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In Amt und Würden

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Vor dem Forsthaus erstreckte sich eine wilde Wiese mit einem kleinen matschigen Teich in der Mitte. Dahinter lag ein großes Moor, das wiederum in den Zhirower See überging. Der Teich war Heimat unzähliger Moorfrösche. Die Amphibien befanden sich in der Balz. Das Gute an Moorfröschen ist, dass sie nicht lautstark um die Wette quaken, um bei den Weibchen Eindruck zu schinden. Anstatt zu lärmen, färben sich die Männchen im Frühjahr für kurze Zeit blau und buhlen mit der Pracht ihrer Farbe um die Gunst der auserwählten Fröschin. Nie zuvor hatte ich dieses Phänomen, das nur wenige Tage andauert, mit eigenen Augen beobachten können. Als die Sonne über die Wipfel der Bäume blinzelte, erstrahlte der gesamte Tümpel im typisch bläulich-violetten bis himmelblauen Moorfroschblau. Es war mein erster Arbeitstag. Erst gegen Mittag musste ich im Nationalparkamt erscheinen. Also schnappte ich meinen Fotoapparat und knipste wild auf meine balzenden Nachbarn los. Die Fotografie war eines meiner Hobbys. Fototechnisch war ich nicht die hellste Leuchte im Lampenladen, doch ich hatte den Blick für das Motiv. Der ist oft wichtiger als die richtige Belichtungszeit. Meine technischen Defizite glich meine vollautomatische Kamera problemlos aus.

Dank der Liebe zur Fotografie und meiner Arbeit in Burgstadt bekam ich den Zuschlag für das Praktikum. Das Nationalparkamt suchte einen Praktikanten für das SG ÖA - das Sachgebiet Öffentlichkeitsarbeit. Hierfür war ich genau der Richtige. Texte schreiben konnte ich und der Umgang mit der Presse, den Medien und der Öffentlichkeit stellte ebenfalls kein Problem dar. Die Zaster Bank Altstielitz, Partner des Nationalparks, sponserte seit einigen Jahren das Praktikum. Ich hätte den Job auch umsonst gemacht, doch so erhielt ich jeden Monat ein Gehalt von 500,- Euro, für einen Praktikanten nicht schlecht. Dazu noch die Wohnlage - fast könnte man meinen, ich wäre im Urlaub.

Nachdem ich das Balzverhalten der blauen Frösche digital für die Ewigkeit festgehalten hatte, ging ich mit nassen Füßen zurück ins Forsthaus und machte mir ein Pausenbrot für die erste Schicht. Nun musste ich mich beeilen, denn ich kannte den Weg zum Nationalparkamt noch nicht. Mit dem Fahrrad würde es sicher eine ganze Weile dauern, erst recht mit Hans‘ Klapperkiste. Das Amt lag ungefähr 20 Kilometer von meiner Position entfernt in einem Ort namens Bergwitz. Die Strecke musste ich von jetzt an zweimal pro Tag bestreiten - zum Nationalparkamt hin und wieder zurück ins Forsthaus. Eine Gesamtstrecke von 40 Kilometern, die sollte fithalten.

Im spartanisch eingerichteten Wohnzimmer lag eine Wanderkarte, in der auch die alten Wege der Forstwirtschaft eingezeichnet waren. An denen orientierte ich mich. Ich nahm die Karte und ging aus dem Haus. In kurzen Hosen und mit Rucksack auf dem Rücken trat ich in die Pedale. Ich bin ein guter Radfahrer, doch mein klappriges Fortbewegungsmittel erschwerte mir das Vorankommen.

»Meine Güte«, dachte ich, »am Wochenende hole ich sofort mein eigenes Fahrrad hier her.«

Hans‘ Leihgabe in allen Ehren, aber hier musste ein richtiges Kettenfahrzeug an den Start, mit Gangschaltung. Der hüglige Weg nach Zhirow verlangte mir alles ab. Vereinzelte Betonplatten wechselten sich mit mal festerem, mal weicherem Wald- und Sandboden ab. Das ging in die Beine. Doch so schwer der Weg, so schön das Drumherum. Ich kam mir vor wie in einem grünen Tunnel. Kathedralengleich überdachten beeindruckende Rotbuchen den Weg. Unzählige Sonnenstrahlen durchbrachen das frisch grünende Dach des Waldes wie Scheinwerfer. Ein märchenhafter Moment. Das Licht fiel auf ein Meer von weiß- und gelbblühenden Buschwindröschen. Diese umbetteten alte moosbewachsene Baumstämme. In diesem Augenblick war ich mir sicher, mit dem Antritt meines Praktikums alles richtig gemacht zu haben. So etwas kann man mit keinem Geld der Welt bezahlen. Die Natur zog mich mit ihrer Schönheit in den Bann. Unterbrochen wurde dieser bezaubernde Buchenhain nur von einigen riesigen Douglasien, die sich am Wegesrand kerzengerade in den Himmel bohrten. Aus den Stämmen der Nadelbäume wurden früher die Masten großer Schiffe gebaut. Fasziniert nach oben blickend, bemerkte ich nicht, dass vor mir gerade eine Bache dabei war, ihren niedlichen Frischlingen die Welt zu zeigen. Ebenso wenig achtete die Wildschweinfamilie auf mich. Erst als die kleinen Schweinchen verängstigt quickten und sich Schutz suchend neben mir auf den Waldboden drückten, registrierte ich die Ferkelbande. Die Mutter befand sich glücklicherweise einige Meter entfernt. Sie grunzte tief und laut. Schnell sprangen die Frischlinge auf und suchten eiligst das Weite. Das Fahrrad und ich lagen im Sand. Durch ein beherztes Brems- und Fallmanöver hatten wir uns direkt in die waagerechte Position begeben. Beinah wäre es zu einem blutigen Wildunfall zwischen Drahtesel und Schwein gekommen, doch so konnten sich alle Beteiligten unversehrt an die Verrichtung ihres Tagwerks machen. Hier draußen galten keine Verkehrsregeln und Vorfahrtsschilder gab es nicht.

