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Joseph
ОглавлениеDie Tür fiel ins Schloss. Sie hatte einen Anderen! Ich stand auf der Straße. Allein. Das ist noch lange nicht das Ende des Lebens, versuchte ich mir zu sagen. Es geht immer irgendwie weiter. Das Schicksal hatte es bisher immer gut mit mir gemeint! Das werde ich bestimmt in ein paar Jahren, zurückschauend, feststellen können!
Als Kind hatte ich öfters einen Traum. Immer denselben. Ich ging durch eine ockerfarbene Ebene. Ich folgte einer schnurgeraden, schwarzen Linie. Besser gesagt, ich war diese Linie. Dann, plötzlich, verwickelte sich diese Linie zu einem wirren Durcheinander. Ich ging trotzdem weiter, folgte den Verwindungen. Das gab mir ein eigenartiges Gefühl unter der Haut, wie Schmirgelpapier. Und einen üblen Geschmack im Mund. Dann, endlich, nach ein paar letzten Windungen, ging es wieder geradeaus weiter. Gefühl und Geschmack verschwanden, mich durchströmte so etwas wie Glück, ich atmete auf. Ich folgte der geraden Linie, die bis zum Horizont zu gehen schien, oder noch weiter, denn nie sah ich ihr Ende.
So fühle ich in diesem Augenblick. Ich folgte der Straße und fand mich vor der Tür von Ludwig, eines Freundes wieder. „Was, du? Du bist zurück?“ „Hast du Lust auf einen Spaziergang? Ins Altwasser?“ „Da bin ich immer dabei!“ Wir gingen durchs Dorf, bald durch die Wiesen, dann setzten wir uns ans Ufer. Er rauchte eine Gitane Mais, ein von den üblen Dingern, die selbst einen toten Hund aufwecken. Ich stopfte meine Meerschaumpfeife mit etwas Tabak und einer Prise ‚Oh Mann‘ von den Freunden aus Österreich. Wir pafften und erzählten uns, was in den letzten 1 ½ Jahren vorgefallen war. Nach einer Weile schnüffelt er in der Luft. „Wie riecht das denn hier?“ meint er plötzlich. „Wie soll das denn hier riechen?“ „Nach Gras! Du Saubär rauchst da einfach was! Schick mal rüber!“
Also hat sich im Dorf doch was getan! Der Großteil der Dorfjugend ist inzwischen auch angetörnt, wie der Rest der Welt. Durch die GIs ist das Marihuana in die Neue Welt gekommen und über die Hippiebewegung zur Droge gegen den Krieg geworden. Bis ins tiefste Bayern ist es vorgedrungen. Überall grünt es, der Joint ist zu einem Ritual geworden, wie damals die Friedenspfeife bei den Indianern. Immer mehr Jungens verweigern den Wehrdienst. „Wo soll das noch hinführen?“ jammern die Alten. Obwohl dieselben noch vor wenigen Jahren gesagt hatten „Nie wieder eine Armee, nie wieder Krieg!“ Wir sitzen da, rauchen und reden über alte Zeiten. „Hast du ein Taschenmesser?“ frage ich ihn, „gib mal her!“ Ich taste nach dem Treue-Bändel, das Marion mir vor 1 ½ Jahren hier um den Hals gebunden hatte. Zögere kurz, vertreibe letzte Erinnerungen, und mit einem kurzen Schnitt ist es ab. Ich werfe es weit ins Altwasser. Jetzt endlich bin ich frei!
Nach zwei Tagen finde ich Arbeit bei einem Vermessungstrupp, in der Nähe von Lindau am Bodensee. Dort wird die zukünftige Autobahntrasse von Memmingen nach Bregenz vermessen und, trotz heftigen Widerstandes, die von Kempten nach Lindau und die Bodenseeumgehung. Mit zwei anderen vom Trupp wohne ich in Biesings in einer Pension. Nur an Wochenenden bin ich manchmal daheim. Meist komme ich bei Freunden unter, in Kommunen in der Stadt oder auf dem Land. Auch hier wird der neue Lebensstil geübt. Auch hier hört man Rock und psychedelische Musik. Da klinkt mein Vater wenigstens nicht aus. Aus den Augen- aus dem Sinn!
Ludwig meint, er wolle bald nach Istanbul und weiter. Da kann ihm der Barras wenigstens nichts anhaben. „Hast du denn schon die Impfungen?“ „Welche Impfungen?“ „Cholera, Pocken und was weiß ich. Sonst kannst du da nicht rein!“ Auch ich hatte mich entschlossen, so bald wie möglich wieder abzuhauen, jedenfalls, wenn ich genügend Geld hätte. Wir gehen zusammen zum Gesundheitsamt, um uns die Impfungen verpassen zu lassen. Er beantragt auch einen Pass. Denn mit einem Personalausweis kommt man nicht weit aus Deutschland raus. „Was wollt ihr denn nur alle in Indien?“ will der Amtsarzt wissen, „auch verrecken wie der Rami?“ Dieser, ein Bekannter aus der Szene, war kurz zuvor in Goa aus der Welt geschieden. Overdose. Der ‚Goldene Schuss‘. Muss ja nicht immer eine Kugel sein und in Vietnam…
Ein anderer Zwischenfall hatte sich ereignet: Gerd, der mir 300 Mark vorgeschossen hatte, als er mit mir durch die USA getrampt war, wohnte auch zu Hause. 200 Mark hatte ich ihm schon zurückgezahlt. Sein Vater wollte Wohngeld von ihm. Gerd meinte, der sei reich genug und hätte sich nie um ihn gekümmert. Dem werde er dafür gerade noch was zahlen! Dummerweise hatte dieser wohl mitbekommen, dass er mir das Geld geliehen hatte. Und dummerweise arbeitet der auch für eine Versicherung wie mein Vater, aber bei der verhassten Konkurrenz. Selber Beruf, selbes Verhaltensmuster! Er setzt sich also in sein Auto und besucht meinen Vater, um sich von dem das Geld zu holen, das sein Sohn ihm nicht zahlen will. Doch da gerät er an den falschen! Fast hätte es Mord oder Totschlag gegeben, wie meine Mutter mir später mitgeteilt hat. Das war der lang erwartete Auslöser. Mein Vater rastet aus. „Man leiht sich kein Geld, man verdient es sich! Und man wählt sich seinen Umgang aus! Mit solchem Pack verkehrt man nicht!“ Was folgt, ist wieder der totale Rausschmiss mit Hausverbot. Das ist mir völlig schnuppe. Nur, dass meine Mutter am Ende die Leidtragende ist.
