Читать книгу Windbruch - Wolfgang Breuer - Страница 5
Donnerstag, 18. Januar
ОглавлениеWieder so eine knallharte Sturmbö, die das ganze Haus erzittern ließ. Das seit Tagen angekündigte Orkantief ‚Friederike‘ hatte mit ungebremster Kraft nun auch Wittgenstein erreicht. Ronja Körner jagte es einen Schauer nach dem anderen über ihre blasse Haut.
Seit Stunden ein Dauerzustand bei ihr. Schon, als sie noch im Bett lag. Nur jetzt schien der Orkan derart an Stärke gewonnen zu haben, dass er dazu geeignet war, sie in ein Ganzkörper-Kondom aus Gänsehaut zu hüllen. Und das ihr, der gebürtigen Ostfriesin.
In ihrem Geburtsort Norddeich, glaubte sie sich zu erinnern, konnten Stürme nicht so garstig sein. Aber wer weiß, vielleicht lag das lediglich daran, dass man dort gewohnt war, die passenden Häuser als Schutz gegen solche Unbilden der Natur zu bauen. Und dass es deshalb drinnen nicht so wummerte, wenn die Böen versuchten, einst mühsam errichtete Gebäude zu zerlegen.
Ronja übte sich in Sarkasmus, als ihre Freundin Mina Nölke anrief und sich nach ihrem Wohlbefinden erkundigte. Während sie vom Bad runter ins Wohngeschoss lief, war ihr nämlich ein alter friesischer Bauernwitz eingefallen. Danach hatte Fiete seinen Nachbarn Hein nach einem Unwetter gefragt: „Na, hat der Sturm Dein Scheunendach auch kaputt gemacht?“ Darauf hatte Hein geantwortet: „Weiß nich´, hab´s noch nich´ wiedergefunden.“
Mina schüttelte sich vor Lachen und meinte: „Dann kann´s Dir ja so schlecht nicht gehen. Kommst Du heute Nachmittag zum Dienst?“
„Da bin ich mir noch nicht so sicher. Ich warte lieber erstmal ab, wie sich das weiterentwickelt. Ich bin gestern schon vorsichtshalber mit dem Bus gefahren. Weil ich kein Risiko bei dem angekündigten Sturm eingehen …“ ‚Wumm‘! Ein ohrenbetäubender Knall unterbrach die Unterhaltung. Kurz darauf hörte man ein rollendes Scheppern. Ronjas Gänsehaut bohrte sich in die Maschen ihres dicken Strickpullovers.
„Lieber Himmel. War das etwa bei Dir?“, kam die erschreckte Frage der Freundin aus dem Hörer.
„J… ja. Das war draußen, hier direkt am Haus. I… ich schau mal nach, was das war.“ Vorsichtig lugte Ronja aus dem Küchenfenster. Aber sie sah dort nichts Außergewöhnliches. Zwar wirbelten überall Äste, Zweige und jede Menge Unrat herum. Aber nichts, was diesen Höllenkrach hätte verursachen können.
Aber sie wollte unbedingt wissen, was da abging. Denn das dröhnende Scheppern kam bedrohlich näher.
Doch dann war plötzlich Stille. Kein Laut war mehr zu hören. Als habe der Sturm eine Atempause eingelegt. Es war absolut windstill. Das konnte sie vom ihrem Fensterplatz aus sehen. Selbst die Fichten unten an der Straße, deren Spitzen sich vorhin noch bedrohlich in Richtung Boden gebogen hatten, standen, als sei nichts geschehen.
„Hey, was is´n los?“, rief´s von Minas Seite aus dem Telefon. „Haaallooo…!“ Aber Ronja hatte jetzt nur noch ein Ziel: So schnell wie möglich raus auf den Balkon und nachsehen, was da so unglaublich laut geknallt hatte. Das Mobilteil ihres Telefons hielt sie in der Linken, mit der Rechten öffnete sie die Balkontür.
Sie konnte später selbst nicht beschreiben, was sich Sekundenbruchteile später abgespielt hatte. Jedenfalls lag Ronja, als Feuerwehr und Rettungsdienst nach Freisägen des Weges zu ihrem Haus gefunden hatten, bewusstlos im Wohnzimmer.
Die Balkontür war nur noch ein Loch. Ein Flügel lag mit zerborstener Scheibe im Haus, der andere wackelte, an einer Angel hängend, im Sturm hin und her. Im Haus herrschte das Chaos.
„Scheiß offene Bauweise!“, hatte der erste Feuerwehrmann lauthals geschimpft, als er per Leiter über den Balkon gekommen war und die Hausherrin mit leichten Ohrfeigen ins Hier und Jetzt zurückgeholt hatte. „Hätten Sie Türen zwischen den einzelnen Räumen, wäre hier nicht alles durcheinander geflogen“, versicherte er ihr, während er Ronja vom Fußboden aufhalf.
‚Ein echter Menschenfreund‘, dachte sich der Rettungssanitäter, der sich der jungen Frau kurz nach der handfesten Erweckung angenommen hatte. Denn die Belehrungen des Floriansjüngers nahmen kein Ende.
Ronjas Benommenheit wich langsam. Und es griff die entsetzte Erkenntnis Platz, dass der Neubau drinnen dem Vorhof einer Müllhalde alle Ehre gemacht hätte.
„Guck mal, ob die Jalousie noch funktioniert. Falls ja, lass´ sie bitte runter!“, brüllte der Sani dem Feuerwehrmann gegen den wieder aufkommenden Sturm zu. „Und die anderen gleich mit. Wer weiß, was heute noch alles durch die Gegend fliegt.“
Dem Sturm trotzend fuhren die elektrischen Rollläden kurz darauf nach unten. So wurde es leiser im Haus. Aber keineswegs schöner. Die Deckenlampen flammten auf, als es drinnen dunkler wurde. Hatte ein findiger Elektriker erdacht und bei den befreundeten Körners zum Selbstkostenpreis installiert. Das war aber auch so ziemlich alles, was, außer der Küchenzeile, ohne Läsionen geblieben war.
„Lieber Gott. Wie soll ich das alles wieder in Ordnung bringen?“, redete die Hausherrin noch ein wenig benommen vor sich hin. Das war doch alles neu hier.“
„Ich bitte Sie, Frau Körner“, schaltete sich der Rettungssanitäter ein, der gerade ihren Blutdruck messen wollte, „seien Sie froh, dass Sie das hier überlebt haben. Ziemlich unbeschadet sogar, wie mir scheint. Haben Sie Kopfschmerzen?“
Unweigerlich griff sich seine Patientin an den Hinterkopf. „Ja, Kopfschmerzen und ´ne Beule“, rieb sie sich die malträtierte Stelle. „Erst am zweiten Adventswochenende waren wir mit dem Umzug fertig. Und jetzt ist alles in Trümmern. Wie soll ich das bloß Leon erklären? Der wird wahnsinnig.“
„Leon ist Ihr Mann?“
„Ja. Und er ist auf Geschäftsreise seit gestern. Erst Potsdam, dann Luckenwalde, glaube ich.“
„Kenn´ ich, liegt in Brandenburg. Schön da“, machte der Mann vom Rettungsdienst Konversation.
„Ja. Er baut dort einen großen Industriekomplex. Mein Mann ist Ingenieur. Er hat sich auf solche Projekte spezialisiert.“ Sie schüttelte sich, als wäre sie von einem plötzlichen Fieber überfallen worden. „Oh Gott, wenn er von diesem Desaster hier erfährt. Wo ist denn überhaupt mein Handy?“, wurde Ronja plötzlich unruhig.
„Das ist doch jetzt nicht so wichtig. Ruhen Sie sich besser noch einen Moment aus“, riet der Mann in der rot-weißen Kluft, während er einen Sessel wieder auf die Beine stellte und Frau Körner als Sitzgelegenheit anbot.
Mina Nölke hatte am Rad gedreht, seit Ronja nicht mehr antwortete. Sie hatte nur noch einen ohrenbetäubenden Lärm am anderen Ende der Leitung gehört und danach das beständige Jaulen und Orgeln des Sturms. Nahezu deckungsgleich mit den Geräuschen, die ‚Friederike’ um ihr Haus herum produzierte. Ein renoviertes altes Bauernhaus in Hanglage.
Zwei Minuten lang hatte Mina versucht, Lebenszeichen von Ronja in dem Getöse auf der anderen Seite auszumachen. Dann hatte sie ihr Handy genommen und 112 gewählt. Denn die Sorge um ihre Freundin wuchs Sekunde um Sekunde. Nervenzehrende drei Minuten hatte sie warten müssen, ehe sich endlich die Rettungsleitstelle meldete. Was Wunder bei diesem Unwetter. Der gesamte Landkreis schien im Orkan-Chaos zu versinken. Wieder einmal. Schon der Sturm „Burglind“ hatte zwei Wochen zuvor ordentlich die Fetzen fliegen lassen. Aber das hier erinnerte sie eher an ‚Kyrill’, auf den Tag genau vor elf Jahren.
Schnell hatte Mina dem Mann in der Rettungsleitstelle geschildert, was sich während ihres Telefonats abgespielt hatte und dass bei Ronja seither Funkstille herrsche. Der Leitstellenmensch versprach, so schnell wie möglich Feuerwehr und Rettung loszuschicken.
Nachdem es ihr partout nicht mehr gelang, neuerlich Kontakt zu Ronja zu bekommen, hielt es Mina keine Minute länger im Haus. Sie musste nach der Freundin schauen. Daran ging kein Weg vorbei.
Doch als sie, eingemummelt in winterfeste Klamotten, vors Haus trat, wurde sie von einer Sturmbö fast umgehauen. Mit Urgewalt pustete ihr ‚Friederike’ derart hart ins Gesicht, dass sie glaubte, keine Luft mehr zu bekommen.
Aber Wittgensteiner Frauen lassen sich nicht so schnell entmutigen. Und Mina war eine Wittgensteinerin. Und zwar eine recht ansehnliche Ausgabe dieser Spezies. Groß, schlank, mittelblondes schulterlanges Haar, das ihr hübsches Gesicht, wenn nicht gerade Sturm war, leicht umspielte. Immer sportlich-elegant gekleidet, fiel sie positiv auf. Nicht nur in ihrem Heimatort Diedenshausen.
Vor zwei Jahren hatte die resolute 32-Jährige ihren Mann aus dem Tempel gejagt. Weil dieser Arsch es einfach nicht schaffte, die Finger von anderen Vertreterinnen ihres Geschlechts zu lassen.
Das Fass zum Überlaufen gebracht hatte eine ultimative Forderung der zehn Jahre jüngeren Kiara-Marie aus Raumland. Eine sehr schlanke Frau, die dem untreuen Maler-Gatten einerseits splitternackt Modell gesessen, später aber auch mit ihm im Bett gelegen hatte. Mina solle ihren Mann freigeben, hatte sie gesagt. Sie liebe ihn wenigstens und bekomme schließlich auch ein Kind von ihm.
Für Mina die Initialzündung zur Totalveränderung ihrer Verhältnisse. Sie machte einen ‚Knopf’ an die Sache und schmiss Karl-Georg noch am selben Tag achtkantig raus.
Für den selbsternannten Künstler eine fatale Situation. Denn zum einen war er tief enttäuscht von der ‚wenig toleranten Reaktion‘ seiner Frau, wie er sich ausdrückte. Zum anderen aber hatte er schon seit Jahren weitgehend von ihrem Verdienst als Hebamme gelebt. Weil sich seine surrealistischen Gemälde saumäßig schlecht verkauften. Joan Miró und Salvador Dali waren halt doch andere Kaliber.
