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Kapitel 3

In dieser Nacht schlief Julia unruhig. Wirre Traumfetzen mit Bildern aus der Vergangenheit tauchten auf und verschwanden wieder. Einmal schreckte sie hoch, weil sie jemanden in ihrer Wohnung zu spüren glaubte. Zweimal stand sie auf, schaltete Licht ein, ging durch alle Räume, knipste die Beleuchtung wieder aus und kehrte ins Schlafzimmer zurück.

Viel zu früh war sie am Morgen wach. Innere Unruhe trieb sie aus dem Bett. Auf dem Küchentisch lag noch die Karte, die Börnsens Angestellte gebracht hatte. Julia stutzte. Hatte sie die nicht in der Mitte abgelegt? Jetzt lag die Chipkarte an der Tischkante. Konnte ein Luftzug die Veränderung bewirkt haben? Nein, das Küchenfenster war geschlossen. Sie selbst musste sie verschoben haben. Offenbar hatte sie die Karte noch einmal in die Hand genommen, als sie in der Nacht durch die Wohnung gewandert war.

Sie machte sich Frühstück, ließ Toast und Müsli dann aber stehen, trank nur Kaffee. Eine Stunde vor dem verabredeten Termin im Hotel Alte Liebe verließ sie das Haus. In der Stadt waren zu dieser Zeit nur wenige Menschen unterwegs, der sonntägliche Straßenverkehr beschränkte sich auf eine Handvoll Autos. Vielleicht die Nachwirkung des Sommerabends am Meer. Auch vor dem Hotel war es ruhig. Keine an- oder abreisenden Gäste, keine dienstbeflissenen Angestellten, kein Taxi, kein sonstiges Fahrzeug. Sie richtete den Blick nach oben. In den Scheiben des Penthouses glitzerte die Morgensonne. Zur Meerseite und nach Westen gab es offenbar eine Dachterrasse, die noch im Schatten lag, nur die weißen Gitterstäbe des Geländers leuchteten im Sonnenlicht. Mehr war nicht zu erkennen.

Fast eine halbe Stunde ging sie vor dem Haus auf und ab. Eine Minute vor zehn betrat sie das Hotel, durchquerte die Halle und steuerte auf die Aufzüge zu. Sie erkannte die Angestellte, die ihr Börnsens Nachricht überbracht hatte, hinter dem Empfangstresen. Sie sah auf und nickte ihr zu.

Der Aufzug brachte sie ohne Unterbrechung zur obersten Etage. Automatisch öffneten sich die Türen und gaben den Blick auf die Penthouse-Wohnung frei. Sie erschien Julia noch größer, als sie sich vorgestellt hatte. Am überdachten Eingang befand sich ein Messingschild mit der Aufschrift Privat. Die Tür aus satiniertem Glas stand offen. Zögernd trat sie näher, stieß auf eine weitere Tür. Auch sie war weit geöffnet. »Hallo!«, rief sie. »Hallo? Ist jemand da? Ich bin Julia Jacobs und möchte …« Sie brach ab, denn niemand war zu sehen. Vor ihr breitete sich der Wohnraum aus, dessen gegenüberliegende Front fast vollständig aus Glas bestand. Die Schiebetür zur Dachterrasse war offen. Draußen standen zwei weiß-blaue Strandkörbe. Wartete Börnsen dort auf sie? »Hallo?«, wiederholte sie, durchquerte den Raum und sah sich um. Hier schien niemand zu sein. Als sie sich schließlich umwandte, um die Wohnung zu verlassen, vernahm sie einen spitzen Schrei. Er schien von unten, von der Promenade, zur kommen. Sekunden später setzten Hilferufe ein, dann Hundegebell. Sie hastete zum Geländer und beugte sich hinüber.

Tief unter ihr, auf dem Pflaster des Weges lag eine reglose männliche Gestalt. Ein Mann zerrte einen Hund zurück, der sich auf den Liegenden stürzen wollte. Eine Frau hielt ein Mobiltelefon ans Ohr und gestikulierte mit der freien Hand. Vom Deich näherte sich ein Jogger, auf der anderen Seite ein älteres Paar.