Kurz vor Zhirow änderte sich das Bild. Der nahezu unberührte Buchenwald wandelte sich in einen Forst aus gepflanzten Kiefern. In Reih und Glied standen die Nadelbäume mit ihren dünnen Stämmchen nebeneinander. Viele halten das für echten Wald. Sie finden es sogar schön, weil alles so ordentlich aussieht und man dort unbeschwert Pilze sammeln kann. Doch echter Wald sieht anders aus. Den hatte ich gerade verlassen. Kiefernforste sind reine Nutzwälder. Witterungs- und schädlingsanfällig, dienen solche Monokulturen der reinen Holzgewinnung. Hier im Nationalpark bildeten sie die Überreste einer alten Zeit. Nachdem das ganze Gebiet unter Schutz gestellt wurde, holzte man die Forste aus, um dem natürlichen Regenerationsprozess unter die Arme zu greifen. Irgendwann würden die jungen Buchen, die sich bereits mühsam durch die übriggebliebenen Kiefern nach oben kämpften, ihre Kronen ausbreiten und wieder die alleinige Herrschaft übernehmen.

Ich erreichte Zhirow und fuhr vorbei an Hans‘ Kaninchen und Bauer Albrechts Hühnern. Dann überquerte ich die einzige asphaltierte Straße, die Landstraße nach Altstielitz. Ich passierte das Dorf und schon ging es wieder in den Wald. Laut Karte musste ich immer nur geradeaus, über die Bahnschienen, einmal nach links und wieder nach rechts. Komischerweise gab es weitaus mehr Forstwege, als auf meiner Karte verzeichnet waren. Und so kam, was kommen musste. Nach einer zweistündigen Irrfahrt durch ein Labyrinth aus Waldstraßen erreichte ich Bergwitz - durchgeschwitzt und mit einiger Verspätung. Ausgerechnet am ersten Tag. Gekrönt wurde die Odyssee kurz vor Erreichen des Nationalparkamtes von einem ungemein steilen Anstieg, der sich mir unverhohlen in den Weg warf. An dessen Ende thronte erhaben ein kleines, herausgeputztes Schloss, Schloss Bergwitz, seines Zeichens Sitz des Nationalparkamtes.

»Nicht schlecht für ein Amt«, dachte ich.

In unmittelbarer Nähe erhoben sich zwei Plattenbauten aus dem Boden. Ohne Fenster, grau und verlassen bildeten sie einen krassen Gegensatz zum ehemaligen Adelssitz - optisch, politisch und geschichtlich. Ich fuhr bis zur Schlosstreppe, stellte das Fahrrad ab und ging hinein. Auf meinem Weg zum Sekretariat, der mich durch hohe Flure führte, traf ich Hans. Normalerweise arbeitete er in seinem Büro in der Nationalparkinformation in Altstielitz oder war irgendwo im Park unterwegs, doch heute besuchte er das Amt, um an der wöchentlichen Sachgebietsleiterversammlung teilzunehmen.

»Tag Jan. Gut geschlafen?«

»Naja, war ein bisschen laut draußen.«

In der Nacht wurde ich des Öfteren von ungewohnten Geräuschen geweckt. Das hatte ich mir anders vorgestellt. Von ungetrübter Nachtruhe keine Spur. Das Damwild machte mir einen Strich durch die Rechnung. Die halbe Nacht lang ästen die Tiere direkt vor dem angeklappten Schlafzimmerfenster und schnorpsten genüsslich vor sich hin. Für das empfindliche Ohr des Ruhesuchenden klang dieses Schnorpsen, als würde ein Dinosaurier einen Artgenossen zermalmen. Irgendwann schlief ich darüber ein und träumte von einer überdimensionalen Wildgulaschkanone. Doch nicht sehr lange. Punkt sechs weckte mich das nun einsetzende Vogelstimmengewitter. Der Zilp Zalp zilpte, die Amsel tirilierte, der Falke fiepte, Scharen mir unbekannter Vögel pfiffen, zwitscherten und sangen ihr fröhliches Morgenlied. An die nächtlichen Straßenbahngeräusche in Burgstadt hatte sich mein Gehör gewöhnt, doch die ungewohnt lauten Reize aus der Natur mussten die Hörnerven des Großstädters erst noch verarbeiten.

»Wo muss ich denn hier hin?« fragte ich Hans.

»Die zweite Tür rechts«, antwortete er und ging weiter seines Weges. »Na dann, viel Spaß.«

Im Sekretariat erwarteten mich die drei Damen der Buchhaltung.