Trotzdem: Karl-Georg Willert, Künstlername ‚George Villere’, dachte nicht mal im Traum daran, wieder in seinen erlernten Beruf als Werkzeugmechaniker zurückzukehren. Obwohl er sehr lukrative Angebote hatte. „Zu nieder für mich“ hatte er nur abfällig gemeint.
Wovon er jetzt lebte, nach vollzogener Scheidung, davon hatte Mina keine Ahnung. Juckte sie auch nicht. Auf alle Fälle müsste es knapp bei ihm zugehen. Denn noch studierte seine neue Muse. Und das gemeinsame Baby wollte schließlich auch versorgt und ‚gepampert’ sein. Vom reinen Glauben an ihren grandiosen Lover würde die junge Mutter das kleine Würmelein jedenfalls nicht satt bekommen. Hochmut kommt halt vor dem Fall.
Seltsam, dass Mina ausgerechnet jetzt, wo sie in diesem wahnsinnigen Sturm stand, wieder an ihn denken musste. Aber das lag womöglich daran, dass ihr Verflossener während des Orkans Kyrill in einer abenteuerlichen Aktion Wellblechplatten neben dem Haus gesichert hatte. Um zu vermeiden, dass sie als messerscharfe Mordinstrumente durch die Gegend fliegen. Die Willerts hatten mit den Blechen einen Kaminholzstapel provisorisch abgedeckt.
Mittlerweile hatte das Holz ein komfortables, stabiles Dach am Rande des Carports. Und in dem war Minas A-Klasse geparkt. Könnte sie es wagen, bei diesem Wahnsinns-Sauwetter ihr Haus sich selbst zu überlassen? ‚Ach komm‘, dachte sie, ‚die Hütte hat Kyrill unbeschadet überstanden. Die Nummer hier wird sie auch noch packen.‘
Außerdem war sie sich sicher, dass es ohnehin besser wäre, nicht im Haus zu sein, wenn es gerade von einem Orkan zerlegt werden würde. Aber das würde hier nicht passieren. ‚Außerdem ist alles bestens versichert. Mach' dir keine Sorgen‘, redete Mina sich ein.
Als sie in ihren kleinen Daimler steigen wollte, hatte sie große Mühe, die Türe zu öffnen. Schließlich gelang es ihr, sie gegen den Winddruck so lange aufzuhalten, bis sie auch ihre Beine im Wagen hatte. „Rums“, die Tür knallte zu.
Dann allerdings hatte sie den Eindruck, ihr Gefährt solle einem neuerlichen ‚Elchtest’ unterzogen werden. Denn als sie die A-Klasse rückwärts aus dem Carport herausfuhr und quer gegen die Orkanrichtung stellte, bockte und hüpfte sie wie ein Pferd beim Rodeo. „Auweia, hoffentlich geht das gut“, hörte sie sich selbst laut reden. Aber an Aufgeben war nicht zu denken.
Langsam steuerte sie ihr Auto zum Hellersbacher Weg herunter und schaute in der nächsten Kurve noch einmal hinauf zum Haus. Sie hatte sämtliche Rollläden heruntergelassen. ‚Alles in Ordnung’ machte sie sich Mut.
Dann ging´s abwärts in Richtung Dorf. Hätte sie der Sturm von der Straße gedrückt, wäre sie allenfalls in einer ansteigenden Böschung gelandet. So fühlte sie sich sicher. Doch als sie halb im Tal in Richtung Berleburg einbiegen wollte, blinkten sie fünf grellrote Lampen auf einem Sperrzaun an. „Mist, verdammter!“, brüllte Mina wenig damenhaft. „Das kann ja heiter werden.“
Am Winterscheid in Berghausen hatte sich eine Art Hilfstrupp eingefunden. Dorothee und Holger Saßmannshausen von nebenan waren als Erste gekommen, um nachzusehen, wie man Ronja am besten helfen könnte.
Sie hatten von ihrem Küchenfenster aus die im Sturm hin und her schlagende Balkontür und eine Riesenwunde im Garagentor sehen können und sich furchtbare Sorgen um die neue Nachbarin gemacht. Und dann waren auch noch Feuerwehr und Rettungsdienst aufgetaucht.
Jetzt waren sie tatkräftig dabei, die untere Etage aufzuräumen und so schnell wie möglich wieder bewohnbar zu machen. Wenn auch nur provisorisch. Ihr eigenes Haus hatte gottlob nichts abbekommen. Und ihre Kinder hatten sie zu Oma und Opa ein paar Häuser weiter unten gebracht. An Schule war bei dem Sturm ohnehin nicht zu denken. Einige hatten bereits tags zuvor den Unterricht wegen des erwarteten Unwetters abgeblasen.
Wenig später hatten sich auch andere Nachbarn eingefunden, um zu helfen. Auf diesem kleinen Flecken am Rande des Dorfes war man es gewohnt, einander unter die Arme zu greifen, wenn es nötig war.
Die Hausherrin selbst war mit ihrem brummenden Schädel keine große Hilfe für die Nachbarn, die mittlerweile zu fünft Möbel wieder aufrichteten und reinigten, Bücher einsammelten und Einrichtungsgegenstände wieder zusammenbauten. Ronja versuchte unentwegt, mit dem wiedergefundenen Handy und mit dem Festnetztelefon ihren Mann zu erreichen. Doch die Rufe trafen immer nur auf Leons Mailbox.
„Ich werd´ verrückt. Ich werde komplett verrückt!“, rief sie und sprang von ihrem Sessel auf. Mit unklarem Ziel durchstreifte sie leicht schwankend die untere Etage ihres Hauses und schaute jeden ihrer Nachbarn mit fragendem Blick an. „Wo kann er nur sein? Das gibt´s doch gar nicht.“
Holger fing sie ein und versuchte, Ronja zu beruhigen. „Das muss gar nichts bedeuten. Dieser Orkan rast zurzeit durch ganz Mitteleuropa. Wer weiß, wo unterwegs überall die Handy-Netze zusammengebrochen sind. Ich bin sicher, Leon wird sich von sich aus melden, sobald er kann.“
„Aber ich habe doch mit seiner Firma gesprochen. Die Kollegen sagen, er sei zu ihrer Überraschung bereits gestern Mittag losgefahren, aber in Potsdam bis zum Abend noch nicht angekommen. Es könne zwar sein, dass er wegen des drohenden Sturms direkt zur Baustelle nach Luckenwalde gefahren sei. Doch dort wäre im Moment niemand im Baubüro erreichbar. Könne aber auch sein, dass Leon auf der Baustelle unterwegs ist. Und die sei sehr weitläufig, hieß es.“
„Na siehst Du“, redete nun Dorothee beruhigend auf sie ein. „Es wird sich alles aufklären. Mach´ Dir nicht so viele Gedanken.“
‚Schön wär´s’, dachte sich Ronja und strich über ihren Bauch. ‚Ausgerechnet jetzt, wo ich ihn so dringend bräuchte.’ Seit gestern Nachmittag wusste sie, dass sie im dritten Monat schwanger ist. Und sie hatte es ihm noch nicht erzählen können.
„Ach du Schande, wie sieht's denn hier aus?“ Mit weit aufgerissenen Augen stand plötzlich Holgers Vater Gerhard in der Wohndiele des Hauses und strich mit einer Hand durch seine zerzausten Haare. Er war durch die Haustür reingekommen, nachdem niemand die Klingel gehört und er gesehen hatte, dass der Schlüssel außen steckte Der Fußweg hierher hatte ihn ganz schön Kraft gekostet. Obwohl der Sturm deutlich nachgelassen hatte.
„Hat Euch eigentlich schon jemand gesagt, was da so unglaublich gekracht hat, bei dieser wahnsinnigen Orkanböe heute Morgen?“
„Nee, was denn, Papa?“
„Das war der leere Abfallcontainer, den die Baufirma draußen am Rand von Eurer Auffahrt hat stehen lassen. Der Sturm hat den regelrecht abgehoben und gegen das Garagentor geworfen. Dann ist er umgekippt und muss von Böen hin und her geschoben worden sein. Das Kreischen haben wir bis zu uns ins Wohnzimmer gehört. Deswegen bin ich auch hergekommen.“
„Und wo ist er jetzt?“, wollte Holger wissen.
„Ich hab' den mit einem Strick an Eurem Gartentor angebunden. Da kommt er von alleine net mehr weg.“
‚So ein Mist!“, rief Ronja. „Und ich blöde Kuh denke wer weiß was und reiße die Balkontür auf. Hätt' ich das bloß mal gelassen. Dann wäre das alles hier nicht passiert. Oh mein Gott, wenn Leon das mitkriegt …“ Dann bekam sie einen Weinkrampf.
Kurz darauf stand wieder ein Mann in der Diele. Doktor Bremer, der Notarzt, entschuldigte sich. „Sorry, ich hab mehrfach geklingelt. Hat offenbar niemand gehört bei dem Krach. Ich möchte mal kurz nach Frau Körner sehen“, hatte er seinen Besuch begründet.
Ronja empfing ihn mit verweinten Augen, äußerte aber Unverständnis über die Visite. „Außer Kopfschmerzen geht es mir eigentlich gut“, sagte sie dem Arzt, der sich auf einem Hocker neben ihrem Sessel niedergelassen hatte.
„Frau Körner, haben Sie einen Raum, der nichts vom Sturm abgekriegt hat und in dem ich mit Ihnen sprechen und Sie untersuchen kann?“
„Sprechen?“ Ronja ahnte Fürchterliches. „Ist etwa was mit meinem Mann?“
„Nein, nein“, lachte Doktor Bremer. „Wie kommen Sie denn darauf? Nein, der Rettungssanitäter hat mich nur gebeten, einmal nach Ihnen zu sehen.“
„Ach so, ja. Kommen Sie bitte mit rauf. In der oberen Etage ist zum Glück fast alles heil geblieben.“
Als sie oben angekommen waren, wurde es der jungen Frau leicht schummerig. „Ich habe noch nicht gefrühstückt“, entschuldigte sie sich bei dem Mediziner und setzte sich auf die Bettkante.
„Oh, das sollten Sie aber schleunigst ändern. Das ist in Ihrem Zustand gar nicht gut, Frau Körner.“ Dann rief er über die offene Treppe nach unten: „Kann von Ihnen vielleicht jemand einen Kaffee machen, falls das möglich ist? Und ein oder zwei Schnitten Brot?“
„Ich versuche mein Bestes“, kam eine Frauenstimme postwendend zurück. Sie gehörte Dorothee.
„So, Frau Körner, Sie legen sich am besten einmal bequem auf Ihr Bett. Ich möchte eine kleine Untersuchung machen. Denn der Rettungssanitäter, der Herr Hennhöfer, hat mir verraten, dass Sie in anderen Umständen sind.“
„Ja“, antwortete sie mit leiser Stimme. „Ich hatte es ihm wohl gesagt. Kann mich aber nicht mehr so genau erinnern.“
„Haben Sie sich übergeben müssen heute Morgen, oder hatten Sie zumindest ein entsprechendes Gefühl, das Sie unterdrücken mussten?“
„Nein, hatte ich nicht. Wieso fragen Sie? Wegen meiner Schwangerschaft? Die läuft vollkommen unproblematisch.“
„Ja“, entgegnete der Arzt, „auch deshalb. Aber vor allem auch, weil ich ausschließen möchte, dass Sie sich bei dem Sturz mit dem Kopf gegen die Wand eine Commotio zugezogen haben.“
„Eine was?“
„Eine Commotio. Eine …“
„Klar“, unterbrach sie ihn, „eine Gehirnerschütterung, weiß schon. Hab' Sie vorhin bloß akustisch nicht richtig verstanden.“
„Aha“, lächelte Doktor Bremer und leuchtete Ronja mit einer kleinen Taschenlampe nacheinander in beide Augen, indem er ihre Lider mit zwei Fingern spreizte.