Erschrocken zuckte Julia zurück. Ihr Herz raste. Hatte sie gerade Ralf Börnsen dort unten liegen sehen? War er über das Geländer gestürzt? Die Ungewissheit zwang sie zu einem weiteren Blick. Vorsichtig lehnte sie sich erneut über die Brüstung. Obwohl sich jetzt mehrere Personen über den leblosen Mann beugten, erkannte sie ihn. War der Hotelier vom Dach gesprungen, um seinem Leben ein Ende zu setzen?

Hastig verließ sie die Penthouse-Wohnung. Der Fahrstuhl war noch da. Sie drückte die Taste fürs Erdgeschoss. Viel zu langsam schlossen sich die Türen der Kabine, viel zu langsam setzte sich der Lift in Bewegung. Julia schwitzte. In Gedanken sah sie den fragenden Blick der Hotelangestellten am Empfang voraus, entschied sich für einen anderen Weg, drückte den Knopf für die erste Etage, stieg aus, nahm die Treppe bis ins Kellergeschoss. Hier fand sie einen Ausgang, der zur Garage führte. Leuchtstoffröhren flackerten, flammten auf, als sie an den geparkten Autos vorbeilief. Irgendwo klappte eine Wagentür, im nächsten Moment wurde ein Motor gestartet, Scheinwerfer blendeten auf. Julia duckte sich unwillkürlich. Als sich eins der die Tore öffnete und der Wagen die Garage verließ, hastete Julia ins Freie. Sie widerstand der Versuchung, das Hotelgebäude zu umrunden, um nach Börnsen zu sehen. Es gab keinen Zweifel, dass er es war, der von der Dachterrasse gestürzt war. Konnte man einen solchen Sturz überleben? Wohl kaum. Mit großer Wahrscheinlichkeit war Ralf Börnsen ums Leben gekommen. In dem Augenblick, in dem sie ihn aufsuchen wollte. Warum hatte er sich mit ihr verabredet, wenn er sich umbringen wollte? War er versehentlich über das Geländer gestürzt? Wohl kaum. Jemand musste ihn darüber gestoßen haben. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Konnte man sie verdächtigen, den Hotelier getötet zu haben?

Julia beschleunigte ihre Schritte, getrieben von dem Bedürfnis, den Ort des schrecklichen Ereignisses so schnell wie möglich weit hinter sich zu bringen. Fast wäre sie beim Überqueren des Strichwegs vor ein Auto gelaufen. Schrilles Hupen und kreischende Reifen hatten den Aufprall in letzter Sekunde verhindert. Vor ihrem inneren Auge spielte sich immer wieder dieselbe schreckliche Szene ab. Börnsen stand an der Begrenzung seiner Dachterrasse. Ein kräftiger Stoß ließ ihn über das Geländer kippen. Hilflos ruderten seine Arme in der Luft, dann verschwand er nach unten. Sekunden später ein dumpfer Aufschlag. Wer konnte ihn gestoßen haben? In ihrer Vorstellung war es erst ein gesichtsloser Mann, dann eine Frau. Die Frau war sie. Aber ich habe ihn nicht gestoßen, sagte sie sich. Oder doch? Bin ich verrückt geworden? Hat mich die Begegnung mit Erik um den Verstand gebracht? Nein, ich habe seinen Vater nicht getötet, ich wollte ihn nur besuchen, mit ihm reden, ihm versichern, dass ich seinen Sohn gesehen habe. Ich habe ihn doch gesehen. Oder bilde ich mir das nur ein?

