Читать книгу Eine Tote im Fluss - Wolfgang Breuer - Страница 6

Sonntag, 5. August 2018

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„Oh nein! Bitte nicht! Warum ausgerechnet heute? Verfluchte böse Tat!“ Sven Lukas war von seiner Sonnenliege im Garten hochgeschossen und starrte unverwandt zu Mina herüber, die blinzelnd in der Augustsonne lag und vor sich hin briet.

„Wo ist sie gefunden worden?“, rief er in sein Handy. „In Arfeld? Wo denn da? …“ Der ‚Freak’ hörte eine ganze Weile lang aufmerksam dem zu, was ihm der Diensthabende von der Wache in Berleburg mitzuteilen hatte. Dann fragte er schließlich: „Wer ist vor Ort? … Aha. SpuSi, KTU, Gerichtsmediziner auch schon bestellt? … Okay. Ja, ich fahr‘ gleich los. … Was? … Nee, nee, ich bin in Diedenshausen. Jep, Ciao!“

„So eine Kacke, so eine verfluchte!“, schimpfte der Kriminalkommissar und hätte aus einer Drehung heraus beinahe sein Smartphone wie einen Diskus in den Hang unterhalb von Minas Haus geschleudert. „Ausgerechnet heute, ausgerechnet, wo ich allein den Bereitschaftsdienst machen muss, finden die eine Leiche in der Eder. Das ist doch zum Kotzen!“

Mina war inzwischen hellwach und fragte interessiert nach:

„Weiblich oder männlich?“

„Weiblich. Muss ziemlich übel aussehen.“

„Ach, Herrjeh. Und vermutlich auch keine Ahnung, wer das war.“

„Natürlich nicht. Es ist gerade mal 45 Minuten her, dass sie gefunden wurde.“ Ohne weitere Worte sammelte er seine Klamotten ein, um sich drinnen kurz zurechtmachen und anziehen zu können.

Sven, den seine Kollegen wegen seines Hangs zu jeder Form von moderner Elektronik auch ‚Freak‘ nannten, wohnte seit gut drei Monaten bei dieser ausgesprochen attraktiven Frau, die er im Januar erst kennengelernt hatte. Beide hatten sich auf Anhieb ineinander verliebt. Und das mitten in den Ermittlungen zu einem zweifachen Mord in Berghausens Wäldern.

Diese tolle Frau hatte einer Freundin während des Orkans ‚Friederike‘ mehr oder weniger das Leben gerettet und ihr tapfer zur Seite gestanden, als deren Mann spurlos verschwunden war. Und das hatte den Kommissar derart begeistert, dass er die Dame unbedingt kennenlernen wollte. Da war es dann passiert.

Sven verbot es sich, noch weiter in Gedanken abzugleiten. In null Komma nix war er gewaschen, angezogen und zur Abfahrt bereit. Auf dem Weg zum Wagen kam er noch mal im Garten vorbei, verabschiedete sich von Mina mit ein paar Küssen und fragte beiläufig: „Wie komme ich denn von hier auf dem schnellsten Weg nach Arfeld?“

Das zu erklären, war nun wirklich kein Hexenwerk für die junge Hebamme, die heute ausnahmsweise einmal freihatte. „Immer talwärts, über Alertshausen bis Elsoff. Dort biegst Du rechts ab und fährst Richtung Schwarzenau. Und dort wieder rechts ab nach Arfeld.

Es war exakt 15:38 Uhr, als der Kommissar von Schwarzenau her an der Ederbrücke am Ortsrand von Arfeld ankam. Die Zufahrt hinüber zum Gersbachweg war mit Flatterband der Polizei abgesperrt. Aber einer der Beamten hob die Plastikbarriere an, um ihn samt Wagen passieren zu lassen. Es war der Kollege Finkbeiner von der Schutzpolizei.

„Grüß' Dich, Dirk“, rief Lukas ihm zu, als er langsam anfuhr. „Kannst Dir sicher auch was Besseres vorstellen, als hier in der brüllenden Hitze zu stehen.“

„Das kannste aber glauben. Ich koche im eigenen Saft“, antwortete der und hob zur Bekräftigung des Gesagten die Arme. Große dunkle Flecken zeichneten sich unter seinen Achselhöhlen im Uniformhemd ab.

Es bedurfte keiner großen Mühe zu erkennen, wo die bedauernswerte Frau gefunden worden war. Denn zur Linken stand eine dichte Menschentraube rechts der Eder, die zum Flussufer hindrängte, aber von mehreren, ebenfalls schwitzenden Polizeibeamten zurückgehalten wurde.

„Darf ich mal durch?“, versuchte Sven sich ganz knapp am Wasser einen Weg durch die Menge zu bahnen. Doch er wurde ziemlich barsch von einem Mann abgeblockt, der ein Kreuz hatte wie ein viertüriger Kleiderschrank.

„Ey“, motzte der, „hie weard net gedrängelt, Kearle. Sunst gätts Arja.“

Sven hatte nicht alles von dem Satz verstanden. Wohl aber mitbekommen, dass da Ärger drohe, wenn er sich nicht füge.

„Passen Sie mal auf“, tippte er die Schrankwand an und zückte seinen Dienstausweis. Doch der machte offenbar keinen Eindruck bei dem Hünen. Der schaute nicht mal hin.

„Hie bleiweste stenn. Sunst gätts Hiwwe. Fremde wie Dü honn hie suwesu nix ze süche.“

Ein feixender Nachbar war gerne bereit, das ins Hochdeutsche zu übersetzen. „Hier sollste stehen bleiben. Sonst gibt‘s Haue. Fremde wie Du hätten hier sowieso nix zu suchen, sagt er.“

„Das werden wir ja sehen. Machen Sie bitte Platz. Ich bin von der Polizei.“

„Ja, ja. Und ich bin der Kaiser von China“, echote es aus der Gruppe, begleitet von einem nun wirklich unpassenden Gelächter.