In den sieben Wochen bei den Vermessern habe ich mir einiges an Geld auf die Seite tun können, ist doch Unterkunft und Verpflegung frei. Abends sitzen wir oft beim Kartenspiel. Da kommen meist ein paar Einheimische auf ein Bier in die Pension, um Neuigkeiten über den Trassenverlauf zu erfahren. Vor allem ein pensionierter Zahnarzt, der in der Nähe eine Villa und einen Fischteich hat. Es bestand ein alter Plan, auf welchem die Autobahn genau durch diese Villa ging. Dieser Verlauf war aber aufgegeben worden. Doch das wussten nur wir. Unser Chef legte diesen Plan wie durch Zufall oft so auf einen Tisch, dass er sichtbar war. Das brachte den Zahnarzt fast zur Verzweiflung. Er lud uns dann zum Bier ein, dann noch ein paar Schnäpse, um uns zu überzeugen, diesen Trassenverlauf zu verwerfen. Der Chef meinte dann, dass sei gar nicht so einfach, wir könnten da wohl kaum was machen. Aber man könnte ja mal was versuchen… Beide spielten gerne Schach. Aus Gaudi spielte unser Chef mit ihm um die Trasse. Dabei flossen die Biere und Schnäpse rundenweise. Und jedes Mal verlor der Zahnarzt, weil er gar nicht mitbekam, wie der andere mogelte. Am Ende spielte der ihm noch die gefangenen Fische ab, so, dass wir fast jeden Tag frische Forellen von der Wirtin gebraten bekamen. Es war eine tolle Zeit. Wir kamen dabei in tiefe, unberührte Wälder. Selbst Pilzsucher verirrten sich nicht hierher, wie wir und unsere Forellen merkten. Wir tauchten in idyllischen Gehöften auf, meist nur für Nebenmessungen, um einen Polygonpunkt zu bestimmen oder Erkundigungen einzuholen, um einen bestimmten Ort ausfindig zu machen. Die Leute waren oft misstrauisch. Niemand wollte die Autobahn, außer den Städtern. Vielleicht doch einige, denn es hatte sich herumgesprochen, dass die Entschädigung für den Landverlust 6 Mark pro Quadratmeter sein sollte. Das brachte so manchen Bauern zum Umdenken…
Unten am Schönbühl, bei Lindau, lag ein kleiner Campingplatz. Dort hatte ich schon ein paar Mal gezeltet gehabt, wenn wir Buben damals mit dem Fahrrad nach Lindau gefahren sind. Wie es aussieht, wird der auch der ‚Straßensanierung‘ zum Opfer fallen. Als wir da mit Messlatte, Theodolit und den anderen Geräten herummachen, krabbelt aus einem Zelt ein älterer Mann heraus, eine Art Clochard. Joseph heißt er und hat hier seit Jahren seinen Wintersitz, wie er uns erzählt. Der Platzbesitzer duldet ihn, da er irgendwie auch als Platzwächter fungiert. Sein Zelt befindet sich am Rande des Geländes. Er führt uns hin. Unter einer größeren aufgespannten Zeltplane, die auch als Unterstand für seine zwei rostigen Fahrräder dient, steht ein kleines Armeezelt, sein Zuhause. „Du musst ja ein ganz schön harter Bursche sein, bei dem Wetter da drinnen zu wohnen! Wie machst du das denn, um nicht zu erfrieren?“ Er holt grinsend eine Flasche mit klarem Inhalt unter seinem Lager hervor und reicht sie uns. Wir trinken alle einen Schluck davon. Ist ja kalt genug draußen, und das verlangt die Höflichkeit! Guter Bodenseeobstler! Dann nimmt er selber einen gehörigen Schluck und wischt sich den Mund mit dem etwas schmuddeligen Ärmel ab.
An einem Wohnwagen lehnen ein paar Klappstühle. Er stellt sie auf und lädt uns ein zu Sitzen. Er wird nicht viel Besuch bekommen und nützt unser Dasein zu einem Schwätzchen. Er kramt ein zerdrücktes Paket Kekse aus einem Karton, der wohl als Vorratsschrank dient. „Hier, bedient euch. Viel kann ich euch nicht anbieten!“ Dann wieder reihum ein Schluck Schnaps. „Lebst du schon lange so?“ fragt ihn Volker, der andere Vermesser. „Da müsste ich nachrechnen… Irgendwann war ich sogar mal verliebt und hätte mich fast verheiratet. Doch das ging dann auseinander. Ich bin wohl nicht so für das Zusammenleben mit anderen gemacht. War schon immer etwas anders. Viel draußen, viel unterwegs. Wie oft ging ich anstatt in die Schule, einfach spazieren. Ins Moor, in den Wald, in die Berge. Klar, dass das dann Prügel hagelte, wenn ich wieder auftauchte. Aber Prügel waren eh ein fester Bestandteil meiner Kindheit. Ich steckte mir Zeitungen in die Hosen und ließ sie kommen. Das war damals die Erziehung. Doch ich hatte meine Ideen, und die Prügel, anstatt sie auszutreiben, hämmerten sie nur noch tiefer in mich ein. Am Ende waren sie mir egal. Wie ein Preis für eine Freiheit, die nur ich hatte und niemand anders. Man schickte mich in eine Maurerlehre. Außer ein wenig Mauern lernte ich vor allem das Trinken! Aber ich hielt es nie lange wo aus. Ich kam ziemlich weit rum, einmal bis auf Frankreich. Ich kann sogar etwas Französisch! Meist immer mit dem Radel.“ Die Flasche war leer. „Wir müssen noch was tun, heute!“ meinte unser Chef. „Aber wir kommen morgen wieder. Wir haben ein paar Tage in der Ecke zu tun. Morgen bringen wir dir eine neue Flasche mit! Versprochen!“
Am Abend in der Pension, das gleiche Programm. Nur spielte unser Chef diesmal und die nächsten Abende mit dem Zahnarzt nicht nur um Forellen, sondern auch um Schnaps. Denn der besaß eine große Obstwiese, die er einem Bauern überlassen hatte, der ihn in Naturalien, bestem Obstler, zahlte. Am nächsten Tag richten wir es so ein, dass wir früher fertig sind und statten Joseph einen neuen Besuch ab. Der ist natürlich sehr erfreut, als er uns sieht, vor allem die Flasche. „Da, als Ersatz für das Heizmaterial, das wir dir gestern weggesoffen haben!“ „Ach, das ist nicht schlimm!“ meint er und winkt uns heran. Er zeigt uns ein Kabel mit einem Stecker daran. „Man muss mit seiner Zeit leben!“ meint er und wir sehen, das Kabel führt zu einer Heizdecke. „und wenn es noch kälter wird, habe ich eine Zusatzmethode, schaut mal her!“ Er legt sich auf seine fleckige Steppdecke, kramt zwei Bügeleisen irgendwo raus und stellt sie hochkant auf jeder Seite neben sich. „Ganz schön clever!“ müssen wir zugeben. Wir hatten vom Metzger noch ein paar belegte Semmeln übrig. Wir verteilen sie und spülen sie mit Schnaps hinunter. „Und was machst du das Jahr über?“ „Im Sommer haue ich hier ab. Da ist zu viel los auf dem Camping. Ich bin mehr für die Stille! Außerdem ist das dem Chef lieber, wegen der anderen Gäste. Die würden sich nicht wohlfühlen mit einem Penner als Nachbarn! Dann schnappe ich mein Fahrrad und fahre ins Schwäbische. Da wohne ich in einem Gartenhäusle und kümmere mich um den Garten des Besitzers, der weiter weg wohnt.“ „Und wovon lebst du? Ich meine, man braucht doch Geld und so…“ „Wenn ihr wüsstet, was alles weggeschmissen wird, heutzutage! Reden wir mal nicht von den Mülltonnen. Das sind oft Dreckdinger. Der Müll müsste getrennt werden, vor allem das Essbare extra! Wie viele Menschen könnten sich davon ernähren! Ich gehe lieber hinter die Supermärkte und schaue in die Container. Was da alles landet!“ Er wühlte in seiner Kiste und brachte ein Paket gekochten Schinken, ein paar verbeulte Dosen, verpacktes Vollkornbrot mit überschrittener Haltbarkeitsdauer. „Und dann lebe ich viel von Obst, Gemüse, man braucht sich nur richtig umzuschauen, alles ist da!“ „Und die Bullen, machen die nicht Ärger?“ „Ach, mit der Zeit kennen wir uns. Sie wissen, dass ich kein Räuber bin. Und wenn mal was rumliegt und ich es aus dem Weg schaffe, durch mich ist noch niemand zu Schaden gekommen!“ Die Flasche war leer. Unser Chef holte eine andere aus dem Kombi. Damit du eine warme Nacht hast! Bis morgen!“
Abends ging das Gespräch dann um Joseph. Der Zahnarzt verlor am Ende immer, selbst, wenn unser Chef ihm mal einen Sieg ließ. Er war zu gutgläubig. Er rechnete nicht damit, dass sein Gegenüber trickste. Aber es war ja für die Winterheizung des Clochards! „Eigentlich das ideale Leben,“ meinte Volker. „Du hast nichts, man kann dir also auch nichts nehmen. Du zahlst keine Steuern, keine Versicherungen…“ „Und wenn du mal den Arzt brauchst?“ „Da gibt es bestimmt eine Art Fürsorge, die sich dann um dich kümmert!“ „Was macht eigentlich einen armen Menschen aus? Der müsste doch völlig unzufrieden sein, wenn er sieht, was die anderen haben!“ „Vielleicht will er das alles gar nicht. Ist zufrieden mit dem, was er hat! Ich kenne viele Leute, die haben alles, und sind nicht zufrieden, sie wollen immer noch mehr!“ „Dann wäre Reichtum und Armut ja fast dasselbe. Es kommt nur auf den Menschen an, ob er zufrieden ist!“ „So einfach ist das Leben! Doch wo findet man Zufriedenheit? Wenn man die kaufen könnte, wären die Reichesten auch die Glücklichsten! Und alle Armen wären die Unglücklichen…“
Am nächsten Tag waren wir erneut bei Joseph. Wir stellten ihm die Frage nach dem Glück. „Dumme Frage! Glück ist wie Pech! Es kommt unerwartet. Du kannst es nicht zwingen!“ „Ja, aber glücklich sein und zugleich arm sein, wie kommt man dazu? Du jedenfalls schaust uns nicht unglücklich aus!“ Er kratzt sich am Kopf. „Ich habe nie reich sein wollen. Andere, die ich getroffen hatte, waren mal reich gewesen und sind dann durch einen Schicksalsschlag arm geworden. Sie litten darunter. Vielleicht, weil sie ein Leben in Überfluss gekannt hatten. Ich kannte es nie, ich verabscheute es eher. Aber wohl hauptsächlich, weil ihre Armut nicht gewollt war… Groß nachgedacht habe ich darüber eigentlich nie. Heute lebe ich, morgen vielleicht nicht mehr. Ab und zu mal einen schönen Rausch… Was soll ich mir große Fragen stellen? Das tut nur ihr! Klar, denke ich viel nach. Aber am liebsten bin ich draußen, schaue mir die Natur an, es ist doch alles da. Und wenn mal doch was fehlt, dann kümmere ich mich darum, nicht vorher…“
Am Ende der achten Woche fällt Schnee. Die Vermessungsarbeiten werden erst mal eingestellt. Ich hatte mir bei dem schlechten Wetter der letzten Tage eine Erkältung zugezogen, trotz des Obstlers, mit dem wir uns gehörig gewärmt hatten. Ich liege zuhause im Bett und lasse mich von Muttern pflegen. Mein Vater ist für ein paar Tage auf Kursus. Da höre ich es unten klingeln. Meine Mutter geht öffnen, dann kommt sie erschreckt hochgerannt. „Die Kriminalpolizei ist da! Was soll ich tun?“ Ich werfe mir etwas über, wickle einen Schal um den Hals und gehe nach unten. Da stehen zwei Typen, leiern mir irgendeinen Text runter. Ich verstehe nur das Ende: „5 Jahre Haft!“ Ich erkläre, ich sei bettlägerig, krank, kann nicht raus. „Gut, dann morgen sofort ein ärztliches Attest zur Zivildienststelle Kaufbeuren schicken, und, sobald wieder gesund, sofort auf dem Amt erscheinen!“ „Und keine Sperenzchen mehr! Abhauen ist unmöglich, die Berge sind zugeschneit, die Grenzen sind benachrichtigt!“ meint der andere, „also dann, bis bald!“
Uff! Das war knapp gewesen! Am nächsten Morgen gleich zum Arzt. Die Sprechstundenhilfe ist die Mutter eines Freundes. Ohne dass mich der Arzt sieht, unterschreibt er das Attest, welches mich deshalb auch nichts kostet. Ich bin für eine Woche reiseunfähig erklärt. Den Schrieb auf die Post, dann mit Ludwig die letzte Impfung abholen. Zufällig ist in einem Gasthaus eine Armeeklamotten-Versteigerung, wo Ludwig sich ein paar Fallschirmspringer-Stiefel kauft, ich ein paar ‚Knobelbecher‘. Wir sind bereit! Ein Kumpel vom Vermessungstrupp bringt uns abends mit dem Kombi bis oberhalb Gunzesried, bis die Karre im Schnee stecken bleibt. Es ist dunkel. Da wird uns niemand sehen. Die grüne Grenze ist jetzt weiß. Wir schultern unsere Rucksäcke und stapfen los.
Der Schneefall hat zum Glück aufgehört. Es klart sich auf. Das Funkeln der Sterne macht es uns leichter, die Richtung zu halten und kleine Hügel zu umgehen. Es scheint eine kalte Nacht zu werden. Wir stapfen durch den knietiefen Schnee. Ich sammle nicht schlecht Schnee in meinen Schuhen. Selbst Ludwigs Stiefel füllen sich langsam an. Unter ein paar Bäumen, wo weniger Schnee liebt, kramen wir unsere Gamaschen heraus und legen sie an. Zuerst müssen wir aber den Schnee, der einen kleinen Eisring gebildet hat, von den Socken rupfen. Die kleine Pause tut uns gut. Doch schnell wird uns kalt. Wir müssen in Bewegung bleiben. Ludwigs Stiefel haben nur eine glatte Ledersohle. Ist ja logisch. Wozu brauchen Fallschirmspringer Profilsohlen? Das bremst ja nur. Aber auch ich, mit meinen ‚Knobelbechern‘, die ein leichtes Profil haben, komme in Schwierigkeiten, wenn wir auf eine gefrorene Schneeplatte geraten. Unsere Bundeswehr muss eine Paradearmee sein. Nicht für einen Einsatz gedacht!
Die Sterne funkeln. Der Schnee gleißt in ihrem Licht. Wir scheinen mitten zwischen ihnen zu laufen! Dieses Funkeln der Myriaden Kristalle um uns! Als dunkele Silhouetten erheben sich neben uns die bewaldeten Berghänge. Pfrut, pfrut, pfrut begleitet uns das Geräusch unserer Schritte. Unser Atem geht heftig. Wir können ihn sehen. Wir kommen uns vor wie eine Dampfmaschine. Er bildet erst Tröpfchen in meinem Bart, dann eine raue Reifschicht, dann kleine Eiszapfen. Unser Atmen wird bald eins mit dem Rhythmus unserer Schritte. Wir steigen langsam in einem Hochtal bergan. Wir sprechen wenig. Wir wissen, vor Tageslicht müssen wir eine Hütte gefunden haben, um uns zu verstecken und auszuruhen. Noch sind wir warm. Nur nicht zu sehr ins Schwitzen kommen! Solange wir laufen, ist alles in Ordnung. Nur nicht anhalten, denn dann würde der Schweiß und das Wasser in den Schuhen gefrieren. Wir schreiten fast dieselbe Strecke ab, die ich vor etwas über zwei Monaten gegangen war, nur in umgekehrter Richtung. Damals war alles noch grün… „Wer aus dem Dorf hat mich hingehängt?“ spreche ich laut den Gedanken aus, der mir seit einer Weile im Kopf umgeht. „Das kann kein Zufall sein. Denn ich war lange genug nicht daheim gewesen.“ „Das kann nur jemand aus der Nachbarschaft gewesen sein! Der hat dich gesehen, ein Anruf, und schon sind sie da, die Schergen! Vergiss es! Schau lieber diese glitzernde Nacht an. Wenn man denkt, was all die versäumen, die gerade in ihren Federn liegen oder vor der Glotze hocken!“
Da hat er recht. Wir schweben schier zwischen den Sternen, kommen uns fast vor wie Sternschnuppen. Nur, dass langsam die Schuhe etwas anfangen zu scheuern. Die Nässe hat zwar das Leder ein wenig geschmeidiger gemacht, nur weicht diese zugleich die Haut auf. Doch solange man warme Füße hat… Wie weiße Sägen erheben sich die Tannen neben uns. Die Äste neigen sich tief unter den dicken Schneekissen. Auf ihnen funkelt es wie die erstarrten Blitze von hunderten Wunderkerzen. Nur die Rehe, bewegungslos unter den Bäumen verborgen, teilen diese Schönheit mit uns. Doch sie sind bestimmt weniger romantisch als wir veranlagt. Und für sie ist das normaler Alltag. Oder Allnacht. Sie müssen hier sein. Wir sind hier wegen einer verrückten Idee.
Das Waten durch den Schnee nimmt uns jetzt ganz schön mit. Der Rucksack zeigt sein wahres Gewicht und klebt uns auf dem Rücken. Langsam fühlen wir uns schlapp. Wir nähern uns unserer eigenen Grenze. Möchten uns am liebsten in den Schnee fallen lassen. Nur einen kleinen Augenblick Ruhe! „Hoffentlich finden wir bald eine Hütte!“ Hinter uns scheint sich ein grauer Schimmer zu zeigen. Oder ein leichtes Verblassen der Sterne. Irgendwie erscheint es kälter zu werden. Wir müssten die österreichische Grenze schon überschritten haben. Jetzt erst mal eine Almhütte! Vor uns nehmen wir eine Erhebung im Schnee wahr. Sie ist zu regelmäßig, um natürlich zu sein. Plötzlich erkennen wir, es ist ein tief unterm Schnee begrabenes Gebäude! Wir bleiben mit den Füssen in einem Zaun hängen, der unterm Schnee das Gebäude umgibt. Wir schaufeln uns mit den Händen an einer Stelle durch die Schneewechte durch, die vom Hüttendach bis zum Boden reicht und gelangen bald in einem fast schneefreien Streifen, der an der geschindelten Hüttenwand wie ein Tunnel entlangführt. Wir tasten uns mehr oder weniger daran entlang, um eine Öffnung ins Innere zu finden. Alle Läden sind gut verriegelt. Da ist die Tür. Doch die ist abgeschlossen. Meist ist der Schlüssel irgendwo versteckt. Wir tasten über dem Türrahmen. An den weit überstehenden Dachbalken. Nichts. Rechts von der Tür befindet sich ein mit einer Klappe versehener Durchschlupf für die Katze. Ich taste mit der Hand hinein. Und ziehe sie gleich mit dem gesuchten Schlüssel zurück. Höchste Zeit!
Uns steigt langsam die Kälte durch die Beine nach oben, und auch der Oberkörper, vorhin noch schweißnass, kühlt zusehends ab. Ein Zündholz leuchtet auf. Wir sind im Flur. Rechts die Tür führt zur Stube. Darin steht ein Küchenherd. Und weiter hinten im Flur liegt ein ganzer Haufen alter Schindeln. Massenweise! Die müssen das Hüttendach im Sommer neu gedeckt haben! Wir splittern mit dem Taschenmesser ein paar Späne von den Schindeln, schaben etwas Wachs von einer Kerze darüber, noch ein paar Schindeln darauf, und im Nu züngeln die Flammen, lecken hungrig am trockenen Lärchenholz. Es scheint ihnen zu schmecken. Sie knabbern daran, dann verschlingen sie es gierig und bestrahlen uns mit ihrer wohligen Wärme. Gegenseitig ziehen wir uns die langsam gefrierenden Kleidungsstücke vom Leib, drehen uns so nah wie möglich vor dem Herd. Dann schlüpfen wir in unsere trockenen Ersatzklamotten. In Strumpfsocken tanzen wir in der Stube herum und versuchen, uns warm zu hüpfen. Als wir mit einem Blechtopf vor der Tür Schnee schöpfen, um einen Tee zu kochen, merken wir, dass es Tag geworden ist. Schnell ein Blick aus dem Schneetunnel auf den Schornstein: man kann keinen Rauch erkennen! Wir können das Feuer also anlassen, um unsere Sachen zu trocknen.
Der Topf zischt auf der glühenden Herdplatte. Der außen anhaftende Schnee schmilzt und rinnt in Tropfen auf die Platte, worauf diese, wild tanzend, langsam verdampfen. Bald sitzen wir mit einer heißen Tasse Tee in den Händen und mit den Füssen auf dem Backrohrdeckel vor dem Hitze ausstrahlenden Herd. „Jetzt wäre eigentlich ein kleines Pfeifle angebracht!“ meint Ludwig. Mal schlürfen wir einen Schluck Tee aus der Tasse, mal schlürfen wir an der Pfeife. Wir hängen die Schuhe weit genug vom Ofen an Nägel unter der Decke, die wohl eigens für diesen Zweck vorgesehen waren. Wir kneten sie bisweilen durch, damit sie geschmeidig bleiben. Der Verkäufer hatte uns noch eine Tube Spezialcreme aufgedrückt, die bei nassem Leder aufgetragen werden soll. Das scheint hier der Fall zu sein! Unsere nassen Klamotten hängen wir über die Stuhllehnen und rücken diese nahe ans Feuer. Da können sie bis zum Abend in Ruhe ausdampfen! Noch einen großen Bottich voll Schnee auf die Platte und ein letztes Mal richtig eingeschürt. So haben wir bald eine Wärmereserve für den Tag und können das Feuer ausgehen lassen.
Es steht ein Kanapee in der Stube, ein einfaches Holzbüffet mit zwei Scheiben in den oberen Türen, wohinter ein paar Fotos mit Personen darauf stecken. In einer Ecke eine Eckbank mit einem weiß gescheuerten Tisch davor, darüber ein Kreuz mit Palmenzweigen dahintergesteckt. Sogar ein Weihwasserkesselchen hängt daneben, ausgetrocknet. Wir füllen es mit Schnee. Direkt vom Himmel. Alles ist aus Holz. Die dickbalkigen Wände, die getäfelte, niedrige Decke, der ausgetretene, weiß gescheuerte Fußboden. Nur unsere tropfenden Kleider haben dunkle Spuren darauf hinterlassen. Als uns endlich warm genug ist und wir gegessen haben, erkunden wir die Hütte. Nebenan eine Schlafstube, doch bitterkalt. Oben, unter dem niedrigen Dach, eine Art Matratzenlager, worin eine Menge Mäusedreck von den neuen Bewohnern zeugt. Am Ende des Ganges ein Plumpsklo, aus dem es kalt zu uns heraufstinkt. In der Mitte des Flures führt eine Tür in den Kuhstall. Es riecht nach trockenem Mist. Durch Ritzen in den Läden blinzelt vereinzeltes Tageslicht in den weitläufigen Raum. Wohl Platz für 40 Tiere. Kalt umstreicht uns der Atem des Raumes und bringt unsere Kerze zum Flackern. „Brrrr…, arschkalt! Schnell die Tür wieder zu und zurück in die warme Küche!“ Wir werden hier übertagen. Ein letztes Pfeifle, dann einer auf dem Sofa, der andere auf der Eckbank und „guten Tag“!
Am Spätnachmittag wachten wir auf. Wir krochen durch den Tunnel ins Tageslicht und setzten uns auf der Sonnenseite auf einen Zaun, der den Schnee überragte. Was für eine gleißende Pracht, soweit das Auge reichte! Eine Zauberwelt, das Reich der Schneekönigin! Wir konnten einige bekannte Berge in der Runde ausmachen. Aber dort hinten, die hohen, schroffen, die mussten in der Schweiz sein. Vor diesen, hinter denen sich die Sonne anschickte, bald unterzugehen, eine wattige, in der Ferne mit dem Horizont eins werdende Nebeldecke. Darunter musste der Bodensee seinen Winterschlaf halten. Unser Blick streifte über die nähere Umgebung. Wir mussten eine ungefähre Reiseroute ausfindig machen, auf der wir in der Nacht weitergehen würden. Klein sahen wir, ungefähr in gleicher Höhe wie hier, eine Almhütte. Bis dahin müssten wir es schaffen. Ab da würde es dann bergab gehen, nunter auf Hittisau. Eher etwas links von der Talsohle halten, prägten wir uns ein.
Wir besprechen die letzte Nacht. Am meisten hatte uns mitgenommen, dass wir bei jedem Schritt tief in den Schnee eingesunken waren. Wir bräuchten so etwas wie Schneeschuhe! Wir stapfen an der dem Wind zugewandten Seite um die Hütte und tauchen auf der Rückseite erneut unter den vom überhängenden Dach gebildeten Schneetunnel. Dort stehen reihenweise neue Lärchenschindeln an die Wand gelehnt. Das ist die Lösung! Wir suchen jeder zwei schöne breite heraus und halten sie unter die Schuhe. Das muss gehen! Aber wie befestigen? Beim Zurückwaten bleiben wir wieder an dem Zaun unterm Schnee hängen. „Heureka!“ Wir ziehen den Draht an die Oberfläche und knicken 4 rund 1 Meter 50 lange Stücke ab. Diese fest um die Schindeln gewickelt, dann um die Knöchel, dann, gekreuzt, etwas weiter vorne nochmals um die Schindeln, erneut über den Schuh, zugedreht, perfekt! Halb Ski, halb Schneeschuh!
Wir fachen das Feuer wieder an. Um diese Zeit ist weder Wanderer noch Zöllner unterwegs. Und das Zollflugzeug fliegt nur mittwochs durch dieses Tal, soviel wussten wir. Und das war gestern gewesen. Nach einer kurzen Stärkung geht es los. Die schweizer Berge ragen hoch in den kalten Himmel. Dahinter liegt noch lang ein heller Schein. An diesem orientieren wir uns für eine Weile. Wir steigen noch eine Weile leicht bergan. Uns scheint, dass weiter oben weniger Schnee liegt als in der Talsohle. Vielleicht hat ihn der Wind hier etwas weggeblasen. Oder liegt das an unseren Schneeschuhen, die sich gut bewähren? Nach ein paar Nachbesserungen an der Befestigung sind sie perfekt. An ein paar Stellen hat die Sonne den Schnee etwas sozig gemacht. Da ist kein sehr einfaches Laufen, weil der Schnee unter den Schindeln kleben bleibt. Aber nach Mitternacht ist alles so gefroren, dass er trägt. Leise knirscht die Schneedecke unter jedem Schritt. Wir haben zwei Flaschen heißen Tee dabei. Dazu ein paar Kekse in den Taschen. Da braucht man den Rucksack nicht jedes Mal aufzumachen. Die Nacht ist so dunkel wie die vorige. Die winzige Mondsichel hat sich schon schlafen gelegt. Doch die Sterne geben uns genügend Licht. Manchmal scheint es aus dem Schnee selber zu kommen.
Inzwischen haben wir uns an den etwas breiteren Gang, bedingt durch die Schneeschuhe, gewöhnt. Auch an die kurzen Schritte, sind doch die Schindeln fest unter der Schuhsohle angebracht, nicht beweglich, wie Langlaufski. Heute haben wir Zeit. Wir laufen gewissermaßen auf einer Höhenlinie des Bergrückens. Bisweilen halten wir an und tauschen unsere Gedanken aus, die diese Nacht uns eingibt. Einmal verliert Ludwig eine Schindel. Er merkt das erst, als er beim nächsten Schritt voll einsinkt. Ein Draht war von den Bewegungen gebrochen. Mitten in einem der Schweizer Berge ist ein Licht angegangen und brennt fast während der ganzen Nacht. Ist dort eine Skihütte und hat jemand vergessen, das Hoflicht auszumachen? Oder haben sie es angemacht, um verirrte Gäste zu leiten? Uns hilft es jedenfalls enorm, die Richtung zu halten! Und dann plötzlich ist es aus. Der Hüttenzauber ist zuende.
Unsere Füße fangen an zu schmerzen. Die wunden Stellen hatten wir vorsichtshalber mit Pflastern überklebt. Es war ein Fehler gewesen, mit nicht eigelaufenen Schuhen loszugehen, und dazu noch mit gebrauchten. Irgendwie kommen wir auf den Film ‚Soweit die Füße tragen‘ zu sprechen. Ist ja auch naheliegend! Dort ziehen Gefangene durch den Schnee auf dem weiten Weg nach Sibirien, in die Gefangenschaft. Unser Weg ist viel kürzer und auf uns wartet die Freiheit! Gegen Ende wären wir aber froh, an der Hütte zu sein. Sind wir an ihr vorbeigelaufen? Doch dann bemerken wir etwas Langes, Weißes, so 50 Meter unterhalb. Das ist sie! Wir gleiten hinab und machen die letzten Meter wie eine Lawine im Schnee, da vor lauter Eile unsere Schindeln eingespitzt sind. Lachend klopfen wir uns den Schnee ab. Wir gehen um die Hütte herum. Kein Katzenloch. Kein versteckter Schlüssel. Oder zu gut versteckt! Wir wollen nichts aufbrechen. Alles heil lassen. Ich klettere über den schneebedeckten Misthaufen nach oben und zwänge mich durch den, zum Glück, geleerten Mistkanal in den Kuhstall. Im Schein der Taschenlampe stapfe ich über den verkrusteten Holzboden zur Stalltür. Ich mache sie auf. Ludwig schlupft zu mir ins Dunkel. Nicht sehr luxuriös. Wenn nur was Heu rumliegen täte! Wenigstens sind wir drinnen. Dann suchen wir die Tür zum Wohnteil. Auch diese ist zu. Mit der Taschenlampe sehen wir durch den Türschlitz, dass diese durch eine Art drehbaren Riegel blockiert ist. Mit dem Taschenmesser gelingt es uns, diesen anzuheben, und schon stehen wir im Flur.
Diese Hütte ist etwas grösser als die vorige, aber nach dem gleichen Schema gebaut. Zum Glück liegt im Flur noch genügend Feuerholz, und mit etwas trockenem Mist, anstelle von Kleinholz, gelingt es uns, etwas Wärme in die Stube zu bringen. Wir sind weniger nass als am Vortag, ziehen uns aber trotzdem um und hängen alles zum Trocknen. Wir sind ganz schön erledigt. Dann folgt dasselbe Ritual wie am Morgen zuvor.
Am nächsten Abend brechen wir später auf. Wir lassen erst mal den Schnee gefrieren. Das spart Kraft und Zeit. Wir hatten die weitere Strecke gut von hier oben überblicken können. Was uns nicht gefiel, waren die dunklen Wolken, die sich hinterm Bodensee und den Schweizer Bergen auftürmten… Wir sind am höchsten Punkt angelangt. Noch etwas geradeaus weiter, dann rechts rüber, wo wir die Höfele Alpe erkennen konnten. Dort hatte ich, vor nicht zu langer Zeit, auf meinem Rückweg mit meinen neuen österreichischen Freunden ein letztes Gläsle Roten getrunken. Von hier aus führt, deutlich sichtbar unterm Schnee, das Band der Straße zu Tal. Nach zwei Stunden sind wir da. Hier unten liegt der Schnee weniger hoch und nach ein paar Kilometern können wir unsere Schindeln von den Schuhen abnehmen. Wir stellen sie hinter die kleine Kapelle, die uns am Wegrand begrüßt. Sie ist nicht verschlossen. Wir setzen uns hinein, verschnaufen und danken für die geglückte Flucht. Dann folgen wir wieder dem Weg. Als wir die Feuerstelle passieren, wo damals die Österreicher gelagert hatten, nehmen wir uns die Zeit zu einem Pfeifchen und ich erzähle die Story von ‚Oh Mann!‘ Bald sind wir am Mauthäuschen. Bis hierher war jemand mit einem Motorschlitten gefahren. Jetzt ist das Gehen einfach. Die ersten Häuser tauchen wie Schemen auf, wir laufen an der Käserei vorbei, lassen bald das Gasthaus ‚Zum Hecht‘ rechts liegen. Als es hell wird sind wir schon durch Hittisau durch und setzen uns erst mal eine Weile in einem Bushäuschen hin. Ein Winterdienst- Fahrzeug blinkt vorbei und bestreut uns leicht mit Salz.
Es ist Tag, aber es will nicht so recht hell werden. Wie ein Vorhang nähert sich ein Schneeschauer. Wir halten die Daumen raus, wenn wir die Lichter eines sich nähernden Autos sehen. Niemand beachtet uns. Ein Schulbus hält an. Er fährt ohne uns weiter. Dann kommt ein alter VW Bus und hält auch prompt. Ein junges Pärchen darin, das davon träumt, so eine Reise wie wir zu machen. Deshalb haben sie sich die alte Kiste gekauft. Der Schnee geht in Regen über. Sie lassen uns in Dornbirn raus. Wir laufen zu der Wohnung der Dornbirner Freunde. Ich wusste, dass sie gestern nach Südtirol hatten aufbrechen wollen. Vielleicht hatten sie sich verspätet. Aber niemand da. Wir laufen durch den Ort bis auf die andere Seite. Der Regen dringt langsam in untere Lagen unserer Kleidung ein. Das scheinen auch die Autofahrer zu denken. Solche triefenden Schwämme wie wir will niemand in sein Auto nehmen!
Nicht weit von der Straße sehen wir, mitten in einer Obstwiese, ein Bienenhaus. Wir stapfen durch die Schneereste und die unter jedem Schritt gurgelnde, aufgeweichte Wiese dorthin. Wir binden einen unserer Ponchos an der Rückwand an, den anderen legen wir auf den Boden und setzen uns darunter. Langsam wird uns kalt. Der einzige trockene Ort ist unser Schlafsack. Wir helfen einander, die nassen Klamotten vom Körper zu reißen, und bibbernd kriechen wir hinein. Diesmal kommen wir uns vor wie 14/18 in den Schützengräben. Zum Glück haben wir israelische Daunenschlafsäcke mit einer wasserdichten Segeltuchhülle außen rum. Vielleicht hatte man sie dort aussortiert, weil sie zu warm waren. Uns jedenfalls waren sie gerade recht. Als uns einigermaßen warm war, stellten wir unseren einzigen Topf unter die Traufe und warfen, immer noch halb im Schlafsack, den Benzinkocher an. Die erste Füllung gab einen heißen Tee, die zweite eine Nudelsuppe. Das und ein dicker Joint brachten unsere Lebensgeister zurück und auch genügend Zuversicht. Dann lagen wir, fast schon wie gewohnt, den ganzen Nachmittag im Schlafsack, während neben uns der Regen niederging, und die Obstwiese immer mehr dem nicht weit entfernten Bodensee ähnlich wurde. Was waren wir froh, jetzt nicht mehr da oben in den Bergen zu sein! Zum Glück war das Dach des Bienenhauses breit genug, um uns genügend Schutz zu gewähren. Heute und am nächsten Tag machten wir es wie die Bienen: Winterstarre mit gelegentlichem Nagen an unseren Vorräten. Durch den von der Traufe rinnenden Wasserfall schauten auf den dahinter niedergehenden Regen. Wir fanden, dass dieses eigentlich eine sehr gute Meditationsmethode sei. Auf jeden Fall für diejenigen, denen die Wüste zu trocken war. Am Nachmittag kam noch ein Nebel dazu, so dass es jetzt Wasser in allen Seinszuständen gab.
Die Nacht war lang gewesen. Das Wasser reichte uns nun schon fast bis zu den Füssen. Die Obstbäume standen auf kleinen Inselchen, unsere Schlafsäcke waren klamm. Uns fröstelte leicht. Wir überlegten, ob die wasserdichte Umhüllung der Schlafsäcke dicht genug wäre, um auf dem Wasser zu schwimmen, wenn der Regen nicht nachlassen sollte. Das wäre doch was für den Soldaten des zukünftigen Friedenszeitalters: der Kanu-Schlafsack, anstatt des Mumien-Schlafsackes…
Doch ehe wir das testen konnten, hatten wir uns entschieden: nix wie weg! Schnell in das geschlüpft, was noch einigermaßen trocken war, den Rest in den Rucksack gestopft. Das Längste war das Schuhe anziehen. Die feuchten Socken weigerten sich, in die nassen Stiefel zu schlüpfen. Dann jeder einen Poncho über den Kopf und in langen Sprüngen durch das spritzende Wasser zur Straßenerhöhung. Bei den Bienen hatten wir genügend Zeit gehabt, unsere Finanzen durchzugehen. Wir würden den Zug nehmen. Erst mal bis Innsbruck. Da würde das Wetter bestimmt besser sein!
Bald saßen wir in einem warmen Abteil. Nach und nach befreiten wir uns von unseren Kleidungsstücken. Wir hängten alles über die Sitzlehnen, die Gepäcknetze, Kleiderhaken. Am längsten brauchten wir, um unsere Schuhe von den Füssen zu bekommen. Als wir das endlich geschafft hatten, beschlugen die Scheiben. Selbst der Kontrolleur zog sich schnellstens wieder zurück. Als wir in Innsbruck ankamen, war alles getrocknet, bis auf die Schuhe. Und wir waren auf Normaltemperatur. Doch wie sah es hier aus! Derselbe Regen wie am Bodensee, nur etwas dicker, flockenartig. Das veranlasste uns, einen anderen Zug zu nehmen, der zum Gardasee fuhr, via Bozen oder Bolzano. Hier stülpten wir unsere Stiefel auf das Gitter der auf volle Pulle gestellten Heizung. Vielleicht war das der Grund, warum die Zöllner ihre Kontrolle auf ein Minimum beschränkten! Als wir in Bozen ausstiegen, waren unsere Schuhe zwar noch nicht völlig trocken, dafür aber wohlig warm wie Wärmflaschen.
Der Regen hatte sich verausgabt. Ein paar Wolken streiften als Nebelschwaden durch das Tal. Wichen diese ein wenig zurück, erblickten wir die majestätischen Berge, frisch mit einem Neuschneemantel bekleidet. Bald liefen wir an der sich durch die bunten, meist schon abgeernteten Weinberge windenden Landstraße, nach Süden. Mauern säumten die Straße oder hielten Terrassen zusammen, auf denen sich knorrige Weinstöcke aus der feuchten Erde erhoben, von Spalierdrähten geleitet und zu einer Art Laubendach zusammengeführt. Vereinzelte, vergessene Trauben leuchteten inmitten der letzten bunten Blätter. Wir konnten nicht anders, wir mussten hinaufklettern und sie pflücken! Das war konzentrierter Sommer, mit einer Spur von Wehmut, Herbst! Der feuchte Boden roch nach fermentierenden Blättern, Hagebutten reckten sich auf den manchmal etwas verwahrlosten Mäuerchen in den jetzt blauen Himmel. Gelbe Grasbüschel, ein paar von den Vögeln vergessene, übersüße Brombeeren. Manchmal verließen wir die Straße – was sollten wir auch auf dieser, es hielt eh niemand - und liefen auf den schmalen, grasigen Wegen in den Weinbergen. Wir hatten Hunger, und nach den letzten Regentagen waren wir wild auf die konzentrierte Sonne in den Früchten. Dann wieder kilometerweit auf dem Teer, ab und zu den Daumen raushaltend oder eine ganze Traube. War das Italien, das Paradies der Autostopper? Nein! Das war Südtirol, bis 1919 noch Österreich.
Wir durchliefen große und kleine Dörfer, sahen abgelegene Weingüter, alles schick hergerichtet für die deutschen Sommerfrischler, die hier ihre zweite Heimat gefunden hatten. Vorbei an imposanten Weinkeltereien, durch deren riesige Portale immer noch Fuhrwerke ihre unermessliche Traubenflut anlieferten. Meist mit schmalspurige Traktoren, mit mehreren vollbeladenen Anhängern hinten dran, kleine Einachsschlepper, manchmal auch ein Ochsengespann. Die Menschen, meist etwas klein, eine blaue Schürze über ihrer einfachen Kleidung, regten sich überall auf den Hängen, von denen der letzte Nebel aufstieg. Dann brach voll die Sonne durch und das ganze Land loderte in den buntesten Farben. Bis auf die Berggipfel. Diese glänzten silbern vor Neid!
Je höher wir stiegen, umso mehr erweiterte sich der Blick. Unten, im flachen Talgrund, erstreckten sich grau immense Obstplantagen, in weiten Rechtecken oder Streifen angeordnet. Deren Bäume waren schon alle kahl. Dazwischen lagen, selbst von hier oben aus gesehen, riesige Lagerhallen. Manchmal auch Fabrikhallen, den umliegenden Parkplätzen nach zu schließen. Eine andere Welt. - Schaute man nach oben, erblickte man burgartige, weiß gestrichene Gehöfte. Spitze Kirchtürme, manchmal mit bunten Ziegeln auf den Dächern, berührten sanft den Himmel, dazwischen kleine Dörfer, von einer hohen Mauer zusammengehalten.
Keiner nahm uns mit. Bald verschwand die Sonne hinter den hohen, schroffen Bergen und tauchte den Talgrund in graues Dämmerlicht, während der gegenüberliegende Hang in leuchtendes Alpenglühen getaucht wurde. Tiroler Land, wie bist du schön, so schön… Die ersten Häuser von Girlan tauchten vor uns auf. Wir waren ziemlich geschafft. Die schweren Rucksäcke, 10 Kilometer Fußmarsch, wenn nicht 15. Unsere Schuhe waren inzwischen trocken und schmiegten sich weich um unsere Füße, ohne mehr zu drücken… Unsere Schritte hallten in den kopfsteingepflasterten Gassen, vereinzelt bellte ein Hund und schnupperte hinter uns her. Unsere Freunde hatten sich im „Weißen Rössel“ einquartiert, einer burgartigen Herberge, deren hoher Torbogen sich bald vor uns auftat. Wir durchschritten das Tor und gelangten in einen großen, zum Teil gepflasterten Hof. Gegenüber erhob sich ein weiteres Gebäude. In den Winkeln hinter den Häusern hatte sich buntes Laub angehäuft, vom Wind zusammengeweht. Wir wateten rascheln durch einen Laubhaufen, stiegen in die Gaststube hoch. Rauch von Zigarillos schlug uns entgegen, und lautes Stimmengewirr. Als man uns bemerkte verstummte einen Augenblick alle Unterhaltung und aller Blicke richteten sich auf uns. Doch dann widmete man sich wieder dem Kartenspiel und anderen lebensnotwendigen Dingen, wie Trinken. Dicke, geschwärzte Balken, mehrfach hundertjährig, trugen die getäfelte Decke. Die Durchgänge waren als Bögen ausgebaut, die Mauern unglaublich dick, einer der Säle besaß sogar ein Gewölbe. Die junge Wirtin kam auf uns zu. Ihr Blick hellte sich auf, als wir nach unseren Freunden fragten. Sie führte uns zurück in den Hof und deutete auf das große Gebäude, wohl eine alte Stallung, umgeben von Esskastanienbäumen, wohinter die Boccia-Bahn liegen sollte. Dort schoben unsere Freunde um diese Zeit eine ruhige Kugel…