In der Tür stehend sagte ich: »Guten Tag. Ich bin der neue Praktikant, Jan Becker. Tut mir leid, ich habe mich im Wald verfahren, darum bin ich etwas spät dran.«

»Aha! Da sind Sie nicht der Erste«, schallte es aus einer offenen Flügeltür. »Dann kommen Sie mal rein.«

Dahinter saß die Chefin der Buchhaltung, Frau Bolle. Sie schien sehr streng zu sein. Genauso streng wie korpulent. Ich ging zu ihr. Nach dem üblichen Vorstellungsgeplänkel ging es zur Sache. Mir wurde erklärt, wo sich mein Büro befindet, nämlich im Seitenflügel, wo ich die Stempeluhr finden würde, neben dem Haupteingang, wie ich zur Kantine komme, wo der Frosch die Locken hat und noch vieles mehr. Und, dass ich von nun an für wirklich alles einen entsprechenden Antrag auszufüllen hätte - für den Urlaub, für dienstliche Reisen, für die Fahrtkostenabrechnung, für dieses und jenes, für jeden kleinen Pups. Auch meine Tätigkeiten als Praktikant müsse ich, wie jeder Mitarbeiter, wöchentlich in einem Nachweisprotokoll stichpunktartig festhalten. Ein Amt bleibt eben ein Amt. Jedes Sachgebiet hatte eine eigene Kennzahl. Der Transportverkehr sämtlicher Anträge und Papiere erfolgte durch sogenannte Umlaufordner, die durch einen Boten von Büro zu Büro getragen wurden.

»Von der Wiege bis zur Bahre - Formulare, Formulare.«

Nun war ich, formell gesehen, bestens im Bilde. Auf einem Seitentisch entdeckte ich Kirschtorte.

»Oh, die Damen essen gern Kuchen?« fragte ich aufmerksam.

»Wir lieben Kuchen!« kam darauf im Dreiklang zurück.

»Dann werde ich Ihnen zum Einstand mal was backen. Ich bin ein talentierter Tortenbäcker.«

Wie vermutet, hatte ich sie mit diesem Angebot sofort auf meiner Seite. Wer weiß, wozu es gut war. Sich eine Rangeruniform zu erbacken wie in Australien, war bei deutschen Behörden sicherlich ein Ding der Unmöglichkeit. Aber drei zugeneigte Kuchenfreundinnen in zentraler Position konnten auf keinen Fall schaden. Die Verwaltungsfrauen wünschten mir einen guten Start und viel Spaß. Das mit dem selbstgebackenen Kuchen würden sie sich merken und mich zur Not noch mal daran erinnern. Ich versicherte ihnen, dass dies nicht nötig sei.

Wenig später klopfte ich an eine große Flügeltür im Seitenhaus.

»Herein!« hörte ich eine männliche Stimme rufen.

Es handelte sich um meinen zukünftigen Vorgesetzten Peter Schliwa. Zusammen mit einer jungen Angestellten namens Beate kümmerte er sich um die Außenwirkung des Nationalparks. Peter schrieb Pressemitteilungen, Zeitungsbeiträge, nahm an Konferenzen teil und war Sprecher der Nationalparkleitung. Beate entwarf Logos, Prospekte und Werbeanzeigen und war gleichzeitig für die Ausschmückung der einzelnen Touristeninformationen der Gegend verantwortlich. Ein eingespieltes Team, sympathisch und freundlich.

»Ah! Du bist bestimmt Jan, der neue Praktikant«, sagte Peter, als ich ins Zimmer kam.

Er und Beate boten mir sogleich das Du an.

»Wir müssen uns beeilen«, meinte mein neuer Chef, »die Sachgebietsleiterkonferenz hat bereits begonnen. Da nehme ich dich gleich mit hin, dann kannst du dich allen vorstellen. Ich muss das hier nur noch schnell fertigschreiben, muss heute an die Presse.«

Auf seinem Bildschirm sah ich eine offizielle Stellungnahme des Nationalparks zur Rückkehr des Wolfes nach Mecklenburg. Erst neulich hatte ein Einzeltier auf Wanderschaft im Blutrausch die halbe Herde eines Rentierzüchters gerissen. Ein Riesenthema in der Bevölkerung. Der Rentierbesitzer besaß ein wolfsicheres Gehege und hatte der Wiederansiedelung von Gevatter Isegrim in Deutschland bisher offen gegenübergestanden. Ein Fuchs grub jedoch einen Durchgang unter den Schutzzaun des Geheges. Dadurch gelang später einem Wolf der Zutritt und er konnte unbehelligt zuschlagen - eine Ausnahme. Trotz finanzieller Entschädigung entschied sich der Mann nun gegen die Rückkehr der Wölfe. Wie immer in solchen Fällen, ging ein Aufschrei des Entsetzens um und die uralte Mär vom bösen Raubtier stieß auf offene Ohren. Schon vorher hatten Naturschützer, Landwirte und Tierzüchter heftig über das Für und Wider zukünftig ansässiger Wolfsrudel diskutiert, doch nun kochten die Gemüter über. Sicherlich gibt es auf jeder Seite ernstzunehmende Argumente, die man kompromissbereit anhören und erläutern muss, doch welche hanebüchenen Mythen sich in den Köpfen mancher Wolfsgegner manifestiert haben, ist unglaublich. Rotkäppchen lässt grüßen. Der Wolfsbeauftragte des Nationalparkamtes musste in dieser Angelegenheit einige Verbalattacken über sich ergehen lassen.

»Jetzt aber los«, sagte Peter. Gleichzeitig klickte er einmal mit seiner Maus auf Senden und schickte die Stellungnahme per E-Mail an sämtliche Medien.

Im Konferenzraum referierte Herr Schlüter gerade über die neu erarbeitete Strategie zur Bereinigung des Wildbestandes im Schutzgebiet. Er war der Leiter des Nationalparks - ein sehr intelligenter Mann mit guten Führungsqualitäten, wie ich später feststellte. Auf Katzenpfoten schlichen Peter und ich zu zwei freien Plätzen und setzten uns leise an einen der oval zusammengestellten Tische. Alle sahen mich mit großen Augen argwöhnisch an. Hans saß mir genau gegenüber und grinste. Herr Schlüter stutzte kurz, fuhr aber sogleich mit seinem Vortrag fort.

»Oh, ich glaube, ich hätte dich heute gar nicht mit reinnehmen dürfen«, flüsterte Peter, »zu viele Interna. Aber drin ist drin.«

Was ich in dieser Sitzung alles erfuhr, verschaffte mir einen guten Überblick über die herrschende Personalstruktur des Nationalparkamtes. Vor mir saßen vornehmlich Männer aber auch einige Frauen. Sie alle leiteten die unterschiedlichsten Sachgebiete. Die Runde teilte sich in zwei Gesinnungsgruppen auf, in Naturschützer und in ehemalige Förster und Jäger. Hätte man mich gefragt, ich hätte sofort sagen können, wer zu welcher Gruppe gehörte. Das war allein schon an den schwarzen und braunen Jagdlederhosen zu erkennen, die manche Damen und Herren am Leib trugen.

Zu DDR-Zeiten herrschten mehrere Forstverwaltungen über das gesamte Gebiet. Dies änderte sich kurz nach der Wende grundlegend, als der Nationalpark gegründet wurde. Die Forstverwaltungen löste man bis auf wenige auf und übernahm viele Mitarbeiter in das neue Verwaltungssystem. Von nun an sollten Naturhüter mit Förstern und Jägern in Eintracht zusammenarbeiten, alles unter Leitung Ersterer. Dies funktionierte aber nicht. Während die einen der Natur freien Lauf lassen und den Einfluss des Menschen auf ein Mindestmaß beschränken wollten, wünschten sich andere die alten Zeiten im geordneten Forst zurück. Man konnte die armen Bäume doch nicht einfach sich selbst überlassen. Das sei pure Geldverschwendung und überhaupt. Man machte sich das Leben gegenseitig schwer, ja geradezu zur Hölle. Forstwirtschaft gegen Naturschutz lautete die Devise. An eine gewinnbringende Zusammenarbeit war nicht zu denken. Jeder stellte jedem ein Bein. Irgendwann nahm der Interessenskonflikt solche Ausmaße an, dass dem Umweltminister des Landes der Kragen platzte und er mit sofortiger Wirkung beschloss, beide Parteien zwangszuversöhnen. Alle noch übriggebliebenen Forstverwaltungen wurden geschlossen und das Nationalparkamt Bergwitz als Hauptsitz bezogen. Die Führungspositionen wurden neu aufgeteilt. Beide Parteien hockten von nun an direkt auf- und nebeneinander. In den Folgejahren besserte sich die Situation allmählich. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, also gewöhnte man sich langsam aneinander. Doch von Friede, Freude, Eierkuchen konnte nicht die Rede sein. Eine gewisse Spannung lag noch immer im Raum. Dies war allein an der Art, in der beide Lager über den Nationalpark und die Kollegen sprachen, abzulesen. Während es sich für die einen um eine Herzensangelegenheit handelte, taten andere nur ihren Job und saßen die Zeit bis zum ersehnten Ruhestand ab. Der individuelle Arbeitseinsatz der Anwesenden spiegelte sich dementsprechend in stark auseinanderdriftenden Körpervolumen wider. Auf den ersten Blick lag der Altersdurchschnitt kurz vor dem Rentenalter. Frischfleisch schien hier Mangelware zu sein, der Jungbrunnen für Mitarbeiter seit Jahren versiegt. Kein Wunder, denn freiwerdende Jobs wurden entweder eingespart oder nur intern neu ausgeschrieben. Äußerst selten schaffte es frisches Blut in den eingefahrenen Beamtenapparat. Mit neuen Ideen sah es ähnlich aus.

»Das sind ja gute Aussichten«, dachte ich für mich und sah meinen Traumjob in weite Ferne rutschen.

Ohnehin standen meine Chancen, hier ein neues Berufsleben beginnen zu können, eher schlecht. Mir fehlte das nötige naturwissenschaftliche Studium. Aber vielleicht hatte ich ja Glück. Ausnahmen bestätigen die Regel und mein Praktikum in der Öffentlichkeitsarbeit bot zumindest eine Chance.

Die Sitzung am runden Tisch löste sich auf. Peter stellte mich kurz dem Amtsleiter vor, so, wie es Sitte ist. Dann gingen wir zurück ins Büro. Dort wies mich mein Chef in die Arbeit ein.

»Bis zum Wochenende wirst du dich in alles einlesen und einarbeiten, vielleicht schon ein paar Pressemitteilungen zu Papier bringen und eine persönliche Vorstellung für die Nationalparknachrichten schreiben. Bei Fragen einfach fragen. Da du aus der Medienbranche kommst, solltest du dich ja damit auskennen. Wir planen gerade einen neuen Prospekt für den Nationalpark. Dafür benötigen wir Fotos, Unmengen von Fotos. Eine deiner Aufgaben wird es sein, so viele Bilder wie möglich im Nationalpark zu schießen. Damit du einen Überblick über den Park bekommst und schon mal einiges fotografieren kannst, wirst du nächste Woche fünf Tage lang mit Klaus durch die Gegend fahren. Klaus ist Ranger, der wird dir alles erklären und zeigen.«

Meine Aufgaben klangen nicht schlecht. Ich freute mich darauf, mit Klaus durch die Natur zu fahren und alles, was mir vor die Linse kommt, in Bildern festzuhalten.

»Wie kommst du eigentlich immer von A nach B?« fragte Beate.

»Mit dem Fahrrad.«

»Respekt!« sagte Peter. »Vom Forsthaus bis hier und wieder zurück, das trainiert die Schenkel.«

»Besonders mit Hans‘ Klappergestell«, erwiderte ich. »Bringt einen ganz schön aus der Puste. Mein eigenes Fahrrad muss ich erst noch von zu Hause holen.«

»Also nächste Woche«, begann Peter, »nächste Woche brauchst du kein Fahrrad. Klaus wird dich jeden Tag mit dem Geländewagen vom Forsthaus abholen und auch wieder dort absetzen. Erschreck dich aber nicht, wenn du ihn siehst. Klaus ist ein ganz spezieller Fall. So was hast du bestimmt noch nie gesehen.«

»Was ist denn so speziell an ihm?« fragte ich.

»Das wirst du sehen, wenn er aus dem Urlaub kommt«, antwortete Beate mit einem Grinsen.

Beide gingen wieder an ihre Arbeit. Und auch ich stürzte mich in meinen neuen Aufgabenbereich.

Trotz der Prophezeiung, in der nächsten Woche kein Fahrrad zu benötigen, fuhr ich am Wochenende zurück nach Burgstadt, um nicht länger auf Hans‘ Drahtesel angewiesen zu sein. Während meiner Abwesenheit pflegte eine gute Nachbarin meine Zimmerpflanzen. Ansonsten stand die Wohnung für die Zeit meines Praktikums leer. Ein Auto besaß ich nicht. Radio Burgstadt lag nur zehn Minuten von meiner Wohnung entfernt. Die Strecke legte ich meistens mit dem Fahrrad zurück. Manchmal ging ich auch zu Fuß. Für alles andere gab es Bus und Bahn. Seit 20 Jahren radelte ich nun schon mit demselben Zweirad durch die Lande. Ich hatte es mir gleich nach der Wende vom ersten ersparten Taschengeld gekauft. Darauf war ich mächtig stolz. Heute fährt es immer noch. Das bestätigt gute Qualität. Nur die Gabel und das Vorderrad waren nicht mehr original. Zwei Unfälle hat das Fahrrad überstanden. Bei beiden war ich noch recht jung. Einmal hielt ich damit unfreiwillig ein Auto auf dem Fußgängerüberweg an. Ich übersah einen Lada und rollerte auf den Zebrastreifen. Es knallte und mir wurde schwarz vor Augen. In meinem Kopf dröhnte es, als hätte jemand auf einen großen Gong geschlagen. Nicht verwunderlich - mein Gesicht war mit voller Wucht auf der Windschutzscheibe aufgeschlagen. Meine linke Schulter hatte zudem den rechten Rückspiegel des Wagens abgerissen. Das ist nicht die beste Art einen Fußgängerüberweg zu überqueren. Als ich wieder zu mir kam, standen viele aufgeregte Leute um mich herum. Ein Krankenwagen war unterwegs. Der Fahrer des Wagens fragte mich aufgeregt, ob alles in Ordnung sei.

»Mein Fahrrad liegt noch auf der Straße«, soll ich entsetzt darauf geantwortet haben.

Angeblich lag ich mehrere Minuten bewusstlos auf der Fahrbahn. Für mich passierte jedoch alles ganz schnell: Aufprall - Gong - wieder wach. Ich setzte mich auf den Bordstein und wartete mit zwei blutenden Platzwunden im Gesicht und einem angerissenen Band in der Schulter auf die Ambulanz. Unter Schock verspürte ich keinerlei Schmerzen. Die kamen erst später. Im Krankenhaus angekommen, geriet ich in eine sehr peinliche Situation. Als sich der unfreiwillige Zusammenstoß ereignete, kam ich gerade vom Volleyballspielen mit Freunden. Auf die belebende Dusche danach hatte ich verzichtet. Das wollte ich zu Hause nachholen. Meine Sportkleidung hatte ich deswegen immer noch an. Und nun zogen mir zwei hübsche Krankenschwestern meine durchgeschwitzten Sachen und die stinkenden Käsestrümpfe aus. Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Nach drei Tagen mit einem fanatischen Fußballfan im Zimmer, konnte ich das Krankenhaus wieder verlassen. Der BVB-Fan nervte gewaltig. Ich hätte den Typen mit meinem Kissen ersticken können. Nachts schnarchte er wie eine Dampfmaschine und tagsüber hörte er mit seinem Kassettenrekorder ständig die Borussia-Hymne. Als wäre dies der Folter nicht genug, ließ er es sich auch nicht nehmen, lauthals mit zu grölen.

»Borussiaaaaaaa! Booorussiaaaaaa!« schallte es durchs Zimmer.

Auch deshalb hasse ich Krankenhäuser. Man weiß nie, mit wem man in ein Zimmer gesteckt wird. Die drei Tage erschienen mir wie eine Ewigkeit. Doch ich hielt tapfer durch. Meine zwei Narben im Gesicht verschwanden irgendwann nahezu. Und auch die lädierte Schulter heilte gut. Mein Fahrrad hatte den Unfall zu meinem Erstaunen besser überstanden als ich. Nur ein paar Kratzer hatte es davongetragen. Doch ein Fahrradunfall kommt selten allein. Ein anderes Mal verfing sich eine Plastiktüte mit einer Jeans in den Speichen. Ich hatte sie an den Lenker gehängt und baumeln lassen. Bei voller Fahrt auf einer Hauptstraße blockierte plötzlich das Vorderrad. Ich überschlug mich in hohem Bogen und landete auf dem Asphalt. Zum Glück kam hinter mir kein Auto, sonst hätte es mich überrollt. Die Gabel und die Speichen hielten dieser Belastung nicht stand und mussten in Folge ausgetauscht werden. Wie auch mein rechtes Kreuzband, das den direkten Aufschlag des Knies auf den harten Boden nicht überlebte. Erneut landete ich im Krankenhaus. Diesmal jedoch in einer Spezialklinik in Hüttenhausen. Dort gab es angeblich die besten Kniechirurgen des Landes. Man rasierte mir das halbe Bein und bemalte es mit einem rosafarbenen Stift. Ausgerechnet rosa! An einem Dienstag sollte ich unters Messer kommen. Der Termin fiel aber aus.

»Die Lampe im Operationssaal hat gerade den Geist aufgegeben. Vor Donnerstag bekommen wir keine neue. Solange musst du dich noch gedulden«, erklärte mir der Chefarzt freundlich.

»Bis Donnerstag bleibe ich doch nicht hier liegen«, dachte ich mir und traf eine tollkühne Entscheidung.

Von Hüttenhausen bis Burgstadt benötigte man nur 45 Minuten mit dem Zug. Also nutzte ich den Mittwoch, um nach Hause zu meinen Eltern zu fahren. Abends würde ich rechtzeitig wieder zurück sein. Da ich trotz meines Kreuzbandrisses gut gehen konnte, stellte der Weg vom Krankenhaus bis zum Bahnhof kein Problem dar. Es war Sommer. Deshalb hatte ich keine lange Hose bei mir. So musste ich wohl oder übel kurze Beinkleidung anlegen und den Blick auf mein mit rosa Pfeilen und Kreuzen verziertes, glattrasiertes Knie freigeben. Das sah geschossen aus. Ich versuchte, die verwunderten Blicke der Passanten zu ignorieren. Abgefahrene Tattoos lagen damals noch nicht im Trend. Am Bahnhof musste ich eine Stunde warten also ging ich nach draußen und setzte mich in einem kleinen Park auf eine Bank. Zunächst passierte nichts. Irgendwann setzte sich jedoch ein Mann zu mir. Er trug ein hellblaues T-Shirt und eine verwaschene Stoffhose. Ich beachtete ihn nicht. Als ich merkte, dass er immer wieder gierig auf mein rasiertes Bein starrte, stand ich auf und spazierte zum Bahnhof. Auf dem Vorplatz las ich mir zum Zeitvertreib in einem Schaukasten den Zugfahrplan durch. Ich erschrak, als ich das verschwommene Spiegelbild des Mannes in der Scheibe erkannte. Hatte er mich verfolgt? Oder war es reiner Zufall, dass er dort stand. Um dies zu überprüfen, ging ich langsam und unauffällig in die Bahnhofshalle. Würde er mir nachlaufen, wüsste ich, dass er mich verfolgt. Und tatsächlich! Er schlich mir hinterher. Ich wurde leicht nervös. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Perversen, der es auf das zarte Fleisch des bemalten Jünglings abgesehen hatte. Der große Bahnhof in Hüttenhausen bot viele Fluchtmöglichkeiten. Ich entschied mich für folgende: Ich ging wieder nach draußen. Bevor der Verdächtige mir folgen konnte, rannte ich los. Ich lief einmal um das Gebäude herum, unter der Bahnunterführung hindurch und enterte den Hintereingang. Vorsichtig näherte ich mich meinem Gleis. Es gab keine Spur von meinem Verfolger. Mein Zug stand zum Glück schon bereit. Ich stieg ein und beobachtete den Bahnsteig bis zur Abfahrt. Erst dann war ich mir sicher, ihn abgehängt zu haben. Ich mochte mir nicht ausmalen, was dieser Mann von mir wollte.

Mit einer langen Hose bekleidet bezog ich am gleichen Abend wieder mein Krankenhausappartement. Die Knieoperation verlief komplikationslos, dauerte allerdings sehr lange. Ich war von der Hüfte an betäubt und wach. Auf einem Monitor konnte ich das Geschehen im Inneren meines Kniegelenks live beobachten. Ein merkwürdiger Anblick. Auch wenn ich keinen direkten Schmerz verspürte, werde ich das Gefühl des in den Oberschenkelknochen eindringenden Spezialbohrers nie vergessen. Mit zwei Titanschrauben wurde das neue Kreuzband bombenfest verankert. Aufgrund der fortgeschrittenen Technik ist solch eine Operation heutzutage keine große Sache mehr. Das sah damals noch etwas anders aus. Doch ich kann nicht klagen, nach einer mehrwöchigen Rehabilitation und einem viertel Jahr auf Krücken konnte ich wieder hüpfen und springen wie ein junges Reh. Und Fahrrad fahren! Der Vorteil der partiellen Anästhesie liegt darin, dass man sich nicht den Risiken der Vollbetäubung aussetzt und bei Bewusstsein bleibt. Nachteilig ist, besonders bei Operationen unterhalb der Leistengegend, dass man nicht merkt, ob man mal muss oder nicht. Bevor das Gemächt und die Blasenregion wieder erwacht sind, hat man kein Gefühl in diesem Bereich. Einige Stunden nach meiner Operation lag ich wach in meinem Bett und betrachtete mein Bein. Mehrere dünne Plastikschläuche schlängelten sich aus meinem verbundenen Knie. Eine wässrige, rotbraune Flüssigkeit lief aus dessen Inneren in eine Auffangflasche. Krankenschwester Ina kam ins Zimmer.

»Konntest du schon pinkeln?«

Ich verneinte.

»Probier es lieber mal, auch wenn es schwer fällt. Deine Blase ist bestimmt randvoll.«

Sie reichte mir eine Ente und verließ das Zimmer.

Wenig später schoss ein langer Urinstrahl unkontrolliert einmal quer durchs Zimmer. Ich hatte den Eingang der Ente verfehlt und keinerlei Einfluss über Ausscheidungsmenge und -druck. Die gelbe Flüssigkeit verteilte sich nach Herzenslust frei im Raum. Aber keine Angst, es wurde niemand verletzt. Ich sage ja, Krankenhäuser und ich, das ist keine gute Mischung.

Mit meinem geliebten 28er-Herrensportrad hatte ich also schon so manches Abenteuer erlebt und überlebt. Das bindet. Und nun wartete die nächste Herausforderung auf uns - der Nationalpark.

Sonntagabend nahm ich den letzten Zug nach Altstielitz. In meinem Rucksack befanden sich eine Kuchenform für meinen Einstand und viele nützliche Dinge für das Leben im Forsthaus. Als ich in Altstielitz ausstieg, brannten bereits die Straßenlaternen. Dunkelheit zog übers Land. Ich drückte auf den Dynamo und sprintete los. Auf halber Strecke zwischen Altstielitz und Zhirow begann meine Lichtmaschine eigenartig zu brummen.

»Was ist das denn jetzt?« dachte ich.

Kurz danach erlosch das Licht. Unglaublich, wie schwarz die Nacht sein kann. Besonders auf einem Radweg im Wald. Ich bremste sofort und hielt an. Der Dynamo schien im Eimer, offenbar zu heiß gelaufen. Das kleine Triebrad saß fest und bewegte sich nicht mehr. Schöner Mist! Erst vor sechs Monaten hatte ich mir den Dynamo gekauft. Ich vermutete einen Fall von geplanter Obsoleszenz. Obwohl, der Dynamo war einfach nur billig, was erwartete ich. Den nächsten würde ich garantiert wieder im Fahrradladen kaufen und nicht im Supermarkt. Selbst schuld. Doch musste er mich ausgerechnet hier verlassen. Meine Kopflampe lag im Forsthaus. Dort lag sie gut. Halb blind schritt ich voran. Abschnittsweise verlief die Landstraße nach Zhirow parallel zum Fahrradweg. Hin und wieder warfen die Scheinwerfer einzelner Autos lange Lichtkegel durch die Bäume. Kamen sie von vorn, blendeten sie mich, kamen sie von hinten, nutze ich die Gelegenheit und trat in die Pedale, solange ich etwas sehen konnte. Damit war es in Zhirow vorbei. Nun lag der einsame Weg zum Forsthaus vor mir. Unter dem dichten Dach der Buchen sah ich die Hand vor den eigenen Augen nicht. Tapfer schob ich mein Fahrrad durch die Finsternis. Ein bisschen unheimlich ist das schon, wenn man die Lichtverschmutzung der Stadt gewohnt ist. Das Wort Lichtverschmutzung kannte ich vor Beginn meines Praktikums nicht, doch ich mochte es.

»Vom Forsthaus aus hast du beste Sicht auf den Sternenhimmel. Dort gibt es keinerlei Lichtverschmutzung«, hatte Hans mir gesagt.