Sven knirschte leise mit den Zähnen. Derbe schubste er den Großen nach rechts und ging gleichzeitig in eine Verbalattacke über. „Was soll denn dieser Scheiß hier? Machen Sie jetzt mal Platz! Ich bin dienstlich hier!“

Da kam unvermittelt dessen linke Pranke herüber, die ihn am Oberarm erwischte und ziemlich durchschüttelte. Doch darauf war Sven Lukas bestens vorbereitet. Ohne großen Kraftaufwand entglitt er dem Zugriff durch eine plötzliche Körperdrehung und fasste gleichzeitig mit beiden Händen nach der Riesenpfote, die er blitzartig in den gefürchteten Polizeigriff bog. Der Riese jaulte auf und ging nach vorn auf die Knie.

„Alles, was Sie nun an Schmerzen haben werden, können Sie selbst bestimmen. Ich bin von der Polizei, ich muss hier durch und will nicht von Ihnen bei der Arbeit behindert werden. Ist das bei Ihnen angekommen?“ Während der Frage bog er die ergriffene Hand noch ein wenig in Richtung Unterarm. „Jahaaaa!“, knödelte deren Besitzer und japste nach Luft.

Also konnte der ‚Freak‘ den knienden Hünen gefahrlos wieder loslassen und sich einfach an ihm vorbeiwurschteln. Der Brecher hatte genug und war obendrein noch blamiert bei seinen Kumpels.

Unproblematisch war das Passieren des Absperrrings der uniformierten Kollegen. Die ließen ihn selbstverständlich mit einem Kopfnicken durch. „Hätt‘ste auch besser gemacht, Großer“, hörte er hinter sich den Typen, der ihm gerade eben noch feixend Wittgensteiner Platt ins Hochdeutsche übersetzt hatte. ‚Tja‘, dachte Sven, ‚Freunde muss man sich erarbeiten.‘

Langsam und mit gebotenem Respekt näherte sich der Kommissar dem Ederufer, wo eine Gruppe von drei Schutzpolizisten den Blick auf die Fundstelle verdeckte. Außerdem bot dichter Uferbewuchs eine natürliche Deckung. Für die Gaffer war diese Stelle nicht einsehbar. Und das war auch gut so.

Denn als der Kommissar die letzten Schritte auf die Beamten zuging, drehte sich der mittlere von ihnen um und machte ihm gegenüber eine abwehrende Handbewegung. Es war Rüdiger Mertz, der kopfschüttelnd zu verstehen gab, Lukas möge auf das Schlimmste vorbereitet sein. Der ‚Freak‘ nickte und ging nach vorn.

„Oh mein Gott“, zuckte er erschreckt zurück und sog zischend die Atemluft zwischen den Zähnen ein. Als könne die dadurch entstehende Kühle maßgeblich zur Stabilisierung seines Magenzustandes beitragen. „Was, um alles in der Welt, ist denn das für eine grauenhafte Unsäglichkeit. So etwas habe ich ja noch nie gesehen! Das ist ja …, das ist …“, schnappte er nach Luft, „ich finde dafür gar keine Beschreibung.“

„Das geht uns allen so“, pflichtete ihm Mertz bei und legte ihm den rechten Arm um die Schulter. „Das müssen Wahnsinnige gewesen sein, die das gemacht haben.“

Sven bekam sich nur schwer wieder unter Kontrolle. Was er dort in wenigen Sekunden gesehen hatte, sprengte alles, was seine Vorstellungskraft fassen konnte. Im Ufergebüsch hatte sich ein nahezu nackter weiblicher Körper verfangen, dessen Gesicht nicht mehr vorhanden war. Eingedrückt, zerfetzt, zerstört. Im Brustkorb waren zwei Stichwunden zu sehen, nahezu der ganze Körper wies Risswunden auf.

„Der Leichnam müsse schon seit Tagen im Wasser gelegen haben, sagte der Arzt. Wahrscheinlich von Anfang an hier in der Eder. Demzufolge wurde er von weiter oben hierher abgetrieben. Zwei Jungs haben ihn beim Spielen gefunden und die Leute dort drüben alarmiert.“ Dabei zeigte Rüdiger auf ein alleinstehendes Haus. „Jetzt sitzen sie bei den Sanitätern im Wagen und werden nach dem Schock betreut. Ihre Eltern sind auch dabei. Nette Menschen.“

„Gut so. Lassen wir den Buben und ihren Eltern einen Moment Zeit. Was läuft sonst?“, wollte Lukas schwer atmend und schluckend wissen.

„Wir sind gerade dabei, einen Suchtrupp zu organisieren“, berichtete Kommissar Mertz. „Er soll die Uferbereiche ederaufwärts absuchen nach der Stelle, wo der Mord passiert ist oder zumindest die Leiche ins Wasser geworfen wurde.“

„In Ordnung“, antwortete Sven trocken und starrte gedankenverloren geradeaus. Er fühlte sich wackelig auf den Beinen. Doch er konnte sich jetzt nicht auf und davon machen. Denn er hatte Wochenenddauerdienst. Alle weiteren Arbeiten hier waren hauptsächlich Sache der Kripo. Also seine.