Dunkel erinnerte sich Julia an eine Fernsehsendung, in der es um Wahrnehmungsfehler ging. Das Gehirn, hatte sie erfahren, spielt uns manchmal einen Streich. Wir sehen etwas, das objektiv nicht existiert, oder nehmen real vorhandene Dinge nicht wahr. War sie Opfer dieser Fehlfunktion geworden? Sie blieb stehen, schloss die Augen und rief sich das Bild vom vergangenen Nachmittag ins Gedächtnis – Erik am Imbissstand –, blendete alle Nebensächlichkeiten aus, konzentrierte sich auf das Gesicht. Jemand rempelte sie an. »Entschuldigung«, murmelte ein Passant. »Sie stehen hier aber auch etwas ungünstig.«

Julia zuckte zusammen, riss die Augen auf und eilte weiter. Erneut beschleunigte sich ihr Puls. Denn das Bild, das ihr gerade erschienen war, hatte sich verändert. Es war Erik, aber ohne Bart. Er hielt keine Bratwurst in der Hand, sondern zwei kleine, in Papier eingewickelte Flaschen.

2002

»Gegen Seekrankheit.« Erik war aufs Vorschiff gekommen, wo Julia im Schatten des Großsegels saß. Er ließ sich neben ihr nieder, hielt zwei Fläschchen Wattenläuper hoch und grinste. »Der Wellengang hält sich zwar in Grenzen. Aber Vorbeugen ist besser als heilen.«

»Danke!« Julia schüttelte den Kopf. »Ich brauche nichts. Es geht mir gut. Hätte nicht gedacht, dass mir der Segeltörn so gut bekommt.«

»Umso besser.« Erik öffnete eine der Flaschen, drückte sie ihr in die Hand und deutete mit dem Daumen nach hinten. »Benny hat das Ruder übernommen. Wir können uns ein bisschen entspannen.«

Skeptisch betrachtete Julia die Flasche in ihrer Hand. »Was ist mit Katharina?«

Erik winkte ab. »Die muss sich ein bisschen herrichten. Wir hatten gerade einen stürmischen Ritt über die Nordsee. Wenn du verstehst, was ich meine.«

Julia verzog das Gesicht. »War ja nicht zu überhören.«

Sein Grinsen wurde breiter, der Blick lauernd. »Und?«

»Was und? Sollen wir applaudieren?«

»Gute Idee.« Erik kicherte, öffnete die zweite Flasche und hob sie hoch. »Prost! Auf die Liebe!« Er ließ den Inhalt in den weit geöffneten Rachen laufen und warf sie im hohen Bogen über Bord. Dann deutete er auf die Flasche in Julias Hand. »Was ist? Willst du nicht? Ist gut für den Magen. Und lecker. Solltest du dir nicht entgehen lassen.«

Mit gemischten Gefühlen betrachtete Julia den Wattenläuper. Sie hatte nichts gegen den Magenbitter, wollte auch kein Spielverderber sein, hatte aber Hemmungen, sich auf Eriks Drängen einzulassen. Etwas störte sie an seinem Verhalten. Sie hielt sich nicht für prüde, empfand aber angesichts seines Tonfalls ein leichtes Unbehagen. »Ich warte auf Kathi«, erklärte sie schließlich.

»Okay.« Erik zuckte mit den Schultern und stand auf. »Dann gehe ich jetzt mal für kleine Skipper.«

Doch statt zum Kabineneingang zu gehen, kletterte er ein Stück nach achtern, lehnte sich mit der Schulter gegen die Wanten und begann, an seiner Hose zu nesteln. Mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu beobachtete Julia aus den Augenwinkeln, wie der Strahl in der Sonne glitzerte.

Kurz nachdem Erik weiter in Richtung Bootsheck verschwunden war, tauchte Katharina auf. Sie ließ sich neben ihrer Freundin nieder und deutete auf die Flasche in Julias Hand. »War Erik hier? Was wollte er?«

»Mit mir anstoßen. Ich sollte Magenbitter gegen Seekrankheit trinken. Aber ich bin völlig okay. Außerdem wollte ich auf dich warten.« Julia sah Katharina an. »Hast du keinen? – Willst du meinen?«

Katharina schüttelte den Kopf und strich mit der flachen Hand über ihren Hals. »Danke, mir ist nicht danach. Ich glaube, ich gehe wieder runter und leg mich in die Koje.«

»War der stürmische Ritt über die Nordsee so anstrengend?«

»Was meinst du?«

»Eriks Worte«, erklärte Julia lächelnd. »Außerdem wart ihr nicht zu überhören. Trotz der Windgeräusche.«

»Ach so.« Kathi hob die Schultern. »Sorry. Ich wollte das nicht. Aber …« Sie verstummte und rieb erneut ihren Hals.

