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Auf nach Queensland

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Wir saßen in einem Café in Magdeburg und sinnierten darüber, wie schön es doch wäre, den Alltag hinter sich zu lassen, einfach zu sagen: »Ihr könnt uns doch alle mal!«, und für längere Zeit allem, was uns auf den Keks ging, den Rücken zu zukehren. Schließlich waren wir jung, uns stand die ganze Welt offen. Und wenn nicht jetzt, wann denn dann? Die Welt sehen, neue Menschen kennenlernen, raus hier und so richtig leben.

Es brauchte nicht viele dieser Abende, bis Anne und ich endgültig beschlossen, unseren Job zu kündigen, die nötigen Formulare zu besorgen und uns kurzfristig, das heißt innerhalb von zwei Monaten, auf ein Jahr Down Under vorzubereiten.

Doch wieso gerade Australien?

Zum einen schien es uns weit genug weg, zum anderen genau das Richtige für Abenteurer wie uns zu sein.

Bei Bekanntgabe unseres Vorhabens stießen wir auf die unterschiedlichsten Reaktionen unserer Freunde und Verwandten. Die einen zeigten sich hellauf begeistert, andere erklärten uns für verrückt und wiederum andere wussten nicht so richtig, was sie von der ganzen Sache halten sollten.

Viele meinten: »Mensch, das würde ich auch zu gerne machen! Aber ich traue mich nicht. Ich habe viel zu viel Angst davor.«

Hätten wir damals so gedacht, wären uns eine atemberaubende Zeit und jede Menge prägender Erfahrungen durch die Lappen gegangen. Am schwierigsten gestaltete sich jedoch, den eigenen Eltern und natürlich der Oma die plötzlich erwachte Lust am Reisen nahezubringen. Der Grat zwischen Begeisterung und der Angst davor, der eigene Enkel könne im australischen Busch irgendeiner nur auf ihn lauernden Giftschlange zum Opfer fallen, war, wie man sich denken kann, äußerst schmal.

»Mensch, mein Junge«, schrie die Oma, »ich werde dich wohl nie mehr wiedersehen! Das Flugzeug wird abstürzen, irgendwelche Verrückten werden euch entführen, die Aborigines werden euch auffressen, ihr werdet verdursten, verhungern, an Einsamkeit sterben, von Krokodilen oder Haien verspeist werden ...«

… und, wenn das nicht passiert, letzten Endes doch noch von der bereits erwähnten Schlange literweise mit Gift vollgepumpt werden.

Gut, die Darstellung der Ereignisse klingt ein bisschen übertrieben, aber so ähnlich war es schon. Die Liste der Gegenargumente schien endlos. Gleichzeitig empfanden wir sie als sehr amüsant. Doch ich kann es nur zu gut nachvollziehen, dass sich die eigenen Verwandten die größten Sorgen machen. Bei Annes Familie sah es nicht viel anders aus.

Allen vorherbeschworenen Horrorszenarien zum Trotz, gedanklich saßen wir längst im Flugzeug. Aber wo wollten wir landen? Australien ist riesig und beheimatet die verschiedensten Klimazonen.

Eines stand fest: Wir sehnten uns nach Wärme! Es war kalt in Deutschland. Der Februar präsentierte sich in einem eisig weißen Kleid. Also besorgten wir uns ein schlaues Buch über den fernen Kontinent mit einer guten Landkarte und entschieden uns nach genauestem Studieren der australischen Geographie und Wetterlage für Cairns als Landungsziel. Das kleine Küstenstädtchen liegt im tropischen Nordosten Australiens im Bundesstaat Queensland. Da wir Ende Mai losfliegen wollten, erschien uns Cairns als ideale Wahl, denn dort ist es im Mai - also im australischen Herbst - angenehm warm. Die Jahreszeiten in Australien verlaufen genau entgegengesetzt zu den europäischen - zu Weihnachten herrscht der Sommer und im Juli regiert der Winter. Allerdings sind die Temperaturunterschiede bei weitem nicht so stark wie bei uns. Mitten in die Regenzeit, zwischen Januar und Anfang Mai im nördlichen Australien, sollte man trotzdem nicht unbedingt geraten.

Nun stand also fest, wohin es gehen würde. Die Tickets wurden gebucht, der Job gekündigt, die Sparkonten geplündert und entsprechende Ausrüstung besorgt: Rucksäcke, Schuhe, Taschenlampen, Messer und andere nützliche Dinge, die den harten Überlebenskampf im australischen Busch erleichtern sollten. Jedenfalls war dies meine Vorstellung unserer Tour. Anne sah das zu diesem Zeitpunkt noch leicht differenziert.

Während ich die meiste Zeit auf Entdeckungsreise gehen wollte, dachte sich Anne: »Na ja, einen oder zwei Monate mache ich das mit und dann suche ich mir in irgendeiner Stadt einen Job, um mir eine internationale Karriere als erfolgreiche Geschäftsfrau aufzubauen.«

Natürlich war auch mir klar, dass unsere gesparten paar tausend Euro nicht das ganze Jahr reichen würden. Früher oder später stünde sicher die Arbeit auf einer Farm im Outback an oder - mit viel Glück - ein Job beim australischen Radio. Doch kommt Zeit, kommt Rat. Anne und ich arbeiteten seit mehreren Jahren als befreundete Kollegen bei einem landesweiten Radiosender und wir hätten gerne auch in dieser Hinsicht unseren Horizont erweitert. Eine Arbeitserlaubnis, das Working Holiday Visa, hatten wir unkompliziert im Internet beantragt. Dieses Visum berechtigte uns, ab Einreisedatum ein Jahr lang für jeweils drei Monate bei einem Arbeitgeber überall in Australien zu arbeiten. Für mich stand dies jedoch, wie gesagt, im Hintergrund, denn zunächst ging es mir um die Befriedigung der puren Reiselust. Völlig im Unklaren wandelten wir bezüglich der Frage, wie und womit wir die endlosen australischen Weiten überhaupt durchqueren wollten. Auf Schienen mit dem berühmten Ghan einmal von oben nach unten, kreuz und quer mit dem Bus oder trampend? Wir beschlossen, uns überraschen zu lassen.

In den letzten Wochen vor unserer Abreise stieg die Aufregung beständig an - einerseits aus Vorfreude, andererseits aus Ungewissheit. War das wirklich eine gute Entscheidung? Wir würden es bald erfahren.

Nachdem alle Formalitäten erledigt und die Abschiedspartys gelaufen waren, wir allen Verwandten und Bekannten auf Wiedersehen gesagt und den prall gefüllten Rucksäcken den Befehl zum Aufsatteln gegeben hatten, standen wir am 25. Mai 2004 freudig erregt auf dem Magdeburger Hauptbahnhof. Einige Freunde waren gekommen, um uns Lebewohl zu sagen. Als sich die Räder des Zuges langsam in Richtung Frankfurter Flughafen in Gang setzten, wurde uns klar: Jetzt gibt es kein Zurück mehr, jetzt gehen wir zwei uns vielleicht ein Jahr lang auf die Nerven. Na, wenn das mal gut geht!

Die lange Zugfahrt verlief ohne nennenswerte Zwischenfälle, wie auch das Einchecken auf dem Flughafen. Nach einem dreizehnstündigen Aufenthalt in luftiger Höhe, landeten wir mit einem Flieger der australischen Fluglinie Quantas in Singapur. Dort verbrachten wir einen dreitägigen Zwischenstopp. Der reichte völlig aus, um sich die pulsierende Metropole anzusehen, gut essen zu gehen, einmal auf das Dach eines Wolkenkratzers zu steigen, eine Bootstour durch den Hafen zu drehen, die Botanischen Gärten zu besuchen, sich zu aklimatisieren und zu testen, ob man in der Ferne klarkommt - vor allem, ob man mit seiner Reisebegleitung klarkommt. Die erste Hürde bewältigten wir ohne Probleme und hatten richtig Spaß in der feuchtheißen, von Menschen nur so wimmelnden Stadt. Diesen Umstand nutzten wir sogleich, um die ersten digitalen Schnappschüsse per E-Mail nach Hause zu schicken. Sie sollten all den Zurückgelassenen zeigen, wie gut es uns ging.

In Singapur kam es zu ersten Kontakten mit anderen Backpackern, die das gleiche Hostel wie Anne und ich zur Übernachtung gebucht hatten. Von überall her wollten sie überall hin, genau wie wir.

Ein paar schwüle Nächte später und nach erneuten acht Stunden über den Wolken, landeten wir um 5 Uhr früh auf der Landebahn des Flughafens von Cairns. Der Einreisemarathon begann und es dauerte eine Weile, bis alle Gepäckstücke kontrolliert und alle Stempel im Pass waren. Endlich konnten wir aus der Halle ins Freie. Dort hieß es dann: Warten auf den Abholdienst! Bereits im Voraus hatten wir ein Hostel gebucht, welches, wie viele andere Hostels auch, einen solchen Service inklusive hatte. Bevor wir chauffiert werden konnten, mussten wir jedoch mit den Abholern telefonieren und die eigene Ankunft bekanntgeben.

»Wer ruft an? Du oder ich? Na gut ... ich.«

Zunächst musste ich überlegen, was ich sagen wolle und dann meinem Gehirn die dafür nötigen englischen Worte entlocken. Nachdem ich mir zehnmal selbst alles vorgesprochen und auch gleich noch alle möglichen Antworten auf eventuell auftretende Fragen parat gelegt hatte, griff ich zum Hörer und wählte die kostenlose Nummer.

Es klingelte und klingelte und klingelte und plötzlich ... klingelte es noch mal ... und noch mal ... und noch mal. Wollte uns niemand haben? Was war los? Schlafmützen! Ich versuchte es im Abstand von jeweils zehn Minuten immer wieder - doch vergeblich. Wir saßen auf dem Flughafen fest. Das fing ja bestens an!

Ein Gutes hatte die Warterei jedoch, denn sie bescherte uns unseren ersten australischen Sonnenaufgang. Und als ich kurz nach 9 Uhr erneut den Hörer in die Hand nahm, wurde mein Anruf letztlich doch noch erhört. Ich erklärte dem jugendlich klingenden Typen am anderen Ende, dass ich schon seit früh um fünf versuchen würde, jemanden zu erreichen.

»So früh steht hier niemand auf«, antwortete der ganz cool. »Doch keine Sorge, ich hole euch gleich ab.«

Wenige Minuten später brauste ein Kleinbus um die Ecke und hielt vor uns an. Die Tür ging auf und heraus spazierte ein braungebrannter Surferboy ohne Schuhe. Er begrüßte uns, lud alles ein und wir fuhren ins `Pete’s´. Dort wartete ein Doppelzimmer auf uns. An der Rezeption erfuhren wir, wie alles läuft - außerdem, dass jeden Mittwoch ein großer Barbecueabend angesetzt sei, was mir, als leidenschaftlichem Esser, besonders gut gefiel. Wir packten unsere Sachen ins Zimmer und machten uns gleich auf zu einer Erkundungsrunde durch die Stadt.

Hier fiel der Zeiger des Stimmungsbarometers zum ersten Mal leicht nach unten. Zum einen war Cairns an diesem Samstagmorgen wie ausgestorben, zum anderen sah es hier aus wie in einer alten amerikanischen Touristenkleinstadt. Entlang der Promenade gingen wir in Richtung Strand. Doch selbst nach langer Suche fanden wir diesen immer noch nicht. Das war auch unmöglich, da Cairns gar keinen richtigen Strand besaß. Durch die Abholzung großer Teile des heimischen Regenwaldes für die Bewirtschaftung mit Zuckerrohr hatten starke Regenfälle so viel Schlamm in das Meer gespült, dass man sich nun mit einem Freibad direkt neben dem moderigen Küstenstreifen begnügen musste.

Das war also Australien? Hier mussten wir jetzt ein Jahr rumkriegen? Na dann Prost Mahlzeit!

»Hoffentlich sieht es nicht überall so aus«, dachte ich.

Leicht enttäuscht schlenderten wir wieder ins Hostel zurück, wo wir müde vom langen Flug ins Bett fielen.

Der Alltag der meisten Hostelbewohner bestand darin, draußen vor einem riesigen Fernseher zu sitzen und sich zu langweilen. Das war nicht unser Ziel. Stattdessen beschäftigten wir uns in den kommenden Tagen damit, die noch fehlenden Papiere zu besorgen, ein Bankkonto zu eröffnen, und alle benötigten Genehmigungen einzusammeln.

Wochentags präsentierte sich die Stadt rammelvoll - voll mit Backpackern, mit Touristen, die am Great Barrier Reef tauchen gehen wollten und voll mit denen, die sich um das Wohl der Leute kümmerten. Cairns entpuppte sich als regelrechter Touristenmagnet. Nichts für uns. Wir überlegten, wie wir am besten hier weg kommen würden. Einen Wagen zu mieten oder Busfahrkarten zu kaufen, erschien uns auf Dauer zu teuer. Doch es zog uns raus aus Cairns, denn es wurde Tag für Tag langweiliger. Als dann noch leichter Regen einsetzte, trübten sich unsere Gesichter mehr und mehr. Dieser Umstand wiederum führte nicht gerade zu angeregten Konversationen zwischen Anne und mir. Hatten wir wirklich eine gute Entscheidung getroffen? Erste Zweifel kamen auf.

Eines Morgens hörte ich auf dem benachbarten Grundstück jemanden telefonieren, auf Deutsch!

Aufhorchend dachte ich: »Das gibt es doch nicht, wohnen gleich nebenan etwa Deutsche?«

Ich berichtete Anne von meiner Entdeckung und meinte, dass ich unbedingt rüber gehen müsse, um die Lage zu erkunden. Anne war davon nicht begeistert. Ich marschierte trotzdem los.

Es stellte sich heraus, dass nebenan seit dreißig Jahren ein älteres Ehepaar aus Deutschland lebte, das uns sogleich auf einen gemütlichen Abend am Folgetag einlud. Nun handelte es sich dabei jedoch ausgerechnet um einen Mittwoch, also um den Tag des großen Grillabends im Hostel, auf den sich mein Magen schon so gefreut hatte. Nichtsdestotrotz sagten wir zu.

»Gehen wir eben früh genug hin, erzählen ein bisschen und hauen pünktlich zur großen Fresserei wieder ab«, meinte ich.

Guter Plan! Doch die Durchführung gestaltete sich etwas schwieriger als gedacht. Um 20 Uhr sollte der Grill im `Pete’s´ auf Hochtouren laufen und die köstlichen Steaks danach schreien, genüsslich verschlungen zu werden. Gegen 18 Uhr läuteten wir bei Familie Schneider. Sogleich saßen wir in ihrem Garten, erzählten über Gott und die Welt, tranken ein wenig und ehe wir uns versahen, stand der Zeiger bereits kurz vor 20 Uhr. Der Hunger meldete sich und so langsam wollte ich das Gespräch in Richtung Verabschiedung lenken. Was mir auch gelang, dachte ich zumindest.

Familie Schneider brachte uns zur Gartentür. Als wir uns zum bestimmt fünften Mal verabschiedet hatten, sagten sie plötzlich: »Ach, wollt ihr nicht noch mal mit rein kommen? Es war doch so schön.«

Der Grillabend war dahin.

»Macht’s gut ihr Würstchen, Steaks und was sonst noch alles auf dem heißen Rost brutzelt.«

Wir gingen wieder hinein und setzten uns an den gleichen Platz wie zuvor. Und was soll ich sagen, es war sehr schön, sich bis spät in die Nacht mit dem Ehepaar zu unterhalten und ihnen Geschichten aus der alten Heimat zu erzählen. Die beiden freuten sich so darüber, Neuigkeiten aus Deutschland zu erfahren, dass sie uns gar nicht wieder losließen. Irgendwann schafften Anne und ich es jedoch, uns loszureißen. Und siehe da, im Hostel warteten tatsächlich noch ein paar Grillreste auf uns.

Nachdem unser Hunger gestillt war, diskutierten wir mit einer jungen deutschen Backpackerin über unsere mehr oder minder ausgereiften Reisepläne. Sie überzeugte uns, dass wir schön blöd wären, wenn wir uns kein eigenes Auto kaufen würden. Schließlich hätten wir im Moment noch ausreichend Geld und könnten hinfahren, wo wir wollen. Das leuchtete uns ein. Des Weiteren brachte sie uns auch von der Idee ab, zuerst die Ostküste in Richtung Sydney zu bereisen. Wir sollten lieber in Richtung Westküste und dann - entgegengesetzt der Uhr - praktisch einmal ringsherum fahren.

»Guter Ratschlag«, dachten wir uns, »so werden wir es machen.«

Die nächste Herausforderung stand somit fest und lautete: Ein zuverlässiges Fahrzeug käuflich erwerben!

Wenn Backpacker in Australien ein Auto kaufen wollen, gehen sie zum Car Market. Dort versammeln sich alle, die zurück nach Hause fliegen wollen beziehungsweise müssen und versuchen, ihr Auto an den Mann oder die Frau zu bringen. Anne und ich hatten es auf einen Kleinbus für 3.000,- Dollar, also ungefähr 1.800,- Euro, abgesehen, den ein junges dänisches Pärchen anbot. Wir nahmen das Angebot unter die Lupe - Bett, Kocher, Tisch, Stühle, alles dabei.

»Nicht schlecht«, dachte ich, »den könnte man nehmen.«

Wir vereinbarten ein erneutes Treffen und wollten den sympathischen Dänen am Nachmittag unsere Entscheidung mitteilen. Vorher hatten wir noch eine Verabredung mit Herrn Schneider, der uns die Umgebung zeigen wollte. Er fuhr mit uns ein paar Kilometer gen Norden und zeigte uns einige schöne Stellen. Diese Tour offenbarte, dass es in Queensland mehr zu sehen gab, als Cairns vermuten ließ.

Zurück auf dem Parkdeck des Geschäftshauses, auf dem sich der Car Market befand, suchten wir unseren zukünftigen Kleinbus. Doch alles, was wir vorfanden, war das dänische Pärchen, das uns mit traurigen Augen mitteilte, wir seien zu spät. Ihr Gefährt wäre vor zwanzig Minuten über den Ladentisch gegangen. Sie hätten auf uns gewartet, aber dann gedacht, wir hätten uns anders entschieden. Schöner Mist! Unsere mobile Behausung für die nächsten Monate wurde uns quasi direkt unterm Allerwertesten weggekauft, und das nur, weil wir zwanzig Minuten zu spät kamen.

»Jetzt sitzen wir hier noch länger fest! Das gibt’s doch nicht!«

Doch Rettung lag in greifbarer Nähe.

Plötzlich sprach uns ein junger Mann vom Nachbarparkplatz an und meinte: »Keine Sorge, ich hab eine viel bessere Kiste im Angebot. Sogar für 500,- Dollar weniger!«

Matthias war sein Name, was darauf schließen ließ, dass wir uns mit ihm auf Deutsch unterhalten konnten. Wir folgten ihm zu seinem Auto, einem 89er Ford Falcon Stationwagon, dem Backpackerauto schlechthin. Ein paar Minuten Überzeugungsarbeit und wir beide waren der Meinung: »Ja, das ist ein Auto, mit dem man gut und gemütlich das Land erkunden kann.«

Matthias nahm uns mit in ein Café, in dem wir den Schriftkram erledigten, den Kaufvertrag unterzeichneten und einen Übergabetermin für den Falcon ausmachten. Den Vertrag unterschrieb Anne mit ihrem Namen, da ich noch auf die Ankunft meines internationalen Führerscheins warten musste. Der sollte mir aus Deutschland nachgeschickt werden. Die zuständige Stelle hatte es nicht mehr rechtzeitig hinbekommen, mir das Papier auszustellen. Kennt man ja - Behörden eben.

Bei einer gemütlichen Tasse Kaffee zum Besiegeln des Kaufes, erzählte uns Matthias eine angsteinflößende Geschichte. Bevor Anne und ich den Bus der Dänen fanden, unterhielten wir uns mit einem Kanadier, der uns ebenfalls seinen Camper zum Kauf angeboten hatte. Dessen Heckscheibe zierte ein ziemlich großes Loch, was laut seiner Aussage von einem Steinschlag herrührte.

Im Café sagte Matthias jedoch zu uns: »Habt ihr den Bus mit dem Loch in der Scheibe gesehen?«

»Ja, haben wir.«

»Wollt ihr wissen, wie das wirklich passiert ist?«

»Ja, wollen wir.«

Es stellte sich heraus, dass der Kanadier zusammen mit seiner schwangeren Freundin gereist und sie mitten im Nirgendwo mit ihrem Fahrzeug stehengeblieben waren. Erst sei nichts weiter passiert, bis plötzlich ein Auto an ihnen vorbeifuhr und anhielt. Jemand stieg aus und fragte, ob er helfen könne.

»Nein danke, das kriegen wir schon wieder hin«, lautete die Antwort der beiden.

Der Fremde fuhr weg. Kurze Zeit später kehrte er jedoch zurück. Mit einer Axt bewaffnet sprang er aus dem Wagen und schlug sinnlos auf den Bus ein. Dann setzte sich der Irre wieder in sein Auto und brauste davon. Die Freundin bekam einen solchen Schreck, dass sie sofort das Land verließ. Sie hatte sogar Angst, durch den Schock ihr Kind zu verlieren. Ihr Partner versuchte nun schon seit Tagen verzweifelt, die Karre zu verscherbeln, um auch nach Hause fliegen zu können.

Das klang nach keinem schönen Erlebnis. Wir sahen uns mit großen Augen an. Ob es tatsächlich so war, oder ob Matthias uns nur Angst machen wollte, wissen wir bis heute nicht.

Als alles gesagt war, machte sich Matthias auf. Er wollte Bier holen. Jeder, der sein Auto verkauft hatte, gab der gesamten Car-Market-Runde einen aus. Die Fahrzeugübergabe setzten wir auf den übernächsten Tag fest. Der Wagen sollte noch mal fachgerecht durchgecheckt werden.

Nun ließ der Tag der Freiheit nicht mehr lange auf sich warten.

Anne und ich starteten eine Wanderung durch den tropischen Regenwald, die uns Herr Schneider empfohlen hatte. Sie führte zu einem Aussichtspunkt mit Blick auf die Stadt. Riesige Spinnen kreuzten unseren Weg - nichts für Arachnophobiker. Ständig waren wir auf der Hut vor giftigen Schlangen. Man könnte es auch so beschreiben: Ich hielt die Augen offen, weil ich unbedingt eine Schlange sehen wollte, Anne hielt sich die Augen zu. Sie betete, dass ja keines dieser Biester in unsere Nähe kommen möge.

Es ging ziemlich lange bergauf. Als wir ganz oben am Lookout ankamen, saß dort ein Mann in kurzer Uniform. Nicht weit von ihm entfernt stand ein kleiner Hubschrauber, der sofort meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Wir unterhielten uns mit dem Piloten. Er kam aus Neuseeland und arbeitete in Australien für einen Telekommunikationsanbieter. Sein Job war es, die höher gelegenen Sendemasten zu warten. Dazu benötigte er den Hubschrauber. Ich fragte ihn, ob ich mich reinsetzen dürfe. Er bejahte und schwuppdiwupp saß ich drin. Doch dabei blieb es leider auch. Ich wollte ihn die ganze Zeit fragen, ob er eine Runde mit uns fliegen würde, tat es aber nicht. Dies ärgerte mich im Nachhinein tierisch. Ich heulte Anne noch lange die Ohren voll.

»Ach, hätte ich ihn doch gefragt.«

»Mach dir nichts draus Woody, das hätte er sowieso nicht gedurft.«

»Na ja, stimmt wahrscheinlich.«

Ein nächtlicher Bummel durch die Stadt beendete jenen Tag. Wir guckten mal hier, mal da und packten uns im Food Court, der zu jeder größeren australischen Stadt gehört, die Teller mit verschiedensten asiatischen Gerichten voll. Wir futterten und tranken und freuten uns auf die baldige Übergabe des Fords. In einem kleinen Zeitungsladen kauften Anne und ich neue Karten für unsere Handys. Von nun an waren wir erreichbar und konnten auch untereinander telefonieren, falls einer von uns verloren gehen sollte.

Zurück im Hostel setzten wir uns vor den großen Fernseher. Es lief bestimmt schon zum zehnten Mal seit unserer Anreise der Film `Tatsächlich Liebe´, der auf Dauer ziemlich nervig sein konnte. Die Dauergucker schienen ihn zu lieben.

Der mit Spannung erwartete Morgen brach an. Wir frühstückten und machten uns auf, unser zukünftiges Zuhause in Empfang zu nehmen. Matthias war da, das Auto war da, wir waren da. Alles paletti! Nun hatten wir endlich einen fahrbaren Untersatz. Doch nur nicht zu früh gefreut, wir mussten ihn ja noch bei den Behörden ummelden. Und dieses Vorhaben geriet zu einer kleinen Odyssee. Da in Australien jeder Staat seine eigenen Gesetze und Regeln hat, war es nicht leicht, unseren Ford Falcon mit dem Kennzeichen 1AUP-650 auf Annes Namen anzumelden und alle nötigen Plaketten zu erhalten. Wir befanden uns in Queensland, unser Auto kam aus Western Australia. Somit fühlte sich niemand so richtig dafür zuständig.

Alle sagten nur: »Nee, das geht hier nicht, da müsst ihr da- und dorthin.«

Da und dort angekommen, erzählte man uns wieder das gleiche. Anne platzte der Kragen.

»Ich drehe durch! Das kann doch nicht so schwer sein, ein blödes Auto registrieren zu lassen«, stöhnte sie entnervt.