‚Komm Alter‘, gab er sich einen innerlichen Tritt, ‚auf jetzt!‘ Mit kleinen unsicheren Schritten ging er wieder zurück zur Fundstelle und wagte mit angehaltenem Atem einen erneuten Blick hinunter zu dem Körper im Gestrüpp. Noch lag die Frau so, wie sie aufgefunden worden war. Denn zunächst mussten der Gerichtsmediziner und der Staatsanwalt die Leiche gesehen haben.

Die Spurensicherer hätten wahrscheinlich weniger Freude, dachte er. Denn rund um den Fundort war alles platt getreten, das Gebüsch unmittelbar drumherum auseinandergezerrt. Das war nicht verwunderlich. Denn Freiwillige hatten nach der Entdeckung eines reglosen Menschen im Wasser zunächst einmal versucht, ihm zu helfen, waren dann aber zurückgeschreckt, als sie das zerstörte Gesicht gesehen hatten. So wie Lukas auch.

Es war eine sportliche junge Frau. Das konnte der Ermittler erkennen. Und ihre Sonnenbräune. Obwohl die graugelbe Leichenblässe durchschimmerte. Neben ihr kauerte, in Gummistiefeln, noch immer der Notarzt, der alle möglichen Eintragungen auf einem Klemmbrett vornahm. Lukas gesellte sich zu dem Mediziner und stellte sich vor. Der Mann schaute auf und lächelte den Kommissar an. „Ich kenne Sie“, stellte er nüchtern fest. „Stünzel vorletztes Jahr.“

‚Lieber Gott, natürlich‘, erinnerte sich Sven. Stünzel 2016. Daher kannten sie sich. Er sprang auf und ging ein paar Meter zur Seite. Nie würde er das vergessen. Weil er selbst zutiefst betroffen gewesen war, von dem Tod einer Studentin, die man in einem Viehanhänger gefunden hatte. Erst tags zuvor hatte er sich in eben diese Frau unsterblich verliebt. Er dachte damals, er würde den Schmerz niemals überwinden.

„Ja, aber das hier“, wedelte der Arzt mit der freien Hand in der Luft herum, während er ihn verfolgte, „das hier ist wirklich extrem brutal. Ich habe viele verstümmelte Unfallopfer gesehen und auch Opfer von Explosionen. Aber es gibt auch für Mediziner immer wieder Momente, wo sie nicht mehr an Gottes Gnade glauben wollen. Jemandem das Gesicht regelrecht zu zertrümmern, das ist so ziemlich das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Was bezwecken die Täter damit?“

Aber Sven hörte schon gar nicht mehr hin. Er war bei der Erinnerung an den Mord auf dem Stünzel innerlich ins Straucheln geraten. War das nötig, dass ihn ausgerechnet der Notarzt an diese furchtbare Zeit erinnerte?

Natürlich, der hatte sich sicher nichts dabei gedacht. Weil er keine Ahnung hatte, wie sehr Sven von dem Fall damals persönlich betroffen war. Wie ein Tier hatte er gelitten. Und trotzdem hatte er, gegen den Rat der Kollegen, seinen Dienst weitergemacht. Gnadenlos gegen sich selbst. Denn allein, ohne Menschen in seiner Nähe, wäre er durchgedreht.

Mehr oder weniger gewaltsam gegen sich selbst, kehrte er in die Gegenwart zurück. ‚Wir müssen dringend Zeugen befragen, bevor die hier wieder alle verschwunden sind.‘ Nur, wer sollte das machen? Der Kommissar war ein wenig hilflos. Er war gebunden, musste zunächst warten, bis Gerichtsmedizin und KTU da waren. Und überhaupt, wo blieb eigentlich der Staatsanwalt? Sven schaute auf seine Armbanduhr. 16:12 Uhr. „Wird langsam Zeit, dass wenigstens der Puhlmann hier antrabt“, knurrte er vor sich hin. „Der hat einen verdammt kurzen Weg von Raumland hierher.“

„Jahaaaa, aber der hatte bis eben kein Auto“, erscholl postwendend die Aufklärung von seiner Rechten. Der Staatsanwalt war von hinten her gekommen und hatte sich zunächst einmal nach Ansprechpartnern von der Polizei umgesehen. „Grüße Sie, Herr Lukas. Was haben wir?“

„Eine bitterböse Geschichte, Herr Staatsanwalt“, antwortete der ‚Freak‘, der überrascht zusammengezuckt war. „Ich grüße Sie auch. Kommen Sie, lassen Sie uns schnell dorthin gehen. Sind nur ein paar Schritte bis da vorn am Ufer. Aber machen Sie sich auf ein unschönes Bild gefasst.“

Puhlmann blieb stehen und fasste Sven Lukas am Arm. „Wieso? Ist es so schlimm?“

„Ja. Sehr! Der oder die Täter, die diese junge Frau, Alter geschätzt Mitte, Ende 20, umbrachten, haben sie verstümmelt. Ihr fehlt das Gesicht und sie hat Einstiche in der Brust. Grauenhaft, dieses Bild! Der Doc meint übrigens, dass sie schon länger im Wasser liegt.“

Puhlmann schluckte. „Oh Gott. Und das am Sonntagnachmittag.“ Er holte tief Luft und meinte schließlich: „Naja, hilft ja nichts. Gehen wir.“

Der Notarzt und ein Rettungssanitäter hatten die Leiche notdürftig mit einer Aluminiumfolie abgedeckt, deren Ecken am Uferbewuchs festgemacht waren. An der Lage der toten Frau, die noch immer im Wasser lag, durfte ja zunächst nichts verändert werden.

Als die Folie weggenommen wurde, um dem Staatsanwalt freien Blick zu gewähren, verschlug es auch ihm den Atem. „Gütiger gerechter Gott“, stieß er hervor, „warum lässt Du so etwas zu?“ Die umherstehenden Polizeibeamten schauten sich verwundert an.

