Читать книгу Ich kann keinem Menschen mehr vertrauen: Dr. Staffner packt aus 15 - Wolf G. Rahn - Страница 6
Ich weiß, dass Jörg mich wieder schlagen wird
ОглавлениеEr war früher ein so lieber Junge. Ich erinnere mich noch genau an den Muttertag vor 13 Jahren. Jörg war damals gerade drei geworden und überraschte mich mit einem riesigen Strauß Himmelschlüsselchen, die er auf der Wiese gepflückt hatte.
Auch während der folgenden Zeit gab der Junge mir häufig Anlass zur Freude. Zur einzigen Freude in meinem Leben, denn im großen und ganzen war ich vom Schicksal nicht verwöhnt worden.
Die größte Enttäuschung erlebte ich zweifellos mit Jörgs Vater, der mich im Stich ließ, als sich das Baby ankündigte.
Meine Liebe zu ihm schlug deswegen nicht in Hass um. Ich klammerte mich an das Stück von ihm, das er mir nicht wegnehmen konnte, und das ich ein halbes Jahr darauf zur Welt brachte. Nie wäre ich auf die Idee verfallen, die Schwangerschaft abzubrechen. Ich freute mich auf 'unser' Kind.
Der kleine Jörg dankte es mir durch große Zuneigung und später durch fleißiges Lernen in der Schule. Wir hätten es wunderbar haben können, wenn ich nicht gezwungen gewesen wäre, arbeiten zu gehen. Der Junge wurde tagsüber von einer Tante betreut.
Meine Schwester besaß keine eigenen Kinder. Da ihr Mann als Fernfahrer arbeitete und nur an den Wochenenden heimkam, freute sie sich über die Gesellschaft des Kindes, das ein wenig Leben in ihr Haus brachte.
Manchmal war ich sogar eifersüchtig auf sie, die Jörg den ganzen Nachmittag um sich hatte, während ich selbst für den Lebensunterhalt sorgen musste und mich nach meinem Kind sehnte.
Jörg war über diese Lösung nicht allzu glücklich. Tante Jutta gab sich zu gluckenhaft, was den Jungen in seinen Entfaltungsmöglichkeiten einengte. Sie hatte große Angst, ihm könne etwas passieren und ich würde ihr ewige Vorwürfe machen. Fast zehn Jahre älter als ich und mit ähnlichen Problemen vorher nie konfrontiert, wollte sie eben unbedingt alles richtig machen. Dabei übertrieb sie ihre Fürsorge.
Jörg kam mit der Bitte, nach der Schule nach Hause gehen zu dürfen, als er elf wurde. Ich zeigte mich seinen kindlichen Argumenten gegenüber aufgeschlossen, hielt ihn aber für zu jung, um schon den halben Tag sich selbst überlassen zu sein.
Wir einigten uns schließlich auf den Hort und konnten auch Jutta gegenüber argumentieren, dass ein Heranwachsender den Kontakt zu Gleichaltrigen brauche. Dadurch war sie zwar enttäuscht, aber zumindest nicht gekränkt.
Lange hielt Jörgs Begeisterung für die Tagesstätte nicht an. Er behauptete, dort keine Ruhe für seine Hausaufgaben zu finden. Die Erzieherinnen tränken die ganze Zeit Kaffee, so ein Zivi redete gescheit daher, und dafür müsse ich auch noch bezahlen.
Mit dem Zivi meinte er Bodo Hauf, einen Zivildienstleistenden, von dem er keine gute Meinung besaß, weil dieser doch von nichts eine Ahnung hätte. Ich aber vermutete eher, dass Jörg nur nach Argumenten suchte, mir unnötige Kosten zu ersparen. Das Geld für den Hort, so erklärte er ganz offen, ließe sich zum Beispiel viel sinnvoller für eine gemeinsame Ferienreise verwenden.
Ursprünglich hatte ich mit dem Gedanken gespielt, ihn in ein Zeltlager zu schicken. Doch dass er lieber mit mir zusammen sein wollte, rührte mich. Ich konnte wirklich stolz auf ihn sein.
Trotzdem konnte ich mich zunächst nicht dazu entschließen, meinem Sohn den Wohnungsschlüssel zu überlassen und ihn im Hort abzumelden. Erst als er mir eines Tages ein violett schillerndes Auge präsentierte, das er zwei Gleichaltrigen zu verdanken hatte, ließ ich mich überzeugen.
Jörg beklagte sich, dass die beiden Raufbolde grundlos über ihn hergefallen seien und dass ihm niemand geholfen habe. Ich tröstete ihn damit, dass es damit ja nun vorbei sei. Erst viel später begriff ich, dass dieses Erlebnis ihn wohl nie wieder losgelassen hatte. Im Augenblick der Not keinen Kumpel gehabt zu haben, auf den er sich verlassen konnte, musste eine schlimme Erfahrung für den damals 13jährigen gewesen sein.
Von nun an ging Jörg nach dem Unterricht nach Hause, erledigte seine Schularbeiten, kümmerte sich manchmal sogar ums Essen, das er gemeinsam mit mir einnahm, wenn ich von der Arbeit kam, und gestaltete seine Freizeit nach eigenen Vorstellungen.
Ich war mir seiner ganz sicher, glaubte, auch seinen Freundeskreis zu kennen, denn manchmal war noch einer der Jungen bei Jörg, wenn ich heimkam.
Um so schockierte war ich, als mein Sohn - inzwischen 16 geworden - mir eines Tages mit kahlgeschorenem Kopf entgegentrat. Dabei deutete er stolz auf seine klobigen Stiefel, die er gebraucht gekauft hatte.
Alle seine Freunde trügen solche, erklärte er trotzig, als ich meine Befürchtungen äußerte. Er wolle doch nicht so werden wie dieser Götz aus dem Hort, dieser Feigling.
Bisher hatte ich jedes Problem mit meinem Sohn diskutieren können, doch als ich die Harmlosigkeit der Skinheads in Frage stellte, wurde Jörg zum ersten Mal wütend.
Das seien alles Vorurteile, versicherte er. Bei seinen Kumpels fände er echtes Zusammengehörigkeitsgefühl. Da stünde einer für den anderen ein. Wie ich darauf käme, dass es Schläger seien?
Wenn ich ehrlich war, hatte ich tatsächlich noch keinen dieser Leute, denen manchmal Schlimmes nachgesagt wurde, persönlich kennengelernt. Vielleicht tat ich ihnen wirklich Unrecht. Eine Glatze machte schließlich keinen Kriminellen.
Trotzdem spürte ich die Veränderung, die Jörg durchmachte. Eine Veränderung, die mir nicht gefiel. Immer häufiger erhielt ich von dem Jungen eine freche Antwort, immer seltener stimmten wir in unseren Meinungen überein. Oft genug beendete er den Streit mit dem Hinweis, kein Kind mehr zu sein und es satt zu haben, ewig herumkommandiert zu werden.
Ich sah ihm manches nach. Ihm fehlte eben der Vater, der die Funktion eines guten, verlässlichen Freundes hätte übernehmen können. Irgendwann würde Jörg wieder zur Einsicht gelangen.
Doch sein Benehmen wurde immer unerträglicher. Gelegentlich provozierte er förmlich eine Auseinandersetzung. Eines Tages gipfelte sie in seinem Vorwurf, unehelich zu sein. Ich hätte es gerade nötig, ihm Vorhaltungen zu machen.
Da rutschte mir die Hand aus. Ich gab ihm in meiner Erregung eine Ohrfeige, die mir sofort leidtat, obwohl ich die Folgen nicht voraussehen konnte.
Das solle ich nicht nochmal wagen, schrie Jörg mich an, bevor er zuschlug. Immer wieder. Seine Fäuste trafen mein Gesicht und meine Brust. Verzweifelt versuchte ich, ihn abzuwehren.
Als ich mich auf dem Fußboden krümmte, trat er mit seinen Stiefeln nach mir. Er war wie von Sinnen, und wären nicht Nachbarn aufmerksam geworden und eingeschritten, hätte es wahrscheinlich ein schlimmes Ende gegeben.
Man riet mir, Jörg ins Heim zu geben. Davon wollte ich nichts wissen. Nachdem ich den Schock leidlich überwunden hatte, war ich bereit, meinem Sohn, den ich doch über alles liebte, seine Entgleisung zu verzeihen. Wichtig war nur, dass er sich von seinen sogenannten Freunden trennte, die offensichtlich einen verheerenden Einfluss auf ihn ausübten.
Jörg weigerte sich entschieden. In der Clique würde man ihn wenigstens verstehen und akzeptieren. Das müsse ich eben auch tun. Dann würden wir schon miteinander auskommen.
Auskommen! Von Zuneigung war keine Rede mehr. Jörg glaubte, endlich den richtigen Weg eingeschlagen zu haben, um sich als Mann zu beweisen.
Die Spuren seiner Misshandlung sind in meinem Gesicht noch deutlich zu erkennen. Nur die Narben meiner Seele bleiben verborgen. Ich habe Angst. Angst vor meinem Sohn, dem ich vor 16 Jahren unbedingt das Leben schenken wollte. Ich bin sicher, irgendwann wird er erneut zuschlagen.