Julia versuchte, in ihrer Miene zu lesen. »Aber?«

»Es war … irgendwie … anders ... Als ob …« Auch dieser Satz blieb unvollendet.

Erneut hakte Julia nach. »Als ob?«

»Ach, ich weiß nicht. Vielleicht bilde ich mir das auch ein.« Sie streckte die Hand aus. »Jetzt nehme ich dein Angebot doch an.«

Julia reichte ihr die Flasche. Als ihre Freundin den Kopf hob, um den braunen Kräuterlikör in den Rachen laufen zu lassen, zeigte sich unter der Kehle ein dunkelroter Streifen.

»Was ist mit deinem Hals?«

Kathis Hand zuckte nach oben. »Nichts. Ich hab mich vorhin geschrammt. Aus Versehen.« Sie schüttelte die letzten Tropfen aus der Flasche, warf sie über Bord und stand auf. »Ich hau mich jetzt noch ein bisschen in die Koje. Damit ich fit bin für Helgoland.« Mit einer Kusshand verabschiedete sie sich und balancierte an der Reling entlang Richtung Kabine.

Julia erwog, ihr zu folgen, verwarf den Gedanken aber. Mit Kathi stimmte etwas nicht. Und es hing mit Erik zusammen. Aber was, würde sie jetzt aus ihrer Freundin nicht herausbekommen. Vielleicht später. Ja, irgendwann würde sie sich ihr anvertrauen. Ganz sicher.

Der Fahrtwind war kühler geworden. Julia rutschte aus dem Schatten des Segels in die Sonne, lehnte sich gegen den Mast, schloss die Augen und genoss die Wärme auf der Haut. Wie lange sie wohl noch bis zur Insel brauchen würden? Die Überfahrt sollte sechs Stunden dauern. Nach Julias Gefühl hatten sie die Hälfte der Strecke bereits hinter sich gebracht.

Plötzlich fiel ein Schatten auf ihr Gesicht. »Hast du dich gut eingecremt?«, fragte Benny, der neben ihr hockte und sie kritisch musterte. Julia rieb sich die Augen. War sie eingedöst? »Wie spät ist es?«

Benny hielt ihr seine Armbanduhr vor die Nase. »Helgoland ist schon in Sicht. Aber wir brauchen noch mindestens eine Stunde.«

Mit einer Hand beschattete Julia ihre Augen. Obwohl ein schwacher Dunst über dem Wasser lag, konnte sie das charakteristische Profil der Insel erkennen. »Noch eine Stunde?«

»Mindestens«, wiederholte Benny und küsste sie. »Eher anderthalb. Was hältst du davon, wenn wir vorher noch mal abtauchen?« Er grinste. »Natürlich nicht im Wasser. Ich meine … in der Koje.« Mit einer Kopfbewegung deutete er nach hinten. »Erik hat das Ruder übernommen. Wir können jetzt auf Sicht fahren, es gibt weiter nichts zu tun. Erst wieder, wenn wir in den Hafen einlaufen.«

»Wo ist Kathi? Noch in ihrer Kabine?«

»Ja, ich denke schon.«

»Sie wollte sich ausruhen. Wir sollten sie nicht stören, indem wir nebenan … Man hört alles.«

Benny zuckte mit den Schultern und grinste. »Klar. Aber mir macht das nichts. Und die beiden haben ja vorhin auch ganz schön Krach gemacht.«

»Trotzdem. Ich möchte ihr das nicht zumuten. Ich glaube, sie ist in dem Punkt gerade etwas empfindlich.«

»Das kapiere ich nicht.«

Julia seufzte. »Ist auch schwer zu verstehen. Ich weiß selbst nicht genau, was mit ihr los ist.« Sie schmiegte sich an Benny. »Heute Abend im Hafen, okay?«

»Okay.«

2019

Entgegen ihrer Gewohnheit verriegelte Julia die Tür hinter sich, nachdem sie ihre Wohnung erreicht hatte. Sie wusste, es würde nichts an ihrer Situation ändern, aber es gab ihr das Gefühl, von niemandem behelligt werden zu können. In Ruhe nachdenken wollte sie. Am Küchentisch ließ sie sich nieder, stand wieder auf, öffnete den Kühlschrank, nahm eine Flasche Mineralwasser heraus, griff nach einem Glas und setzte sich erneut. Sie schenkte sich ein, und während sie trank, wanderten ihre Gedanken erneut in die Vergangenheit.