Sven sah, wie dem sonst so taffen Mann Tränen in die Augen stiegen. Dennoch hafteten seine Blicke fest an der Toten. Was mochte der Staatsanwalt jetzt wohl denken?

Puhlmann verharrte einen Moment mit gefalteten Händen, als spreche er ein stilles Gebet. Dann wandte er sich zu Lukas um und fragte mit belegter Stimme: „Wer hat sie gefunden?“

„Zwei Jungs. Die haben die Leiche beim Spielen entdeckt und die Leute im Haus dort vorne alarmiert. Die beiden werden gerade von Sanitätern und ihren Eltern betreut. Ich denke, wir sollten zunächst einen Arzt nach ihnen sehen lassen, bevor wir mit ihnen reden.“

„Sehr gute Idee, Herr Lukas, machen Sie das. Und gehen Sie behutsam vor. Am besten im Beisein der Eltern.“

„Natürlich, Herr Staatsanwalt.“

„Ach, noch etwas, Herr Lukas. Meine Reaktion eben wird Sie gewundert haben.“

„Nein, warum?“, wehrte der ‚Freak‘ ab.

„Ach kommen Sie, ich hab‘s doch gemerkt. Es ist ja auch absolut unüblich, dass sich ein Staatsanwalt derart auf persönliche Gefühle einlässt.“

„Ich bitte Sie, Herr Puhlmann. Muss Ihnen denn in Ihrem Job jede Form von Menschlichkeit abhandenkommen?“

„Nein. Natürlich nicht. Nur werden wohl die meisten Kollegen ihre Gefühlsregungen nicht in dieser Deutlichkeit zeigen. Aber wissen Sie, … ich habe eine Tochter etwa im Alter der Toten. Sie studiert in den USA und ist demzufolge weit weg von uns. Als ich diesen malträtierten Körper sah, musste ich zwangsläufig daran denken, was wäre, wenn wir als Eltern die Nachricht bekämen, die nun die Eltern dieser jungen Frau bekommen werden. Allein dieser Gedanke macht mich fertig. Verstehen Sie? Zumal Morde in den USA ja gewissermaßen an der Tagesordnung sind.“

„Oh ja, ich verstehe Sie sehr gut“, antwortete Sven. Irgendwie fühlte er plötzlich eine Nähe zu dem Mann, der ihm und seinen Kollegen im Dienst schon des Öfteren echte Probleme gemacht hatte.

Es war gerade halb fünf am Nachmittag, als der Mercedes 500 CL mit Reinhard und Desiree Klinkert vor der Doppelgarage in der Stedenhofstraße zum Stehen kam. Der Motor des Wagens knackte unter der enormen Hitze. Und die Lüfteranlage mühte sich brausend um Kühlung.

Es dauerte einen Moment, bis im Innenraum der mondänen Limousine Bewegung einsetzte. Nach diesem Höllenritt vom Lago Maggiore bis nach Arfeld wirkten die Knochen und Gelenke der Insassen trotz komfortabelster Sitze fast wie eingerostet. Gerade einmal zwei kurze Tankstopps mit Pipi-Pause und jeweiligem Fahrerwechsel hatten sie sich gegönnt. Denn sie wollten auf jeden Fall noch rechtzeitig daheim sein und mit ihrer Tochter auf deren 24. Geburtstag anstoßen.

Ursprünglich war ihre Rückkehr erst für Dienstag geplant. Aber dann hatten sie sich doch überlegt, Hanna zu überraschen und vielleicht in zwei Wochen noch einmal ‚runter zu fahren‘, wie sie ihre Italien-Trips nannten.

Noch bevor sie ausstiegen, nahm Desiree beide Hände hinter den Kopf und streckte ihren gertenschlanken Körper. Während ihr Mann seine Schultern vor und zurück rollte und den Rücken durchdrückte. Altes Ritual, gefühlt tausendmal von beiden vollführt. Erst dann stiegen sie aus, um gleich noch ein, zwei Dehnübungen neben dem Daimler zu absolvieren.

Es war still vor dem respektablen Anwesen der Klinkerts. Ein villenähnliches Haus, das das Unternehmerehepaar auf den Grundmauern eines alten Gehöftes hatte bauen lassen.

Sebastian Klinkert, der Urururgroßvater von Reinhard, hatte hier schon 1779 eine Hofstatt errichtet. Heute konnte man das nur noch von dem angekokelten Stirnbalken ablesen, der über dem Tor der Doppelgarage ins Mauerwerk eingelassen war. Denn der Hof selbst war 1998 bei einem Gewitter in Flammen aufgegangen und total zerstört worden.

Bis auf zwei mittelgroße Rollkoffer mussten die Klinkerts später nur noch zwei Kartons Wein aus dem Kofferraum ausladen. Das war alles. Denn in ihrem Feriendomizil an der Via Mattarone in Stresa waren sie seit Jahren mit allem ausgerüstet, was das Herz begehrt. Auch mit vollen Kleiderschränken. Die, wegen der Nähe zu Mailand, immer wieder mal durchforstet werden mussten, um nicht aus allen Fugen zu geraten.