„Aber an eine Commotio glaube ich nicht“, meinte Ronja. „Nur die Beule tut wirklich schrecklich weh.“
„Das glaube ich sofort. So etwas tut aberwitzig weh, klingt aber in der Regel ziemlich schnell wieder ab, wenn kein Knochen drunter verletzt ist. Wir sollten das unter allen Umständen röntgen lassen.“
„Ich bitte Sie, Herr Doktor, wenn der Schädel was hätte, dann …“
„Stopp, stopp, stopp, Frau Körner. Ich bin hier der Arzt. Sie sollten das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Wie ist es denn mit Ihrem Schwindelgefühl und mit ihrer Benommenheit?“
„Ach, das legt sich sicher schnell wieder. Sobald ich etwas gegessen und getrunken habe, bin ich wieder fit.“
„Also immer noch benommen?“
„Ja, ein wenig. Und ich hab' so ein Gefühl auf der Zunge, als hätte ich an einer Batterie gelutscht. Ganz seltsam.“
Der Arzt öffnete seinen Notfallrucksack und zog eine Spritze auf. „Ich gebe Ihnen jetzt erst einmal ein Mittel zur Stärkung Ihres Kreislaufs und dann eines gegen die Schmerzen.“
„Novaminsulfon oder Tramal?“, wollte sie wissen.
„Nein, nein, mit solchen Kanonen möchte ich wegen Ihrer Schwangerschaft jetzt nicht schießen.“
„Ich weiß“, sagte Ronja. „Ich kenne die Wirkungen. Ich bin nämlich Krankenschwester.“
„Ui, wo denn?“
„In der Heliosklinik in Berleburg.“
„Na, dann müssten Sie eigentlich wissen, dass ich Sie jetzt dort einweisen muss.“
„Oh Gott, nein. Bitte nicht, Herr Doktor. Sie haben doch gesehen, wie es hier aussieht. Ich muss mich um unser Haus kümmern. Denn mein Mann …“ Die Tränen, die jetzt aufstiegen, waren nicht zu bremsen. „Mein Mann ist …“ Wieder versagte ihre Stimme.
„Was ist mit Ihrem Mann?“, fragte der Arzt nach.
Stilles Weinen war die Antwort. Ronja spürte, wie ihre Kraft förmlich aus ihrem Körper herausfloss. „Er ist …, er ist auf Dienstreise nach Potsdam spurlos verschwunden.“ Dann war es aus mit ihrer Contenance. Sie warf den Kopf herum und vergrub ihr Gesicht in einem Kissen. Ihr Körper bebte unter Weinkrämpfen.
Doktor Bremer ließ sie weinen. Auch noch, als Dorothee mit einem Tablett, zwei Pötten Kaffee und vier Leberwurstbroten auftauchte. „Ich dachte, Sie haben heute sicher auch noch keine Gelegenheit gehabt zum Essen.“
Der Mediziner strahlte und griff dankend zu. „Und was ist mit den Leuten unten? Sind die auch versorgt?“
„Keine Sorge, wir machen gerade auch eine Kaffeepause mit Broten. Zum Glück hat die Küche nicht so viel abgekriegt.“
„Danke Ihnen herzlich“, erwiderte der mampfende Doc und begann, auf seinem Rucksack einen Einweisungsschein auszufüllen.
Mina Nölke schimpfte wie ein Rohrspatz. Wohin sie auch fuhr, es gab nur Probleme. Nach mehrfachem Stopp talwärts Richtung Alertshausen hatte sie bereits die Nase gestrichen voll. „Kommt man denn hier aus dem Tal überhaupt nicht mehr raus?“
Mutige Feuerwehrleute hatten sich gegen den Wind gestemmt und umgestürzte Bäume auf der Fahrbahn zerlegt. Und das alle drei-, vierhundert Meter. Häufig mussten sie aber abbrechen und verschwinden. Weil die nächste Sturmbö die gesunden Bäume schon wieder bis zur natürlichen Sollbruchstelle verbog.
Sicher, die Männer taten ihr leid. Aber Mina musste dringend nach Berghausen. Und daher war für sie im Moment jeder, der auch nur geringfügig die Straße versperrte, ein potenzieller Störenfried. Ohne die Feuerwehrleute wären die Menschen an der Elsoff allerdings aufgeschmissen gewesen.
Mina drehte ihren Wagen um und jagte ihn, immer wieder seitlich vom Orkan angegangen, zurück talaufwärts. ‚Telefonieren kannste in der Pfeife rauchen‘, hatte sie festgestellt. Das ‚Tal der Ahnungslosen‘ war von den Mobilfunkanbietern ohnehin nur marginal bedient. Und jetzt, bei diesem irren Sturm, war der Wunsch, auf deren Äther mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen, pure Fantasterei.
Problemlos kam sie zurück durch ihr Heimatdorf bis nach Wunderthausen. Dort allerdings kegelte alles Mögliche, vor allem Bretter von irgendwoher, auf der Hauptstraße herum. ‚Augen zu und durch‘ dachte sie sich und fuhr, wo es gerade ging, einfach drüber weg. Ein Kracher unter dem Unterboden ließ sie kurzfristig zusammenzucken. ‚Aber‘, dachte sie sich, ‚wer in Wittgenstein auch mal über schlecht ausgebaute Wirtschaftswege fährt, der kennt solche Geräusche und flippt nicht gleich aus.‘
Rauf nach Kraftsholz kam sie erstaunlich zügig voran. Nur der eine oder andere Baumfetzen am Straßenrand und Sägemehl auf der nassen Fahrbahn zeugten von früheren Einsätzen der Männer mit den Kettensägen. Doch das Getöse um ihren Wagen herum beunruhigte sie. Trotzdem gab Mina immer wieder ordentlich Gas und war glücklich, als sie in Wemlighausen aus der Gefahrenzone der bedrohlich wogenden Wälder heraus war.
Dafür kam ihr dort im Oberdorf eine Mülltonne entgegengeflogen, deren Inhalt sich längst in den öffentlichen Verkehrsraum ergossen hatte. Das graue Behältnis aus dem Hause OTTO jagte knapp an ihr vorbei. Doch weiter hinten schossen gut 20 Windelpakete an der Fahrbahn entlang. Die Hebamme musste unweigerlich lächeln. ‚Sollte mich nicht wundern, wenn ich dem Baby, das noch kürzlich in diesen „Pampies“ steckte, auch auf die Welt geholfen habe‘, dachte sie und versuchte, die äußerlich noch weißen Bündel möglichst nicht mit den Rädern ihres Wagens auszuquetschen.
Kurz vor der Einmündung in die B 480 musste sie dann jedoch anhalten. Zu heftig bollerte der Orkan gegen ihr Auto. Der Wagen tanzte und taumelte dermaßen, dass es ihr himmelangst und bange wurde. Wäre ihr auf den letzten Metern hierher ein Fahrzeug entgegengekommen, hätte es unweigerlich gekracht. Aber es kam keines. Weit und breit war kein anderer Wagen zu sehen.
Erst jetzt, als sie zur Sicherheit die Warnblinkanlage eingeschaltet hatte, fiel ihr auf, dass sie schon seit Wunderthausen mutterseelenallein auf der Straße und keinem anderen Fahrzeug begegnet war.
‚Wumm‘! Eine Böe packte ihren Kompaktwagen und schob ihn ein Stück weit zum Straßenrand. Mina haute es mit Kopf und Schulter gegen die Fahrertür. „Ja, gibt's denn sowas?“, entrüstete sie sich lauthals, sah aber keine Chance, diesem Desaster zu entgehen. „Es sei denn, du haust hier sofort ab und siehst zu, dass du dem Sturm nicht mehr die Breitseite zeigst“, peitschte sie sich selbst ein und startete den Mercedes.
Während sie ihr Gefährt taumelnd und schlingernd in Richtung Kurstadt steuerte, versuchte sie abermals, Ronja telefonisch zu erreichen. Wieder nichts. Das Mobilfunk-Netz war entweder überlastet oder schlicht und ergreifend nicht mehr vorhanden. Maulend quittierte die Anruferin diesen neuerlichen Fehlversuch. Dann kamen ihr gleich drei Feuerwehrfahrzeuge und ein Rettungswagen entgegen, die blinkend und tutend ins Homrighäuser Tal abbogen.
Leon fror erbärmlich, als er wach wurde. Krämpfe peinigten seine Oberschenkel, als er versuchte, seine Beine zu strecken. Aber das gelang ihm nicht. Irgendetwas hinderte ihn daran. Da unten bei den Füßen war kein Platz. Und oben stieß sein Kopf gegen einen Kasten. Dann merkte er, dass seine Hände auf dem Rücken zusammengebunden sein mussten. Er bekam sie einfach nicht auseinander.
„Hallo, hört mich jemand?“, brüllte er und merkte dabei sofort, dass seine Umgebung irgendwie jeglichen Schall schluckte. Er schrie lauter. Doch es kam keine Antwort. Bis auf ein immer wiederkehrendes Rauschen und Schaben direkt über ihm.
Vor Stunden war er schon einmal wach geworden. Allerdings nur für wenige Sekunden. Ein ungeheurer Krach hatte ihn geweckt, begleitet von einem wahnsinnigen Heulen und Rauschen. Dann aber hatte sich seiner wieder eine tiefe Ohnmacht bemächtigt.
Jetzt rauschte es nur noch. Und jedes Mal, wenn das Geräusch stärker wurde, verstärkte sich das Schaben über ihm.
Leon konnte sich zunächst keinen Reim auf das machen, was dort geschah und ihn umgab. Doch je wacher er wurde und je mehr er sich in seine stockdunkle Umgebung hineinfühlte, desto mehr konnte er Gerüche wahrnehmen, die er ziemlich gut kannte. Es roch nach Gummi. Genauer gesagt nach Reifengummi. Und nach Benzin. Und der Kasten, gegen den sein Kopf stieß, war teilelastisch. Er schien aus Kunststoff zu sein.
„Eeeeyyyyy!“, brüllte er erneut. „Hört mich denn keiner?“ Aber da war nichts. Da kam keine Antwort. Nur dieses mysteriöse Schaben. Immer dann, wenn das Brausen wieder stärker wurde.
„Junge, verlier jetzt nicht den Kopf“, sagte er sich laut vor. „Wenn nicht alles täuscht, steckst du hier in einem Kofferraum. Kann eigentlich gar nicht anders sein. Aber was, verdammt noch mal, scheuert und schabt denn da so auf dem Deckel? Und vor allem, wie bist du hier überhaupt reingekommen?“
Eine Beule an seiner linken Schläfe machte sich bemerkbar und ließ Leon ahnen, dass ihn irgendwer mit einem Schlag seitlich gegen den Kopf außer Gefecht gesetzt haben musste. Und im Mund schmeckte er den metallischen Geschmack von Blut. ‚Da hast du ja derbe was auf die Glocke gekriegt‘, übte er sich noch in Sarkasmus. Doch die Frage nach dem Wie, Wo und Warum malträtierte schon sein langsam wieder funktionierenden Hirn.
