünen Saft, sondern rotes animalisches Blut; dann würde sie aus ihrem vegetativen Schlaf erwachen; dann wäre auch sie eine Art Mikrokosmos. Aber die Pflanze ist dazu bestimmt, ein makrokosmisches Wesen zu bleiben ohne seelisches und geistiges Innenleben, wie es bei Organismen mit rotem Blut der Fall ist. Sie braucht keine inneren Organe, kein rotes Blut; sie bleibt notgedrungen der äußeren Natur, dem Kosmos zugewendet; sie bleibt offen für die Energien, die ihr aus den Weiten des Alls und von der Sonne zuströmen.
Die grünen Chloroplasten im Blatt gleichen in verblüffender Weise den Stäbchen in der Netzhaut des menschlichen Auges. Blätter sind tatsächlich lichtsensible Organe, Augen, die Energiequanten aus dem Kosmos empfangen und damit die stofflichen Elemente (Wasser, Luft, Mineralien) beleben und zu Biomasse aufbauen. Die komplementären roten Blutkörperchen nehmen dann einen Teil dieser Lebensenergie auf und lassen sie den tierischen und menschlichen Mikrokosmen zukommen.
Wie wir bereits sagten, das Eisen im Blut schafft Geistesgegenwart. Es erschwert das »Abwesendsein«, das Abheben, das Hinwegschweben unseres Bewusstseins in kosmische Fernen. Hier liegt die Begründung für den archaischen Glauben, dass man Heilpflanzen nicht mit einem metallenen Messer schneiden soll, denn das würde die »jenseitigen«, mit den Sternen verbundenen Heilkräfte blockieren. Hier liegt auch die Begründung des altkeltischen Glaubens, dass die Elfen und Pflanzengeister von Eisen vertrieben werden oder dass man Hexen mit Eisen abwehren kann – was anderes sind denn Hexen als die frei schwebenden Astralleiber von Menschen, die sich in Trance befinden, die »weg« oder abgehoben sind? In Tiefschlaf oder Trance gleichen wir den Pflanzen. Wir sind dann wie sie zwar physisch und ätherisch präsent, aber unser bewusster Geist und unsere empfindende Seele schweben »außerhalb«. Hätten wir statt Eisen Magnesium im Blut, dann kämen wir – wie die Pflanze – nie wieder zurück, wir blieben im vegetativen Zustand. Das Eisen aber hilft dem Geist, wieder in den Körper zurückzufinden.
Nun könnte man meinen, dass die Brennnessel, die sich dermaßen mit Eisen vollsaugt, ihr pflanzliches Dasein aufgeben und ebenfalls wach und tierhaft werden sollte. In gewissem Sinn tut sie das auch. Sie hat durchaus etwas tierhaftes (astralisches) an sich. Sie umgibt sich mit einem Pelz aus spitzen Nadeln, die mit Tiersubstanzen, ähnlich den Giften der Bienen und Ameisen, gefüllt sind. Diese Gifte wirken auch bewusstmachend – wir brauchen die Nessel nur zu berühren, und sofort sind wir wacher, sind wir »da«. Wir verlieren das pflanzliche, das himmlische Träumen und erfahren den Schmerz des irdischen Daseins.
Um Pflanze zu bleiben, um trotz des vielen Eisens, das sie aufnimmt, nicht einem tierischen Seinsmodus zu verfallen, greift die Brennnessel zu einem geeigneten Gegenmittel. Sie schützt sich, indem sie besonders viel Chlorophyll produziert. Sie stellt sozusagen dem roten Marsmetall die Macht des Magnesiums entgegen. Sie strotzt nur so vor lauter Blattgrün, mit dem sie die Sonnenkräfte in sich hineinzieht. Sie ist vom unteren Stängelbereich bis in die Blütenregion grün. Sie scheint derart mit dem Grünsein beschäftigt zu sein, dass ihr keine Lust und Laune bleibt, bunte Blüten hervorzubringen. Sie ist so reich an Blattgrün, dass der Chlorophyllbedarf von Handel und Industrie – Nahrungsmittelfarben, Zahnpasta, Mundwasser – vorzugsweise durch Brennnesseln gedeckt wird.