Umständlich puhlte Reinhard Klinkert die Hausschlüssel aus der Tasche seiner luftigen Sommerhose und schloss auf. Angenehme Kühle umlullte das Paar, als es das Foyer betrat. „Wow!“, rief Desiree, „welch‘ eine Wonne.“

„Jahaaa, die Klimaanlage arbeitet hervorragend“, lachte Reinhard. „Die Investition hat sich mehr als gelohnt.“ Doch diese These entpuppte sich im wahrsten Sinne des Wortes als heiße Luft, als er nämlich die Tür zum großen Wohnbereich öffnete. Denn dort empfing sie eine Wärme, die hier drin noch unangenehmer war als vor dem Haus. „Was ist denn hier los?“, wetterte der Hausherr. „Verdammt noch mal, Hanna, was läuft hier?“

Doch es rührte sich nichts. Lediglich aus den Lüftungsschlitzen der Klimaanlage war ein beständiges Pusten zu hören. Ein ungleicher Kampf gegen die Hitze, wie sich schnell herausstellte. Und als Frau Klinkert um die Kaminecke bog, fand sie den Grund für die Misere. Die große Schiebetür zur Gartenterrasse war sperrangelweit offen. „Ooooh Kind“, dachte sie mehr, als dass sie es aussprach, „wo hast Du nur manchmal Deinen Kopf?“

Ihr Mann hatte es trotzdem gehört und spielte schnell den verständnisvollen Vater. „Komm, reg‘ Dich nicht auf“, lächelte er. „Sie wird zu heftig in ihren Geburtstag rein gefeiert haben und liegt jetzt irgendwo, um ihren Rausch auszuschlafen. Womöglich dort draußen in ihrer Lieblingsecke.“

„Da bin ich ja mal sehr gespannt“, lächelte Desiree, die nun auch zur mütterlichen Milde zurückgefunden hatte. Mit einem Griff fischte sie ein kleines Päckchen aus ihrem Koffer, um dann spornstreichs in den Garten hinauszumarschieren. Doch als sie, gefolgt von ihrem Mann, einen Bogen um die große Thuja-Hecke gemacht hatte, schreckte sie zurück und lachte in ihre vorgehaltene Hand.

„Was ist“, zischte Reinhard, den sie mit der anderen Hand festgehalten hatte, „ist was passiert?“

„Das kann man so sagen, ja. Da passiert gerade was.“

„Oh, lass mal gucken“, wollte der Gatte sich gerade losmachen.

„Besser nicht. Oder willst Du Deiner Tochter beim Sex zuschauen?“

„Beim WAS?“

„Pssst“, hielt sie ihm schnell ebenfalls den Mund zu. „Du hast mich schon richtig verstanden.“

„Ja, aber sie kann doch nicht einfach im Garten …“ murmelte er in ihre Hand.

„Kann sie doch“, gluckste Desiree und zerrte ihren Mann zurück zum Haus. „Sie ist volljährig. Geht das da oben bei Dir rein?“, tippte sie mit einem Finger an seine Stirn. Und im Übrigen wissen wir beide sehr genau, was im Garten geht und was nicht“, lachte sie richtig los, als sie wieder im großen Wohnzimmer waren. Hinter zugezogener Tür. „Da hinten kann doch keiner reingucken.“

„Stimmt! Eigentlich hast Du recht. Aber unser Platz ist ja nun ‚verbrannt‘, wenn ich das mal so sagen darf“, sagte er grinsend. „Außerdem haben alte Menschen wie wir ganz andere Bedürfnisse an ganz anderen Orten.“ Mit einem schwungvollen Griff umfasste Reinhard Klinkert die Hüften seiner noch sehr jugendlich wirkenden Frau und gab ihr einen langen Kuss.

„Uuuuh, fühle ich da vielleicht etwas heraus?“, fragte sie mit verklärtem Blick und drehte sich aus dem Arm ihres Mannes heraus, um ihren Koffer Richtung Treppenhaus zu fahren. „Aber vorher möchte ich noch etwas essen und mich frisch machen.“

‚Da ist sie wieder, diese frappierende Nüchternheit, mit der sie dich innerhalb von Sekundenbruchteilen herunterkühlen kann‘, dachte Klinkert bei sich und folgte ihr, seinen Koffer ebenfalls hinter sich herziehend.

Klaus Klaiser brummelte Unverständliches in seinen nicht vorhandenen Bart. Gerade erst waren seine kleine Familie und er aus dem Münsterland zurückgekommen. Stippvisiten bei Verwandten. Die waren so nötig, passierten aber leider viel zu selten. Von Freitagmittag bis Sonntagnachmittag. Das war auch viel zu kurz.

Aber es hatte Spaß gemacht, mal wieder in längst vertraute Gesichter zu schauen und deren Geschichten zu lauschen. Und dabei den guten Katenschinken auf dem dort so angesagten Pumpernickel zu essen. Natürlich gab‘s dazu auch das typische Münsterländer Altbier.

Und jetzt? Jetzt jagte er seinen Dienst-A5 mit Kojak-Lampe auf dem Dach und ordentlich „Tatü-tata“ die Landstraße von Berghausen nach Arfeld herunter, um sich, wie der ‚Freak‘ angekündigt hatte, eine der „widerwärtigsten Leichenfundsachen“ anzusehen, die er je zu Gesicht bekommen habe.

„Klasse Job, so für einen Sonntag ohne Dienst“, maulte er, während er, von Dotzlar her kommend, die Ederbrücke beim Arfelder Bahnhof überquerte. „Hat dich aber auch keiner gezwungen, Chef zu werden, du Rindviech.“

Insgeheim aber musste er ob seiner Selbstkasteiung grinsen. Denn Chef zu sein, war ja nun so schlecht auch wieder nicht.

Mit Vorsicht durch eine 30er Etappe und danach durch zwei Kurven bergab. Kurz darauf war er schon raus aus dem Ort und am Ziel. Kurz hinter dem Ortsschild standen zwei Einsatzfahrzeuge am Straßenrand und jede Menge Neugieriger, die hofften, von oben herunter einen Blick auf die Tote im Edertal erhaschen zu können.