Damals hatten sie kein Wasser getrunken. Wenn sie mit Kathi, Erik und Benny zusammen gewesen war, hatte es immer Bier gegeben. Und Wattenläuper. Oder Küstennebel. Oder Berentzen Apfelkorn. Die Vorräte gingen nie aus, denn Erik brachte immer wieder Nachschub aus dem Hotel mit. Eigentlich waren sie immer ein bisschen benebelt gewesen. Auch bei jenem verhängnisvollen Segeltörn. Die erfolgreiche Überfahrt, das Einlaufen in den Hafen und das gelungene Anlegemanöver mussten gefeiert werden. Gut gelaunt hatten sie eine Flasche Hochprozentiges kreisen lassen. Katharinas Stimmungstief war vergessen. Erik hatte einen Tisch in der Fischerstube reserviert. Er und Katharina waren vorausgegangen, Julia und Benny in eine der Kojen gekrochen, um nachzuholen, was sie während der Überfahrt versäumt hatten. Später hatten sie sich alle zum Essen getroffen, waren durch den Ort gebummelt, hatten sich über die Touristen lustig gemacht, ohne zu bedenken, dass sie auch dazugehörten. Schließlich waren sie in der Diskothek Krebs gelandet, wo sie nach Daylight In Your Eyes von den No Angels und den wilden Rhythmen des Safri Duo mit Played-A-Live bis zum Morgengrauen getanzt hatten.

2002

Verschwitzt, aber in bester Stimmung, kehrten sie auf die Seeteufel zurück. Auf der Yacht leerten sie noch ein paar Dosen Bier und begrüßten lautstark den neuen Tag.

»Hoffentlich ist da drüben bald Ruhe!«, brüllte eine wütende Männerstimme von einem der benachbarten Boote. »Andernfalls rufe ich die Polizei.«

»Kommt, wir gehen rein!«, schlug Erik vor. »Sonst gibt’s noch Ärger.«

Drinnen legte er den Arm um Julia. »Wie wär’s, wenn wir mal tauschen?«

»Was denn tauschen?«, fragte Benny mit schwerer Zunge. »Ich hau mich jetzt in die Koje. Gute Nacht!«

Seine Begriffsstutzigkeit löste Heiterkeit aus. Katharina und Julia kicherten, Erik lachte Tränen. »Genau das meine ich, du Schnellmerker. Wir tauschen die Kojen. Kathi geht mit zu dir, Jule und ich nehmen die andere Kabine. Kleine Abwechslung. Ist gut für die Liebe.«

Benny zuckte mit den Schultern. »Macht, was ihr wollt! Ich muss mich jetzt hinlegen, sonst werde ich seekrank.« Schwerfällig wankte er zur Kabinentür.

Mit einer Kopfbewegung bedeutete Erik seiner Freundin, ihm zu folgen. »Ich glaube, Benny braucht Hilfe beim Ausziehen. Deine Chance, Kathi.«

Julia wollte sich aus Eriks Umarmung befreien, um nach Benny zu sehen, doch er hielt sie fest. »Das ist unsere Chance«, flüsterte er an ihrem Ohr und deutete auf Katharina. »Sie kümmert sich um ihn.« Tatsächlich war Kathi aufgestanden. Sie grinste, zuckte mit den Schultern und folgte Benny.