Vom Sturm hin und her geschubst traf Mina nach gut einstündiger Odyssee vor dem Haus der Körners ein. „Um Gottes Willen“, rief sie unweigerlich, als sie das Fahrzeug des Notarztes dort stehen sah, „ist es wirklich so schlimm?“
Die Vertäfelung des großen Garagentors hatte ein Mordsloch. Teile der weißen Holzpaneel waren herausgebrochen. Noch vorgestern hatte hier alles so unheimlich neu und elegant ausgesehen.
Hastig erklomm sie die fünf Stufen der Außentreppe, wäre dabei aber fast von einer Sturmbö erfasst und heruntergeworfen worden. Zum Glück hatte die Haustür einen stabilen Griff.
„Mein Gott, was ist denn mit …“ rief Mina und stockte, als nach mehrmaligem Klingeln endlich die Tür geöffnet wurde. Aber eben nicht von Ronja, sondern von Holger. „Wo ist sie?“, rief sie ihm zu. Sie kannte den kompakten freundlichen Mann von zig Bildern und Berichten aus der Zeitung. Er war nicht nur Banker, er war auch der überaus ideenreiche ‚Oberhirte’ des Stadtjugendrings und anderer Organisationen. Einer, der überall jemanden kannte, der jemanden kannte, der etwas bewegen, besorgen oder organisieren konnte.
„Wo ist wer?“, fragte der die ihm unbekannte Frau auf der Türschwelle.
„Na, Ronja. Ronja Körner. Was ist mit ihr?“
„Wer sind Sie denn?“, wollte Holger wissen.
„Mein Name ist Mina Nölke, Ronjas beste Freundin. Ich bin diejenige, die heute Morgen die Feuerwehr hergeschickt hat. Weil ich bei einem Telefonat mit ihr so einen unglaublichen Knall und dann gar nichts mehr gehört habe.“
„Ach so, t´schuldigung. Konnte ich ja nicht wissen. Kommen Sie rein. Ronja hat sich oben einen Moment hingelegt. Der Arzt ist gerade bei ihr.“
„Ist es schlimm?“
„Nein, ich glaube nicht. Sie hat nur eine Mordsbeule am Kopf und war für einen Moment weggetreten. Vielleicht ´ne Gehirnerschütterung. Maximal.“
„Aha. Und was machen Sie hier?“
„Och, wir versuchen, das Haus wieder in einen halbwegs bewohnbaren Zustand zu bringen, nachdem sich Friederike hier drin ausgetobt hat. Der Orkan hat Ronja vom Balkon zurück ins Haus geworfen und anschließend hier drin so richtig die Sau rausgelassen.“
Mina schob Holger Saßmannshausen zur Seite und steuerte auf den Wohnbereich zu. Aber sehr weit kam sie nicht. Weil dort gerade alle Stühle des Esszimmers ‚geparkt‘ und tausend zerbrochene große und kleine Dinge auf dem Boden herumlagen. Trotzdem bekam sie auch von dort einen ausreichenden Blick auf die Unordnung und die Zerstörung. Und auf die Nachbarn, die sich redlich um Ordnung und Reparatur bemühten.
„Ach Du lieber Herrgott!“, entfuhr es ihr. Unweigerlich führte sie eine Hand vor den Mund. Als wolle sie sich selbst am Sprechen hindern. „Das ist ja Wahnsinn.“ Dann drehte sie sich zu Holger um und fragte: „Wo ist denn eigentlich Leon?“
„Wir wissen es nicht. Ronja konnte ihn telefonisch nicht erreichen. Und er hat sich noch nicht gemeldet. Er wollte wohl nach Potsdam, ist dort aber nicht angekommen.“
„Und in der Firma?“
„Dort weiß man auch nichts. Nur, dass er gestern schon überraschend früh losgefahren ist. Ronja macht sich unheimliche Sorgen.“
„Mit Recht. Ich gehe jetzt mal rauf zu ihr.“
„Ich weiß nicht, ob das dem Arzt so recht ist“, versuchte der wuchtige Nachbar, die Besucherin zurückzuhalten. Aber die meinte nur: „Machen Sie sich da mal keine Sorgen. Ich bin auch von der Gilde“ und flutschte an Holger vorbei die Treppe hinauf.
Auf Zehenspitzen ging sie oben über den kleinen Flur, in dem vor der Badezimmertür ein Haufen Handtücher und Toilettenartikel wild auf dem Boden verstreut waren. Mina schaute kurz ins Bad und bekam sofort einen heftigen Luftzug ab. ‚Kein Wunder’, dachte sie. Drinnen stand das große Badezimmerfenster sperrangelweit offen. Draußen spielte der Orkan Mikado mit der in Fetzen gerissenen Jalousie. Und der offene Fensterflügel hatte sich an einem Rattan-Regal verkeilt, das windschief in der Raumecke hing. Auf dem Kachelboden hätte man bequem Wasserburg spielen können. Doch der zentrale Bodenabfluss tat sein Bestes.
‚Hat die Süße nach dem Duschen mal wieder gelüftet und alle Türen offengelassen.’ Mina war diese Marotte von Ronja schon im Schwesternwohnheim auf den Senkel gegangen. ‚Durchzug, um die Feuchtigkeit herauszubekommen’, hatte die Freundin doziert und sich in diesen Akt nie reinreden lassen.
Schnell schloss sie das Fenster. Wobei ihr der Luftzug von hinten fast den Flügel aus der Hand gerissen hätte. ‚Kamel’, schalt sie sich selbst‚ ‚hättest ja selbst auch mal die Tür zu machen können.’ Unablässig orgelte der Sturm und fügte der Natur tödliche Wunden zu.
Die Krämpfe in Leons Beinen meldeten sich wieder. ‚Keine Chance dagegen anzugehen‘, sagte er sich. ‚Wenn die schlimmer werden, drehst du hier völlig durch.‘ Deshalb verhielt er sich still. Versuchte nicht einmal mehr, den Oberkörper weiter zu krümmen, um den Beinen mehr Platz zu geben. Er lag nur ruhig auf der Seite, als sei er zusammengepackt. Wie eine umgekippte Mumie in einem Hockergrab.
Sein Glück waren seine sportliche Fitness und seine Fähigkeit zur progressiven Muskelentspannung. So lösten sich die Knoten in den Oberschenkeln nach wenigen Minuten wieder. Aber als er seine Beine wenigstens ein wenig ausschütteln wollte, merkte er, dass auch seine Füße zusammengebunden waren. „So eine Scheiße!“, brüllte er laut, aber mit bibbernder Stimme.
Es war wirklich lausig kalt in dem Kofferraum. Und, das war Leons ganz große Sorge, die Ressourcen an Sauerstoff müssten bald erschöpft sein. ‚Obwohl‘, überlegte er, ‚du hast ja nicht die geringste Ahnung, wie lange du hier schon eingesperrt bist. Vermutlich seit Stunden. Und trotzdem lebst und atmest du noch halbwegs saubere Luft. Das muss doch einen Grund haben.‘
Hatte es auch. Aber den konnte der Ingenieur weder erahnen noch sehen. Denn er lag mit dem Rücken zur Rücksitzlehne, die unablässig sauberste Luft durchließ, weil sie um einen minimalen Spalt nach vorn geklappt war. Licht sickerte allerdings nicht durch. ‚Du hast hier nur eine Chance, wenn dich einer findet. Oder wenn dieser Drecksack von Entführer endlich auftaucht.‘
Aber, und diese Frage wurde mit wiederkehrendem Bewusstsein immer deutlicher, was wollte der eigentlich von ihm? Erpressung? Womit? Oder war es pure Mordlust eines Irren, der sich daran aufgeilt, wie jemand in seiner Gewalt ganz langsam vor die Hunde geht? Hatte der etwa auch Ronja in seiner Gewalt?
Panik stieg in ihm auf. ‚Mein Gott, Ronja, mein Schatz. Hat man dir weh getan?‘ Er hätte verrückt werden können, in seinem Unwissen um den Zustand seiner geliebten Frau. Sie hatte so viel ertragen müssen, vor und während ihres Hausbaus. Immer wieder hatte sie in vorderster Front mit den Handwerkern diskutieren und verhandeln müssen. Während er meist im Ausland weilte, um seine Bauprojekte zu beaufsichtigen.
Sein Chef kannte da keine Gnade. „Kümmern Sie sich ruhig um Ihren Hausbau“, hatte er hämisch getönt. „Aber dann brauchen Sie hier nicht mehr aufzutauchen.“ Dabei wusste Leon ganz genau, dass sich der alte Rommert einen solchen Rausschmiss gar nicht leisten konnte.
Denn Körner war es, der die einträglichsten Projekte an Land zog, der absolute Spitze war in der Akquise. Millionenaufträge hatte er ins Planungsbüro ‚Franz Rommert und Sohn‘ nach Berleburg geholt. Und er hatte sie als Chefplaner auch betreut bis zur Fertigstellung. „Er schleppt wieder gebündeltes Bares an“, sagten dann die Kollegen anerkennend.
‚Vielleicht hätte ich es einfach mal drauf ankommen lassen sollen‘, hatte er schon öfter überlegt. ‚Einfach mal wegbleiben und schauen, was der Laden so ohne dich produziert.‘
Sicher, seine drei jungen Kollegen machten sich gut, waren aber allesamt während ihres dualen Studiums von ihm geführt und in allen Kniffen des Berufs unterrichtet worden. Diesen Job hatte ihm der ‚Alte‘ angetragen. Gegen ein Sonderhonorar. Weil der Junior des Unternehmens, Pius Rommert, eine absolute Pfeife war. Von Beruf Sohn. Für andere Aufgaben nicht zu gebrauchen.
Mit Hängen und Würgen hatte der sein Architekturstudium auf die Reihe gebracht und war anschließend im heimischen Büro aufgetreten wie Rotz am Ärmel.
Doch innerhalb recht kurzer Zeit hatte sich dieser Lackaffe selbst derart ins Abseits gekarrt, dass selbst sein Vater laut darüber nachdachte, den Junior nicht nur aus dem Firmennamen, sondern auch ganz aus dem Planungsbüro zu verbannen.
„Murks in Millionenhöhe können wir uns nur einmal leisten“, hatte der Senior gebrüllt, „dann sind wir im Arsch. Und Du kannst Dein süßes Leben vergessen.“
Pius war mit hochrotem Kopf und seinem Laptop unter dem Arm aus dem Büro geflüchtet und ward für lange Zeit nicht mehr gesehen. Erst Tage später war Leon das bestens gehütete Geheimnis über besagten Murks offenbart worden. Und er erschrak fürchterlich.
Der Juniorchef hatte eine komplette Wohnanlage mit vier Stadtvillen in bester Lage der Millionärsstadt Baden-Baden derart an den Vorstellungen des russischen Bauherrn vorbei umgeplant und dabei so eklatant gegen Bauvorschriften der Stadt verstoßen, dass es einem nur schlecht werden konnte.
Der Russe, ein Oligarch mit Unmengen Geld auf allen möglichen Konten zwischen den Cayman Islands, Singapur und der Schweiz, kam nur selten in die Weltkurstadt. Daher hatte er Pius Rommert in großem Vertrauen auf den guten Namen der Firma alle Rechte und Pflichten der Bauleitung übertragen.
Sein großes Glück war letztlich, dass Papa und Mama Rommert einen Kurzurlaub in Baden-Baden eingelegt hatten. Mit Thermenbesuch und Zocken in der Spielbank. Ganz nebenbei wollten sie sich natürlich auch über den Fortgang des Projektes und die Leistung ihres Sprösslings informieren.
Doch diese Exkursion hätte der Seniorchef um ein Haar mit einem Herzinfarkt bezahlt.
Allein das nackte Abschreiten der Hauslängen trieb den alten Baufuchs fast zum Wahnsinn. Er hatte schon mit bloßem Auge gesehen, dass da etwas nicht stimmt. Die Baukörper waren größer als genehmigt. Dafür standen sie dichter aufeinander. Die Zahl und Größen der Fenster und Balkone zu den Nachbargrundstücken hin stimmten nicht und die Einfahrt in die Tiefgarage war deutlich enger gewählt als vom Gas-Multi gewünscht.
„Man muss halt ein wenig kreativer sein als Ihr mit Eurer Old Fassion-Manie“, hatte Pius dem leichenblassen Vater als Begründung für seine unverantwortliche ‚Umplanung‘ rotzig entgegengehalten. „Der Russe kommt ja sowieso nur alle Schaltjahre. Bis zu seinem nächsten Besuch ist eh alles fertig. Es wird ihm gefallen. Da bin ich sicher.“
Doch der Vater spielte da nicht mit. Mit Schimpf und Schande jagte er den Sohn von der Baustelle und erstattete umgehend Selbstanzeige bei der Stadt und bei der Architektenkammer. Um möglichen Angriffen von außen zuvorzukommen.
Die Folge waren zwei satte Konventionalstrafen und zähe Verhandlungen mit dem Baden-Badener Bauausschuss, mit Vertretern des Gemeinderates, mit dem Baubürgermeister und dem Regierungspräsidium Karlsruhe. Um ein Haar hätte der gesamte Bebauungsplan für das Wohngebiet erneuert werden müssen.
Dass das nicht geschah, war Leons Geschick zu verdanken. Er opferte vier ganze Wochen dafür. Zeit, die er eigentlich in ein eigenes Projekt stecken wollte. Aber er war nun mal derjenige, der vom Senior beauftragt worden war, ‚da unten im Schwarzwald die Kartoffeln aus dem Feuer‘ zu holen.
Wieder erfasste ihn Panik. Die Angst, hier nie wieder rauszukommen, drohte ihn zu übermannen. Doch Leon versuchte, bei klarem Verstand zu bleiben. ‚Ruhig, Junge, ruhig‘, sagte er sich. ‚Bleib ruhig, sonst überstehst du das nicht.‘
Der Ingenieur zwang sich richtiggehend, zu rekapitulieren, was eigentlich passiert war. Und er erinnerte sich prompt, dass er bereits gegen Mittag seine Siebensachen im Planungsbüro zusammengepackt hatte, um sich auf den Weg nach Potsdam zu machen. Die Entscheidung hatte er getroffen, nachdem er durch die Wettervorhersagen nachdrücklich auf den drohenden Sturm hingewiesen worden war. Unter keinen Umständen wollte er unterwegs in eine Unwetterkatastrophe geraten.
Weil Ronja aber nichts von seinen frühen Reiseplänen wusste, er sie aber auch telefonisch nicht erreichen konnte, wollte er vor seiner Abreise noch schnell in Berghausen vorbeifahren und ihr ein paar frische Blumen auf den Wohnzimmertisch stellen. Das machte er gerne – als Liebesbeweis.
Er wusste auch noch, dass er nach einem kurzen Imbiss bei ‚BlumenCreativ‘ in der Poststraße angehalten hatte, um bei Frau Schmidt einen Strauß wunderschöner Tulpen in drei Farben zu erstehen. Die hatte er in den Fond des Wagens gelegt und war losgefahren. Doch was dann geschah …, da schwächelte seine Erinnerung. War er jemals ‚am Winterscheid‘ angekommen?
So sehr er sich auch mühte. Leon konnte sich beim besten Willen nicht erinnern. Auch nicht, wie er in diese lebensfeindliche Situation geraten war. Da war einfach nur ein großes schwarzes Loch. Und war heute Mittwoch oder Donnerstag?
‚Friederike‘ baute sich mit neuer Kraft auf und tobte durch die Wälder. Das Ächzen und Stöhnen der Bäume konnte Leon bis in den Kofferraum hinein hören. Und das, obwohl nun auch das Schaben auf dessen Deckel immer heftiger wurde. Erst jetzt wurde ihm klar, was es mit dem Orgeln und Pfeifen auf sich hatte, das er bisher immer nur im Unterbewusstsein mitbekommen hatte. Draußen tobte das angekündigte Unwetter. Und das mit aller Kraft.
‚Aber‘, schoss es ihm durch den Kopf, ‚aber das bedeutet ja, dass tatsächlich schon Donnerstag ist. ‚Ich muss also schon seit gestern hier drinliegen. Du lieber Gott, was ist denn das für ein Wahnsinn?‘
Bei der Polizei in Bad Berleburg brach Jubel aus. Gerade eben war per Funk die Meldung gekommen: „Alle Personen unverletzt gefunden und geborgen.“
„Gott sei Dank“, flüsterte Bernd Dickel, der Chef des Reviers. Noch vor 20 Minuten hatte er gemeinsam mit Kollegen, Feuerwehrleuten und Freiwilligen das Homrighäuser Tal durchstreift und eine fünfköpfige Wandergruppe gesucht.
Die Leute waren vom dortigen Forstamt aus gesichtet worden, als sie bergauf nach links in ein Seitentälchen abgebogen waren. Doch die Frau des Försters hatte das Haus nicht verlassen und die Menschen warnen können. Sie war schwer erkältet, hatte Fieber und ihr Mann war unterwegs zur Apotheke nach Berleburg. Also hatte sie Feuerwehr und Rettungsdienst alarmiert.
„Wieland 14/08 für Wieland 14/01 kommen.“ Dickel hatte sich selbst ans Funkpult gesetzt.
„14/08 hört.“
„Wie geht es den Leuten denn? Und was wollten die bei dem Sturm da oben im Wald?“
„Die drei Kinder sind ein wenig unterkühlt. Aber alle machen einen stabilen Eindruck. Holländer aus Arnheim, die angeblich keine Ahnung hatten, dass es eine Orkanwarnung gab. Sie waren seit halb sieben heute Morgen von Berleburg aus unterwegs, um Wisente in freier Wildbahn zu beobachten. Nur sind sie dort oben nicht mehr sehr weit gekommen. Weil überall auf den Wegen umgestürzte Bäume herumlagen.
Als sie begriffen, in welcher Gefahr sie sind, haben sie sich entschlossen, ins offene Tal zu gehen, wo sie kein Baum erwischen kann. Und dort haben sie eine Futterhütte gefunden, in der sie sich ins Heu gelegt und gewartet haben.“
„Toll. Trotz allem“, antwortete der Polizei-Chef. „Wo sind sie jetzt?“
„Werden vom Förster und zwei Sanitätern betreut. Sie bekommen gerade im Forsthaus einen heißen Tee und was zu essen.“
„Prima. Bitte belehrt die Leute noch einmal nachdrücklich, dass sie sich äußerst fahrlässig verhalten und vor allem ihre Kinder in Gefahr gebracht haben. Und dann bringt sie bitte zurück in die Stadt. Und … Und Euch vielen Dank für Euren Einsatz. Tolle Arbeit! Ende mit 14/08.“
„Mann, haben die Glück gehabt. Die hätten genauso gut mausetot sein können“, regte sich Pattrick Born auf, der zu den Leuten gehörte, die sich um den ‚Leitenden’, den Polizeiführer vom Dienst, geschart und die Funksprüche mitgehört hatten. In der Hoffnung, dass da keine Horrormeldungen aus dem Homrighäuser Tal kommen. „Wie kann man nur so leichtsinnig sein?“
„Pah“, antwortete Sam Weinrebe, der am Tisch Dienst tat, „haste noch nie was von Erlebnisurlaub gehört, oder von Erlebnistracking? Die Leute sind wild auf solche Angebote.“
„Die Leute werden immer verrückter, immer leichtsinniger“, schüttelte Bernd den Kopf und verließ den Raum des ‚Leitenden‘, während er fortwährend versuchte, alle möglichen Dreckflecken aus seiner warmen Dienstjacke zu rubbeln. ‚Dreck auf blau sieht mies aus’, fand er. Zu Recht.
„Hey, was machst Du denn hier?“, empfing die Frau im Bett ihre Freundin Mina mit dem Anflug eines Lächelns. Die hatte nach zaghaftem Klopfen sachte die Tür geöffnet und hineingelugt. Doktor Bremer war gerade dabei, Ronja einen zentralen Zugang in die linke Hand zu legen, um einen Tropf anzuschließen. „Kommen Sie“, bot sich Mina an, „ich halte den Beutel für Sie.“
Dann setzte sie sich zu Ronja auf die Bettkante „Woher ich komme? Aus dem Sturm. Ich hatte panische Angst um Dich. Nachdem es in unserem Telefonat nur noch geknallt hat und von Dir kein ‚Papp’ mehr zu hören war. Dann hab' ich sofort die Feuerwehr angerufen.“
„Oh, danke. Lieb von Dir.“
„Waren die denn nicht da?“
„Doch, doch. Die haben mich ja unten im Wohnzimmer gefunden und wach gemacht. Kurz danach kam dann ein Rettungssanitäter. Und der hat den Doc hier alarmiert.“ Der saß grinsend auf einem Stuhl und füllte weiter Papiere aus. ‚Doc hört sich richtig freundlich’ an, dachte er.
„Das ist übrigens meine Freundin Mina, Herr Doktor. Auch vom Fach. Erst Krankenschwester, jetzt Hebamme.“
„Freut mich.“ Der Arzt nickte ihr lächelnd zu.
„Mensch, Mensch“, flüsterte Mina mit Tränen in den Augen, „kannst froh sein, dass irgendwo ganz schnell eine Tür zugeflogen sein muss, als Du die Balkontür aufgemacht hast. Sonst hätte es Dich womöglich noch wo ganz anders hin katapultiert im Haus.“ Und dann erzählte sie ihr von ihrer Theorie und davon, was sie eben im Bad vorgefunden hatte.
„Sch….eibenkleister“, entfuhr es Ronja. „Du hast recht … Verdammt noch mal. Ich bin beim Telefonieren runter gegangen und hab' im Bad alles offengelassen. Nur die Jalousie war halb runtergelassen. Wegen dem Regen. Oh Gott, oh Gott, wenn Leon das erfährt.“
„Von mir erfährt er das nicht.“
„Von mir auch nicht“, mischte sich Doktor Bremer ein. „Außerdem muss er froh sein, dass das alles so glimpflich für Sie abgegangen ist.“ Dann stand er auf und straffte das Band für die Jalousie ein wenig, um durch die Schlitze nach draußen schauen zu können. „So langsam müsste eigentlich der Krankenwagen da sein, den ich vorhin bestellt habe“, sinnierte er. „Aber weiß der Himmel, was da heute alles geboten ist. Bei dem Mistwetter. Da kippen ja immer noch Bäume. Hoffentlich kommen die überhaupt durch bis zu uns.“
Mina schaute ihre Freundin mit großen Augen an. „Ja was, Du wirst eingewiesen?“
„Wird sie“, erklärte Bremer. „In ihrem Zustand setze ich mir da keine Laus in den Pelz. Da gehe ich kein Risiko ein.“
Minas Augen wurden noch größer. „Zustand? Ist der denn so kritisch?“
„Also das können Sie doch am besten beurteilen. Verdacht auf Commotio und schwanger im dritten Monat. Damit macht man keine Späße.“
„Da haben Sie recht“, antwortete Mina, etwas abwesend. Um dann allerdings herumzufahren. „Schwanger? Wer ist hier schwanger. Du?“
Die Freundin nickte fast verschämt.
„Hey, das ist ja Wahnsinn. Glückwunsch, meine Süße.“ Sie neigte sich runter zu Ronja und umarmte sie vorsichtig. „Seit wann weißt Du's denn?“
„Seit gestern Nachmittag.“
„Und, was sagt Leon? Freut er sich?“ Doch sofort zuckte sie zusammen. ‚Das hätte ich jetzt wohl besser nicht gefragt.’
„Du weißt es also schon?“, fragte die Freundin, die bemerkt hatte, wie Minas Körper sich schlagartig straffte.
„Was weiß ich?“, fragte die scheinheilig.
„Na, dass ich einfach keinen Kontakt zu ihm bekomme.“
„Zu Leon? … Ja. Herr Saßmannshausen hat es mir gesagt. Aber mach´ Dir da mal keine so großen Gedanken. Das ist doch kein Wunder, bei dem Hundewetter sind alle Mobilfunknetze total überlastet. Aber wenn was passiert wäre, hättest Du's längst erfahren. Und zwar von offizieller Seite – über Festnetz.“
„Habe ich Frau Körner auch schon gesagt“, unterstützte sie der Arzt. „Ich hoffe, die Aufregung wird sich bald legen und die Freude über das werdende Leben in ihr überwiegen.“
Ronja lächelte tapfer. „Ich hoffe es. Ich hoffe es. Aber wer kümmert sich denn jetzt um unser Haus, wenn ich ins Krankenhaus komme?“
„Keine Sorge“, meldete sich das Energiebündel Mina sofort wieder zu Wort, „ich kann mich kümmern, solange Ihr nicht da seid. Muss nur heute Nachmittag und in der Nacht Dienst machen. Dann hab´ ich sowieso frei. Außerdem hab´ ich den Eindruck, dass Eure Nachbarn hier nicht aufhören werden, bevor das Haus wieder wetterfest ist.“
„Glaube ich auch“, meldete Doktor Bremer vom Fenster. „Unten ist übrigens eben ein Kastenwagen vorgefahren. Kommt von einer Schreinerei. Die Leute tragen gerade einen weißen Türflügel ins Haus. Die haben ganz schön zu kämpfen bei dem Sturm.“
„Das gibt´s doch nicht“, fuhr Ronja hoch. „Wer hat die denn beauftragt?“ Sie wollte gar nicht glauben, was sie da hörte.
Aber der Arzt drückte sie wieder sanft aufs Bett und sagte lachend: „Mit Sicherheit Holger Saßmannshausen.“
„Wie, Sie kennen Holger?“
„Oh ja. Wer kennt den nicht? Das ist'n Macher. Nicht schlecht, wenn man einen solchen Nachbarn hat.“ Dann schaute er wieder aus dem Fenster auf die vom Sturm zerzauste Landschaft. „Mann, wo bleibt denn bloß der Krankenwagen?“
Bei ‚Rommert und Sohn‘ mühte man sich heftig, Kontakt zu Leon zu bekommen. Allerdings nicht nur wegen der mehrmaligen Nachfragen seiner Frau. Man brauchte ihn schlicht als Mann mit Visionen. Einer der Bauherren war mit Änderungswünschen aufgetaucht, die deutlich gegen die Gestaltungssatzung der Kommune verstießen, in der er einen ganzen Wohnpark errichten wollte.
Zwar hatte Pius, die Pfeife, vor Monaten bereits versucht, den Kunden mit eigenen Vorschlägen zu konfrontieren, war aber bei dem Baufinanzier sowas von abgeblitzt, dass er beleidigt den Schwanz einkniff. Allerdings nicht, ohne dem entsetzten Mann mitzuteilen, dass er bald niemanden mehr finden werde, der seine stinkkonservativen Vorstellungen überhaupt noch in eine brauchbare Bauplanung umsetzen werde.
Erst wenige Tage zuvor hatte der Vater dem Junior per familiärem Gnadenerlass wieder den Zutritt zum Planungsbüro gestattet. Aber der unverbesserliche Arroganzling hatte ganz offensichtlich nichts gelernt und gleich wieder den Larry raushängen lassen.
Sein Vater war verzweifelt. „Was denkt sich dieser Leon eigentlich, verdammt noch mal. Einfach telefonisch nicht erreichbar zu sein. Das geht nicht. Das geht einfach nicht!“ Dass sich draußen wettertechnisch richtiggehende Horrorszenarien abspielten, die quer durch die Republik das öffentliche Leben mehr und mehr lahmlegten, das interessierte den Alten nicht.
Erst als ihm seine Frau beim Mittagessen nicht das gewünschte Steak vorsetzen konnte, weil ihrer Erzählung nach der Weg zum Metzger lebensgefährlich gewesen wäre, schaltete Franz Rommert das Radio im Esszimmer ein. Schon die Kurznachrichten ließen ihn gnadenlos zusammenfahren.
„Wenn der Orkan in Luckenwalde das offene Dach der Industrieanlage runterreißt, möchte ich nicht in Körners Haut stecken. Das hat der nämlich verbockt. Dort könnten längst die Wände hochgezogen sein. Wo steckt dieser Kerl bloß?“
„Sag mal“, fragte seine Frau nach, „Du denkst wirklich nur an Deine Geschäfte, die im übrigen ohne Herrn Körner gar nicht denkbar wären. Dass ihm aber vielleicht etwas passiert sein könnte, oder dass er sich vor dem Orkan in Sicherheit gebracht hat, das spielt in Deinen Überlegungen offenbar gar keine Rolle.
Und überhaupt: Hast Du mal darüber nachgedacht, was er alles hat liegen lassen müssen, um den Mist auszubaden, den unser missratener Sprössling verzapft hat? Bei Dir ist logisches Denken mittlerweile offenbar wirklich Glücksache! Und das Wort Empathie bleibt für Dich ewig ein Fremdwort ohne Übersetzung.“
Franz Rommert lief rot an. Augenblicklich wollte er eine Schimpfkanonade loslassen. Aber der Blick seiner Frau ließ jedes Wort in seinem Hals ersterben. ‚Versuch's gar nicht erst‘, sagte der. Und er wusste, was geboten war, wenn er trotzdem aufbegehren würde.
Mina war im Haus Körner nach unten gelaufen, um sich ein Bild von den Aufräumarbeiten machen zu können. Immerhin wollte sie ja das Haus hüten, während Ronja und ihr Mann nicht da waren. Da machte es Sinn zu wissen, was so läuft.
Was sie sah, verblüffte sie. Zwei Schreiner waren dabei, den vom Sturm zerlegten Türflügel durch einen neuen zu ersetzen. Der andere hing schon wieder in seinen erneuerten Angeln.
„Sagen Sie“, fragte sie den ersten der beiden Handwerker, „es kann doch wohl kaum sein, dass Sie den perfekt passenden Türflügel auf Zuruf liefern können. Als unser Haus renoviert wurde, haben wir allein zwei Monate auf Fenster und Türen warten müssen. Und die wurden, jedes für sich, vorher millimetergenau ausgemessen.“
„Das will ich Ihnen gerne sagen, antwortete der zweite Mann, offenbar der Chef. „Als die Körners ihr Haus geplant hatten, sollten ursprünglich sowohl das Wohnzimmer als auch die Küche gleich große Türen zum Balkon hin bekommen. Und die haben wir auch so beim Hersteller in Auftrag gegeben. Dann stellte sich aber heraus, dass die Küche umgeplant werden musste.
Also haben die Bauherren die Tür in der Küche durch ein Fenster ersetzt. Verstehen Sie?“, grinste er Mina an.
„Oh ja, das verstehe ich gut“, grinste sie zurück. „Also hatten Sie eine komplette Tür auf Lager. Falls mal eine kaputt geht. Oder wie?“
„Naja, so ähnlich. Auf jeden Fall gehört sie den Körners. Wir haben sie schließlich nach Maß für sie bestellt. Wenn allerdings jemand gekommen wäre, der die komplette Tür hätte kaufen wollen, dann hätten Leon und Ronja das Geld dafür zurückbekommen. Aber so hatten wir wenigstens gleich passenden Ersatz, als Holger anrief und fragte, ob wir helfen können.“ Dann dreht der Schreiner ab. „Sorry, muss weitermachen, entschuldigen Sie.“
„Aaaaachtung!“, rief es hinter ihr. Als sie sich herumdrehte, fuhren gleich drei Nachbarn nebeneinander mit Besen auf sie zu. Sie schoben eine Menge Schmutz und Scherben vor sich her. „Habt Ihr noch'n Handfeger?“, fragte sie.
„Klar. Komm. Hier ist noch einer.“
Draußen begann der Sturm erneut sein ungutes Pfeifen und Orgeln. Die Jalousie an der ‚Türbaustelle’ wummerte in bedrohlichem Rhythmus hin und her. Doch die Schreiner ließen sich davon nicht beirren und arbeiteten wie im Akkord. Das hier würde für sie sicher nicht ihr einziger Reparaturauftrag heute bleiben. Der Chef wunderte sich ohnehin, dass bis jetzt nicht schon weitere Hilferufe per Handy reingekommen waren.
Am Pult des ‚Leitenden’ summte es. Während des Orkans hatte die Leitstelle in Siegen die 110-Anrufe aus dem Wittgensteiner Land auf die Wache in Berleburg durchgeschaltet. „Polizeinotruf Bad Berleburg“, meldete sich Weinrebe. Auf der anderen Seite war nur ein Knarzen zu hören.
„Hier ist der Notruf, wer ist da bitte?“, wiederholte Sam.
Wieder nur dieses Knarzen – und dann ein tiefer Atmer und ein rollendes, schnell abebbendes Dröhnen.
„Hallo, können Sie mich hören? Wer sind Sie.“
„Tut nichts zur Sache.“
„Befinden Sie sich in einer Notlage?“
„Nein, ich nicht“, kam es sehr dumpf, wie durch Watte gesprochen. Dann wieder Pause und Knarzen.
„Wer ist denn dann in Not?“, hakte Weinrebe beharrlich nach.
„Ein Mann im Kofferraum.“
„Wer?“
„Ein Mann im Kofferraum.“
„Habe ich Sie richtig verstanden? Da ist jemand in einem Kofferraum?“
„Ja“, kam es dumpf zurück.
„Wer ist das?“
„Spielt keine Rolle.“
„Sagen Sie wenigstens, wo das ist?“
„In einem Wald bei Grünewald.“
„Wo genau? Können Sie das sagen?“
‚Klack’. Die Leitung war tot. Sam versuchte zwar noch durch Nachfrage, das Gespräch wiederzubeleben. Doch das war sinnlos. Der Anrufer hatte aufgelegt.
„Scheiße!“, brüllte Weinrebe. „Verfluchte Scheiße! Wie sollen wir den denn finden? Und dann noch bei dem Wetter. ‚In einem Wald bei Grünewald’. Super! Wir haben hier tausend Wälder ‚bei Grünewald’.“
Er brüllte so laut, dass Bernd Dickel, der sich oben seinem Aktenstudium hingegeben hatte, wieder herunterkam und sich nach der Ursache für den Gefühlsausbruch erkundigte.
Weinrebe beschrieb mit hochrotem Kopf die Situation und heischte um Verständnis für seine Wut: „Entschuldige, aber wie sollen wir denn helfen, wenn wir nicht wissen, wo, verdammt noch mal.“
„Is´ ja gut. Aber jetzt hilft eher ein kühler Kopf als jede Aufgeregtheit. Hast Du ´ne Nummer von dem Anrufer?“
„Natürlich nicht. Das wär´ ja auch zu einfach, Chef“, grinste Weinrebe verkniffen. „Die war unterdrückt.“
„Fangschaltung aktiviert?“
„Dafür war der Anruf zu kurz.“
„Mist!“
„Siehste. Ich sag´ ja, das ist ´ne verdammte … Kacke.“
„Okay, lass´ mal den Anruf hören. Vielleicht kann man da was draus erkennen.“
Sam gab zwei Befehle auf dem Display im Funktisch ein und ließ das Gespräch über Lautsprecher laufen.
„Ach du lieber Gott, das kann ja jeder sein, so gedämpft und mumpfig wie das ist. Für eine Identifizierung der Stimme wahrscheinlich überhaupt nicht zu gebrauchen. So eine verd…“ Dickel bremste sich noch rechtzeitig.
„Ich glaub´, wir sollten die Kollegen von der Kripo um Hilfe bitten“, meinte Weinrebe. „Vielleicht kann Sven Lukas da noch was rausfiltern.“ Der Kollege Lukas, wegen seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten im elektronischen und digitalen Bereich auch ‚der Freak’ genannt, hatte schon öfter mal unglaubliche Erfolge gefeiert, wo andere Spezialisten längst baden gegangen waren.
„Gute Idee, mach´ das“, antwortete Bernd Dickel. „Ich alarmiere schon mal, was wir alarmieren können. Vorsichtshalber auch schon mal ´ne Hundertschaft. Wir können ja hier nicht die Hände in den Schoß legen. Aber bei dem Sturm … Mann, wie soll denn das gehen?“ Der Revierleiter raufte sich die Lockenpracht.
Der ‚Freak’ war sofort angefixt von seinem neuen Auftrag, den er mit Freuden übernahm. „Wär´ doch gelacht, wenn wir dem Menschen nicht auf die Spur kämen“, quittierte er Weinrebes Bitte um möglichst schnelle Ergebnisse. Doch beim Anhören des Gesprächs verfinsterte sich seine Miene zusehends. „Ach du dickes Ei“, murmelte er vor sich hin, „wie beschissen abgefahren ist das denn?“
Sein Hirnschmalz schien in Nullkommanix dem Siedepunkt entgegen zu kochen, während er sich die Stimme und das Geknarze wieder und wieder anhörte. Dann geriet er in Hektik. „Action!“, brüllte er und raste mit beiden Händen über das Mischpult, um hier einen Regler hochzufahren und dort einen Knopf zu drücken. Oben drüber flammte ein Display auf, das die einzelnen Funktionen des Pultes elektronisch abbildete.
Zehn Minuten später öffnete Sven die Tür seines ‚Labors’ und rief in den Flur: „Hat mal jemand Zeit? Kann mal jemand kommen?“
„Momääähääänt!“, rief's aus Borns Büro. Claudia Siegemund bat ebenfalls um etwas Geduld. Aber kurz darauf waren sie zu dritt und lauschten den Tönen, die aus den großen Boxen kamen. Sie hörten eine merklich zurückgenommene Stimme, die einem Mann um die dreißig gehören konnte. „Schon mal gehört?“, fragte der Freak die Kollegen.
„Nein.“ Beide schüttelten den Kopf. „Wieso, was is´n mit dem?“, wollte Claudia wissen. Denn Sven hatte lediglich ein Gesprächsfragment in mehreren Varianten vorgespielt. Aus dem hatte er die Stimme am besten herausextrahieren können.
„Hallo, können Sie mich hören? Wer sind Sie?“ „Tut nichts zur Sache.“ „Befinden Sie sich in einer Notlage?“ „Nein, ich nicht.“
„Der weiß angeblich von einem Menschen in einem Kofferraum, der in Not ist. Erklärt aber nicht genau, wo das ist. ‚In einem Wald bei Grünewald’ hat er gesagt. So ein Vollidiot, dieser Typ!“
„Wie denn jetzt? Ein Entführer, den sein Gewissen plagt? Oder wie muss man das verstehen?“ Pattrick Born guckte ein wenig schräg, während er mit den Fingernägeln der rechten Hand fortwährend über die textile Hülle seines rechten Oberschenkels schabte. Den beiden anderen stellte sich eine Gänsehaut auf.
„Mensch, kannste das mal lassen?“, bat Claudia.
„Was denn?“, fragte Born zurück, während er eifrig weiter schabte.
„Hör bitte mal auf zu kratzen. Ich frier´ gottserbärmlich, wenn ich das höre.“
„Och Mensch, das juckt halt so.“
„Da gibt´s ´ne Lösung“, schaltete sich der ‚Freak’ lachend ein, „manchmal hilft waschen.“
„Werd´s mal probieren. Also los jetzt, was will dieser Vogel?“
„Ich habe keine Ahnung. Aber wahrscheinlich hast Du recht. Da hat einer einen anderen in einen Kofferraum gesteckt – aus welchem Grund auch immer. Und jetzt geht ihm die Muffe“, dozierte Sven Lukas.
„Ja, aber warum lässt er ihn nicht einfach wieder raus?“, wollte die Kollegin wissen.
Born überlegte. „Vielleicht, weil das ein fremdes Auto war, das jetzt weg ist und an das er deshalb nicht mehr rankommt. Ach nee, geht ja nicht. Dann wüsste er ja nicht, wo´s steht.“
Claudia nickte. „Ich glaub´ eher, der Anrufer kann nicht mehr an den Wagen ran, weil er weiter weg ist. Oder weil ihm irgendwas den Weg versperrt.“
„Ja, natürlich“, sprang Pattrick auf, „vielleicht ein Baum, oder ein ganzer Wald. Draußen liegen zurzeit jede Menge Wälder rum. Wo sollen wir zuerst suchen?“
Der Sarkasmus in seiner Stimme war unüberhörbar. Es glich einer Art vorzeitiger Kapitulation. Und im Grunde genommen hatte er recht. ‚In einem Wald bei Grünewald’. Wer hätte denn mit dem Finger auf den Gemarkungsplan zeigen und sagen können: „Hier ist es!?“ Wo denn da? Dort gab´s nur Wald.
Ratlos schauten sich die drei nacheinander an. Dann wollte Born wissen: „Den Mann im Kofferraum suchen oder den Anrufer? Was ist leichter?“
„Vielleicht den Anrufer“, rief der Freak, „hört mal her. Kann uns unter Umständen weiterhelfen. Aber ihr müsst genau aufpassen.“ Dann startete er eine weitere Toneinspielung. Das Knarzen war nun deutlicher zu hören und undefinierbare Geräusche im Hintergrund.
„Noch mal von vorne bitte. Und lauter“, bat Claudia. Wieder hörten die drei gebannt zu. Und noch mal und noch mal. Dann sagte die Kollegin: „Also, der Anrufer hat auf jeden Fall ein unrasiertes Kinn, vielleicht sogar einen Dreitagebart. Der scheuerte nämlich am Telefon.“
„Wow, ich glaub´, da liegst Du gar nicht so falsch.“ Born nickte anerkennend.
„Und er hat hier aus der Stadt angerufen. Denn wenn man genau aufpasst, hört man im Hintergrund ganz dünne die Uhr vom Schlossturm schlagen. Das Dröhnen ist …“
„Das ist der Sturm, der da gerade so tobt“, legte sich Pattrick fest.
„Glaub´ ich nicht“, war sich Sven ziemlich sicher.
„Ich auch nicht“, meinte auch Claudia. „Ich glaube vielmehr, dass es eine einlaufende Bahn war. Das hört sich hinter verschlossenen Fenstern echt seltsam an.“
„Bingo! Das könnte hinhauen. Du bist ja gut!“ Sven Lukas rief den Berleburger Stadtplan im Internet auf und fuhr mit dem Cursor die Straßen entlang. „Die Position des Anrufers muss auf alle Fälle grob östlich vom Schloss gelegen haben. Und das entweder direkt an der Bahn oder zumindest in Schlagdistanz des Bahnhofs. Sonst hätte man bei dem Sturm, der von Westen kam, weder das Turmglöckchen hören können, noch das Geräusch der Bahn. Das muss mehr über den Boden übertragen worden sein, als durch die Luft.“
„Ihr macht mich fertig“, grinste Pattrick Born. „Dann zeig mal, Sven. Von wo kann der Anruf denn gekommen sein?“
Der ‚Freak‘ fuhr mit dem Mauszeiger auf der Karte ein wenig hin und her. Dann gab er seinen Tipp ab: „Also entweder von oben aus dem Bahnhof. Da gibt es doch Büros, soweit ich weiß. Oder aber von gegenüber aus der Moltkestraße. Und zwar ziemlich in Höhe des Bahnhofs. Das würde nämlich das abrupte Enden dieses Dröhnens erklären.“
Klang logisch. Das mussten die beiden anderen Kollegen zugeben. Mal sehen, was Klaus Klaiser dazu sagen würde. Der hatte eigentlich kurzfristig freigenommen. Weil er seine kleine Familie bei dem Sturm nicht allein lassen wollte. Aber jetzt müssten sie ihn wenigstens telefonisch mit ihren Erkenntnissen konfrontieren.
Bernd Dickel hatte alles mobil gemacht was möglich war. Auch eine Hundertschaft der Bereitschaftspolizei Dortmund. Doch sowohl die, als auch alle anderen Beamten aus dem Stadt- und Kreisgebiet waren zunächst einmal zum Nichtstun verdammt. ‚Friederike‘ rasierte die Landschaft nach wie vor mit einer Gnadenlosigkeit, die kaum zu beschreiben war.
Als sich die Dortmunder gegen Nachmittag schließlich Richtung Wittgenstein in Bewegung gesetzt hatten, mussten sie bereits an der Anschlussstelle Lüdenscheid-Nord die Sauerlandlinie wieder verlassen. Auf der Talbrücke Schlittenbach war ein Lastzug umgekippt und hatte die Autobahn blockiert.
An ein Weiterkommen war nicht zu denken. Erst recht nicht ‚über Land‘. Denn auch dort herrschte Chaos pur. So entschied der Hundertschaftsführer den geordneten ‚Rückmarsch‘ der zwölf Mannschaftstransporter in die einstige Bierhauptstadt Europas.
Um 20.33 Uhr hatten sie die Unterkünfte in Eving erreicht. Sechseinhalb Stunden für nicht mal 80 Kilometer Fahrt hin und zurück waren draufgegangen bei dem Versuch, Bad Berleburg zu erreichen.
Man werde es tags darauf wieder versuchen, ließ die Einsatzzentrale Berleburgs Revierleiter wissen. Und der hatte ein Einsehen. Es war den ganzen Tag über einfach viel zu gefährlich für einen Sucheinsatz wer weiß wo. Der Schutz der körperlichen Unversehrtheit geht auch für die Beamten vor.
Leon Körner hatte bereits lange vorher sein Gefühl in den Händen verloren. Und auch die Füße fühlten sich eher wie Schwämme am unteren Ende der Beine an. Je mehr deren Besitzer sich mühte, aus der Fesselung herauszukommen, umso mehr schwollen die Extremitäten an. Weil der Blutfluss nicht ausreichend garantiert war.
Wer weiß, wofür das gut war. Womöglich hätte der Ingenieur ansonsten die fast unerträgliche Kälte unter Finger- und Fußnägeln zu spüren bekommen. Und er hätte nichts dagegen unternehmen können.
Hunger bohrte in seinem Magen. Und Durst. Aber noch viel schlimmer war der Pegelstand seiner Blase. Leon hatte das Gefühl, kurz vor´m Platzen zu stehen.
Wieder donnerte und tobte es draußen. Und das Schaben auf dem Kofferraumdeckel nahm bedrohliche Formen an.
Plötzlich mischte sich in dieses Horrorkonzert auch noch ein Ächzen und Stöhnen, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es hörte sich an, als öffne sich ein Burgtor, dass schon seit Jahrzehnten keinen Millimeter mehr bewegt worden war. Und dann knallte etwas mit ohrenbetäubendem Lärm auf den Kofferraum, der augenblicklich gut die Hälfte seines Volumens verlor.
Ein aberwitziger Schmerz schoss durch Körners Becken. Auch Brustkorb und Schulter hatte es ganz offensichtlich erwischt, als ein umgeknickter Baum auf das Auto geknallt war. Das Atmen war ihm nahezu unmöglich geworden. Leon japste nur noch. ‚So sieht also jetzt das Ende aus‘, dachte er noch und fühlte sich eigenartig leicht. Dann hüllte ihn eine tiefe Bewusstlosigkeit gnädig ein.
Im Krankenhaus schoss Ronja erschreckt von ihrem Bett hoch. Ihr Kopf dröhnte. Aber sie sah und hörte nichts im Krankenzimmer. Draußen war es bereits dunkel. Nach den ersten Untersuchungen hatte sie in einen leichten Dämmerschlaf gefunden und war durch einen Schrei ihres Mannes geweckt worden. „Leon“, schrie sie auf. „Wo bist Du?“
„Um Himmels Willen, Ronja“, rief Schwester Rebekka, als sie zur Tür hereingestürzt kam. „Was ist denn los?“
„Ich habe Leon schreien hören. Er hat Schmerzen. Das fühle ich.“
Rebekka fühlte nach der Stirn der Kollegin. „Fieber hast Du nicht. Hast Du schlecht geträumt?“
„Nein“, Ronja Körner hielt sich den Kopf. „Ich habe gar nichts geträumt. Nur Leons Schrei habe ich gehört. Mensch, tut doch was! Leon ist in großer Gefahr. Und ich kann ihm nicht helfen.“
„Das ist nur Deine Phantasie, Liebes.“ Rebekka hatte sich auf die Bettkante gesetzt und Ronja sanft ins Kissen zurückgedrückt. „Versuch´, ein bisschen zu schlafen. Mit einer Gehirnerschütterung ist nicht zu spaßen, das weißt Du. Und schon gar nicht in Deinem Zustand. Glückwunsch übrigens“, fügte sie lächelnd an.
„Ich danke Dir, das ist ganz arg lieb von Dir.“ Auch Ronja versuchte zu lächeln. „Trotzdem: Leon ist in großer Gefahr. Das spüre ich überdeutlich. Da stimmt irgendetwas nicht. Wo kann er nur sein?“
„Ich weiß es doch nicht. Wie gerne würde ich Dir helfen und ihn ausfindig machen. Damit Du endlich zur Ruhe kommst.“ Rebekka Meister und ihr Mann Sebastian gehörten zum Bekanntenkreis der Körners. Sie mochten sich, funkten sozusagen auf derselben Wellenlänge. Umso mehr schmerzte es die gleichaltrige Frau, Ronja so leiden zu sehen. Der Summer an der Tür schnarrte. „Sorry“, beendete Schwester Rebekka das Gespräch. „Ich muss. Du weißt …“
Irgendwie war es ihr lieb, dass da ein anderer Patient auf der Station ihrer Hilfe bedurfte. Schnell stand sie auf, warf der Bettlägerigen einen Handkuss zu und verschwand aus dem Zimmer, nachdem sie den Summer abgeschaltet hatte. Ronja blieb im Schein der indirekten Beleuchtung zurück. Sie starrte an die Zimmerdecke und hörte wie in einem Nachklang immer und immer wieder den Schrei ihres geliebten Mannes. Irgendwann schlief sie ein.
Nach einem verdammt langen Tag war Mina gegen Mitternacht vor dem Haus der Körners angekommen. Erst am späten Abend hatte sich der Sturm so weit gelegt, dass man viele Straßen wieder gefahrlos benutzen konnte. Manche allerdings waren nach wie vor gesperrt.
Große Mengen provisorisch geschnittener Baumstämme an den Straßenrändern, Astfetzen auf den Fahrbahnen und jede Menge Unrat an den Häuser- und Mauerecken zeugten noch von dem Unwetter, das Wittgenstein heimgesucht hatte. Die Schäden waren beträchtlich.
Vor allem in den Wäldern hatte ‚Friedrike‘ übel gehaust und reiche Nahrung unter den 70, 80 Jahre alten Fichten gefunden, die noch zehn Jahre zuvor den Orkan Kyrill überstanden hatten.
Natürlich war Mina vor ihrem Trip nach Berghausen noch daheim in Diedenshausen gewesen. Die vielen Radiomeldungen von Gebäudeschäden und Zerstörungen hatten ihr keine Ruhe gelassen. Doch daheim war alles heil geblieben. Bis auf einen alten Apfelbaum im Garten, der ohnehin früher oder später hätte gefällt werden müssen.
Trotzdem tat ihr der jähe Tod des knorrigen alten Freundes leid. Schon als Kind war sie darin herumgeklettert. Und der gekelterte Saft seiner Früchte war für sie, so lange sie denken konnte, etwas Besonderes gewesen.
Etwas traurig packte sie ein paar Sachen ein, die sie für die Übernachtung brauchte und machte sich dann auf den Weg zum Haus der Freundin. Versprochen war schließlich versprochen.
Das Garagentor der Körners zierte eine dicke Kunststofffolie. Das Loch war wetterfest verschlossen. ‚Haben offenbar die Nachbarn noch draufgeklebt‘, dachte sich Ronjas Freundin. ‚Das sind echt patente Leute. Was die allein in der Zeit geschuftet haben, während ich da war, das geht auf keine Kuhhaut.’
Als sie jetzt das Haus betrat und Licht machte, war sie begeistert. Es roch nicht nur frisch geputzt und sauber. Im Wohnbereich sah es auch wieder ganz manierlich aus. Die Helferschar hatte tatsächlich alles, was nicht durch den Sturm zerstört worden war, wiederhergerichtet und vieles, soweit möglich, sogar wieder zusammengebaut. Die Tür zum Balkon war repariert, vereinzelte Bilder wieder aufgehängt und auf dem Esstisch stand sogar der Strauß Blumen, den sie am Mittag noch aus der Garage gerettet hatte. Ronja musste ihn dort am Abend zuvor vergessen haben. Womöglich auf ihrem Autodach. Der Sturm hatte ihn wohl in die Garagenecke gefegt.
Schnell schaute sie nach dem Anrufbeantworter. Doch der hatte, bis auf mehrere Nachfragen von ‚Rommert und Sohn’, nichts zu bieten. „Armer Schatz“, flüsterte Mina vor sich hin, „keine Meldung von Deinem Mann. Wie soll ich Dir das nur beibringen?“
Nachdenklich machte sie noch einen Kontrollgang durch das Haus und überschlug in Gedanken, was ‚Friedrike’ hier wohl an Schäden angerichtet haben mochte. Hoffentlich sind die beiden gut versichert.’
Nach einem kurzen Besuch des ebenfalls aufgeräumten und durchgewischten Bades legte sie sich schließlich zum Schlafen ins Gästezimmer. ‚Eine groteske Premiere’, dachte sie bei sich. ‚Hier hat seit dem Einzug der Körners noch keiner übernachtet. Dafür hätte es durchaus einen schöneren Anlass geben können.’
Kripo-Chef Klaus Klaiser saß zu dieser Zeit noch immer daheim im Arbeitszimmer und grübelte, wie man diesem anonymen Anrufer auf die Spur kommen könnte. Alle Versuche seiner Leute, diesen Menschen durch Hausbesuche und unverfängliche Gespräche ausfindig zu machen, waren gescheitert.
Die Suche hätte auch nur mit unheimlich viel Glück zum Erfolg führen können. Wer ist schon so dämlich und unterhält sich mit der Polizei, bei der er Stunden zuvor einen dubiosen Alarmruf abgesetzt hat. Er musste ja damit rechnen, dass der aufgezeichnet wird. Aber einen Versuch war die Befragung wert. Schließlich ging es um ein Menschenleben.
Erschwerend kam hinzu, dass längst auch das Verschwinden von Leon Körner angezeigt worden war. Der alte Rommert hatte sich am Abend auf der Wache gemeldet. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, dessen Frau Ronja zu erreichen. Da müsse etwas passiert sein, hatte er leutselig angemerkt. Sein Angestellter sei sonst die Zuverlässigkeit in Person. Aber der habe sich schon seit über einem Tag nicht mehr gemeldet und sei auch nicht erreichbar.
Dass das Verschwinden Körners in unmittelbaren Zusammenhang mit dem dubiosen Anruf gebracht werden könnte, darüber war in der Abendrunde zwar auch geredet worden. Doch der Gedanke wurde zunächst einmal verworfen. Weil der Ingenieur eigentlich längst in Brandenburg hätte sein müssen. Er war schließlich schon tags zuvor rechtzeitig losgefahren, um nicht vom drohenden Unwetter erwischt zu werden. Aber an seinem Ziel angekommen war er nachweislich nicht.
Daher verlegten sich die Kripo wie die Kollegen von der Schutzpolizei zunächst einmal darauf, die Polizeidienststellen auf dem Weg nach Potsdam in die Suche nach ihm und seinem Fahrzeug einzubinden. Wo hatte es eventuell einen Unfall mit Beteiligung Körners gegeben? Oder wo war er unter Umständen aufgegriffen oder aufgefunden worden?
Irgendwann fiel Klaiser der Kuli aus der Hand. Er war eingeschlafen. Den ganzen Tag über hatte er gegen den Orkan gekämpft und unter anderem dafür gesorgt, dass der nagelneue Wintergarten nicht zu Bruch ging.
Dieses filigrane Teil aus viel Glas, das nach den Wünschen seiner Frau Ute zur Krimmelsdell hin an ihr Haus angebaut worden war, hatte ein Schweinegeld gekostet. Aber es zeigte sich als wenig sturmresistent. Die wummernden Böen drohten die Glasflächen einzudrücken.
In einem wahren Himmelfahrtskommando hatte Klaus mit Hilfe dreier Nachbarn mehrere große Spanplatten aus der Garage auf die Terrasse expediert, sie zum Schutz der Scheiben einfach davor gestellt und im Aluminiumprofil festgeschraubt.
„Scheiß der Hund drauf“, hatte er geflucht. „Die Löcher im Profil kann man wieder zumachen.“ Und die Spanplatten, die eigentlich für den Ausbau des Dachbodens in der Garage lagerten, waren ersetzbar, falls sie gänzlich unbrauchbar würden.
Auf jeden Fall hatte das Provisorium gehalten. Nur der Vorrat an Bosch-Pils nicht. Der war am Ende der Aktion und der dringend notwendigen ‚Nachbesprechung’ aufgebraucht.