Als der verschwitzte Finkbeiner an der Straßensperre Klaiser erkannte, ließ er das blau-weiße Flatterband fallen, um den Kripo-Chef durchzulassen.

Aber der blieb stehen, stieg aus und holte aus seiner Tasche auf dem Rücksitz eine Flasche Mineralwasser. „Hier“, sagte er und drückte dem verblüfften Kollegen die Pulle in die Hand. „Kannst Du behalten. Du siehst nicht so aus, als hättest Du schon ausreichend Abkühlung gehabt heute.“ Dann stieg er wieder ein und fuhr den abschüssigen Weg hinunter.

Unten, hinter der nächsten Brücke, hatte Klaus schnell einen Parkplatz gefunden. Es waren nur ein paar Meter zum Fundort zu laufen. Die renitenten Gaffer am Ederufer waren verschwunden. Denn Rüdiger Mertz war ihnen gehörig auf die Zehen gestiegen und hatte von jedem die Personalien erfragt und notiert. Gesehen oder gehört hatte von denen ohnehin keiner was. Jedenfalls nichts, was zur Aufklärung des Mordes hätte beitragen können.

Vorne, am Ufer der Eder, waren die Herren in Weiß im Einsatz. Rechtsmedizin und KTU in prominenter Besetzung. Doktor Julius Kölblin und Gerd Steiner. Alte und von Klaiser sehr gemochte Bekannte. Entsprechend herzlich fiel auch die Begrüßung aus. Soweit das unter den gegebenen Umständen überhaupt möglich war.

„Wollen Sie‘s wirklich wagen?“ Der Kummer gewohnte Doc Kölblin war sich nicht ganz sicher, ob der Kriminalist den Anblick der Leiche so einfach wegstecken würde.

„Wieso? Ist es so schlimm? Der Kollege Lukas hat schon solche Andeutungen gemacht. Wo ist denn der überhaupt?“

„Der spricht vorne im VW-Bulli gerade mit den beiden Jungs, die die Leiche entdeckt haben“, antwortete Steiner. „Und ja, der Anblick ist grausam. Da muss ich dem Doc beipflichten. Ich glaub‘, der will Sie nur schützen.“

„Das ändert ja nichts. Ich muss mir ja ein Bild machen können. Von Leichen- und Tatortfotos allein halte ich nicht so besonders viel. Also bringen wir‘s hinter uns.“

„In Ordnung. Wie Sie wollen“, fügte sich Kölblin, öffnete den Reißverschluss am Leichensack von oben bis unten und legte dann mit einem Ruck den gesamten Leichnam der jungen Frau frei, der lediglich einen Slip trug.

Klaus Klaiser schrak zurück und schlug eine Hand vor den Mund. Entsetzt starrte er in den Leichensack und schüttelte nur den Kopf. Dann drehte er sich herum und holte tief Luft. „Wie ist denn so was möglich?“, stammelte er. „Wer zerstört denn, aus welchem Grund auch immer, derart einen so jungen Körper?“

Fassungslos wanderte Klaus im Kreis herum und versuchte, zu klarem Verstand zu kommen. Dann blieb er schließlich wieder vor dem Rechtsmediziner stehen und schaute ihn mit wässrigen Augen an. „Was genau hat man ihr angetan?“

Doc Kölblin zuckte mit den Schultern und schüttelte sein in Ehren ergrautes Haupt. „Was genau, das kann ich Ihnen natürlich erst nach der Obduktion sagen. Falls überhaupt.“

„Wieso?“, fragte Klaiser nach. „Dass ihr Gesicht völlig zerstört ist, das habe ich ja gesehen.“

„Ja, aber wodurch das geschah und ob das todesursächlich war, lässt sich aus dem Stand auf gar keinen Fall sagen. Außerdem weist ihr Körper mindestens zwei Einstiche auf und hat überall Risswunden.“

„Dann waren die beiden Stiche doch wohl eher tödlich, Herr Doktor.“

„So wie es aussieht, stimmt das bei einem auf alle Fälle. Der ging vermutlich direkt ins Herz. Wofür aber hat man dann ihr Gesicht derart zertrümmert?“

„Fragen Sie mich bitte was Leichteres.“

„Wenn ich mich recht erinnere, wurde uns im Studium erzählt, dass es wohl Stämme im tiefen Afrika gebe oder gegeben habe, bei denen es üblich war, ihre getöteten Feinde so zu verunstalten. Damit sie aus dem Jenseits nicht mehr auf die Lebenden blicken konnten. Andere Stämme haben den Getöteten wohl deshalb auch die Augen ausgestochen. “

„Hören Sie auf, hören Sie bitte auf“, wandte sich der Kripo-Chef vehement gegen die Ausführungen des Mediziners. „Sie haben ja ein Gemüt wie ein Schlachterhund. Das gibt es doch gar nicht.“

„Moment, Moment! Ich kann ja verstehen, dass bei Ihnen Kopf und Magen gleichzeitig rebellieren“, brachte sich der Medizinmann in Abwehrstellung. „Aber den Schuh, den Sie mir da hinhalten, ziehe ich mir nicht an. Ich habe lediglich mein Wissen zu der höchst seltenen Praktik des zerschmetterten Gesichts preisgegeben. Das könnte nämlich durchaus auch eine Botschaft sein.“

„Wie?“, versuchte Klaus wieder auf die Höhe der Diskussion zu kommen. „Wollen Sie damit etwa andeuten, dass der oder die Mörder aus einem dieser Länder oder Stämme kommen könnten und so eine besondere Form von Rache üben?“