GEISTERPFLANZE
Naturverbundene Völker, die etwas von der archaischen Fähigkeit des außersinnlichen Wahrnehmens bewahrt haben, wie zum Beispiel die Zigeuner, die Hochlandschotten oder die »Spökenkieker« nahe der Nordseeküste, nehmen in der Umgebung von Brennnesselhorsten oft ungewöhnliche Erscheinungen wahr. Übersinnliche Energien, die manchmal als Geister, als Ahnen oder als Heinzelmännchen gedeutet werden, umweben und umschweben die Nesseln. Die Siebenbürger Zigeuner sprechen von kleinen Erdmännlein, die sie Pchuvuschen nennen. Die Brennnesselkolonien sind folglich »Wälder der Pchuvuschen«. Die Männlein sind stark behaart, hässlich und äußerst geil. Gerne nehmen sie sich Menschenfrauen, um sich fortzupflanzen. Frauen, denen so etwas widerfährt, wissen gar nicht, was mit ihnen geschieht. Sie fühlen sich einfach von den Nesseln angezogen, und die unsichtbaren Pchuvuschen, die sie gebären, erscheinen ihnen höchstens im Traumgesicht. Den winzigen Männlein wachsen drei goldene Haare auf dem Kopf. Wem es gelingt, eines davon auszureißen, der kann dann Steine in Gold verwandeln. Die Deutung solcher Aussagen überlasse ich lieber dem Leser. Vielleicht haben solche Geschichten etwas mit der »Eisenstrahlung« zu tun, die von der Brennnessel ausgeht. Das glauben jedenfalls die biodynamischen Gärtner. Und das Gold, von dem die Rede ist, ist sicherlich das Gold der Weisheit.
EIN FREUND DES LANDMANNES
Die Brennnessel als Freund und Helfer des Gärtners oder des Bauern? Kaum zu glauben, wenn man bedenkt, wie hemmungslos der Landwirt heutzutage auf die giftigsten Herbizide zurückgreift – auf Trichlorphenoxyessigsäure etwa, welche den Stoffwechsel der Pflanze derart beschleunigt, dass sie sich zu Tode wächst –, um die sich ausbreitenden Brennnesselkolonien zu vernichten. Möge Mutter Gaia dem Landmann die Augen öffnen, damit auch er die positiven Seiten dieser Pflanze zur Kenntnis nehme.
In früheren Zeiten, als die Menschen noch in einer bunteren, magischen Welt lebten, sahen sie in der Brennnessel einen wahren Bundesgenossen gegen verschiedene Bedrohungen. Der Bauer im Erzgebirge steckte zum Beispiel nebst einem Besenstiel Brennnesselzweige in die Ecke des Feldes, das er bepflanzen oder einsäen wollte. Dazu sagte er: »Da, du Krähe, das ist dein; was ich stecke, das ist mein!«
Fast überall wurden Nesselbüschel im Stall aufgehängt, damit unsichtbare fliegende unholde Wesen, Hexen eben, dem Vieh und der Milch nichts Böses antun. Hexen fürchten sich allgemein vor dornigen, stacheligen oder spitznadeligen Gewächsen, in denen sie hängen bleiben können. Zur Walpurgisnacht, wenn es die Unsichtbaren besonders wild treiben, wurden Nesselruten auf die Düngerhaufen gesteckt, oder der Mist wurde sogar damit gepeitscht. Man glaubte, die Hexen würden das am eigenen Leib spüren, und es würde ihnen die Lust vergehen, sich am Vieh zu vergreifen.
In ganz Osteuropa wurde Milchzauber mit der Brennnessel getrieben. Wollte die Milch nicht zur Butter werden, dann holte sich der sächsische Bauer eine Nesselrute und redete die Pflanze beim Pflücken mit folgenden Worten an: »Grüß dich Gott, Nesselstrauch,
Hast fünfzig (Feuer) und kein Rauch
Gib mir den besten (Schlüssel)
Lass mich aufschließen der Zauberin ihr Schoß
Dass ich kann herausnehmen den Butterkloß
Das helfe mir Gott!«
Am höchsten Feiertag der Südslaven, dem Badnick, geht ein nacktes Mädchen in den Stall und berührt mit einem Brennnesselzweig jedes einzelne Tier, besonders die Milchkühe. Dabei sagt das Mädchen: »Besser die Nessel als jene, die da kommen könnte, die Milch wegzunehmen!«
Damit die Milch an heißen Tagen nicht so schnell sauer wird, war es vielerorts Brauch, einen Brennnesselzweig in die Milch zu tauchen. Noch in diesem Jahrhundert (1902) wurde eine Berliner Milchverkäuferin wegen Lebensmittelverfälschung vor Gericht gestellt, weil sie versucht hatte, auf diese Weise das Gerinnen zu verhindern. Die Angeklagte musste aber freigesprochen werden, da sie ein »allgemein geübtes Verfahren« angewendet hatte.
Heutzutage bringt der Bauer oder Gärtner solchen Zauberpraktiken wenig Verständnis entgegen. Schule und Medien haben uns den Zauberglauben ausgetrieben, und gegen Milchversäuerung gibt es immerhin Kühlbehälter. Dennoch spielt die Brennnessel immer noch eine wichtige Rolle für den naturnahen Gärtner oder Bauer. Überall, wo sie wächst, hinterlässt sie einen guten, ausgeglichenen Boden. Sie gilt unter Kennern als hervorragende Humusbildnerin. Schauen wir uns nun einmal näher an, was der kluge Landmann alles mit der Brennnessel anfangen kann:
• Mancher Gärtner bereitet aus der Brennnessel eine Jauche, die die Gemüsepflanzen nicht nur kräftig düngt, sondern auch gegen Schädlings- und Pilzbefall widerstandsfähiger macht. Das Düngen mit dieser Jauche verändert die Zusammensetzung der Säfte in den Kulturpflanzen, sodass sie den Insekten nicht mehr so gut schmecken. Ein alter Gärtner erzählte mir, er habe sogar beobachtet, wie durch diese Behandlung die Ameisen aktiver wurden und auf Raupenjagd gingen. Die Brennnesseljauche stinkt entsetzlich, aber wie das Sprichwort sagt: Was stinkt, das düngt!
• Bei Stängelfäule, die die jungen Pflänzlein im Frühbeet umkippen lässt, bei Mehltau und anderem Pilzbefall ist ein Brennnesseltee das geeignete Mittel. Der Aufguss, mit Zusatz von einem Teil Schachtelhalm und einem Teil Kamille, wird zur Vorbeugung auf die gefährdeten Pflänzchen gesprüht. Man könnte zur Wirkung sagen, dass der feurige Mars keine mondhaften Schmarotzer duldet wie Pilze oder Mehltau.
Rezepte
Wie man Brennnesseljauche macht
Einen Bottich oder ein Fass – nicht aus Metall – bis oben mit Brennnesseln füllen, mit Regenwasser auffüllen und an einen sonnigen Ort stellen. Das Gebräu fängt bald an zu gären und zu stinken. Der Zusatz einer Handvoll Steinmehl hilft, das
sich bildende Ammoniakgas zu binden. Nach etwa drei Wochen ist die Jauche fertig. Sie wird 1:10 mit Regenwasser verdünnt und um die Pflanzen gegossen. Besonders Starkzehrer wie Kohl und Tomaten sind dafür dankbar.
• Als Nachbarschaftspflanze erhöht die Brennnessel in Heilkräutern den Gehalt an ätherischen Ölen (PHILBRICK/GREGG 1967:73). Messungen ergeben folgende Steigerungen des Ölgehalts:
Baldrian | 20% | Pfefferminze | 10% |
Engelwurz | 80% | Salbei | 10% |
Majoran | 10–20% |
• Kohl, Äpfel, Kartoffeln und andere Gemüse halten sich besser im Gemüsekeller, wenn man sie auf Brennnesseln legt oder mit Brennnesseln abdeckt. Grüne Tomaten reifen gut nach und halten sich in Brennnesselverpackung länger.
• Getrocknete Nesselblätter, unter Hühnerfutter gemischt, machen Eidotter schön gelb und schützen das Federvieh gegen Durchfall.
• Kühe bringen eine bessere Milchleistung, wenn sie getrocknetes Brennnessellaub mit ins Futter bekommen. Dieser »Milchzauber« wird in Russland und auf den Britischen Inseln noch immer praktiziert.
• Pferdehändler mischen gern Nesselsamen unter den Hafer, damit die Pferde »feurig« werden. Sie bekommen zudem davon ein glänzendes Fell.
BRENNNESSEL ALS BIODYNAMISCHES PRÄPARAT
Rudolf Steiner, der die biologisch-dynamische Landwirtschaft ins Leben rief, entwickelte eine Serie von Kräuterpräparaten, die dem Kompost beigegeben werden, um ihn für die »dynamischen« Impulse, die von den Planeten auf die Erde strahlen, empfänglich zu machen. Die zu bestimmten Zeiten gepflückten Kräuter werden in tierische Organe gehüllt, welche die in den Pflanzen vorhandenen kosmischen »Bildekräfte« – wir würden sie Energien nennen – festhalten und intensivieren. Schafgarbenblüten werden zum Beispiel in eine Hirschblase gestopft, Löwenzahn wird in Rindergekröse gehüllt, Kamille kommt in Rinderdarm, Eichenrinde in einen Schafs- oder Kuhschädel. Nur die Brennnessel braucht keine besondere tierische Hülle, sie ist ja schon in einen Mantel aus Tiergiften gehüllt. Sie wird lediglich ein Jahr lang im Humusboden vergraben und dann in homöopathischer Dosierung dem Kompost zugesetzt. Das Brennnesselpräparat bringt, wie die Biodynamiker gerne sagen, die Kräfte des Mars in den Kompost. Die Brennnessel »durchstrahlt den Kompost wie das Eisen das Blut« und macht – wie Rudolf Steiner sagt – »den Boden vernünftig«. Sie treibt das »mondhaft Wuchernde«, das nicht dahin gehört, aus, sodass sich die Urbilder der Pflanzen besser inkarnieren können und sie artgerechter wachsen (STORL 1992:322).
Ich vermute, dass die Brennnessel noch viele andere nützliche Eigenschaften besitzt, die der Landwirt noch gar nicht kennt. Botaniker nennen sie eine anthropochore Pflanze, eine Pflanze, die »mit dem Menschen tanzt« (griech. anthropos = Mensch, choreia = Tanz). Sie ist eine Pflanze, die dem Menschen überallhin folgt, als wolle sie von ihm adoptiert, gehegt, gepflegt, geliebt werden. Sehr viele unserer Garten- und Feldfrüchte waren einst ebenfalls anthropochore Pflanzen. Sie waren Unkräuter, die sich in den Gärten und Feldern breit machten, bis sie sich zu anerkannten, echten Kulturpflanzen »mauserten«. Roggen und Hafer waren einst Unkräuter in den Weizenfeldern der ersten sesshaften Bauern im Nahen Osten. Senf, Rauke, Bohnen, Linsen, Erbsen, Hanf, Mohn, Kohl, Mangold, Zuckerrüben, Chilipfeffer und Tomaten waren einst ebenfalls Unkräuter, die sich der Pflege der Menschen anvertrauten. Im letzten Jahrhundert wurde der Feldsalat (Nüssli-, Ackersalat, Valerianella), der Kubaspinat (Claytonia perfoliata) und das Burzelkraut oder Portulak (Portulaca oleracea) mit in den Gemüseanbau einbezogen. Inzwischen haben sich französische Gärtner des Löwenzahns und des Sauerampfers angenommen; man kann sich Samenpäckchen kaufen und sie ins Gartenbeet aussäen. Andere Kinder menschenfreundlicher Pflanzendevas stehen Schlange vor dem Gartentor, um in die Liga der Kulturpflanzen aufgenommen zu werden. Da besteht auch Hoffnung für die Brennnessel. Sie ist in unserem gestressten, umweltverseuchten Zeitalter von besonderer Bedeutung. Ihre immunstärkende Wirkung wird erst jetzt entdeckt. Zumindest in meinem Garten gilt sie als verehrter Gast!
DES DONNERGOTTES PFLANZE
Die heidnischen Stämme des Nordens, denen der römische Mars noch unbekannt war, betrachteten die Nessel als Pflanze des Hammergottes, den die Südgermanen Donar, die Skandinavier Thor und die Angelsachsen Thunar nannten. Blitz, Donnerschläge und fruchtbarkeitbringende Regengüsse begleiten seinen von Böcken gezogenen Wagen, wenn er über den Himmel jagt, um jene Mächte zu vertreiben, die dem Bauern den Acker verderben wollen. Mit dem Megalithhammer, der wie ein Bumerang in seine Hand zurückschnellt, zerschmettert er die harten Schädel der Frost- und Steinriesen.
Wie der vedische Indra und andere verwandte indoeuropäische Gewittergötter ist Donar ein mächtiger Zecher. Keiner kann so viel Met oder Bier trinken wie er. Die Brennnessel, vielerorts noch immer Donnernessel genannt, passt in der Tat zu diesem trinkfesten Helden. Sensitive und Wünschelrutengänger behaupten, dass die Pflanze gern dort wächst, wo sich Erdstrahlen oder Wasseradern kreuzen. Das sind genau die Stellen, an denen der Blitz bevorzugt einschlägt. Zugleich aber, nach dem archaischen Prinzip, dass Gleiches auf Gleiches einwirkt, glaubte man, dass die Brennnessel auch vor Blitzschlag schützt. So wurde oft am Gründonnerstag – Donnerstag ist der Tag Donars – ein Strauß Nesseln gepflückt und unter dem Dach aufgehängt, um den Blitz abzuwehren. In Tirol wirft die Bäuerin noch heute Nesseln ins Herdfeuer, wenn draußen ein Gewitter tobt.
Bekanntlich kann das Bier bei Gewitter »umschlagen«. Auch da hilft das Kraut des himmlischen Vieltrinkers. War ein Gewitter im Anzug, pflegten die Brauer einen Brennnesselstrauß auf den Bottichrand zu legen, damit das Bier nicht »sauer« wird, nicht gärt. Früher, bevor es ein Reinheitsgebot gab, braute man das dem Donnergott geweihte Bier mit allen möglichen Kräuterbeimischungen. Auch ein Nesselbier gab es. In England, wo viele altgermanische Bräuche erhalten geblieben sind, braut man sich noch immer ein erfrischendes Nettle beer. Es soll besonders den Älteren wohl bekommen, die an Gicht oder Rheuma leiden.