Wie Recht er hatte. Hier im Buchenwald gab es überhaupt keine Lichtverschmutzung. Noch dazu war es bewölkt. Nicht einmal der Mond kam mir zu Hilfe. Ich trottete vorsichtig durch die Nacht und dachte weiter über den kaputten Dynamo nach.

»Wie kann man etwas herstellen, das so schnell kaputt geht?« fragte ich mich. »Welche Ressourcen dadurch verschwendet werden!«

Mit der Qualität vieler Produkte ist es sowieso nicht mehr weit her. Entweder kannst du sie kaum noch bezahlen oder sie sind so billig, dass sie schon schrottreif sind, bevor du sie an der Kasse bezahlst. Technik geht eigenartigerweise oft kaputt, kurz nachdem die Garantie abgelaufen ist. So war es auch bei meinem Drucker. Gerade als ich die Bewerbung für das Praktikum ausdrucken wollte, funktionierte nichts mehr. Die Farbpatronen waren gut gefüllt, es gab keinerlei Probleme und plötzlich: Aus die Maus! Wieso, weshalb? Niemand weiß es. Ich sage ja, geplante Obsoleszenz. Schon mal was davon gehört? Erst neulich habe ich eine Dokumentation darüber gesehen. Begonnen hat alles in den 1920er Jahren in Genf. Die fünf größten Glühlampenhersteller schlossen sich zum sogenannten Phoebuskartell zusammen. Ihnen missfiel, dass ihre eigenen Produkte viel zu lange leuchteten. Das war schlecht fürs Geschäft. Also einigten sie sich darauf, die Lebensdauer der Glühbirne von 2.500 Stunden auf 1.000 Stunden zu reduzieren. Sie minderten somit absichtlich die Qualität ihrer eigenen Produkte. Nur, um den Absatz zu erhöhen. Wieso kommt mir in diesem Zusammenhang nur die Einführung der Energiesparlampe in den Sinn? Ein weiteres Beispiel ist die Nylonstrumpfhose. Die Firma DuPont brachte sie 1940 in den USA auf den Markt. Das extrem reißfeste, hauchdünne und durchsichtige Gewebe entzückte die Damenwelt. Die Herzen aller Frauen schlugen höher. Eine modische Revolution. Die Entwickler der Feinstrumpfhose waren stolz auf ihr Produkt. Nylon hielt und hielt und hielt. Als fast jede Frau eine unzerstörbare Strumpfhose besaß, brach der Umsatz ein. Die gleichen Entwickler, die so stolz auf ihre Faser waren, mussten nun im Geheimen Stärke und Qualität und damit auch die Reißfestigkeit der Nylonprodukte herabsetzen, um den Verkauf wieder anzukurbeln. Einige Autohersteller stehen ebenfalls unter dem Verdacht, nicht ganz koschere Bauteile in ihre Serien einzubauen. Unabhängige Werkstätten können das sicher bestätigen. Aus wirtschaftlicher Sicht macht es also keinen Sinn, etwas herzustellen, das ewig hält. Ob unsere Umwelt dadurch den Bach runtergeht, ist egal. Hauptsache, der Dollar rollt und die Menschen, Verzeihung, die ferngesteuerten Konsumenten können kaufen, kaufen, kaufen. Geplante Obsoleszenz ist also nichts anderes als eine vorfestgelegte Lebensdauer von Produkten. Wobei die meisten Konsumgüter heute wie gesagt eh schon derart billig sind, dass der gesunde Menschenverstand eine lange Lebensdauer von Vornherein ausschließen sollte. Doch mit dem gesunden Menschenverstand ist es auch nicht weit her. Immer wenn ich mich in Burgstadt in einen der großen Einkaufstempel verlaufe und sehe, wie unglaubliche Massen im Kaufrausch zombiegleich dem Neusten vom Neuen nachhecheln, erschrecke ich. Hier noch ein Schnäppchen, da noch ein Sonderangebot… Es heißt: Wer glücklich ist, kauft nicht. Wenn das stimmt, steht es nicht gut um den Gemütszustand vieler Mitmenschen.

Beim Totalausfall meines Druckers handelte es sich laut des aufschlussreichen Fernsehberichts wahrscheinlich um einen eingebauten Zähler, der bei Erreichen einer bestimmten Seitenzahl die Elektronik lahmlegt. Clever ausgedacht. Doch ein russischer Programmierer war cleverer und bietet im Internet eine kostenlose Software an, die das Problem behebt. Die Software setzt den Zähler auf null zurück. Ich habe es noch nicht ausprobiert, doch das werde ich nachholen. Solange bleibt der obsolete Drucker im Keller.

Der Ruf eines Waldkauzes weckte mich aus meinen Gedanken. Zum Forsthaus war es nun nicht mehr weit. Inzwischen hatte ich mich an die Nacht gewöhnt und begann, die Atmosphäre des dunklen Waldes zu mögen. Neben mir knackte Geäst. Ich hörte Rehe flüchten. Zumindest hoffte ich, dass es Rehe waren. Erleichtert erreichte ich mein trautes Heim. Nachdem ich das Schlüsselloch gefunden hatte, setzte ich den Rucksack ab, verspeiste eine schnelle Mahlzeit in der Küche, legte mich zur Ruh und schlief den Schlaf der Seligen.

Der Praktikant

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