„Das könnte man so sehen.“

„Ja, aber für was denn bitteschön?“

„Keine Ahnung. Das ist Ihre Sache, verehrter Herr Klaiser. Ich wollte nur helfen“, endete Doktor Kölblin leicht indigniert und wandte seinen Blick ab. „Kann ich den Leichensack jetzt wieder schließen lassen?“

„Ja, natürlich.“ Klaus hatte den Unterton sehr wohl verstanden und bemühte sich um Wiedergutmachung. „Verzeihen Sie bitte meine Reaktion. Das war zu viel auf einmal. Sie hatten von Anfang an recht. Entschuldigung.“

„Schon gut. Alles wieder in Ordnung“, lächelte ihn der Doc etwas schräg an. „Wissen Sie, vielleicht liegen Sie ja richtig mit diesem ‚Schlachterhund‘. In meinem Beruf muss man gelegentlich eine Schwarte haben, gegen die sich eine Elefantenhaut wie Pergament ausmacht. Kann sein, dass man dann auch verbal ein wenig zu weit hinausrudert. Kann sein …“, murmelte er mehr in sich hinein und versuchte, den weißen Anzug vom Leib zu bekommen, der ihm durch den Körperschweiß zur zweiten Haut geworden war.

„Kommen Sie, ich helfe Ihnen“, bot Klaiser an. Doch sein Funkgerät rührte sich plötzlich. Harry Senftleben von der Schutzpolizei meldete einen Fund am Ederufer.

„Ihr müsstet mal hier raufkommen und jemanden von der Spurensicherung mitbringen. Das ist vielleicht so sieben-, achthundert Meter von Euch entfernt auf der rechten Uferseite. Hier geht ‘n Wiesenweg vorbei, der am einfachsten vom hinteren Ende der Stedenhofstraße her erreichbar ist. Dann zweimal links. Wo die Eder fast direkt an den Wald heranführt, stehen wir.“

Klaus Klaiser informierte noch schnell Sven Lukas per Handy und wenige Minuten später waren er, Rüdiger Mertz und Gerd Steiner schon vor Ort. Der KTU-Mann hatte sie zweckmäßigerweise in seinem fahrenden Labor mitgenommen. So hatte er alles dabei, was er unter Umständen brauchen könnte. Zwei seiner Leute mühten sich nach wie vor in der Flachwasserzone am Fundort ab, bedeutsame Funde zu machen. Bisher waren sie leer ausgegangen.

„Grüß Dich, Harry“, streckte Klaiser dem Uniformierten die Hand entgegen. „Was habt Ihr?“

„Och, ‘ne ganze Menge, würde ich behaupten. Da vorne auf der kleinen Lichtung, Frauen-Sommerkleidung, ein Badelaken, einen Bikini und, wenn ich das hier richtig sehe, getrocknete DNA in Form von Sperma.“ Senftleben wies dabei auf eine Stelle auf dem Badetuch, die jeder der Betrachter ebenfalls sofort als vertrocknete Samenflüssigkeit ausmachte.

Nicht weit davon ein Papiertaschentuch, das womöglich einen ebensolchen Inhalt einschloss. Musste man zumindest vermuten. Denn es ließ sich nicht auseinanderfalten. Ein fast untrügliches Zeichen für ‚Männerpattex‘.

„Prima gemacht“, lobte der Kripomann. „Seid Ihr auch sicher, dass die Besitzerin nicht noch irgendwo hier im Wasser sitzt oder herumschwirrt?“

„Na, hör mal“, empörte sich der Polizeikommissar künstlich, „das Zeug bröckelt ja fast. Frisch sieht‘s hier sowieso nirgends aus. Und überhaupt – würdest Du als Frau splitternackt in der Gegend rumlaufen?“

„Er sicher nicht“, schaltete sich Steiner grinsend ein und ging auf die Knie, um das Badetuch näher zu betrachten. „Ich muss Ihnen recht geben“, sagt er nach einer Weile. „Das Sperma ist schon ein paar Tage alt. Das ist knochentrocken. Und riechen tut‘s auch nicht mehr.“

Die anderen schauten ihn kopfschüttelnd und mit gerümpfter Nase an.

„Aber Sie meinen schon, dass sich daraus eine DNA erlesen lässt.“

„Und was für eine“, lachte Steiner. „Vielleicht sogar zwei.“ Dann drehte er ab. „So, jetzt isses aber gut“, beendete er das Thema.

„Hat eigentlich jemand irgendwelche Papiere der Dame hier gefunden? Oder einen Schlüssel, oder etwas in der Richtung?“, wollte Klaus schließlich wissen.

Allgemeines Kopfschütteln. „Auch in Sachen Kampf- oder Blutspuren, oder Gewebeteilen ist die Antwort ‚niente‘.“ Harry Senftleben schwitzte aus sämtlichen Knopflöchern. „War ‘ne ganz schöne Tortur durch das ganze Gestrüpp da.

Und deswegen sind wir flussaufwärts auch noch nicht weiter gekommen. Da wird‘s übrigens noch unwegsamer“, wies er auf eine geschlossene Buschgruppe.

„Habt Ihr denn auch mal reingeschaut?“, wollte Mertz wissen.

„Nein! Sag‘ ich doch. Wir haben Euch erstmal über den Fund hier informiert und ‘ne Pause eingelegt. Guck Dir doch mal die Kollegen an“, echauffierte sich Senftleben und wies auf die schwitzenden Polizisten des Suchtrupps, die mit roten Köpfen teilweise an Baumstämmen lehnten.