Die Brennnessel war einst Bestandteil vieler harntreibender Arzneigetränke. Auch in dieser Hinsicht erweist sie sich ihres Schutzherrn durchaus als würdig, denn Donar konnte nicht nur Unmengen trinken, er konnte auch Unmengen Harn lassen. Die Nordeuropäer dachten sich Donnergott, Harn und Brennnessel als irgendwie zusammenhängend, sie verbanden sie in Sage und Brauchtum zu einem Symbolkomplex. In Skandinavien war es Brauch, sich zur Sommersonnenwende gegenseitig mit in Urin getauchten Brennnesselzweigen zu schlagen. Kein böser »Wurm« – ob Hasswurm, Neidwurm oder Gebeinwurm – kann dem Treiben standhalten. Sie fliehen alle, wie auch die giftspeiende Midgardschlange vor den Blitzschlägen Donars flieht. Fruchtbarkeit, Gesundheit und Lebensfreude können dann Einzug halten.
Die Südslaven pflegten ihrerseits am Georgstag – der Drachentöter Georg hat vielerorts den Kult des Gewittergottes ersetzt – auf Brennnesseln zu urinieren, um das ganze Jahr über gesund zu bleiben. Auch in anderen Überlieferungen wird die Brennnessel mit dem Harn in Verbindung gebracht. So goss man etwa den Harn eines Kranken auf eine Nesselstaude; welkte sie, würde der Patient sterben, blieb sie grün, dann würde er genesen. Auf gleiche Weise glaubte man feststellen zu können, ob eine junge Frau noch Jungfrau war oder nicht: Blieb die Pflanze nach dem Begießen mit dem Urin grün, konnte man sicher sein, dass sie unberührt war.
Rezepte
Nettle beer
1 Eimer junge Brennnesselblätter
3–4 Handvoll Löwenzahn
3 Handvoll Kletten-Labkraut
1 Ingwerzehe
2 Tassen brauner Zucker
Die Kräuter langsam 45 Minuten lang in 8 Liter Wasser kochen. Lauwarm abkühlen lassen. Den Zucker und etwa 30 g (1 Unze) Brauereihefe hineinrühren. Sieben Stunden warm halten, dann den Schaum abschöpfen. Einen Teelöffel Weinstein (Kaliumhydrogentartrat) hineinrühren. In Flaschen abfüllen und fest verschließen.
Wie Indra, Zeus und andere alte Gewittergötter galt Donar als besonders potent und zeugungskräftig. Sein Hammer war nicht nur Waffe, sondern auch ein mächtiger Phallos, mit dem er leidenschaftlich im Gewittersturm die Erde befruchtete. In Germanien war es daher Brauch, der Braut während der Hochzeitszeremonie einen Hammer in den Schoß zu legen, um sie mit Fruchtbarkeit zu segnen. Donars Eigenschaft als Anreger der Fruchtbarkeit und Zeugungskraft übertrug sich, wie wir schon gesehen haben, auch auf seine Pflanze, die Brennnessel. Vor allem den Samen sagte man nach, dass sie die Sexualität fördern, was sie zu einem Tabu für die Mönche und Nonnen des Mittelalters machte.
In archaischen Kulturen gelten Haare als Zeichen überbordender Vitalität. Die Heiden stellten sich dementsprechend den Donnerer als stark behaart vor. Er hatte eine Löwenmähne und einen wallenden Rauschbart. Auch diesen Aspekt erkannte man in der »haarigen« Brennnessel wieder. Seit vorchristlichen Zeiten behandelt man das Haar mit Brennnesselauszügen und -tees. Noch heute sind Brennnesselshampoos, Brennnesselhaarwasser und -haarspülungen im Handel erhältlich.
Donar, der Gott mit dem Blitzkeil, galt bei den Skandinaviern im hohen Norden ebenso wie bei den Alemannen in den Alpentälern als der Hüter der Schätze der Erde. Er hatte die Macht, unterirdisches Gold und Edelsteine vor dem frevelhaften Zugriff gieriger Riesen zu bewahren. Wie später der eisengewappnete Ritter Georg wird auch er mit dem Gift und Feuer speienden Drachen und Lindwürmern fertig, die tief in der Erde hausen. Noch lange steckten sich Schatzsucher oder Goldschürfer eine Brennnesselrute an den Hut oder nahmen eine andere dem Donar geweihte Pflanze mit, wie beispielsweise das Christophskraut (Actaea spicata), um beim Ausgraben nicht vom Blitz getroffen oder vom Erddrachen verschlungen zu werden.
Die Donnernessel war den Germanen dermaßen heilig, dass sie der Lachner, der Heilkräuterkundige, beim Pflücken oder beim Ausgraben ehrfürchtig mit Zauberworten ansprach. Die meisten dieser Sprüche sind in Vergessenheit geraten. Bei den Angelsachsen wurde dieses Bruchstück einer Beschwörung überliefert (Angelsächsischer Kräutersegen, 11. Jh.):
»Dies ist die Pflanze, die Wergulu heißt
Diese entsandte der Seehund über den Rücken der See
Als Hilfe gegen die Bosheit des anderen Giftes.«
Was aber hatte die Brennnessel mit dem Seehund zu tun? Der Gewittergott scheint ein besonderes Verhältnis zu diesen Meeressäugern gehabt zu haben. Man glaubte, dass Seehundspeck wie die Nessel Haarausfall, Gicht, Gebärmuttererkrankungen und verschiedene Fieber heile. Ein Gürtel aus Seehundhaut galt als gut für den Unterleib, für die Harnorgane und die Hüften. Und wer ein Robbenfell trägt, »dem sträuben sich die Haare bei großen Ungewittern«. (Auch die Römer haben offensichtlich diesen Glauben geteilt. Robbenfell, am Weinstock aufgehängt, schützt die Reben beim Gewitter vor Hagel, und Kaiser Augustus soll ein Robbenfell gegen Blitzschlag getragen haben.) Wer weiß, was für verborgene, magische Zusammenhänge den Alten bekannt waren, dass sie solche Verbindungen herstellten?
SPINNRAD DER GÖTTIN
Die ersten Missionare und Waldläufer, die die Wälder Nordamerikas erforschten, berichten, dass die Indianer die dort heimischen Nesselarten (Urtica gracilis, Laporta canadensis) nicht nur als Suppengrün verspeisten und als Diuretika verwendeten, sondern auch aus ihren Fasern Seile, Stricke, Taschen, Schlingen und vor allem Netze zum Fangen von Fischen herstellten. Der Jesuitenpater Louis Hennepin (1698) berichtet von Fischernetzen aus Nesselfaser von 40 bis 50 Fathomen (80–90 Meter) Länge, mit denen die Irokesen pro Fischzug bis zu 400 fette Felchen und dazu noch viele Störe gefangen hätten (ERICHSEN-BROWN 1979:444). Die französische Missionsschwester Marie de l’Incarnation (1670) berichtet, dass die Indianerinnen keine Spindeln benutzen: Mit den Handflächen zwirbeln sie die Fasern auf ihren Schenkeln zu festen Fäden und Schnüren. Es ist dann die Aufgabe der Männer, diese zu Netzen zu verknüpfen.
Die hier beschriebenen Techniken sind das Erbe der paläolithischen Jäger und Sammler. Ohne Netze und Schlingen wäre es schwierig gewesen, das Wild zu erbeuten, ohne Seile und Taschen schwierig, die wenigen Habseligkeiten zum nächsten Lager zu tragen. Dass die Brennnessel in den nördlicheren Breitengraden wahrscheinlich die erste wichtige Faserpflanze war, deutet unsere Sprache an, deren Wurzeln ja ebenfalls bis in die Altsteinzeit zurückgehen. Das Wort »Nessel« entstammt dem indogermanischen Urwort *ne. Daraus ergibt sich ein ganzer Bedeutungskomplex mit folgenden Inhalten: nähen (lat. nere und griech. néein = spinnen; griech. nema = Faden; sanskr. nah = binden). Netz (Geknüpftes; lat. = Fischreuse), nesteln (knüpfen, schnüren), Nestel (Band, Schnürriemen; dazu gehört auch das Nestelknüpfen, das schwarzmagische Verknüpfen von Hosenlatzbändern, um einen Mann impotent zu machen) und das altgermanische Wort nezze (Zwirn). Auch das Wort Nadel bezog sich zuerst auf die Stechhaare dieser Faserpflanze.
Außer dem Historiker, der sich auf die Geschichte der Textilherstellung spezialisiert, oder dem Gärtner, der beim Ansetzen einer Brennnesseljauche auf die faserigen Stränge der Brennnesselhalme aufmerksam wird, weiß wohl kaum jemand von der kulturhistorischen Bedeutung dieser Faserpflanze. Aber da gibt es auch einige Märchen, die – wenn wir aufmerksam zuhören – uns etwas über die einstige Bedeutung der Brennnessel erfahren lassen. Wir wollen uns diese nicht vorenthalten, denn auch sie deuten hin auf die tieferen Geheimnisse des Brennnesseldeva.
Ein von den Brüdern Grimm aufgezeichnetes uraltes Märchen erzählt von einem König, dessen zweite Frau eine Hexe war. Weil er befürchtete, die Stiefmutter würde den Kindern – sechs Knaben und ein Mädchen – ein Leid antun, versteckte er diese in einem Waldschloss. Die Böse aber fand das Versteck und verwandelte die Königssöhne in wilde Schwäne. Die verlassene Schwester suchte überall nach ihren Brüdern. Als sie tief im Wald in einer leeren Hütte übernachtete, hörte sie plötzlich das Rauschen von Flügeln. Da sah sie sechs Schwäne, die ihr Federkleid abstreiften und Menschengestalt annahmen. Es waren ihre Brüder! Doch die Freude des Wiedersehens währte nicht lange. »Jeden Abend nur eine Viertelstunde lang können wir unsere Schwanenhaut ablegen«, sagten die Brüder. »Könnt ihr nicht gerettet werden?« fragte das Mädchen. »Ach, nein«, antworteten sie und wurden sehr traurig, »die Bedingungen sind zu schwer. Wer uns erlösen will, darf sechs Jahre lang nicht sprechen und nicht lachen und muss in der Zeit sechs Hemdchen für uns aus Sternblumen (Brennnesseln) nähen!«
Ohne zu zögern machte sich die Schwester an die schwierige Aufgabe. Unermüdlich sammelte sie die stechenden Nesselruten und spann das Nesselgarn. Dann versteckte sie sich im Geäst eines Baumes und nähte unaufhörlich an den Nesselhemden.
Eines Tages jagte ein Königssohn im Wald und wurde durch das Kläffen der Bracken auf ihr Versteck aufmerksam. Da sie so schön war, verliebte er sich sofort in sie, nahm sie mit auf sein Schloss und machte sie zu seiner Frau. Der König aber hatte eine boshaft neidische Mutter, die bei jeder Gelegenheit schlecht über die junge Königin sprach.
Nach einiger Zeit gebar diese ihr erstes Kind. Aber während sie schlief, kam die Alte geschlichen, nahm ihr das Kind weg, bestrich ihren Mund mit Blut und ging zum König, dem sie klagte, die junge Frau sei eine Menschenfresserin.
Da die junge Königin nicht reden durfte, konnte sie sich auch nicht verteidigen. Aber der König, der seine Frau liebte, glaubte seiner Mutter nicht. Die Alte raubte auch das zweite Kind. Als sie dann auch noch das dritte neugeborene Kind zum Verschwinden brachte, musste der König seine Frau dem Gericht überantworten. Sie wurde zum Tod durch das Feuer verurteilt!
Gerade am Tag der Hinrichtung waren die sechs Jahre vorbei. Die sechs Hemden waren bis auf einen Ärmel fertig geworden. Die Hemden unter den Arm geklemmt, bestieg sie den Scheiterhaufen. Als der Henker den Feuerstoß anzünden wollte, rauschten plötzlich sechs Schwäne daher und nahmen die Gestalt von Königssöhnen an. Da nun ihre Brüder erlöst waren, durfte die junge Frau wieder reden. Sie verriet den Betrug der Alten, die an ihrer Stelle sofort auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde.
Hans Christian Andersen erzählt ein ähnliches Märchen, nur sind es in diesem Fall elf Schwäne, die erlöst werden müssen, und es ist ein böser Bischof, der die Königstochter verleumdet und verbrennen lassen will, weil er sie nachts beobachtet hat, wie sie auf dem Friedhof Nesseln pflückt. So etwas machen angeblich nur Hexen!
Ein weiteres Märchen erzählt von einem hartherzigen Vogt, der einer Dirne nicht erlauben wollte, den Schlossgärtner zu heiraten, bevor sie ihm zwei Hemden aus den Nesseln, die auf dem Grabe ihrer Eltern wuchsen, genäht hatte. Das Mädchen weinte bitterlich und war so betrübt, dass ein wildes Bergweiblein sich erbarmte und ihr beim Spinnen half. Der böse Vogt starb, gerade als sie mit der schweren Arbeit fertig war. Das eine Nesselgewand wurde sein Leichenhemd, das andere nahm sie als ihr Hochzeitsgewand.
Hinter diesen Märchen steckt ein wichtiges Stück vergessener Kulturgeschichte. Die Brennnessel, wie auch der mit ihr verwandte Hanf, wurde im Neolithikum für die Völker Nordeuropas bald eine wichtige Faser- und Gespinstpflanze, aus welcher Gewebe so fein wie Musselin oder so grob wie Segel- und Sacktuch hergestellt wurden. Auch feste Stricke und Seile wurden aus Nesselfasern gedreht.
Die Garnherstellung war keineswegs einfach. Die Nesseln mussten wie auch der Flachs oder Hanf in Wasser eingeweicht, vergoren, geröstet, geschwungen, in Lauge gekocht, durch die Hechel gezogen und zu spinnfertigen Wocken geschlichtet werden, ehe sie spinnbereit waren. Diese umständliche und schwierige Arbeit wurde fast ausschließlich von den Frauen verrichtet.
Seit neolithischen Zeiten war es die Große Göttin selber, die über die Herstellung der Zwirne, Garne und Spinnfäden gebot. Sie war es auch, die in Gestalt der Frigga, Athena, Minerva, Ishtar der Moiren oder der Nornen mit ihrer Spindel oder dem Spinnrad das Schicksal der Menschen und der Götter spann. Ebenso »spannen« die Frauen am Schicksal der Hofgemeinschaft und Familie, wenn sie in der dunklen Jahreshälfte in den Spinnstuben ihre Garne bearbeiteten, scherzten und plauderten. Das waren wichtige und heilige Angelegenheiten. Da hatten die Männer nichts zu suchen. Hier und da sollen die Spinnerinnen den Männern, die ihrem Arbeitsplatz zu nahe kamen, als derben Scherz die Hosen mit Brennnesseln vollgestopft haben.
In diesem Zusammenhang lässt sich der tiefere Sinn der Märchen deuten. Die schöne Königstochter, die die Nesselhemden näht, ist niemand anders als die Göttin, die den Lebensfaden spinnt und das Schicksal webt. Sie ist es, die, wie im zweiten Märchen, sowohl das Hochzeitskleid als auch das Totenhemd näht. In Grimms Märchen hängt das Schicksal ihrer Brüder förmlich von ihrem Wort oder besser gesagt von ihrem Schweigen ab. (Traditionell wird die Schicksalsgöttin als schweigend dargestellt.) In diesem Märchen wird auch die zauberwidrige Macht dieser eisenhaltigen Pflanze offenbart. Nur Panzerhemden aus Nesseln können vom bösen Zauber befreien. Die Schwanengestalt symbolisiert in der indogermanischen Mythologie immer das »Fliegen«, das »Hinaustreten«, das Nichtverbundensein mit der materiellen Erde und ihren ehernen Gesetzen. Die Nessel jedoch, die als Hemd schützend die Brust und die Herzmitte umhüllt, vermittelt den abgehobenen, entschwebten Seelen jene Eisenkraft, die sie wieder fest auf den Erdboden stellt, die sie ermächtigt, ihr diesseitiges Erdenkarma auszuleben.
Im gleichen Sinn empfand der Bauernphilosoph Arthur Hermes die Nesseln, die seinen abgelegenen Einsiedlerhof im Schweizer Jura kräftig umwuchern, als heiligen Schutz gegen negative Einflüsse. Für diesen alten Bauern, der noch ganz in der bunten Bilderwelt der Ahnen lebte, galt das Haus als eine Art Leib, dessen Herzmitte der warme Herd ist. Die Brennnesseln, die er nie ohne Grund mähte, waren sozusagen ein Hemd für diesen Leib, der die Familie beherbergte.
Die Nesselstoffe sind wie auch die Hanfgewebe fast in Vergessenheit geraten. Was man heutzutage als »Nesselstoff« kauft, ist oft nur Baumwolle. In Schottland waren Nesseltücher noch lange nach der Einführung der Baumwolle in Gebrauch. In Holstein war die Nesselmanufaktur so wichtig, dass der Graf von Schauenburg sie in sein Wappen aufnahm. In Leipzig gab es bis 1723 noch eine Manufaktur, die Nesselstoffe herstellte. Im Ersten Weltkrieg, als die Baumwolle infolge der Handelsblockade der Aliierten knapp wurde, kam die Nessel vorübergehend wieder zu Ehren. Man nahm Brennnesselfasern, um Flachs, Baumwolle oder Ramie (eine tropische Faserpflanze aus der Nesselfamilie) zu strecken. Im Jahre 1916 etwa wurden in Deutschland 2,7 Millionen Kilogramm Nesselstoff hergestellt. Es kam zu verschiedenen Anbauversuchen und zu neuen Patentierungen für Herstellungsverfahren. Inzwischen hat man im Zeitalter des globalen Handels, der aus Erdöl hergestellten Kunstofffasern und der Textilimporte aus Billiglohnländern diese Bemühungen als arbeitstechnisch zu umständlich und zu teuer aufgegeben. Wer weiß aber, was die Zukunft bringt. Vielleicht webt uns die Schicksalsgöttin neue Sternenblumenhemden?