In dem Augenblick spürte Julia Eriks Lippen auf ihrem Mund und seine Hand unter dem T-Shirt. Die Berührungen lösten widersprüchliche Empfindungen aus. Der Impuls, ihn abzuwehren, wurde von Neugier und Entdeckungslust zurückgedrängt. »Komm, Seeteufelchen«, raunte er und zog sie hoch. »Wir gehen auch in die Koje.« Widerstrebend, zugleich von Erregung getrieben, folgte sie ihm in die Kabine.

2019

Julia zwang sich, den Gedankenfluss zu stoppen. Es hatte keinen Sinn, sich dunklen Erinnerungen hinzugeben; die Gegenwart war bedrohlicher. Mit dem Tod des Hoteliers hatte sie nichts zu tun. Aber die Polizei würde den Fall untersuchen und herausfinden, dass sie zum Zeitpunkt des Sturzes in Börnsens Wohnung gewesen war. Die Angestellte, die ihr am Vorabend die Chipkarte für den Aufzug gebracht hatte, würde sich an sie erinnern. »Aber ich habe ihn nicht gestoßen«, flüsterte sie. »Ich war nur im Penthouse. Da war niemand. Darum bin ich umgekehrt, habe das Hotel verlassen und bin nach Hause gegangen.« Ja, das würde sie der Polizei erklären. Vom Sturz des Hoteliers hatte sie nichts mitbekommen, folglich konnte sie gar nicht wissen, dass Börnsen ums Leben gekommen war. Niemand konnte behaupten, dass sie über die Brüstung geschaut und den Toten gesehen hatte. Niemand konnte wissen, dass sie wirklich in der Wohnung gewesen war. Sie hätte auf den Klingelknopf drücken, an der Tür warten und schließlich gegangen sein können, ohne die Wohnung betreten zu haben.

Diese Darstellung erschien ihr folgerichtig, sie musste jedem einleuchten. Die Erkenntnis beruhigte Julia. Sie spürte plötzlich Hunger. Ihr Frühstück vom Morgen stand noch im Kühlschrank. Sie nahm die Müslischale heraus, füllte Milch hinzu und setzte Kaffee auf. Der Toast war schon trocken, aber mit etwas Nutella noch genießbar.

Während sie aß, klingelte es an der Haustür. Sie erwartete niemanden, in der Mittagszeit erst recht nicht. Wahrscheinlich Kinder, dachte sie, stand auf und sah aus dem Fenster, von dem aus sie die Straße im Blick hatte. Dort standen die Autos, die auch sonst dort parkten. Das Rentnerehepaar aus dem Erdgeschoss verließ das Haus, um den Hund auszuführen, zwei Radfahrer fuhren in Richtung Innenstadt, sonst war niemand zu sehen. Sie kehrte an ihren Platz zurück und schenkte Kaffee nach. Als es erneut und anhaltend klingelte, seufzte sie, stand wieder auf und ging zur Wohnungstür, um auf den Öffner zu drücken. Wenn es keine spielenden Kinder waren, konnte es nur noch Elisabeth Wilke aus dem Stockwerk über ihr sein, die ihren Schlüssel vergessen hatte. Die alleinstehende Dame passte gelegentlich auf Leonie auf und hatte einen Not-Schlüssel bei Julia deponiert.

Die Schritte, die sich im Treppenhaus ihrer Etage näherten, klangen nicht nach einer Frau, schon gar nicht nach einer älteren. Julia beugte sich über das Geländer und zuckte zurück. Ein dunkelhaariger Mann erklomm zügig die Stufen. Namen und Gesichter von Freunden und Bekannten rasten ihr durch den Kopf. Wer wollte sie um die Zeit besuchen? Unangemeldet! Eigentlich kam nur Malte Hansen infrage, der Kollege aus der Orthopädie, mit dem sie schon zweimal ausgegangen war. Aber auch er würde vorher anrufen oder wenigstens eine Nachricht … Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Sie schlug die Hand vor den Mund, unterdrückte einen Aufschrei und stürzte zurück in die Wohnung. Der Versuch, die Tür zuzuschlagen, scheiterte. Obwohl Julia mit ihrem ganzen Gewicht dagegen drückte, gelang es dem Mann, sie so weit zu öffnen, dass er einen Fuß zwischen Türblatt und Rahmen klemmen konnte. Wütend trat sie gegen den Schuh, doch es nützte nichts, der Mann war stärker, vergrößerte den Spalt Zentimeter um Zentimeter, bis sie rückwärts taumelte. Die Tür schwang auf und krachte gegen die Wand.