„Och Mann ey, das hätte doch einer mal gerade machen können. Die Büsche hören ja nach 20 Metern sowieso auf.“

„Ja, ja, mecker‘ Du nur. Weißt Du, wie kaputt wir sind? Das Gestrüpp macht Dich kirre, Mann“, motzte Harry, während er sich vornüberbeugte und beide Hände auf die Knie stützte.

Aber da war Mertz bereits im Dickicht verschwunden. Er musste alle Kraft aufwenden, um halbwegs aufrecht gehend in das Gewirr von Ästen, Zweigen und Blättern einzudringen. ‚Ganz schön dunkel hier‘, dachte er, während er sich vorkam wie von Humboldt im Regenwald. Drei, vier Meter weiter öffnete sich eine kleine Lichtung.

Und dort wich er unweigerlich zurück. So, wie schon vor zwei Stunden, als er die Leiche der jungen blonden Frau zu Gesicht bekommen hatte. Vor seinen Augen schwirrten Tausende von Fliegen herum.

„Hier!“, brüllte er. „Hierher! Schnell! Schnell!“ Mertz‘ Puls raste, Schweiß brach aus jeder seiner Poren, rann an seinem Körper herunter und ließ in Sekundenbruchteilen sowohl sein Uniformhemd als auch seine Hose an der Haut festkleben. Ihm wurde kotzübel.

Während er sich wegdrehte und gegen sein Unwohlsein ankämpfte, wurde es laut hinter ihm. Gleich vier Leute bahnten sich einen Weg durch das Gestrüpp und blieben plötzlich wie angewurzelt stehen.

„Nein! Das gibt es doch nicht“, schrie Klaiser auf. Wer sind denn diese Dreckschweine, die so was machen?“

Auch den anderen stand pure Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben, als sie sahen, was Mertz entdeckt hatte. Eine riesige Blutlache und von dort aus blutige Schleifspuren hin zu dem Wiesenweg und rüber zum Fluss.

„Das … das sieht nach einem furchtbaren Gemetzel aus“, stellte Gerd Steiner nüchtern fest. „Verdammt, verdammt, verdammt! Das ist mit Sicherheit unser Tatort.“ Überall vertrocknete Blutspritzer und blutige Fußabdrücke. Selbst an zwei, drei Baumstämmen fanden sich die Abdrücke blutverschmierter Hände.

Nebenan im Busch röhrte es plötzlich. Rüdiger Mertz hatte seinen Magen nicht unter Kontrolle bekommen. Nur zu verständlich bei diesen Bildern.

„Leute“, rief Steiner. „Bitte keinen Schritt mehr weiter auf die Funde zugehen. Ich muss das alles fein säuberlich registrieren und fotografieren. Auch alle Fußspuren. Am besten macht ihr alle kehrt und geht den Weg zurück, den wir gekommen sind. Da ist eh alles zertrampelt.“

Die Leute folgten seiner Aufforderung nur zu gerne. Bis auf Klaus, der stehen geblieben war, um Fotos mit seinem Smartphone zu machen. Auch seine Innereien rebellierten. Aber er verbot es sich mit eisenharter Disziplin, hier noch in die Büsche zu kotzen. Wenngleich sich in seinem Mund seltsame Seen sauren Wassers sammelten. Er schluckte einfach dagegen an.

„Ach übrigens, Herr Klaiser, würden Sie bitte per Funk meine Leute hierher beordern und auch den Doc? Wir werden jetzt hier jede Menge zu tun bekommen.“

Im Hause Klinkert in der Stedenhofstraße hatten zwei Duschen parallel gegen all den Schweiß angekämpft, den sich Reinhard und Desiree während ihrer Reise vom Lago Maggiore bis nach Wittgenstein eingehandelt hatten. Und beide fühlten sich frisch und erholt, nachdem sie sich abfrottiert und ihr Haar in Ordnung gebracht hatten.

Die Klimaanlage tat ihr Übriges, um ihr Wohlbefinden noch zu steigern. Jetzt, wo die große Tür zum Garten hin geschlossen war. Sie konnte aber von außen durchaus geöffnet werden, falls das Liebespärchen irgendwann einmal ins Hausinnere zurückkehren sollte.

Und das würde hoffentlich bald sein. Denn die Eltern wollten ihrer einzigen Tochter noch gebührend gratulieren und ein wenig mit ihr feiern. Morgen musste schließlich wieder gearbeitet werden.

„Sag mal“, lachte Papa Klinker seine Frau an, „meinst Du nicht auch, dass die sich die beiden da draußen vielleicht doch ein wenig zu sehr verausgaben?“

„Weiß ich nicht“, lachte Desiree, „was ich gesehen habe, sah sehr entspannt aus. Sie war oben. Konnte nur ihren Rücken sehen.“

„Also, weißt Du“, mupfte er auf, „das musst Du einem Vater aber nicht so en Detail erzählen.“

„Wieso? Ist doch nichts Außergewöhnliches dran. Ich mag das so doch auch ganz gerne. Äh übrigens, wusstest Du, dass Hanna Marie sich ein Tattoo über dem Po hat stechen lassen? So knapp über Hosenbundhöhe.“

„Nee, wusste ich nicht.“ Ihr Mann schüttelte den Kopf. „Muss ganz frisch sein. Als wir am Mittwoch fuhren, hatte sie‘s auf jeden Fall noch nicht. Da lag sie nämlich mit Bikini im Garten bäuchlings auf der Liege und lernte. Das Teil wäre mir aufgefallen. Wie sieht das denn aus?“

„Na, wie so ein typisches … ‚Arschgeweih‘ nennen die Leute das, glaube ich.“

„Ich fass‘ es nicht. Wo bleibt denn das ästhetische Empfinden unserer …“ weiter kam er nicht. