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Tätige Reue

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12 Uhr 30 hatten wir ausgemacht. Per Telefon. Die vom Amt für Zivildienst und ich. Auf dem Rathausplatz in Kempten. Um diese Zeit waren nicht viele Leute zu sehen. Die meisten saßen wohl zuhause oder in einem der Gasthäuser hinter einem üppigen Teller. Dort drüben, die zwei Männer, das könnten die vom Amt sein. Oder Polizisten, die treten auch immer zu zweit auf. Auch sie hatten mich schon ausgemacht. Das war nicht schwierig, denn lange Haare und Bart trugen wenige, nach Meinung des Volkes nur Gammler und Schwule. Aber letztere hatten keinen Bart und auch die Haare eher kurz, um Nachstellungen zu entgehen! Ich hatte sie angerufen und gesagt, dass ich den Ersatzdienst, der auf Zivildienst umbenannt worden war, machen wolle. Ich wollte sie privat treffen. Aber das ging für sie nur außerhalb der Amtsstunden. Also hatten sie ihre Mittagspause geopfert und waren von Kaufbeuren hierhergekommen. Ich steuerte sie an. Sie kamen auf mich zu. Wir begrüßten uns.

„Da haben sie sich ja in eine Situation gebracht, einfach so davon zu laufen! Aber es ist gut, dass sie am Ende doch noch bereuen…“ „Bereuen, was denn?“ „Nicht den Zivildienst gemacht zu haben!“ Ich musste lachen. „Das war die großartigste Zeit meines Lebens gewesen! Da würde ich es sogar bereuen, wenn ich Reue hätte!“ „Ja warum wollen sie denn dann plötzlich den Zivildienst machen?“ „Ich suche nach der absoluten Freiheit. In der Vergangenheit habe ich eine Weile ein Stipendium vom Staat bekommen, als ich das Abitur nachholte, habe dann aber nie studiert. Ich will dem Staat zurückgeben, was er mir gegeben hat. Dann werde ich frei sein!“ „Eigentlich müssten wir jetzt die Polizei rufen!“ „Sie haben mir am Telefon zugesichert, dass sie das nicht machen werden. Ich glaube nicht, dass sie ihr Wort brechen!“ Trotzdem schaute ich mich um, bereit, wieder unterzutauchen, wenn die mich linken sollten. „Wie kommen sie da drauf?“ „Freunde haben mir gesagt, dass sie okay sind und man ihnen vertrauen kann. Und außerdem haben sie ja in der Vergangenheit gesehen, dass mich nichts zurückhalten kann. Haben sie denn nicht auch manchmal Lust, alles hinzuschmeißen und einfach…“ „Reden wir lieber vom Grund unseres heutigen Treffens!“

Meine Freunde, die gerade ihren Zivildienst machten oder schon hinter sich hatten, hatten mit gesagt, dass einer dieser Männer ein Zeuge Jehovas sei, und der andere wohl ein Neuapostolischer, also beide echte Kriegsdienstgegner, eher Verbündete also! Es entspann sich ein interessantes Gespräch, an dessen Ende sie mir eine Liste mit einem Dutzend freier Zivildienststellen gaben und mir sagten, dass es eine Floskel im Gesetzestext gebe, die „Tätige Reue“ heisst, und mit der ich eventuell die mir drohenden acht Jahre Gefängnis, die mir wegen Fahnenflucht drohten, umgehen könnte. Und das alles nur, weil ich wegen chronischen Fernwehs eine Weltreise gemacht hatte, anstatt meinen Ersatzdienst anzutreten! Ich müsste also jetzt von mir aus den Ersatzdienst antreten, dann einen Antrag auf Nachlass der Strafe einreichen. Diesem würde meistens stattgegeben. Nur dürfte ich mich bis dahin nicht von einer Polizeikontrolle erwischen lassen, die würden mich dann gleich einsperren, weil ich ja im Fahndungsbuch stand… Und außerdem seien fünf Jahre die Höchststrafe. Die drei Jahre wegen des zweiten „Entfernens aus dem Bereich des Grundgesetzes“ spielten also keine Rolle. „Wenn das so ist, dann kann ich ja jederzeit wieder gehen! Ich dachte, das wird alles zusammengezählt, und am Ende kann man mir lebenslänglich anhängen, nur weil ich den Absolutheits-anspruch des Staates nicht anerkenne!“

Ich hielt also eine ganze Liste mit Adressen in meinen Händen. Ich strich alle aus, die nicht in den Bergen lagen. Denn außer, dass ich die Berge liebte, wollte ich eine Stelle unweit der österreichischen Grenze, damit ich jederzeit meinem Freiheitsdrang nachgeben könnte, falls mir eben diese fünf Jahre nicht nachgelassen werden sollten. Und wenn ich mich schon in eine eineinhalbjährige Verpflichtung einließe, dann sollte auch das Betriebsklima stimmen. Und das stimmte am Kampenwandhaus, einer Art Freizeit-Komplex der ‚Freunde der Berge Deutschlands‘. Nachdem ich schon zwei andere Jugendherbergen besucht hatte, traf ich mich mit dem Hausmeister in Oberthal. Tirolerhut, Hirtenbart, Bundhosen, kritischer Blick auf meine Erscheinung. Wir fahren das Stillbachtal hoch, unter einer riesigen Seilbahnbaustelle durch, und halten vor einer dahinter versteckten Miniaturbahn, der Materialseilbahn eben jenes Hauses, an. Das Tal ist für den Autoverkehr gesperrt, nur Wanderer, Radler und die von kräftigen Haflingern gezogenen „Stellwägen“, gummibereifte Kutschen (im Winter Schlitten) für den Touristentransport, dürfen hier rein. Und jetzt auch die Dutzende LKW täglich, die Beton und Stahl für eine neue Seilbahn ankarren, damit auch jeder des laufunwillige und -unfähige Städter die Freuden und die Stille der Berge erleben kann. Wie soll das mal werden, wenn alles fertig ist? Denn außer den Betonklötzen der Tal-, Mittel- und Bergstation und den eiffelturmartigen Pfeilern entsteht ein graustaubiger Parkplatz für ein paar tausend Autos. Dann werden die echten Naturfreunde eben auf andere Pisten umgeleitet werden müssen!

Wir entladen den Kombi und verstauen den Proviant, die Post, zwei Kannen Milch und etwas Gepäck von angemeldeten Gästen in der einer schiffschaukelähnlichen, mit einer Plane überdachten Gondel. Herrmann, so heisst mein wortkarger Begleiter, der fast jede meiner Fragen mit einem „woll“ oder „hm“ quittiert, kurbelt an einem alten Feldtelefon. Nach einer Weile hebt jemand ab und nach zwei weiteren „Woll“ und „wir hocket diene“ erschallt ein lauter Summton. Dann setzt sich nach ein paar Sekunden die Gondel mit einem Ruck in Bewegung. Leise surren die Gummischeiben der Laufräder auf dem fettigen Tragseil. Dann ein weiterer Ruck, diesmal durch das leicht durchhängende Zugseil etwas gedämpft, und wir sind auf Mach 2, Höchstgeschwindigkeit. Schon sehe ich die erste Stütze näherhuschen. Es geht steil bergauf. Das Zugseil spannt sich und schon rumpeln wir über den kufenartigen Gleitschuh, der das Tragseil an den Ausläufern des Mastes hält. Dann, plötzlich, das Hindernis überwunden, saust die Schaukel schneller vorwärts, wie ein Schiff, das eine Woge überwunden hat und wieder in die Fluten taucht, pendelt, mir hebt sich etwas der Magen. Herrmann grinst. Die Plane flattert im Fahrtwind, schlägt ins Kabineninnere. Sie ist leicht von Fettspritzern verunziert, wohl vom Zugseil oder dem Laufwagen. Eine Armbewegung, und sie ist wieder draußen. Rums - wir rattern über den nächsten Pfosten.

Vor uns erweitert sich das Tal, gibt den Blick auf entferntere Berge frei. Noch eine Stütze und wir überschweben das „Tobel“, den tiefsten Punkt. Tief unten springt ein Bächle hurtig über gerundete Felsblöcke dem Stillbach zu. „Do wennd obi fallscht, dann bischt erledigt! Achtzig Meter!“, klärt mich mein Begleiter auf. Doch bevor sich meine Barthaare sträuben können, sind wir schon darüber hinweggeglitten. Wie ein sich herabstürzender Adler huscht plötzlich etwas auf uns zu und rauscht vorbei, die Gegengondel, leer. Also haben wir die Mitte hinter uns! Wir schweben inmitten der Tannenwipfel, ich erkenne Flechten an den Ästen, und mein Blick kreuzt den eines erstaunten Eichhörnchens. Talwärts folgen meine Augen der neuen Bahntrasse, die den Hang queren wird und verweilen kurz auf der enormen Baustelle. „Hässlich“ kommt mir in den Sinn. Ich ziehe es vor, den Blick wieder abzuwenden und die Grashänge eines schroffen Berges über der anderen Talseite zu bestaunen. „D‘ Huffats! Do wachset d‘ Edelweiss!“ erklärt mir Herrmann und zeigt auf seinen Hut. In den felsigen Rinnen der Bergflanke liegen Schneebänder. Auch unter uns breiten sich jetzt Schneeplatten aus, in denen, wie auf Inseln, uralte Bäume stehen. Spuren von Wild führen in Zickzack durch den harschigen Schnee. Dann wird der Hang plötzlich flacher, der Wald weicht zurück, Sonnenlicht umhüllt uns, weiß gleißt die Schneedecke unter uns, der Himmel blendet uns mit seinem klaren Blau. Die Fahrt wird langsamer, wir gleiten in den „Bahnhof“. Ein Ruck, Stillstand, die Gondel pendelt sich leicht aus. Aus dem Fahrerstand des Maschinenhauses tritt ein junger blonder Bursche in Küchenklamotten mit huskyblauen Augen. „Tach, ich bin Willi, Zivildienstler!“ „Hallo Billy, ich bin der Wolfi!“ „Sagen wir mal der Wolfgang!“ Der scheint was gegen Abkürzungen zu haben, denke ich.

Zusammen laden wir zwei den ganzen Krempel aus der Gondel in einen wagenartigen Anhänger, der aber auf zwei Kufen steht. Er hängt hinter einem grünen Motorschlitten draußen vor dem Maschinenhaus. Mir bleibt kaum Zeit, die uns umgebende Bergkulisse zu bestaunen. Inzwischen hat Herrmann die Post sortiert, die er mit anderen Papieren in einer dicken Ledermappe bei sich hatte und gibt Billy einen Brief. Dann setzt er mit einem Zug an der Schnur den Motor des Schlittens in Gang und fährt zu dem so 50 Meter tieferliegenden Gebäude hinunter, eine Zweitakt-Wolke hinter sich lassend, die sich langsam mit dem hellblauen Himmel vereint. Warm durchdringen mich die Sonnenstrahlen, ich halte die Hand schützend über meine Augen und trinke mich erst mal satt an dem Anblick der Bergketten. Hindukusch, Himalaya, Rocky Mountains, meine Sehnsucht schweift weit… Doch dies hier sind die Alpen, und jetzt ist erst mal „tätige Reue“ angesagt. Ich senke meinen Blick auf das große, von einer meterdicken Schneeschicht bedeckte Dach unterhalb, von dem dicke Eiszapfen fast bis zum Boden hinunterreichen. Meine Schritte knirschen leicht im stellenweise etwas sulzigen Schnee, während ich zum Bau hinunterlaufe, begleitet von Billy, der mir die Hucke volllabert von seinen paar Monaten bei der Bundeswehr, von echter Gemeinschaft und gegenseitiger Erziehung. Seit 14 Tagen ist er hier oben, im Moment noch alleine. Also schon ein alter Hase. Ich erfahre von ihm, dass bald insgesamt sechs Zivildienstler hier arbeiten werden.

Das Haus, wohl aus den dreißiger Jahren, so ein Protzbau für „Kraft durch Freude“, ist weiß verputzt. Mit hölzernen Fensterläden überall, die dringend einen Schlag Firnis nötig hätten. Wie viele Betten mag es haben? Mindestens hundert, auf jeden Fall! Ski stehen zu Dutzenden in langen Reihen davor, an eine Halterung aus Zinkrohren gelehnt. Ein paar Leute liegen in der Sonne und versuchen, ihre Stadtbleiche loszuwerden. Und da kommt auch schon der Chef, wie Billy mich aufklärt, angewuselt, einen riesigen Schlüsselbund als Zeichen seines Amtes in der Hand (in seine Tasche passt der auf jeden Fall nicht). Doch was mir am meisten auffällt, sind seine lachenden blauen Augen und sein offenes Wesen. Und sein starker hessischer Dialekt. Ob dies DER Ort ist?

„Ja dann mal herzlich willkommen!“, meint er, „schauen wir uns erst mal Ihren zukünftigen Arbeitsplatz an, ehe wir über den Rest reden!“ Er führt mich durch den Skiraum, den Heizraum mit seinem Ölbrenner und dem leichten Geruch von Heizöl, in die riesige Küche und von da in die Spülküche, meinen zukünftigen Wirkungsbereich, wie er meint. Alles gekachelt, eine nirosta-silberne Spülmaschine thront an einer Wand zwischen Becken und Ablagen, ihr gegenüber die Schiebetür des Geschirraufzuges. Das schaut gar nicht so schlimm aus, denke ich mir. Dann die Treppen hoch, in den ersten Stock, oder das Erdgeschoss, wenn man den Küchenbereich als Keller nimmt. Dort befindet sich die Wohnung der Cheffamilie, Büros, zwei große, durch eine Faltschiebetür abtrennbare Speisesäle, die durch ein quadratisches „Buffet“, die Essensausgabe, voneinander getrennt sind, das, wie ich später sehen werde, auch als Bar dient. Dann öffnet er eine Tür zu einem kleinen, gemütlichen Raum, „das Personalzimmer, für gemütliches Zusammensein nach der Arbeit…“ Dann wieder die Treppen hoch, wo die Gästezimmer liegen und auch unsere Räume, Zweierzimmer. Anschliessend nochmal einen Stock höher. Dort liegen, unter der leichten Dachschräge und den dicken Dachbalken, die Gruppenzimmer und die Waschräume. Und darüber noch einige Notunterkünfte, „Matratzenlager“, die aber selten benutzt würden, da in der Nähe noch andere Schutzhütten bestehen für den Durchgangsverkehr, auch näher an den Wanderwegen gelegen. Ich erfahre, dass das Haus eine Kapazität von 130 Betten hat, meist für Gruppen oder Schulklassen und ein paar Pensionsgäste. Dann noch ein Gang um das Haus, und hoch zum Maschinenhaus, der Seilbahnstation, wo noch andere Mannschaftsunterkünfte liegen. Während der ganzen Visite unterhalten wir uns, alles ist locker, echt cool.

„Na, wie gefällt es Ihnen?“, meinte der Chef nach einer Weile und musterte mich gründlich. „Nicht schlecht!“, antworte ich, „aber worin besteht meine Arbeit?“ „Hauptsächlich die Spülküche, also Geschirr waschen. Aber auch in der Küche helfen, wenn nötig, auch bei der Vorbereitung: Kartoffeln schälen, Salat putzen…“ „Kartoffeln schälen für 130 Leute?“, entfuhr es mir. „Keine Panik! Dazu haben wir eine Maschine. Nur die Augen ausschneiden, das geht leider nur von Hand.“ Die Arbeitsstunden waren in zwei Abschnitten zu leisten, morgens bis nach dem Mittagessen, dann ein paar Stunden Pause, und wieder gegen Abend. „Da bleibt genug Zeit zum Skifahren, das wäre ja eine Sünde, es nicht zu tun…! Das Haus besitzt einen kleinen Schlepplift, doch besser sind die Lifte des neu erschlossenen Skigebietes, wovon die meisten schon in Betrieb sind, auch wenn die Gondel, die 101 Personen befördern kann, erst in der nächsten Saison in Betrieb gehen wird!“ Was blieb mir da anderes als zuzusagen? Der Platz war einfach zu schön und der Chef schien auch in Ordnung zu sein. Doch vorerst musste ich ihm reinen Wein eischenken, das war ich ihm schuldig! „Ich bin nicht sicher, ob man mich unbehelligt den Ersatzdienst zu Ende machen lassen wird, weil…“ Und ich fing an, ihm zu erklären. „Ich weiß Bescheid!“ unterbrach er mich, „aber das dürfte sich bei guter Leistung von selbst regeln! Nur wäre es gut, die Haare etwas…!“ „Verstanden!“, warf ich ein, „ich habe mir schon ein Haarnetz gekauft!“ „Also dann bis in zwei Tagen! Dann macht das Haus wieder offiziell auf. Ihr werdet insgesamt sechs Zivis sein. Ihr werdet euch schon verstehen!“

Wir waren wieder an der Seilbahn angelangt. Inzwischen wusste ich auch, dass die markanten Berge gegenüber die „Fölagabel“ waren und der mit der Form des Hausmeisterhutes, der „Bubespitz“. Die Sonne war schon hinter der „Kampenwand“ im Westen verschwunden. Um uns herrschte plötzlich eine grau-weiße Welt. Nur die umliegenden Gebirgsketten badeten ihre Hänge noch in dem goldenen Abendlicht. Es würde eine kalte Nacht werden, der aufgeweichte Schnee begann schon wieder zu erstarren… Bald surrte die Gondel mit mir darin in das kalte, bereifte Tal.

Zwei Tage später stand ich mit einem Freund in seinem Auto vor der Schranke, die das Tal abriegelte. Ein wichtigtuerischer Wachmann stand davor. Er ließ uns nicht durch, trotz der vielen anderen Fahrzeuge und LKW die einfach durchfuhren. Wir hätten keine Genehmigung, auch, wenn ich da arbeiten wolle, bräuchte ich eine… Und diese gab es nur bei der Polizei! Also nichts wie dorthin, für mich eine echte Mutprobe… Diese wollten erst mal meinen „Einberufungsbescheid“ sehen, den ich natürlich nicht hatte. Ich suchte eine Weile in meinem Rucksack. „Muss ich wohl vergessen haben!“ Sie riefen den Chef am Kampenwandhaus an, der zum Glück gerade neben dem Telefon saß und alles bestätigte. Also begnügten sie sich mit meinem Ausweis, um das Formular auszufüllen. Mir war schon etwas komisch zu Mute, so in der Höhle des Löwen! Doch schauten diese nicht in ihrem Fahndungsregister nach. Nochmal Schwein gehabt! Als uns der „Parkwächter“ wieder mit unserem alten Auto ankommen sah, stellte er sich mitten vor die Schranke und winkte uns zu, zu verschwinden. Grinsend zeigten wir ihm das Papier, worauf er widerwillig das Tor öffnete.

So war ich jetzt in 1500 Metern Höhe daheim. Mein neuer Wohnort lag an einem Südhang, umgeben von der Bergkulisse der Oberthaler Alpen. Und je höher man stieg, umso mehr für mich noch namenlose Gebirgszüge reihten sich hinter die schon sichtbaren. Es waren schon vier andere Zivildienstler oben am Einsatzort, alle in grauen „Spülerhosen“ und grau-weiß gestreiften Jacken, unserer „Uniform“, bereit, die Tellerberge so hoch wie die „Bubespitz“ zu bewältigen und den tausenden zukünftigen Kartoffeln die Augen auszustechen. Der Chef begrüßte mich und meinte, die Haare seien ja nicht gerade kürzer geworden. Ich entgegnete, dass sie zu schnell wieder nachgewachsen waren. Denn eine Freundin hatte sich vor zwei Tagen wirklich darüber hergemacht. Also zog ich das widerspenstige Haarnetz über meine ausladende Mähne, halt so, wie die Anderen, und alles war in Butter.

Ich bekam ein Bett in Herberts Zimmer. Dieser war etwas jünger als ich, stammte aber aus meinem Nachbarort. Wir verstanden uns auf Anhieb, vor allem, als er am Abend einen Joint baute. Das nennt man Empfang! Der blauäugige Billy („ich heiße Willi, von Wilhelm!“) ließ es sich nicht nehmen, mich in die Arbeit einzuweisen. „Wir müssen voneinander lernen!“, klärte er mich auf, „vor allem uns gegenseitig erziehen! Das hat schon mein Leutnant bei der Bundeswehr immer gesagt!“ Ich war aber nicht hierhergekommen, um eine Erziehungskur mitzumachen, sondern um Teller zu waschen! Und in diesem Bereich hatte er mir schon eine vierzehntägige Erfahrung voraus. Wir weichten alles ein und wuschen nur das Schmutzigste von Hand ab, den Rest reihten wir in die entsprechenden Haltegitter und fütterten die Spülmaschine damit. So schafften wir es, in rund zwei Stunden den Abwasch von 130 Personen zu erledigen. Nun gut, nachher ging es noch an die angebrannten Töpfe aus der Küche. Da wir alle aber einen frühen Feierabend wollten, teilten wir unter uns die Arbeiten so ein, dass die Einen die Küche, die Herde und den Boden putzten, während sich andere über die Töpfe und die Spülküche hermachten.

Zum Glück waren zwei Zimmermädchen angestellt, die sich hauptsächlich um das Putzen des Hauses und Beziehen der Betten bei Gästewechsel kümmerten. Auch wurde der Speisesaal von ihnen instandgehalten. Wir Verweigerer packten da nur im Notfall mit an. Eine hieß Anna, war klein an Größe, aber groß an Klappe und kam aus Niederbayern. Sie meinte, sie sei mit Dubcek verwandt, der den ‚Prager Frühling‘ inszeniert hatte. Das dürfe aber niemand wissen, denn sonst käme der tschechische Geheimdienst sie abholen. Also nannten wir sie Anna Meier, vormals Dubcek. Die andere kam aus Spanien und hieß Esperanza. Wir nannten sie Espe. Sie war dort anscheinend verlobt und gab sich so unnahbar, dass sogar hartnäckige Verehrer mit der Zeit verzweifelt von ihr abließen. Dann war da noch eine Frau an der Essensausgabe, Dorit, die auch bei den häufigen Feten die Getränke verkaufte. Ein Hausmeister kümmerte sich um den Unterhalt der Gebäude und der Seilbahn, ein Koch (Hans) und ein Hilfskoch (Ede, von Espe ‚Don Krawallo‘ benannt) trieben in der Küche ihr Unwesen, wenn sie nicht gerade im Dorf die Sau rausließen. Über dem Ganzen stand Karl, der Chef, unterstützt von Frieda, seiner Frau, die sich vor allem um die Belegungsplanung, Großeinkäufe und die Abrechnung kümmerten. Ihre Tochter Siggi, so an sie zwölf, fuhr jeden Morgen mit der Materialbahn ins Tal in die Schule. Dazu kamen wir sechs Zivis und gelegentlich unbezahlte Hilfskräfte, wie die Mutter des Chefs, oder der Vater der Chefin oder junge Leute oder Freunde, die auf Besuch bei jemandem vom Personal waren und mit zur Hand gingen, weil Not am Mann war oder sie sich ihr Essen verdienen wollten.

Jeder von uns wurde bald nach Ankunft in die Bedienung der Seilbahn eingewiesen. Diese war lebensnotwendig und jeder musste sie bedienen können. Das sah anfangs schwierig aus, war aber ziemlich logisch und außerdem waren automatische Sicherheitsabschaltungen eingebaut worden, seitdem mal jemand vor lauter Quatschen vergessen hatte, dass die Gondel fuhr, und diese voll in und durch das Maschinenhaus donnerte. Das lag aber schon Jahre zurück, diente aber immer noch dazu, uns die Gefahren klar zu machen. Schwieriger war es bei Nebel, wenn man die Gondel erst im letzten Augenblick sah. Aber für diesen Fall war an der Wand eine durch eine Endlosschraube betätigte Positionsanzeige vorhanden, auf der man alle Stützen sah und den jeweiligen Standort der zwei Gondeln.

In der geräumigen Küche stand an der Südseite, unter den Fenstern, ein langer Tisch. An diesem aß das Personal, bevor es ans Abfüttern der Gäste ging. Wir waren je nach Urlaub oder Ausfall 12 bis 16 Leute, die den Laden schmissen. Da ja auch an Wochenenden gegessen werden musste, teilten wir uns ein, damit auch immer genügend Leute da waren und wir selber auch zu unserer Freizeit kamen. An der einen Stirnseite dieses Tisches saß der Chef und daneben die Altgedienten, an der anderen saß ich, weil das der einzig freie Platz gewesen war und niemand sich da hinsetzen wollte, und neben mir saßen die anderen Ersatzdienstler.

Es ging los! Wir erwarteten drei Gruppen. Zwei Schulklassen, die hier Schifahren lernen sollten und eine politische Gruppe, irgend so eine rote Zelle, die anscheinend zum Diskutieren und Trinken gekommen war. Doch vorerst musste der Hausmeister deren Gepäck am Bahnhof holen, welches er in die Seilbahngondel lud und jemand von uns dann hochzog. Wir luden es oben am Maschinenhaus aus, wo sich die Gäste nach ihrem Aufstieg bedienen konnten. Am Abend war dann natürlich Remmidemmi. Die Schüler johlten vor Übermut nach dem Essen durch die Gegend und die Gänge, die Aktivisten gaben sich erst mal einer Grundsatzdebatte hin. Diese wurde immer heftiger und um die Stimmbänder zu kühlen und den revolutionären Ideen mehr Überzeugungskraft zu geben, sprachen sie kräftig dem Alkohol zu. Die erste Debatte beendeten sie, wie ihre Klassenfeinde, im Überkonsum von Alkohol. Da wir bei einem solchen Zirkus eh nicht zum Schlafen gekommen wären, schlossen wir uns den Feiernden oft an.

So vergingen die ersten Tage und wir lernten langsam den Ablauf des Geschehens. Der Hausmeister hatte ein paar Tage frei genommen. Und gerade da war im oberen Stock bei einer der Schulklassen ein Klo verstopft. Der Chef fragte, wer von uns etwas davon verstehe und wer freiwillig bereit sei, das Problem zu lösen. Jeder schaute den anderen an und meinte, er selber könne das jedenfalls nicht! Die Hausmädel hatten sich schon mit dem Pumpfix und Nachspülen versucht, mit dem Ergebnis, das die Schüssel jetzt überlief. Was soll‘s, dachte ich mir, ob Spülbecken oder Kloschüssel, Brühe ist in beiden, außerdem kannte ich mich in solchen Dingen wirklich aus. Und da Billy mir gerade auf den Keks ging mit seiner Erziehungskur, bot ich an, mir die Sache mal unverbindlich anzuschauen. Die Anderen kehrten zu ihren Tellern zurück, ich stapfte mit dem schlüsselbundbewaffneten Chef nach oben.

Das sah nicht viel anders aus als das Spülwasser, roch nur etwas strenger. Ein paar Knödel schwammen an der Oberfläche, wie tote Fische mit dem Bauch nach oben, andere hatten sich unter Einwirkung des Gummipümpels aufgelöst und trübten das Ganze etwas ein, so dass man den Grund des Gewässers nicht mehr erkennen konnte. Ein paar Papierfetzen schwebten schwerelos in der Suppe. Anna, die beim morgendlichen Saubermachen diese Entdeckung gemacht hatte, stand mit ihrem Putzkübel im Flur. „Solche Drecksai! Da hot bestimmt oina in d‘ Hosen gschissen und d’Hosen doa reingschmissen!“ Das dachte ich mir auch. „Du musst mit der Hand da reinfassen“, sagte ich ihr, „nicht mit dem Gummipümpel drin rumrühren! Komm, versuch‘s, das klappt bestimmt!“ Sie machte einen Schritt zurück. „I bin doch kai Dappschädel! Dös kannscht fei sel mache!“ Ich überlegte. Man könnte das Klo wegschrauben um ans Rohr zu gelangen. Aber was gäbe das für eine Schweinerei. Die Brühe würde bis in den Flur laufen! Warum umständlich, wenn’s auch einfach ging! Ich zog meine Spülerjacke und mein Hemd aus und kniete mich vor die Schüssel. Der Chef hörte auf, mit den Schlüsseln zu klimpern, selbst Anna kam wieder einen Schritt näher und schaute mir über die Schultern.

Ich hielt die Luft an, tauchte den Arm tief in die Brühe, meine Hand tastete sich in das Knie. Nichts. Ich zwängte mich weiter und ertastete etwas, was sich wie Stoff anfühlte. Mit den Fingerspitzen konnte ich es fassen, etwas näher ziehen, dann nachgreifen, und bevor mir der Atem ausgegangen war, zog ich das Teil heraus. Gurgelnd verschwand die Nudelsuppe im Gedärm des Hauses. „Schau, ein Putzlumpen! Du hast deinen Eimer darin ausgeleert!“, rief ich und hielt das triefende Ding hoch. „Lügner!“, rief Anna, „dos ischt a Unterhosen!“ „Wie willst denn du das wissen, Modle haben doch sowas nicht!?“ „Dorin kenn i mich aus!“ Wir prusteten vor Lachen. Mein Chef schien beeindruckt. Wohl von dem Ergebnis, mehr aber noch von meiner Furchtlosigkeit vor der vollen Schüssel. Wenn der wüsste, was für Schweinereien ich früher auf dem Dampfer gegenüber gestanden war! Unter Annas Protest warf ich die versaute Hose in ihren Eimer und meinte, sie solle schauen, wem sie gehöre. Dann in den Waschraum und mit Seife den Arm gewaschen. „Der Rest geht beim Spülen ab!“ meinte ich, als der Chef sagte, ich könne auch eine Dusche nehmen. „Das Spülen kann warten! Schau dir gerade noch mal das Waschbecken da drüben an. Das ist schon seit gestern verstopft!“ Doch dazu brauchte ich Rohrzange und die Spirale. In der Hausmeisterwerkstatt fand ich alles. Der Chef hielt mich wohl für einen Zauberer, als er sah, was ich alles aus so einem kleinen Rohr herausbeförderte!

Inzwischen war es Mittag geworden. Nach dem Essen meinte der Chef, ich bräuchte heute Mittag nicht spülen, da ich durchgearbeitet hatte. Am Abend ließ er mich rufen. Er war puterrot. Vor Zorn, wie es schien. „Stell dir vor, da kommt doch der Hausmeister nach seinen freien Tagen zurück und sagt mir, dass er kündigt, in vierzehn Tagen fängt er eine andere Arbeit an. Da habe ich ihm gesagt, im Vertrag steht, dass jeder erst nach der Saison kündigen kann. Darauf meinte er, ‚auf den Vertrag, da drauf scheiß ich!‘ Da sagte ich, dann scheiß ich auch darauf, verschwinde lieber sofort!“ Kurze Pause. „Wie sieht’s aus, hast du Lust, den Posten zu übernehmen?“ Also tauschte ich die Spülerjacke gegen den grauen Kittel des Hausmeisters ein und bekam einen Schlüsselbund ausgehändigt, fast so groß wie der des Chefs.

Mit der Zeit erfuhr ich so die Einzelheiten über das Haus und die Anwesenden. Der Chef und seine Frau waren erst seit der Sommersaison da. Der Vorgänger, ein Einheimischer, war von den Freunden der Natur abgesetzt worden, weil er zu viele eigene und lokale Interessen im Hinterkopf gehabt hatte. Das meiste Personal war mit ihm gegangen. Dadurch, und wohl auch um Kosten einzusparen, hatte man eine Geschäftsleitung von auswärts eingesetzt und auf Zivildienstler zurückgegriffen. Nur der Küchenhelfer, Esperanza und die Büffet-Frau waren vom alten Personal. Der Koch war der Sohn vom Chef und dessen Helfer war der Bruder des abgegangenen Hausmeisters.

Von jetzt an fing mein Tag mit einem Rundgang an (falls man mich nicht schon in der Nacht weckte, weil was passiert war), um zu sehen, ob alles in Ordnung war. Dann die Bestellung von Küche und den anderen Bereichen aufnehmen, die Aufträge und die Post vom Chef. Mit der Seilbahn ins Tal und mit dem VW-Bus nach Oberthal. Der Schrankenwärter konnte es nicht lassen, wenn er mich erkannte, nach der Genehmigung zum Befahren der Straße zu fragen, obwohl doch in Großbuchstaben der Name des Hauses auf der Karre stand. Der Vormittag verging mit dem Erledigen der Besorgungen: auf die Bank, Post, oft mittags die Tochter des Chefs von der Schule holen, dann wieder hochfahren. Da kam ich meist zum Ende des Mittagessens an. Dann eine Stunde Pause. Danach ging es ans Reparieren der durch Vandalismus oder Abnutzung entstandenen Schäden. Die Heizung musste gewartet werden, der Müll gesammelt und beseitigt. Das geschah anfangs noch auf einem hässlichen Müllplatz genau unter der Seilbahntrasse. Weiterhin Schweinekübel mit den Essensresten zur Seilbahn schaffen und Milch zum Haus. Wanderwege markieren, Schlepplift überholen. Es war Schnee zu räumen und die Eiszapfen abschlagen, wenn sie zu gefährlich wurden… In die Spülküche kam ich nur noch, wenn dort etwas verstopft oder kaputt war. Man beneidete mich vielleicht darum, dass ich jeden Tag ins Dorf oder die Stadt kam. Wenn mal eine entsprechende Bemerkung fiel, dann erzählte ich von der letzten Klo-Entstopfung, und alle waren wieder mit ihrem Los zufrieden.

Der Laden lief. Auch meine Kumpel merkten, wenn wir alles gut erledigten, blieb uns mehr Freizeit und Freiheit, niemand redete uns groß rein. Ein paar von uns waren Vegetarier, ich auch, und der Chef ließ es zu, dass ich das Entsprechende im Reformhaus einkaufte. Das gab anfangs Grinsen und blöde Bemerkungen seitens der „Fleischfresser“, doch zogen diese sich nach einer harten Nacht oft morgens auch ein Müsli rein, um Kopf und Magen wieder klar zu kriegen. Unser Chef bekam deshalb bei einer Buchprüfung von der Vorstandschaft einen Rüffel, änderte aber nichts. Fiel einer von uns aus, oder wollte freinehmen, so arrangierten wir uns untereinander. Selten, dass der Chef regelnd eingreifen musste. Die Nachmittage gehörten uns und die Nächte auch. Wenn die Arbeit getan war, redete uns niemand rein. Oft nahmen wir dann am „Hüttenzauber“ teil, wo eh alles gemischt war: Gruppen, Pensionsgäste und Personal. Wir fuhren Ski oder machten Ausflüge. Doch noch öfter saßen wir bei jemanden im Zimmer, diskutierten, tranken ein Bier, hörten Musik. Bisweilen bei einem guten Joint, denn Raucher waren wir alle. Bis auf einen, Erhardt, ein Zeuge Jehovas, der war Weißbier-Trinker. Er merkte nicht einmal, was wir rauchten, selbst wenn er mit uns zusammen war. Er wunderte sich nur, warum wir alle an derselben Zigarette zogen und warum diese so groß war… „Das ist aus Sparsamkeitsgründen. Lieber eine große, als viele kleine…!“, erklärten wir ihm.

War es im Haus zu laut, dann trafen wir uns auf einer Waldlichtung und rollten dort einen Dreiblättrigen, spielten Flöte, lasen in der Bagavadghita oder im Propheten, schauten der untergehenden Sonne zu. Oft rollten wir uns auf dem Moos in den Schlafsack und poften so unter freiem Himmel… Manchmal fuhren wir Samstagabend in die Kirche nach Oberstdorf. Nachher, als es dunkel war, liefen wir auf den Friedhof, das Grab von Gertrude von le Fort besuchen. Dort saßen wir dann im Kreis, eine Pfeife machte die Runde und wir lasen uns gegenseitig aus ihren Gedichten vor… ‚Ändere dich selbst, und die Wandlung dieser Welt wird sich vollziehen!‘, war der Satz, der uns am tiefsten prägte. Kein Gott, kein Politiker, kein Revoluzzer wird je die Welt ändern, sondern nur neue Ungerechtigkeiten schaffen. Die Welt kann nicht von ‚Oben‘, von einem ‚Führer‘ geändert werden, sondern nur von unten her, der ‚Basis‘. Wir selber sind der Schlüssel zur Verbesserung der Welt… Natürlich befanden sich auch Kiffer unter den Freizeitteilnehmern. Das roch man schnell und man fand sich irgendwo draußen wieder, wie Lausbuben, die ihre erste Zigarre rauchten, eine verschworene Gemeinschaft. Viele dauernde Freundschaften wurden so geschlossen.


Die Farben des Abends

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