»Hallo, Julia.« Erik Börnsen grinste. »Seit wann bist du so abweisend? Ich habe dich ganz anders in Erinnerung. Wir hatten doch eine wunderschöne Nacht – seinerzeit auf Helgoland.«

»Verpiss dich!«, schrie Julia mit überkippender Stimme. »Ich will mit dir nichts zu tun haben!«

Börnsen warf die Wohnungstür ins Schloss und trat auf sie zu. Julia wich zurück. »Hast du aber, meine Liebe. Das lässt sich nicht rückgängig machen. Wir beide sitzen in einem Boot. Wie damals auf der Seeteufel. Und wir sollten das Beste daraus machen.« Sein Blick wanderte von ihrem Kopf bis zu den Füßen und wieder zurück, verharrte dabei kurz auf ihren Brüsten. »Du siehst immer noch verdammt gut aus. Wir könnten unser kleines Spiel von damals fortsetzen.«

Julia schüttelte den Kopf. »Es gibt nichts fortzusetzen«, zischte sie. »Weil nie etwas angefangen hat. Verschwinde jetzt! Oder ich rufe die Polizei.« Sie griff nach ihrem Handy, das auf dem Schuhschrank lag.

Blitzschnell entwand er ihr das Telefon. »Damit würdest du dir keinen Gefallen tun. Ich bin schnell wieder weg, aber du müsstest den Bullen einiges erklären, zum Beispiel, was du heute im Hotel gemacht hast.«

»Da gibt es nichts zu erklären.« Julia erschrak über den schrillen Klang ihrer Stimme. »Dein Vater wollte mich sprechen. Aber er war nicht da. Das ist alles.« Sie streckte die Hand aus. »Gib mir mein Handy zurück!«

»Ach ja.« Börnsen kicherte. »Nur dumm, dass der Alte deinen Besuch nicht überlebt hat.«

»Damit habe ich nichts zu tun«, krächzte Julia. »Und nun geh bitte! Sonst …«

»Sonst was?«, unterbrach er sie. »Willst du mich aus dem Fenster werfen?« Die Vorstellung schien ihn zu belustigen. »Oder abstechen? Mit einem Küchenmesser vielleicht?«

»Ich will, dass du gehst. Und nie wieder hier auftauchst. Das ist alles.«

Börnsens Blick wanderte erneut über ihren Körper. »Schade eigentlich. Aber wenn du nicht willst … Auf so was habe ich keinen Bock mehr. Wir bleiben in Kontakt.« Er legte das Mobiltelefon ab und packte ihre Oberarme. »Dir ist hoffentlich klar, dass diese Begegnung unter uns bleiben muss. Du hast mich nicht gesehen. Ich werde offiziell erst in Cuxhaven ankommen, wenn der Unfall des Alten ein paar Tage zurückliegt.«

»Unfall?«, flüsterte Julia. »Das war kein Unfall. Da hat jemand nachgeholfen. Warst du das?«

Er ließ ihren Arm frei. »So wie es aussieht, gibt es nur eine Person, die für den Absturz verantwortlich sein kann. Das bist du. Wahrscheinlich können sie es dir nicht nachweisen, dann verlaufen die Ermittlungen im Sande. Auch gut.«

Er wandte sich um und öffnete die Wohnungstür. Dann drehte er sich noch einmal zu ihr und deutete mit ausgestrecktem Arm auf sie. »Du hast mich nicht gesehen. Vergiss das nicht! Sonst kriegst du Probleme.«

Julia lauschte auf die sich im Treppenhaus entfernenden Schritte. Ihr Herz raste, ihr Magen rebellierte und ihr Kopf dröhnte, während sie die schmerzende Stelle am Oberarm rieb.

Letzter Sommerabend am Meer

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