Es dauerte eine Weile, sie zu beruhigen. Nach langem Hin und Her schafften wir es, alles unter Dach und Fach zu bringen. Eigentlich konnten wir los. Aber halt! Nicht ohne meinen Führerschein.

»Hoffentlich kommt der morgen. So lange fahre ich einfach schwarz«, meinte ich zu Anne.

Wir kauften allerhand Krimskrams und Verpflegung ein - genügend Wasser, Brot, Büchsenware, Spaghetti, eine große Kühlbox und so weiter. Die freie Natur frohlockte. Der herrschende Linksverkehr stellte, anders als befürchtet, kein Problem dar. Viel gefährlicher hatten wir es als Fußgänger, weil wir ständig in die falsche Richtung sahen.

»Links frei, alles klar, wir können gehen. Stopp! Da kommt ja was von rechts.«

An die `spiegelverkehrten´ Gegebenheiten mussten wir uns erst gewöhnen.

Der fast leere Tank wurde gefüllt, die Reisegarderobe aus dem Hostel geholt und alles schön ordentlich in den riesigen Laderaum des Stationwagons gestapelt.

Die Nacht verbrachten wir in einen nahegelegenen Caravan Park. Matthias hatte uns den Tipp gegeben, dass man dort kostenlos übernachten könne. Man müsse nur spät genug kommen und früh gleich wieder verduften. So taten wir es. Im Park bauten wir das mitgebrachte Zelt auf und bereiteten unser Schlafgemach. Dann setzten wir uns zu unseren Nachbarn, zu denen, welch ein Zufall, auch Matthias gehörte. Er übernachtete hier ebenfalls. Wir schmiedeten Reisepläne, ließen uns von den anderen beraten und markierten auf unserer Landkarte einige Punkte, die uns wärmstens empfohlen wurden. Ein angenehmer Abend am Lagerfeuer neigte sich seinem Ende. Die erste Nachtruhe im Zelt verlief ohne erwähnenswerte zwischenmenschliche Kontakte. Wir waren ja `nur´ gute Freunde. Jedenfalls noch!

Recht früh packten wir zusammen und fuhren zum vorerst letzten Mal ins Zentrum von Cairns. Das Ziel: die Post - oder besser gesagt - mein Führerschein.

»Irgendwas für Stein da?« fragte ich die Postangestellte.

»No, nothing«, erklang als eindeutige Antwort.

Ich drehte mich zu Anne und sagte: »Ach, drauf gepfiffen! Jetzt ist es Zeit, hier abzuhauen. Das Ding können wir auch später noch holen. Wird uns schon keiner anhalten.«

Wir ließen es uns natürlich nicht nehmen, noch einmal bei Familie Schneider vorbeizuschauen, um uns mit einer Flasche Wein und Blumen für ihre Hilfe zu bedanken.

Jetzt konnte es losgehen. Rein ins Auto, Motor an und weg. Wir waren glücklich und aufgeregt. Was würden wir alles erleben? Was zu sehen bekommen? Wen würden wir kennenlernen? Endlich sahen wir kilometerlange Strände und unendliche Wälder. Wir kamen aus dem Staunen kaum noch heraus. Die wunderschöne Küstenstraße entlang der Coral Sea, ihres Zeichens Teil des Südpazifischen Ozeans, führte uns Richtung Norden in den etwas nobleren Urlaubsort Port Douglas. Diesen erkundeten wir zu Fuß, bevor wir uns, ohne auf das Geld zu achten, in ein feines Restaurant setzten. Dort ließen wir uns zur Feier des Tages kulinarisch verwöhnen.

Die von Matthias vorgeschlagene Caravan-Park-Übernachtungstechnik verschaffte uns auch hier eine kostenlose Nacht. Wir hatten ein bisschen Schiss, erwischt zu werden. Doch niemand bemerkte etwas, als wir kurz nach 22 Uhr im Caravan Park ankamen. Langsam fanden wir Geschmack an dieser Methode. Das machte uns zwar zu Kleinkriminellen, doch so konnten wir, als arme Backpacker, einen Haufen australische Dollar sparen.

Eine Übernachtung in Port Douglas reichte Anne und mir völlig aus. Unser Ziel hieß Cape Tribulation, etwas weiter nördlich. Dort wollten wir ein paar Tage zeltend am Strand verbringen. Auf dem Weg dorthin überquert man den Daintree River, einen sehr großen Fluss mit noch größeren Krokodilen darin. Wir buchten eine Expedition mit dem Boot, um die gepanzerten Riesen in freier Wildbahn sehen zu können. Auf über fünf Meter Länge brachte es das größte Exemplar. Beeindruckend. Wenn so ein Bursche zuschnappt, bleibt nicht viel von einem übrig. Hier sollte man also lieber nicht dem Badespaß frönen. Doch nicht nur das stattliche Salzwasserkrokodil wusste sich von seiner besten Seite zu präsentieren, sondern auch die restliche kreuchende, fleuchende und fliegende Tier- und Pflanzenwelt.

Vom Daintree River aus war es nicht mehr allzu weit bis zum Cape Trib, wie die Einheimischen es nennen. Hier suchten wir uns einen Platz zum Zelten, den wir diesmal sogar bezahlten. Anne und ich faulenzten einige Zeit am Strand. Frische Kokosnüsse fielen von den gut bestückten Palmen. Damit ließen wir es uns gutgehen. Überall flatterten blau leuchtende Schmetterlinge herum, die in mir die Leidenschaft des Fotografierens weckten. Normalerweise war das Annes Job, da sie mit ihrer Kamera professioneller umgehen konnte. Ich musste erst mal ausprobieren, was ich mit meinem Fotoapparat, den ich zum Abschied von Freunden bekommen hatte, so alles machen konnte. Die Schmetterlinge waren eine echte Herausforderung und brachten mich schnell zur Verzweiflung. Sie blieben nie lange genug sitzen.

Zu unserer Erkundungstour rund um das Cape Tribulation gehörte auch eine Jeepsafari. Je nördlicher man kam, desto mehr war man auf Fahrzeuge mit Vierradantrieb angewiesen. Der uns begleitende Ranger entführte uns in die bizarre und aufregende Welt des Regenwaldes. Er zeigte uns stattliche Wasserfälle, gelbgrüne Ameisen, deren Sekret wie Zitronensaft schmeckte, eine Aboriginegemeinde, verschiedenste tropische Baumarten, die Wurzelgeflechte der Mangroven und vieles mehr. Ganz nebenbei erzählte er einige Geschichten aus vergangenen Captain-Cook-Zeiten. Mit dem robusten Jeep durchquerten wir flache Flüsse, durch die man, aufgrund eines gewissen Krokodilaufkommens, lieber nicht zu Fuß stiefeln sollte - wie es vor einigen Jahren ein paar Motorradfreaks vorgemacht hatten. Trotz der Warnschilder schoben sie ihre mit Motorschnorcheln bestückten Maschinen durch das brusttiefe Wasser. Fast alle kamen am anderen Ufer an. Für einen von ihnen wurde die leichtsinnige Schiebetour durch den Fluss jedoch zu einer Reise direkt ins offene Maul der lauernden Panzerechse.

Wir kamen an ein großes Wasserbecken inmitten eines Baches.

»Kaffeepause! Wer gern baden will, kann dies hier tun. Die Lage ist zu hoch und zu steinig für Krokodile«, meinte der Naturhüter.

Gesagt, getan - Klamotten aus und rein.

Leider sah das nur ich so. Während ich im kalten Wasser planschte, saßen alle anderen schön auf dem Trockenen. Die Angsthasen. Wenige Meter von unserer Gruppe entfernt, hockte ein mit extrem langen Rastazöpfen bestückter Eigenbrötler, der auf mich interessant wirkte. Er machte sein eigenes Ding und es kam zu keiner Konversation. Bald nachdem die Gruppe alle Kaffeebecher geleert hatte, ging es zurück ins Camp. Alles in allem verlief die Jeepsafari sehr spannend, es sollte jedoch unsere erste und letzte geführte Tour bleiben. Wir wollten von nun an alles auf eigene Faust erkunden, ohne nervende Touris.

Die Dunkelheit setze äußerst früh ein, wie immer um diese Jahreszeit. Anne und ich brutzelten uns etwas auf dem Gemeinschaftsgrill des Zeltplatzes. Später wurde ein großes Lagerfeuer entfacht. Alle versammelten sich um das brennende Holz. Plötzlich tauchte der Eigenbrötler vom Fluss wieder auf. Wir kamen ins Gespräch. Der Mann stammte aus Auckland/Neuseeland. Er war vor fünfundzwanzig Jahren aus Deutschland dorthin gekommen und hieß, man glaubt es kaum, ebenfalls Matthias. Mit ihm konnte ich mich sehr gut über alle möglichen Themen unterhalten. Und so ronnen die Stunden dahin. Und die Flammen des Feuers erloschen. Und nach endlosen Geschichten und Diskussionen fielen wir müde vom vielen Reden in die Betten.

Der nächste Tag brachte einen aufbrausenden Sturm, mit dem das Wetter nichts zu tun hatte. Aus unerklärlichen Gründen gab es zwischen Anne und mir immer wieder Zeiten, an denen wir uns gegenseitig mächtig auf die Nerven gingen. Dann redeten wir nicht viel miteinander und dachten beide vom jeweils anderen: »Wieso ist der beziehungsweise die denn so komisch drauf?«

Sich aneinander zu gewöhnen, wenn man vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche miteinander verbringt, ist eben doch nicht ohne. Wie auch immer, die Stimmung war schon nicht die beste und ich wollte unbedingt eine ziemlich schwierige und lange Wanderung durch den Busch zu einem grandiosen Aussichtspunkt durchführen. Dieses Vorhaben stank Anne gewaltig. Zum einen schien es nicht ganz ungefährlich, zum anderen war das Wandern zwar des Müllers, nicht aber Annes Lust. Und dann gab es da ja noch die Urangst vor den Schlangen, diesen ekelhaften Geschöpfen, denen Frauen sowieso etwas skeptischer als Männer gegenüberstehen. Beste Voraussetzungen also für einen friedlichen Wandertag.

Als Anne zur Vorbereitung auf die Strapazen ihre Spezialstrümpfe anzog, bemerkte ich durch einen kurzen Blick über ihre Schulter, dass sie den mit L, also LINKS, gekennzeichneten Strumpf über den rechten Fuß zog. Daraufhin erlaubte ich mir anzumerken:

»Der ist doch aber für den linken Fuß!«

Auweia, das hätte ich nicht sagen dürfen. Wenn Blicke töten könnten, hätte in diesem Moment mein letztes Stündchen geschlagen. Mit teufelsgleichem Gesicht drehte sie ihr feurig glühendes Haupt zu mir. Zähneknirschend öffnete sich ihr Mund und mit der Lautstärke eines Donnergrollens wehte die knurrige Antwort in meinen Gehörgang.

»Ich weiiiiiiiiiiiiiißßßßßßßßßßßßßßßßß!!!!!!!!!!«

Da war aber jemand ganz schön geladen.

Nachdem ich Annes kleinen Wutanfall verdaut hatte und ihre Temperatur auf Normalpegel zurückgegangen war, zogen wir los in den Dschungel.

Ich dachte die ganze Zeit: »Warum zieht sie sich die linke Socke über den rechten Fuß? Hm, typisch Frau!«

Die Wanderung dauerte ewig. Ein schmaler, schlammiger und somit rutschiger Pfad führte uns durch dichtes Gestrüpp beständig bergauf. Anne sandte Stoßgebete gen Himmel: »Bitte keine Schlangen, bitte keine Schlangen!« Dies schien zu helfen, denn uns kroch nicht mal ein einsamer Regenwurm über den Weg.

Nach langer, anstrengender Kletterei, kamen wir am `Gipfel´ an. Ein traumhafter Blick über den Regenwald bis hin zum Meer entschädigte für die Strapazen des Aufstiegs. Ab hier ging es entlang eines Felsenkammes nur noch für erfahrene Kletterer mit entsprechender Ausrüstung weiter. Uns genügte jedoch der erreichte Punkt, denn wir mussten den ganzen Weg auch wieder zurück. Die Tage waren noch sehr kurz. In der Dunkelheit hätten wir schlechte Chancen, zurück zu finden. Die Tatsache, mit Anne hier oben zu stehen, zeigte mir, dass sie kein Weichei war. Wenn es sein musste, konnte sie durchziehen. Da machte das bisschen Meckern dann auch nichts. Irgendeine zimperliche, zartbesaitete Zicke hätte diesen Aufstieg nie geschafft. Doch auf Anne war Verlass.

Ein paar Stunden später - wieder auf Höhe des Meeresspiegels angekommen - pflückten wir uns die aufgehalsten Blutegel von den Beinen und sahen uns das Schild mit der Wegbeschreibung genauer an.

Dort stand: Geben Sie unbedingt jemandem Bescheid, bevor Sie sich an diesen Track wagen! Nehmen Sie genügend Wasser mit! Starten Sie früh genug und planen Sie mindestens sieben Stunden für Hin- und Rückweg ein!

Nun ja, zugegeben, die Sicherheitsbestimmungen hatten wir nicht ganz befolgt …

Stolz und erschöpft fuhren wir in Richtung Nachtlager.

Wenn wir am Cape Trib bei Ebbe am Strand entlang spazierten, waren jedes Mal aufs Neue riesige Flächen mit kleinen Sandkügelchen übersät. Diese bildeten einen regelrechten Teppich. Das sah nicht nur kurios aus, sondern fühlte sich ebenfalls sehr angenehm unter den Füßen an, wie eine sanfte Massage. Als Verursacher entlarvten sich unzählige kleine, blaue Krabben, die den Sand nach Nahrung durchsiebten und die Kugeln als Abfallprodukte hinterließen. Rannten wir hinter ihnen her, hielten die Tiere an und verbuddelten sich blitzschnell im nassen Boden. Das fanden wir sehr witzig.

Die Wetterlage gestaltete sich mehrheitlich sonnig, aber ab und an gab es Tage, an denen wir deutlich zu spüren bekamen, dass die Regenzeit noch in den Nachwehen lag. Nach zirka einer Woche verließen wir deshalb den Strand. Vorher tauschten wir aber noch Adressen mit Rastamann Matthias aus.

»Wenn ihr nach Auckland kommt, schaut einfach bei mir vorbei.«

»Klar, machen wir. Bis dahin alles Gute. Halt die Ohren steif!«

Unser Ford Falcon Stationwagon sprang ohne Probleme an. Mit ihm hatten wir einen guten Griff gemacht. Jetzt ging es auf den Inlandstraßen wieder Richtung Süden. Unser Ziel war das Atherton Tableland, eine Tafellandschaft, von deren Schönheit wir schon viel gehört hatten. Auf dem Weg dorthin machten wir an der Mossman-Schlucht halt und gaben uns im türkisgrünen Flussbecken des Mossman River einem ausgelassenen Badevergnügen hin.

Der Tag neigte sich bald wieder seinem Ende entgegen. Verzweifelt auf der Suche nach einem Rastplatz für die Nacht, fuhren wir durch kurvige Straßen, nach links, nach rechts, hoch und runter. Als wir am Straßenrand eine geeignete Restarea fanden, war es schon sehr spät. Die meisten Rastplatzcamper schliefen bereits in ihren Bussen oder Zelten. Wir befanden uns kurz vor dem kleinen Kaff Mount Moloy. Nicht weit von uns entfernt flackerte ein Feuer. Drumherum saßen drei alte Männer, die fröhlich erzählten, sich etwas kochten und Büchsenbier tranken. Da wir Hunger hatten, ging ich rüber, um zu fragen, ob es in der Nähe einen Imbiss gäbe, der noch offen hat.

Sie antworteten: »Ja, fünf Kilometer weiter gibt es eine Kneipe und einen kleinen Kiosk. Aber ob ihr da jetzt noch was bekommt? Setzt euch doch zu uns. Hier haste ein Bier.«

Ich rief Anne, die gleich rüber kam. Einer der Männer hieß Bill Hunter. Er kam aus der Stadt Charters Towers. Bill hatte drei kleine Hundewelpen dabei. Diese waren so niedlich, dass wir sie am liebsten adoptiert hätten. Die beiden anderen Herren waren Brüder aus New South Wales. Sie beendeten gerade ihren mehrwöchigen Angelurlaub.

Die Gastfreundschaft der Australier haute uns um. Man kam schnell ins Gespräch, verstand sich prächtig und hatte schon nach wenigen Minuten das Gefühl, dazu zu gehören. Nachdem Anne und ich jeder eine Büchse Bier intus hatten, entschieden wir uns, trotz aller Gemütlichkeit, doch noch die fünf Kilometer zu fahren, um uns etwas Größeres hinter die Kiemen zu hauen. Wir hielten vor der Kneipe. Im Inneren war es rappelvoll, aber etwas zu essen ... Fehlanzeige! Die Bedienung fragte uns, ob wir aus Deutschland kämen.

»Ja, kommen wir. Sieht man das etwa?«

»Ja, ich kann das sehen. Ich bin Roberta. Kommt mit nach draußen, unsere Küche hat zwar schon geschlossen, aber nebenan gibt es einen Kiosk. Vielleicht bekommt ihr da noch was.«

Sie wollte unsere Namen wissen. Als ich mich vorstellte, fing sie an zu lachen. Was war denn an Woody so schlimm? Ich sagte ihr, dass mein richtiger Name Wolf-Dietrich sei und irgendwann aus `Wo´ und `Di´ der Spitzname Woody entstanden ist.

Sie meinte nur: »Dann nenn dich hier lieber nur Wolf.«

Woody bedeutet umgangssprachlich nämlich so viel wie Latte oder Steifer. Näher muss ich darauf wohl nicht eingehen. Es leuchtete mir ein, dass es von jetzt an besser wäre, mich nur noch Wolf rufen zu lassen. Also Wulf, wie man es auf Englisch ausspricht.

Auf den wenigen Metern bis zum Kiosk kamen uns einige laut gestikulierende Alkoholopfer entgegen. Von einem in der Nähe ausgetragenen Kricketturnier wollten sie zum `Nachtanken´ in die Kneipe.

»So spät spielen die hier noch Kricket?« fragte ich. »Die sind doch alle verrückt. Und wen interessiert überhaupt Kricket?«

Freunde hätten wir uns mit dieser Einstellung bestimmt nicht gemacht, denn Kricket ist neben Rugby Volkssport Nummer 1 in Down Under.

Am Kiosk bekamen wir zum Glück noch zwei Sandwiches, die uns von einem sehr kuriosen Pärchen serviert wurden. Der Kioskinhaber hieß Rudi. Er stammte aus der Schweiz und seine Frau aus Mexiko. Beide hatten sich vor etlichen Jahren eine gemeinsame Existenz im Land der Kängurus aufgebaut. Neben dem Kiosk kümmerten sich die beiden um verletzte und verlassene Tierbabys, deren Mütter überfahren oder erschossen worden sind. Zur Demonstration holte er ein kleines Possum aus seinem Gehege. Es saß die ganze Zeit auf Rudis Kopf. Ich setzte mir das kleine Bündel auch kurz auf meinen Haarschopf, doch bei mir hatte es zu viel Angst. Also gab ich es gleich wieder an Rudi zurück.

Plötzlich lallte ein äußerst hässlicher und dummdreister Jemand von der Straße: »Die Viecher muss man alle abknallen!«

Auch er kam vom Kricketspiel. Manche Menschen können so unglaublich beknackt aussehen.

»Hau bloß ab, du Vollidiot!« rief Rudi wütend.

»Jetzt gibt’s ne Schlägerei«, dachten wir uns.

Doch nach einem harten Wortgefecht zog die `dumme Sau´, wie wir den torkelnden Volltrunkenen nannten, weiter in Richtung Kneipe. Rudi brachte das Possum zurück in seinen Bau. Dann ging der Abend erst richtig los. In seinem früheren Leben hatte Rudi seinen Lebensunterhalt als Hafenarbeiter in Hamburg verdient, deshalb kramte er nun all seine vergessen geglaubten Deutschkenntnisse hervor.

»Wenn ihr aus Deutschland kommt, kennt ihr doch bestimmt `Die Flippers´?«

Was sollte denn diese Frage? Wir befürchteten das Schlimmste. Und das trat auch ein. Rudi wühlte in seinem Tonträgerregal und präsentierte uns mit stolzer Brust ein paar alte Flippers-Kassetten.

»Neiiin, bloß nicht einlegen!« beteten wir in Gedanken.

Doch es war bereits zu spät. Die einprägsamen Melodien der Schlagerkapelle schallten durch die australische Nacht. Rudi sang die herzerweichenden Texte voller Inbrunst und schunkelte kräftig mit. Es dauerte nicht lange und seine mexikanische Frau stimmte mit ein. Womit hatten wir das nur verdient? Erst gegen 1 Uhr Nachts, nach einer musikalischen Höllenfahrt, entließen uns die beiden aus den Fängen der `Flippers´. Wir waren heilfroh, als wir endlich in unserem Zelt lagen.

Die Sonne stand strahlend am wolkenlosen Himmel. Wir erwachten. An unserem kleinen Klapptisch sitzend, genossen wir ein ausgiebiges Frühstück. Danach gingen wir erneut rüber zu Bill Hunter und den zwei anderen Reisenden. Bill gab uns einen roten Zettel mit seiner Adresse und erklärte mir genau, wo er wohnt und wie man dort hinkommt. Falls unsere Route an Charters Towers vorbeiführen sollte, müssten wir ihn unbedingt besuchen kommen, meinte er. Auf dem roten Stück Papier standen viele Straßen und Wege. Es war scheinbar nicht ganz einfach, Bills Behausung zu finden.

»Wenn ihr in Charters Towers ankommt, müsst ihr zuerst da lang, dann dort lang, dann rechts, dann links, dann dieser Straße bis zu einer Senke folgen und dann seht ihr die Bill Hunter Road. Ich habe nämlich meine eigene Straße.«

»So, so«, dachten wir, »klingt ja interessant, seine eigene Straße.«

Ich knickte den Zettel mit der Wegbeschreibung in der Mitte und legte ihn zu meinen Reiseunterlagen. Doch falten hätte ich ihn lieber nicht sollen, wie sich später noch herausstellte.

Nach einer großen Verabschiedungszeremonie von Bill, seinen Hunden, den drei Welpen und den zwei alten Brüdern, fuhren wir auf der Devil Creek Road, am Lake Mitchell vorbei in Richtung Mareeba. Erster Stopp an diesem Tag war das Mareeba Tropical Savana and Wetland Reserve, eine riesige Seen- und Sumpflandschaft, mit seltenen und weniger seltenen Arten von Wasservögeln und Amphibien. Diese konnte man aus gut getarnter Stellung in speziellen Ausguckhäuschen hervorragend beobachten. Es folgte die Besichtigung einer Kaffeefarm und einer Mangoplantage. Da keine reifen Mangos an den Bäumen hingen, verkosteten wir stattdessen den angebotenen Mangowein, den Anne und ich für sehr schmackhaft befanden. Jeder kaufte eine Flasche. Die tranken wir allerdings nicht selbst, sondern schickten sie später als Geschenke nach Hause, was unsere Familien sehr freute. Von der Mangofarm aus führte uns die Landkarte zur Granit-Schlucht. Das Besondere hieran bildeten sowohl die gigantischen grauen Felsbrocken, die von kleinen Bächen durchschnitten wurden, als auch die kleinen niedlichen Wallabys, die in großer Zahl hin und her hüpften. Hinter einem Felsen saß eine ganze Wallabyfamilie genau in einer Reihe hintereinander - Vater, Mutter und das aus dem Beutel herauslukende Wallabyjunge, - das perfekte Fotomotiv.

In den kommenden drei Tagen führte uns der Kompass wieder Richtung Cairns. Ich musste ja noch meinen internationalen Führerschein abholen. Wir brauchten sowieso neuen Proviant und - ganz wichtig - eine gute und helle Campinglampe, die man an die Autobatterie anschließen kann. Schnell hatten wir festgestellt, dass wir, sobald die Nacht einbrach, immer unter einem gewissen Leuchtmitteldefizit litten. Unsere Taschenlampen waren der totalen Dunkelheit nicht gewachsen.

Bevor wir jedoch erneut in Cairns aufschlugen, durchquerten wir das besagte Atherton Tableland. Ein Wasserfall reihte sich hier an den nächsten - die Emerald Lake Falls, die Davies Creek Falls, die Barren Falls und wie sie alle hießen. Die Landschaft des Tablelands empfanden Anne und ich als grandios.

In einem Ort, dessen Namen mir nicht mehr in den Sinn kommen will, besuchten wir einen kleinen Wildtierzoo. Krokodile, Burramundies, Wombats, Koalabären, Dingos, Kängurus, Schlangen ... alles konnte man hier bestaunen. Der Besuch gefiel mir trotzdem nicht. Ich war nicht nach Australien gekommen, um mir die hiesige Flora und Fauna in irgendwelchen Gehegen anzugucken.

Ich sagte zu Anne: »Das war der erste und letzte Zoo, den wir uns antun. Wir sollten lieber versuchen, so viele Tiere wie möglich in freier Wildbahn zu Gesicht zu bekommen. Und was wir nicht sehen, das sehen wir eben nicht.«

Es war früh am Morgen, als wir unser `geliebtes´ Cairns erreichten. Eine aufregende Zeit lag hinter uns mit vielen neuen Eindrücken. Wir setzten uns in ein Restaurant am Hafen und frühstückten. Danach ging es los: Einkaufen, Lampe suchen, Foto-CDs brennen, E-Mails schreiben, endlich den Führerschein entgegennehmen, zu Hause anrufen und, und, und. Die Erledigung all dieser Dinge nahm so viel Zeit in Anspruch, dass im nächstgefühlten Moment die Nacht hereinbrach. Darum beschlossen wir, diese im Ort zu verbringen. Wo? Das ist wohl nicht so schwer zu erraten! Doch bevor wir zum Caravan Park aufbrachen, besorgte Anne etwas Grillfleisch. Damit spazierten wir die `Strandpromenade´ entlang und schnappten uns einen der fest installierten Barbecuegrills.

»Das ist eine gute Idee«, dachten wir, »alle können hierher kommen und grillen, kostenlos. Nur das, was man drauflegen will, muss sich jeder selbst mitbringen.«

So waren wir umgeben von den verschiedensten Menschen. Familien, Freundeskreise, Einzelgänger und andere Backpacker verbrachten genau wie wir einen gemütlichen Grillabend. Das letzte Stück Fleisch wurde gerade verschlungen, da bemerkten wir nicht weit von uns ein auffälliges Feuerflackern. Schnell reinigten wir den Grill und liefen dem Flammenspektakel neugierig entgegen. Ein Spektakel war es wirklich. Auf dem kleinen Fleckchen Sand, das der `Strand´ von Cairns zu bieten hatte, wirbelte eine Gruppe von Männern und Frauen wie wild mit Feuerstöcken und Feuerbällen umher. Fire Twirling nennt sich diese Art der Feuerkunst. Alle bewegten sich rhythmisch zur Musik. Mit ihren brennenden Instrumenten erzeugten sie Kreise, Achten und die wildesten Formen und Figuren aus Feuer. Das entstehende Gesamtbild erntete verdient den jubelnden Applaus der umstehenden Zuschauer.

Fire Twirling - das wollte ich auch können. Deshalb kaufte ich mir einen Firestick und nahm mir fest vor, auf der uns bevorstehenden Reise damit zu üben, zu üben und zu üben - so lange, bis keine Gefahr mehr bestünde, mir selbst die Haare vom Haupt zu brennen oder gar einen Buschbrand auszulösen.

»Liebes Cairns, dich werden wir so schnell nicht wiedersehen«, lautete die einstimmige Meinung, mit der wir im Morgengrauen die Stadtgrenze überquerten. An Bananen- und Zuckerrohrplantagen vorbei, flog unser Falcon den Bruce Highway entlang. Eines mussten wir den Australiern lassen, sie hatten die beste Kampagne für Verkehrssicherheit, die Anne und ich bis dato gesehen hatten. Am Highwayrand standen viele Schilder, die darauf hinwiesen, dass man als Fahrer unbedingt genügend Pausen einlegen und nicht rasen solle. Müdigkeit ist bei langen Touren, wie jeder Autofahrer weiß, der größte Feind des Fahrzeugführers. Die Australier bewiesen hier einen köstlich schwarzen Humor. `Rest or r.i.p.´ - `Ruhe dich aus oder ruhe in Frieden´ und `High speed - low I.Q.´ - `Hohe Geschwindigkeit - niedriger I.Q.´ sind nur zwei Sprüche von vielen, die für mehr Sicherheit auf den Straßen warben. Wir fanden diese Wortspiele sehr lustig und feixten uns jedes Mal eins, wenn uns ein neuer Spruch vor die Augen kam.

Weniger witzig sahen zu dieser Zeit Annes Füße aus. Am Cape Tribulation hatten wir Bekanntschaft mit sogenannten Sandfliegen gemacht - winzige Biester, so klein, dass man sie kaum sieht, dafür aber umso unangenehmer. Sandfliegen beißen nämlich, oder stechen, oder eine Mischung aus beidem, und das juckt dann unerträglich. Mich hatten sie zwar auch gebissen, doch meine Haut reagierte nicht so empfindlich wie Annes. Sie musste ständig kratzen, was ich versuchte, ihr auszureden.

»Hör auf! Vom Kratzen wird es nur schlimmer!«

Und das wurde es auch. Es bildeten sich große Blasen und entzündete Krater. Annes Füße sahen aus wie eine brodelnde Vulkanlandschaft.

»Siehste, das haste davon!« meinte ich belehrend.

Es dauerte lange, bis die aufgekratzten Bisswunden heilten.

Wir folgten den Wegweisern nach Innisfail. Dort kamen wir jedoch vorerst nicht an, da Anne, die sich mehr und mehr zu einem professionellen Navigator entwickelte und ständig sämtliche Karten studierte, einen riesigen Feigenbaum, die sogenannte Cathedral Fig, als nächstes Reiseziel festgelegt hatte. Australien kann kaum mit für Europäer interessanten, geschichtsträchtigen Bauten aufwarten, umso mehr werden die hiesigen Naturwunder angepriesen. Ist ja auch logisch. Dazu gehört alles, was einmalig, unglaublich groß oder in irgendeiner Hinsicht anders ist. So auch die Cathedral Fig, ein Feigenbaum mächtig wie eine Kathedrale. Dagegen wirkt man als 1,83 Meter großer Mensch so winzig wie eine Ameise. Nicht schlecht für eine Schmarotzerpflanze, die ursprünglich als Samen, wahrscheinlich verpackt in einen kleinen Tropfen Vogelkot, im Wipfel des Baumwirtes landete, von dort aus ihre Wurzeln dem Boden entgegenwachsen ließ, langsam aber sicher den Stamm des Wirtes umschloss, und so nach und nach einen schleichenden aber effektiven Baummord vollbracht hat. Das Resultat war ein bizarr wirkender Koloss aus unzähligen Wurzelsträngen. Vom ursprünglichen Baum darunter war nichts mehr zu sehen. Um uns dieses Meisterwerk der Evolution ansehen zu können, mussten wir den Bruce Highway verlassen und auf den Gillies Highway wechseln, der uns weiter ins Landesinnere brachte. Noch blieben die Distanzen, die wir täglich zurücklegten, im überschaubaren Bereich. Hundert Kilometer erschienen viel. Doch unser Tacho sollte noch einiges vor sich haben. Das letzte Bild vom prächtigen Schmarotzerbaum wurde geknipst und wir gingen zurück zum Auto.

»So Anne ... und wohin fahren wir jetzt?«

Wir entschlossen uns, dem matschigen Weg zu folgen, der mit dem gut klingenden Ziel Lake Tinaroo gekennzeichnet war. Diese Route verlangte unserem Ford alles ab. Es war eine einerseits wunderschöne, andererseits extrem anstrengende Fahrt. Sie führte entlang sonnendurchfluteter Wälder. Die Strahlen durchstießen die Kronen der Bäume und zauberten ein Wechselspiel aus Licht und Schatten. Das Schlechte daran: Ich konnte die tiefen Schlaglöcher, die in ausreichender Zahl auf der Waldpiste verteilt waren, kaum erkennen. Eine wahre Schaukelpartie. Für einen kurzen Moment dachten wir daran, lieber umzukehren, doch die Neugier auf das Kommende trieb uns voran. Und plötzlich war es soweit. Eine majestätische Allee baute sich vor uns auf. An deren Ende erspähten wir das im Sonnenlicht funkelnde Wasser. Dort lag er, Lake Tinaroo, ein riesiger See mit nordisch anmutender Uferumrandung. Tatsächlich dachten wir, uns hier nicht in Australien, sondern eher in Kanada zu befinden. Nadelwälder und kleine Berge - ein unerwartetes Panorama. Durch Zufall landeten wir auf einem einsamen Uferarm, der sich einige Kilometer in den See schlängelte. Die vorhandenen Feuerstellen und das Plumpsklo waren eindeutige Zeichen, dass es sich hier um eine gute Stelle zum Zelten handeln musste. Bevor wir jedoch unser Lager aufschlugen, badeten wir. Das Wasser war angenehm kühl, die Sonne trocknete und wärmte die nasse Haut. Wir fühlten uns frei. Am späten Nachmittag hämmerten wir die ersten Heringe in den Boden. Neben uns hatte Margeret ihren Wohnwagen platziert. Sie campte schon mehrere Tage hier.

Bei Anbruch der Nacht suchten Anne und ich eine versteckt gelegene Feuerstelle am Wasser auf und entzündeten unser erstes eigenes Lagerfeuer. Wir brieten Hühnchensticks und Bouletten, die wir in Cairns gekauft hatten. Dazu servierten wir Folienkartoffeln, die wir vorher in die Glut gelegt hatten. Einige kamen etwas schwarz aus dem Feuer, dennoch schmeckten sie bestens. Es war ruhig um uns herum, kein Mensch in der Nähe. Nur das Knistern des brennenden Holzes, das leise Plätschern kleiner, ans Ufer schlagener Wellen und der ein oder andere quakende Frosch waren zu hören. Romantik pur. Wir erzählten ewig, genossen die Stille und wussten beide, wie gut es uns ging.

Als ich am nächsten Morgen ziemlich früh den Reißverschluss unseres Zeltes öffnete, glaubte ich zu träumen. Über dem See lag leichter Nebel, die Sonne war gerade dabei, hinter einem Berg hervorzubrechen und ihre ganze Kraft zu entfalten. Es herrschte ein angenehmes Zwielicht und Totenstille. Solche Momente kann man sich nicht kaufen, für kein Geld der Welt.

Wir blieben drei Tage am Lake Tinaroo. Aktivitäten wie Schwimmen, Spazieren, Faulenzen und Sonnen standen auf dem Programm. Nur irgendwelche Typen, die hin und wieder mit ihren Motorbooten Wasserski fuhren, störten die Idylle.

Margeret setzte sich zu uns ans abendliche Feuer. Sie erzählte uns, dass sie genau dies liebe - am gemütlichen Feuer im Freien sitzen und sich mit netten Leuten unterhalten. Margeret stammte aus Canberra, der Hauptstadt Australiens. Sie war Mutter von zwei erwachsenen Söhnen und allein unterwegs. Ihr Mann hatte drei Jahre zuvor den Kampf gegen den Krebs verloren. Seit diesem Schicksalsschlag genieße und schätze sie das Reisen umso mehr, sagte sie. Man wisse nie, wie lange man noch lebt. Sie beneidete uns. Wir würden genau das Richtige tun.

»Man sollte die Welt entdecken, solange man jung und fidel ist.«

Außerdem zeigte sie sich beeindruckt von unserem Englisch. Wir fanden unsere Sprachkenntnisse nicht besonders ausgereift, aber unser bis zu diesem Zeitpunkt schon verbessertes Schulenglisch reichte immerhin für halbwegs tiefgreifende Gespräche. Im Allgemeinen zeigten sich die meisten Ausis, die wir trafen, beeindruckt, dass wir so gut Englisch sprechen konnten. Oft, weil sie selbst keine Fremdsprache beherrschten.

Natürlich tauschten wir auch mit Margeret unsere Adressen und Telefonnummern aus. Zum einen gaben wir immer unsere Heimatadressen, zum anderen auch unsere Postanschrift in Down Under mit auf den Weg. In Australien hatten Anne und ich eine Hauptadresse, den Travellers Contact Point in Sydney. Dort wurden alle an uns gerichteten Postkarten, Briefe und Pakete aufbewahrt und uns je nach Wunsch in jede beliebige Ecke des Landes nachgeschickt. Dieser Service kostete für die Dauer eines Jahres 50,- Dollar pro Person. So war man mobil und konnte immer an seine Post gelangen.

Wir brachen erneut auf und drehten eine letzte große Runde um den See bis hin zur Staumauer. Aha! Lake Tinaroo war also ein Stausee. Wenn der See künstlich angelegt wurde, entstammte der Nadelwald vermutlich auch menschlichen Ursprungs. Egal, uns gefiel es hier.

Wenig später luden wir in Atherton neue Lebensmittel ein und zogen weiter zu den Inner Hot Springs - natürlichen heißen Quellen. Hier befanden wir uns einige hundert Meter über dem Meeresspiegel, was bedeutete, dass es nachts saukalt werden konnte. Sechzehn Dollar kostete die Übernachtung im Camp und der damit verbundene Zutritt zu den heißen Quellen. Nachdem unser Zelt stand, probierten wir sie ohne Umschweife aus. Es gab verschiedene Hallenbäder und knietiefe Wasserlöcher im Freien. Die rochen etwas komisch. Ihre Temperaturen reichten von angenehm warm bis kochend heiß. Zunächst testeten wir die natürlichen Badewannen. Danach probierten wir die überdachten Pools aus. Der erste Eindruck war schon nicht schlecht.

Es wurde finstere und vor allem frostige Nacht. Wir lagen im schönen, warmen Wasser und betrachteten die Sterne, die hier unten viel größer und näher wirkten als zu Hause. Sternbilder, die wir nicht kannten, schienen zum Greifen nahe.

Am darauffolgenden Morgen war es im wahrsten Sinne des Wortes eisig. An der Außenwand des Zeltes hatte sich ein dünner Film aus gefrorenem Wasser abgesetzt. Und was tut man, wenn es draußen friert und die Wärme aus dem Inneren der Erde nur wenige Meter von einem entfernt ist? Richtig! Man verliert keine Zeit, schnappt sich ein Handtuch und flitzt halb nackt den heißen Quellen entgegen.

»Ahhhhh, ist das schöööön«, sagte Anne genussvoll.

Wir hüpften von einem Pool zum anderen. Während ich draußen blieb, entschied sich Anne plötzlich für ein heißes Becken im überdachten Bereich. Dort plapperte sie sich fest. Wie Frauen nun mal so sind. Sie können sich stundenlang über dieses und jenes unterhalten und merken dabei gar nicht, wie die Zeit vergeht.

Ich weiß nicht, wie lange sie in diesem heißen Wasser mit den anderen Damen tratschte. Es genügte ihrem Kreislauf jedoch, sich für eine Weile zu verabschieden. Als ich die Halle betrat, lag Anne da - Augen zu, auf einer Bank. Ich dachte, sie ruhe sich aus. Doch als sie wieder halbwegs alle Sinne zusammen hatte, erzählte sie mir, dass sie, dem heißen Becken entstiegen, sofort die berühmte schwarze Wand vor Augen hatte. Daraufhin hätte sie sich an eine Mauer gelehnt und sei wie ein nasser Sack zusammengesunken. Halb blind hätte sie den Weg auf die Liegebank gefunden, auf der sie sich jetzt auskurierte.

»Dass du es auch immer übertreiben musst«, meinte ich nur.

Passend zu diesem Vorfall notierte Anne im Reisekalender kurz und treffend: Samstag, 19. Juni - Inner Hot Springs - heißes Bad - abgeklappt!

Auch die heißen Quellen ließen wir hinter uns. Auf dem Weg zurück zur Küste wurde die Wasserfalltour durch diverse Nationalparks, die oft schon den Namen der schönsten in ihnen beheimateten Kaskade trugen, fortgesetzt. Zu beschreiben, wie die Wasserfälle und deren jeweilige Umgebung aussahen, würde den Rahmen sprengen, darum folgt nur eine kurze Aufzählung der besichtigten Naturwunder: Millstream Falls, Tully Falls, Pepina Falls, Souita Falls, Millaa Millaa Falls, Zilli Falls, Ellinja Falls, Mungalli Falls, Gregory Falls und die Josephine Falls. Wir entwickelten uns zu regelrechten Wasserfalljägern - von diversen Lookouts ganz zu schweigen. Nahe der Stadt Babinda stoppten wir an einem Ort namens The Boulders. Teufelsschluchten und Rockpools warteten hier als Hauptattraktionen auf uns. Die Gelegenheit, eine Runde zu schwimmen.

»Hui, also das nenne ich eiskaltes Wasser!« bibberte ich.

Messerstiche überall. Alle Körperteile, die anzeigen können, dass Wasser kalt ist, taten dies auch.

»Schnell wieder raus hier und lieber ein bisschen umherwandern!«

Je mehr Zeit verging, desto öfter häuften sich Begegnungen mit Leuten, die wir an anderen Plätzen schon einmal getroffen hatten. So auch hier. Auf dem kostenlosen The-Boulders-Campingplatz trafen wir Jean und Terry wieder, ein Ehepaar, das wir von irgendwoher kannten. Mit ihnen machten wir uns auf zum Bramston Beach, weil es sich dort laut Aussage von Terry gut leben ließe. Bramston Beach war letztendlich auch nur ein Stück durchschnittlicher Strand. Dreizehn Dollar kostete eine Nacht. Wir verbrachten die Zeit dort faul im Sand liegend. Eine Besonderheit gab es jedoch. Verstreut um unser Auto lagen runde grüne Früchte. Wir sammelten sie auf und untersuchten sie gründlich. Mit meinem Messer teilte ich eine Frucht in zwei saubere Hälften. Der saftig süße und gleichzeitig saure Inhalt schmeckte vorzüglich und stellte eine willkommene Erfrischung dar. Es handelte sich um wilde Passionsfrüchte. Ein köstlicher Fund. Wir sammelten alle auf und packten sie als Obstvorrat in den Ford.

Unser Aufenthalt am Bramston Beach dauerte nicht sehr lange. Wir wollten weiter. In Innisfail angekommen, tranken wir nur einen Kaffee. Hier war es langweilig. Es gab keinen Grund zu bleiben. Außerdem hörten wir bereits den Ruf der nächsten Wasserfälle, den Murray Falls. Dort machten wir Feuer, zelteten und reisten weiter zu den Wallamann Falls, den höchsten in Queensland. Auf unserem Zwei-Kilometer-Marsch zum Fuße der Fälle, trafen wir ein junges deutsches Pärchen aus Berlin. Die beiden wirkten etwas verzweifelt. Sie waren das beste Beispiel dafür, wie man ein Jahr in Australien nicht beginnen sollte. Beide lebten bereits ein halbes Jahr hier unten, hatten aber so gut wie nichts vom Land gesehen. Ihr bisheriger Aufenthalt bestand aus dem Kennenlernen des Arbeitsalltags auf diversen Plantagen. Sie hatten in Deutschland gerade das Abitur hinter sich gebracht, keine Ahnung, was Arbeit bedeutete und keine finanziellen Rückhalte, aber sie wollten gleich nach Australien. Hier lernten sie schnell, dass man komplett ohne Geld nicht auskommt und fingen an, auf Bananenplantagen zu arbeiten. Den dort verdienten Lohn verprassten sie allzu leichtsinnig in Hotels, Pubs und Discotheken. So mussten sie ständig schuften. Und nun, nach sechs Monaten Plantagenarbeit, hatten sie verständlicherweise die Schnauze voll. Sie wollten zurück nach Deutschland. Die beiden hätten etwas überlegter an die Sache herangehen sollen. Ihr Beispiel zeigt, dass man vorher gut darüber nachdenken sollte, ob, wann und warum man solch eine Reise machen will. Überhaupt stellten wir fest, dass viele junge Backpacker nur nach Australien kamen, um eine Party nach der anderen zu feiern. Allen voran die Engländer. Es soll ja jeder machen, wie er denkt, doch zum Saufen brauche ich nicht Tausende Kilometer zu fliegen.

Da es relativ spät war, als wir am Auto ankamen, entschieden wir uns, auf dem nächstgelegenen Campingplatz zu nächtigen. Das Berliner Pärchen folgte uns dorthin. Zu fortgeschrittener Stunde leistete uns eine junge Frau Gesellschaft - Alex aus Wien. Sie kannte sich mit Fire Twirling aus. Das kam mir sehr gelegen und ich fragte sie, ob sie mir ein paar Tricks zeigen könne. Bisher konnte ich mit meinem Feuerstock nämlich noch keine vorzeigbaren Erfolge feiern. Die Wienerin erklärte mir einige Grundtechniken, die mir weiterhalfen.

»Ach, so macht man das. Jetzt weiß ich endlich, wie man die Stange richtig dreht«, sagte ich zu ihr und Anne grinste.

Um Mitternacht fragte uns Alex: »Kommt ihr mit zum Fluss? Dort gibt es Platypus. Wenn wir Glück haben, sehen wir vielleicht eins.«

»Was gibt es da?« fragten wir, »Plattfuß?«

»Nein, Schnabeltiere, die sieht man, wenn überhaupt, nur selten.«

Da waren wir natürlich dabei. Wir schnappten unsere Taschenlampen und marschierten durch den Wald zum Fluss. Ein Camper warnte uns vor einem Monsterpython, der angeblich auf einem Baum lauerte. So stapften wir vorsichtig durch die Dunkelheit, immer auf der Hut vor der Würgeschlange. Doch es blieb ein Abenteuer ohne Lohn - keine Schnabeltiere in Sicht. Auch ein erneuter Gang am frühen Morgen brachte keinen Erfolg.

Die Suche nach den Schnabeltieren lag bereits einige Tage hinter uns, als wir in Townsville eintrafen. Nicht überwältigend schön, aber ein, zwei ansehnliche Ecken hatte die größte Stadt unserer bisherigen Reise durchaus zu bieten. Der erste Amtsweg führte uns zur Westpac Bank. Wir brauchten Geld. Danach ging es ans Surfen, nicht im Meer, sondern im Internet. Doch der Preis für eineinhalb Stunden E-Mail-Versenden haute uns fast vom Hocker - ganze 7,50 Dollar! In Cairns hatte eine Stunde gerade mal einen Dollar gekostet. Teurer Spaß. Das roch nach Ausbeute.

Nächster Halt: die Laundry - eine Wäschestube, in der man seine Kleidung waschen konnte. In Sachen Laundry waren wir Profis, nicht wegen unserer dreckigen Wäsche, vielmehr wegen Annes Digitalkamera. Die brauchte von Zeit zu Zeit eine Steckdose zum Aufladen der Akkus. War ein Akku leer, hielten wir an einer Laundry und stöpselten die Kamera ein. Wir betrieben praktisch Stromklau, taten aber immer so, als würden wir warten, dass unsere Klamotten aus der Maschine kommen. Zwei geschlagene Stunden Ladezeit benötigte der verdammte Akku. Die überbrückten wir mit Bücherlesen, passten jedoch gleichzeitig auf, dass niemand die Kamera entdeckt. Wahrscheinlich hätte niemand jemals was dagegen gesagt, doch sicher ist sicher. Ich hatte es mit meinem Fotoapparat nicht ganz so schwer, denn dem genügten normale Batterien. Hätten wir gewusst, dass wir in der folgenden Nacht in einem Caravan-Park haltmachen würden, der mit überbordendem Komfort ausgerüstet ist, hätten wir uns das Wäschewaschen und Akkuaufladen in der Laundry sparen können.

Gleich am nächsten Morgen ging ich zu einer Telefonzelle und versuchte, Bill Hunter zu erreichen. Ich wollte ihm sagen, dass wir bald in Charters Towers auftauchen würden und vorhätten, ihn zu besuchen. Doch leider war niemand zu erreichen.

Wir besichtigten das Reef Head Quarter in Townsville. Dort sahen wir uns die künstlich geschaffene Unterwasserwelt des Great Barrier Riffs an. Während Teile des Originals unter den Folgen des Massentauchtourismus extrem zu leiden hatten, beherbergten hier riesengroße Aquarien alles, was ein gesundes Riff ausmacht: bunte Fische, Haie, Seegurken, Korallen ...

Im Anschluss fuhren wir auf den Castle Hill, den Felsen mitten im Zentrum der Stadt. Vom Castle Hill hat man eine fantastische Aussicht über ganz Townsville und Umgebung. Wir warteten auf den Sonnenuntergang. Danach wollten Anne und ich richtig gut essen gehen. Doch es kam anders. Kurz vor `Abflug´ kamen wir ins Gespräch mit Danny und Claudi, die, so wie wir, auf einem Stein hockten und Fotos schossen. Danny holte Bier aus seinem Kleinbus und bot jedem eins an. Die Flaschen steckte er in sogenannte Stubby Holder. Stubby nennen die Australier ihre Bierflasche und die stecken sie in einen zur Kühlung gedachten, becherförmigen Neoprenüberzieher - den Stubby Holder - ein Muss für jeden echten Australier und Kult in Down Under. Während diese praktische Erfindung unsere Getränke wohltemperiert hielt, betrachteten wir die unzähligen Lichter der Stadt und erzählten. Danny und Claudi konnten sich gut vorstellen, für immer in Australien zu bleiben. Er war Tischler und hatte somit gute Chancen, einen Job zu finden. Handwerkliche Berufe sind im Land der Kängurus gefragt. Claudis Aussichten als Krankenschwester standen ebenso nicht schlecht. Die Zeit schritt voran. Erst spät trennten sich unsere Wege. Ich hatte einen Bärenhunger und wollte nun am liebsten irgendwo etwas Herzhaftes zu mir nehmen. Doch Anne machte mir einen Strich durch die Rechnung.

»Ach, ist doch schon so spät«, sagte sie leicht mürrisch. »Ich habe keinen Hunger mehr. Lass uns zum Caravan Park fahren.«

Die gegensätzliche Auffassung bezüglich der abendlichen Nahrungsbeschaffung führte zu einem kleinen Streit. Bei Hunger ist mit mir nicht gut Kirschen essen. Da kommt schnell schlechte Laune auf. Doch was nützte es, in der Stadt hatte nichts mehr offen. Also fuhren wir zurück zum Zelt und ich legte mir was auf den Grill.

Am Morgen hatte sich die schlechte Stimmung gelegt. Wir packten unsere sieben Sachen, checkten aus und steuerten den Hafen an. Hier ließen wir unseren Stationwagon stehen, nahmen unsere Rucksäcke und reservierten uns zwei Plätze auf einer Fähre der `Sunferries´. Unser Plan war, drei Tage auf Magnetic Island zu verbringen. Die Insel liegt wenige Kilometer vor Townsville und verfügt über besonders schöne Strände und Buchten.

Die Überfahrt dauerte nicht lange. Die Fähre machte fest. Wir stiegen in einen Bus und landeten in einem Hostel, in dem nur noch Mehrbettzimmer frei waren. Das gefiel uns nicht, doch es war ja nur für zwei Übernachtungen. Auf Magnetic Island gab es mehrere Möglichkeiten, sich fortzubewegen: per Bus, per Fahrrad, per Pedes oder mit kleinen Elektroautos, die man mieten konnte. Einen Tag lang versuchten wir, uns zu Fuß und mittels Bus durchzuschlagen, doch das war uns bald zu nervig. Wir mussten ewig auf die Ankunft der Busse warten. Deshalb holten wir uns ein kleines Elektroauto, mit dem wir die gesamte Insel erkundeten. Auch Anne zog es ans Steuer. Sie wollte ein bisschen Fahrpraxis erhaschen. Sie besaß zwar einen Führerschein, verfügte aber weder über ein eigenes Auto noch über allzu große Erfahrung hinter dem Lenkrad. So kurvte sie auf abgelegenen Straßen bei bestem Wetter freudig umher. Ging es jedoch wieder auf die Hauptstraße, übernahm ich das Steuer.

Im Hostel verbrachten wir kaum Zeit. Dafür gab es auch keinen Grund. Angeblich sollte man auf der Insel Koalabären sehen können. Wir entdeckten keinen einzigen. Bevor unser kurzer Inselaufenthalt ein Ende nahm, brachten wir den Tropical-Topless-Flitzer unversehrt zurück und setzten am späten Nachmittag nach Townsville über.

Ich versuchte erneut, Bill zu erreichen. Erneut hatte ich kein Glück. Davon ließ ich mich nicht entmutigen.

»Der wird schon da sein, wenn wir kommen«, meinte ich.

Wir schliefen im Falcon ganz oben auf dem Castle Hill. Das durfte man offiziell nicht. Wir taten es trotzdem. Viele andere auch. Sahen wir aus dem Heckfenster unseres Fords, hatten wir direkte Sicht auf die hell erleuchtete Stadt. Ein Schlafplatz mit Ausblick.

Nun ließen Anne und ich das Meer hinter uns. Aber nicht ohne zwei nigelnagelneue Stubby Holder, die wir uns vor Überquerung der Stadtgrenze in einem Supermarkt besorgten. Damit war unsere Outbackausrüstung perfekt. Je weiter wir uns von der Küste entfernten, desto trockener wurde die Landschaft. Wir fuhren durch bis Charters Towers.

»Sieht aus wie ne alte Westernstadt«, sagte Anne.

Im historisch anmutenden Informationsgebäude fragten wir die Dame hinter dem Schalter, wo die Wheelers Road sei. Diese mussten wir finden, um zu Bill zu gelangen. Nach gründlicher Suche und dem Wälzen mehrerer Stadtkarten hatten wir die richtige Richtung. Die lag etwas außerhalb am Stadtrand von Charters Towers - eine staubige Piste, die in die endlose Prärie zu führen schien. Riesige abgezäunte Grundstücke erstreckten sich zur linken und zur rechten Seite. Auf den meisten gab es nicht viel mehr als ein paar Bäume, vereinzelte Kühe oder Schafe zu sehen. Die Strecke zog sich hin. Von der Bill Hunter Road gab es keine Spur. Wir waren am Verzweifeln. Hatte Bill uns angeflunkert? Gab es gar keine Straße mit seinem Namen? Ich kontrollierte nochmals den roten Zettel mit der Adresse.

»Hm, hier steht nur Wheelers Road und wenn ich mich richtig erinnere, sagte Bill damals zu mir, dann rechts in die Bill Hunter Road.«

Es nutzte nichts, ehe wir weiter ins Ungewisse fahren würden, entschieden wir, umzukehren und am nächstbesten Haus zu klingeln. Dieses stand erst wieder kurz vor Charters Towers - was für eine Fahrerei. Wir waren bedient. Leicht genervte Stimmung verbreitete sich im Auto. Vor einem Haus, aus dem laute Musik dröhnte, hielten wir an. Ein respekteinflößender Hund bewachte das Grundstück. Ich hupte mehrmals. Die Musik übertönte alles. Nach einigen Minuten blinzelte endlich jemand hinter dem Fenster hervor und kam raus.

»Hi, I’m Wolf, this is Anne«, sagte ich dem kräftigen Typen.

»Wir suchen nach Bill Hunter. Wohnt der hier irgendwo?«

»Na klar, der alte Bill …«, antwortete der Muskelprotz, »... ich bin über sieben Ecken mit ihm verwandt. Ihr müsst die Wheelers Road hoch fahren, bis eine große Senke kommt. Und dann rechts rein in die Dunroamin Road. Die führt euch direkt zur Bill Hunter Road.«

»Moment«, sagte ich zu mir selbst, »Dunroamin Road hast du doch schon mal gehört!«

Hatte Bill das nicht mit auf den roten Zettel geschrieben? Ich drehte das Papier um. Und da stand es. Nein, wie kann man nur so blöd sein? Ich hätte mir einfach nur die Rückseite ansehen müssen und die Suche wäre wesentlich erfolgreicher verlaufen. Ich schlug mir vor den Kopf. Warum war ich nicht eher auf die Idee gekommen, das wegweisende Dokument zu wenden. Nun war ich natürlich der Buhmann.

»Mann, bist du doof!« kam von der Beifahrerseite.

So ein Ärger. Und das nur, weil ich nicht von A bis B denken konnte.

Diesmal bogen wir also nach rechts in die Dunroamin Road ein und siehe da, es gab tatsächlich auch eine Bill Hunter Road.

»Hoffentlich ist er da«, meinte Anne.

Langsam rollten wir auf Bills Grund und Boden. Zuerst begrüßten uns seine beiden schwarzen Hunde. Vom Bellen aufgescheucht guckte Bill ungläubig hinter dem Haus hervor.

»Wer kommt denn da so unangemeldet und will mir auf den Geist gehen?« dachte er bestimmt.

Als er uns erkannte, verschwand das Fragezeichen in seinem Gesicht und machte einem freundlichen Lächeln Platz. Da waren wir nun also, zu Hause beim alten Bill Hunter!

»Mensch, das ist ja ein Ding, dass ihr mich besucht. Ich dachte schon, ihr kommt nicht mehr.«

Er bat uns herein und zeigte uns seine Hütte. Bills Reich glich einer kleinen Farm, sehr ländlich, der nächste Nachbar so weit entfernt, dass wir ihn nur erahnen konnten. Er lebte allein. Seine Frau war schon seit Jahren tot. Bill wollte nur noch seine Ruhe. Und die hatte der alte Mann - zusammen mit den beiden Hunden, jeder Menge Federvieh, unzähligen Zierfischen, mit deren Zucht und Verkauf er sich über Wasser hielt, und mit den niedlichen Welpen.

Ach ja, richtig, die gab es ja auch noch! Aber nanu - eins, zwei ...?

»Waren das nicht drei Hundebabys?« fragten wir.

»Ja schon, aber eins habe ich leider mit dem Jeep plattgefahren«, erwiderte Bill mit leichtem Schulterzucken. »Kann passieren.«

Einfache Verhältnisse herrschten hier draußen. Alles schien darauf ausgerichtet, genug Wasser zum Überleben speichern zu können. Um das Haus herum gab es mehrere Dämme beziehungsweise Wasserlöcher, mit deren Hilfe Bill so viel wie möglich des kostbaren Gutes einzufangen versuchte. Die längste Zeit des Jahres regierte die Trockenheit. Regen fiel nur selten. Darum waren die Dämme die einzige Möglichkeit, das ganze Jahr über an Wasser zu gelangen. Für dessen Transport diente ein Provisorium aus Schläuchen. An gut verlegte Wasserleitungen war nicht zu denken.

Wir merkten Bill an, dass er sich Mühe gab, ein guter Gastgeber zu sein, was ihm auch gelang. Damit keine Langeweile aufkommen konnte, zeigte er uns, wie man mit Pfeil und Bogen schießt. Bill Hunter machte seinem Namen alle Ehre. Hunter heißt auf Deutsch Jäger. Und Bill war sowohl ein professioneller Bogenschütze als auch Mitglied im hiesigen Jagdverein. Wir schossen auf falsche Hasen, die auf große runde Zielscheiben gemalt wurden. Ist gar nicht so einfach, mit einem Pfeil über zwanzig Meter weit zu schießen und ein grob gezeichnetes Langohr zu treffen. Einen ganzen Meter daneben zu zielen, das gelang uns ohne Schwierigkeiten. Doch Übung macht den Meister. Und schließlich durchbohrte eine von mir und auch eine von Anne abgefeuerte Pfeilspitze punktgenau die Zielscheibe. Beim Loslassen der gespannten Sehne mussten wir auf unseren linken Unterarm aufpassen. Hielt man den Bogen falsch, konnte es passieren, dass die nach vorn schießende Bogenbespannung die Haut striff. Das war sehr unangenehm und bescherte Anne einen blauen Fleck, der noch heute seinesgleichen sucht. Auch mein Unterarm brannte. Trotzdem hatten wir Spaß.

Nach dem Abendbrot rief Bill zu einer Partie Dart auf. Dart hatte ich lange nicht gespielt. Wieder flogen die Pfeile, doch diesmal etwas kontrollierter. Anne sah dem Treiben zunächst nur zu, spielte letzten Endes aber mit. Der alte Hunter war bei weitem der Beste. Er gewann fast jede Runde. Vor dem Schlafengehen kürten wir ihn zum unangefochtenen Turniersieger.

Helligkeit durchbrach das Fenster. In einem großen Gästebett hatten wir sehr gut geschlafen. Der Burdekin River stand auf dem Programm. Bill wollte mit uns Krebse fangen. Wir hievten sein Kanu auf den Transporter und fuhren zum Fluss. Die Fahrt ging mitten durchs Gelände und dauerte einige Zeit. Ab und zu hoppelten Kängurus über den Weg. Das war vielleicht eine Attraktion. Unsere ersten Kängurus in freier Wildbahn. Toll! Bill konnte unserer Freude nicht viel abgewinnen. Er sah Kängurus als eine Plage an.

Der Burdekin River war wesentlich breiter, als ich dachte, ein beachtlicher Strom. Jetzt mussten wir nur noch das Boot startklar machen, die Fangkörbe verstauen und rauf aufs Wasser.

Wir köderten mit Fleisch. Die Körbe wurden über Bord geworfen. Leere Plastikflaschen an Leinen markierten deren Position. Dann hieß es: Abwarten! Nach einer Viertelstunde paddelten wir die Fangkörbe ab, zogen sie hoch und kontrollierten sie auf Beute. Aber nichts, kein einziger Yabbie hatte angebissen. Das sollte auch so bleiben. Ohne Fangerfolg traten wir die Rückfahrt an. Nichtsdestotrotz war es ein Abenteuer und wir hatten wieder etwas gelernt.

Zum Abschied schenkte Bill Anne eine Tasse mit dem Wappen von Charters Towers. Wir drückten uns, knipsten ein Foto und schon waren wir weg. Bill Hunter fand wieder seinen Seelenfrieden. Zwei Tage lang hatten wir uns an seine Fersen gehängt, das reichte.

Von jetzt an konnten wir uns vor Kängurus nicht mehr retten. Leider sahen wir fast mehr tote als lebendige Tiere. An den Rändern des Flinders Highway, der uns weiter nach Westen brachte, steigerte sich die Zahl der überfahrenen Hüpfer von Kilometer zu Kilometer. Den Grund dafür lernten wir schnell kennen: die Road Trains! Man hatte Anne und mir bereits von den riesigen australischen Straßenzügen erzählt. Auch die Warnschilder am Highway ließen nichts Gutes ahnen: Achtung! Road Trains! Maximale Länge 50 Meter! Vorsicht beim Überholen!

Junge, Junge! Das nenne ich einen langen LKW! Wer sich mit dem anlegt, zieht hundertprozentig den Kürzeren - wie die Kängurus. Die Beuteltiere können mit asphaltierten Straßen nicht viel anfangen. Durch die Sonnenspiegelung denken sie: »Oh Wasser, da muss ich hin!«, und springen auf die Straße. Die meisten Unfälle passieren jedoch, wenn es dunkel ist. Kängurus sind nachtaktiv. Deshalb hatte man uns geraten, nach Sonnenuntergang niemals weiterzufahren. Ein Zusammenstoß mit einem ausgewachsenen Männchen kann Kleinholz aus einem PKW und dessen Insassen machen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass der Fluchtweg eines Kängurus absolut unberechenbar ist. Die Tiere stehen da, gucken hoch und springen manchmal früher, manchmal später in irgendeine nicht vorhersehbare Richtung - nach hinten, nach vorne, zur Seite oder eben direkt vor das Auto. Den Road Trains ist das egal. Bei bis zu fünf Anhängern im Schlepptau ist plötzliches Abbremsen riskant und die Strecke bis zum Stillstand lang. Der äußerst stabile Rammbock am Fahrerhaus putzt deshalb alles weg, was ihm in den Weg kommt. Stabile Gitter vor der Frontscheibe schützen den Fahrer zudem vor den eventuell herumfliegenden Überbleibseln eines Zusammenstoßes.

Die erste Begegnung mit solch einem Monster ließ nicht lange auf sich warten. Es hätte keine bessere Stelle für ein Zusammentreffen mit einem Road Train geben können. Wir befanden uns auf dem Flinders Highway. Dieser wird auf einigen Abschnitten sehr schmal. Für ein Auto und einen LKW nebeneinander gibt es dann nicht mehr genügend Platz. An den Asphalt grenzen breite Streifen des berühmten roten australischen Sandes. Obgleich das Wort Staub in diesem Fall besser passt. Wir fuhren selbstverständlich direkt in der Mitte des Highways, was normal kein Problem darstellt, da es unendlich geradeaus geht. Am Tag kamen uns so wenige Autos entgegen, dass wir sie an einer Hand abzählen konnten. Plötzlich zeichnete sich weit vor uns ein merkwürdiger Schatten auf dem spiegelnden Asphalt ab. Wir dachten erst, es handele sich um eine Fata Morgana. Je näher und schneller das unbekannte Ding angerast kam, desto klarer wurde uns: »Ahhhh! Hilfe, ein Road Train!!!«

Panik machte sich breit. Anne sah mich an, ich sah Anne an.

»Das war‘s mit uns und unserem Falcon!« dachte ich.

Der Straßenzug wurde größer und größer, breiter und breiter, länger und länger und machte nicht die geringsten Anstalten, auch nur einen Zentimeter nach rechts zu fahren. An den Linksverkehr in Down Under hatte ich mich schnell gewöhnt, doch das, was hier auf uns zukam, beschrieb ein anderes Kapitel. Es nutzte nichts, kurz vor dem Zusammenstoß riss ich das Lenkrad um und wir rauschten geradewegs in den roten Staub. Der Himmel verdunkelte sich. Es wurde Nacht im Auto. Als sich die Wolken legten, sahen wir uns erneut an und lachten laut los. Von nun an stoppte ich immer rechtzeitig oder fuhr langsam am Rand entlang, wenn uns einer der Kängurukiller entgegenkam.

Die kleine Stadt Hughenden lag zirka dreihundert Kilometer von Charters Towers entfernt. Hier besuchte ich mit Anne einen Sportladen und kaufte mir eine Angel. Damit hoffte ich, in Zukunft Fisch vom Feinsten auf unsere Teller zu bringen. Die neu erworbene Rute kam auch gleich am nächsten Tag zum Einsatz. Nachdem uns bereits ein apokalyptisch feuerroter Sonnenuntergang zur Porcupine Gorge begleitet hatte, begrüßte uns der nächste Morgen ebenfalls mit allem, was die Sonne zu bieten hat. Wir schnappten unsere Wasserflaschen und wanderten los in die Stachelschwein-Schlucht, was Porcupine Gorge bedeutet. Ich lief die meiste Zeit mit freiem Oberkörper, kurzer Hose und Sandalen durch die Gegend. Schließlich waren wir in der Natur. Auf dem Weg hinunter trafen wir einen Mann, der bestens ausgerüstet schien, mit allem Pipapo - einem großem Hut, zwei Wasserflaschen, dicken Schuhen, Schuhüberzieher, damit kein Dreck von hinten in die Hacken fallen konnte, Kompass, Wanderstock und was weiß ich noch alles. Dafür sah er aus wie eine frisch gepinselte weiße Wand. Nicht ein Hauch von Farbpigmenten auf seiner Haut. Wir dagegen waren nahtlos braungebrannt - nicht überall, aber fast überall. Der fremde Wanderer ermahnte mich, dass man so in Australien nicht rumlaufe. Ich sei verrückt. Die Sonne kann tödlich sein. Ehe ich mich versehe, hätte ich Schultern aus Leder. Überhaupt trage man zum Schutz einen Hut. Meine Füße würden ebenfalls verbrennen. Ich bräuchte dringend richtige Schuhe ...

Ich sage es mal so: Übertreiben kann man es auch. Jemand, der sein Leben scheinbar mehrheitlich im Keller verbracht hatte, brauchte mir Naturburschen doch nicht vorzuschreiben, wie ich durch den australischen Busch zu wandern habe! Ich kann sehr gut selbst einschätzen, wie lange mein Körper die Sonne aushält. Während der ganzen Zeit in Australien hatte ich keinen Sonnenbrand. Na gut, ich will ehrlich sein, einmal hat es mich erwischt, aber da bin ich am Strand unter widrigen Umständen eingeschlafen. Mehr dazu später.

Anne schien die Standpauke zu gefallen. Welche Gedanken wohl gerade durch ihren Kopf geisterten?

»Mach dir um mich keine Sorgen«, antwortete ich dem Wandersmann und wir marschierten weiter.

Unten angekommen, bot sich uns eine breite Schlucht mit eigenartigen Steinformationen. Eine große pyramidenförmige Wand aus gelbrotem Fels schob sich am Ende des ausgetrockneten Flusslaufes in die Höhe. Wir liefen umher und nahmen alles genau unter die Lupe. Am Fuße der Pyramide hatte trotz der Trockenheit ein kleiner See überlebt. In ihm wimmelten hungrige Fische nur so vor sich hin.

Mit großen Augen sagte ich: »Anne, ich hole sofort meine Angel.«

Gesagt, getan! Der lange Aufstieg zum Auto dauerte etwas. Oben zog ich mir ein T-Shirt über, holte mein Angelzeug aus dem Wagen und schon ging es den ganzen Weg wieder hinab. Anne sonnte sich derweil auf einem Stein. Doch was wollte ich als Köder für die Fische benutzen? Diese Frage schien sich von selbst zu beantworten. Kurz bevor ich unten ankam, sprang vor mir eine Heuschrecke auf, flog fünf Meter und landete in einem Busch. Von Bill hatte ich den Tipp bekommen, zum Angeln nur Insekten, kleine Frösche oder sogar Früchte als Köder zu benutzen, das sei am besten. Was die Natur hergibt, fressen auch die Fische.

»Mit Fröschen zu angeln, ist aber strengstens verboten, da sie unter Naturschutz stehen«, meinte Bill noch.

Doch gegen Plagegeister wie Heuschrecken war nichts einzuwenden. Die Jagd begann. Ich schlich los, dem Insekt entgegen. Ich öffnete die Hand und war gerade am Ausholen, da flog das Biest zehn Meter weiter. Der nächste Versuch. Mist! Wieder zu spät. So konnte das nichts werden. Da kam mir eine Idee. Ich zog mein T-Shirt aus, hielt es zusammengeknüllt in der Hand, pirschte mich erneut an mein Opfer heran und zack, nach einem kurzen Flug entfaltete sich mein Stück Stoff direkt über der Heuschrecke. Die war bereits wieder drauf und dran loszufliegen, doch die Falle schnappte zu. Nun hatte ich also einen Köder. Mal sehen, was die Fische dazu sagen würden.

Anne interessierten meine Versuche, ein leckeres Abendessen für uns an Land zu ziehen, reichlich wenig. Sie genoss ihre Ruhe. Ich hockte derweil an einem kleinen Steilhang über dem Wasserloch. Meine Beute konnte ich von hier oben wunderbar beobachten. Viele kleine, aber auch einige große Fische schwammen entspannt am Fels entlang. Ihr Futter hing am Haken. Ich ließ die Heuschrecke ins Wasser fallen. Von nun an konnte es sich nur noch um Sekunden handeln, bis ein großer Raubfisch aus seinem Versteck hervorschießen und den Leckerbissen mit einem Happs verschlingen würde. Aber Fehlanzeige! Die kleinen Fische stürzten gleich drauf los und fingen zu knabbern an. Das störte jedoch nicht mal die Heuschrecke selbst, da die winzigen Mäuler keinen großen Schaden anrichten konnten. Die kapitalen Brocken, die ich gern auf meinem Abendbrotsteller gesehen hätte, schwammen völlig desinteressiert an der Felswand auf und ab. Selbst als ich ihnen den Köder fast direkt ins Maul warf, gab es keine Reaktion. Stattdessen nagten sie irgendwas vom Fels ab. Das schien ihnen besser zu schmecken als meine Heuschrecke. Verzweifelt gab ich meinen Angelversuch auf und entschied mich, lieber ein erfrischendes Bad zu nehmen. Zum Abendbrot gab es statt Fisch dann Reis mit Gemüse und Soße. Keine Delikatesse, aber es schmeckte.

Die nun vor uns liegende Strecke kann ich wohl ohne Übertreibung als eine der langweiligsten des ganzen Kontinents beschreiben. Nach ausgetrockneten Flussbetten und immer lichter werdenden Baumbeständen ging es hunderte Kilometer nur geradeaus. Blickte man nach rechts, nichts zu sehen, schaute man nach links, ebenfalls nichts zu sehen. Hinter uns nur Straße, vor uns das gleiche. Weit und breit nur Einöde. Ein angenehmer Fahrtwind machte die Hitze relativ erträglich. Wir legten sehr große Strecken pro Tag zurück. Bis zur Grenze zum Northern Territory war es nun nicht mehr weit. In Mount Isa hielten wir an, um zu tanken, einzukaufen, die Gasflasche auffüllen zu lassen und einen kleinen Abstecher ins Internet zu unternehmen. Sobald es dunkel wurde, hielten wir Ausschau nach einer dieser blechernen Windmühlen, wie sie für Australien typisch sind. Wo es Windmühlen gibt, gibt es meist auch Wasser, das sie an die Oberfläche pumpen und in großen Zisternen speichern. Diese Plätze eignen sich besonders gut zum Übernachten.

Gesucht und gefunden! Wir teilten uns eine Restarea mit einer geselligen Runde Reisender. Der Abendhimmel bescherte uns erneut ein fantastisches Zusammenspiel von Farben. Überhaupt nahm die Anzahl der Sonnenauf- und -untergänge, bei denen einem vor Schönheit fast der Atem stockt, je weiter wir ins Outback kamen, stark zu. Es wurde gegessen und erzählt. Jeder tauschte mit jedem die Geschichten seiner bisherigen Reise aus. Manche Rentner hatten ihr Haus gegen einen patenten Campingbus eingetauscht und kurvten bereits seit fünf Jahren durch ihr geliebtes Land. Eine wundervolle Art, seinen Lebensabend zu verbringen. Bei solchen Treffen wurden alle möglichen Landkarten rausgekramt und die verstecktesten und spektakulärsten Plätze weiterempfohlen und notiert. So kamen Anne und ich an so manchen Geheimtipp. Auch wo man ungestört und kostenlos übernachten konnte, wurde verraten. Eine siebzigjährige Dame erklärte uns, dass in Western Australia im Frühjahr, um den September herum, die Wildblumensaison beginnen würde. Ein unglaubliches Naturschauspiel, welches man nur dort sehen könne. Einmalig auf der Welt. Tausende Arten von wilden, geschützten Blumen würden über Hunderte von Kilometern ihre Blütenpracht entfalten. Das klang toll. Das wollten wir sehen. Von diesem Moment an hatten wir das Ziel, genau zu dieser Zeit in Western Australia zu sein. Doch das war noch ein bisschen hin. Wir hatten erst Anfang Juli.

Eine glasklare Nacht folgte. Wir durchsuchten den Himmel nach Sternbildern, hatten allerdings keine Ahnung, welcher Stern was bedeutete. Zu Hilfe kam uns Ebbi. Sie hatte ein Buch über die südliche Hemisphäre im Gepäck. Nach Studieren dieses Buches konnten wir einige Sternformationen genauer benennen.

»Das da hinten ist also das Kreuz des Südens? Ja. Doch. Sieht man. Da ist das Sternzeichen Löwe. Na ja, wenn man es weiß. Und direkt über uns ist Scorpio. Wow, was für ein Riesenteil!«

Das Sternbild des Skorpions stand jede Nacht genau über unseren Köpfen. Wir zählten sechzehn Sterne, die tatsächlich das genaue Abbild des Stacheltieres ergaben. Es war für uns etwas ganz Besonderes, zu wissen, dass wir Nacht für Nacht unter dieser Konstellation schliefen. Anne ist Skorpion, ich bin Skorpion, meine Mutter ist Skorpion und Annes Eltern sind beide ebenfalls Skorpion.

Unsere Köpfe gingen erneut nach oben. Ab jetzt betrachteten wir unser Sternzeichen mit anderen Augen. Und es war mit Abstand das schönste.

Logisch!

100% Down Under

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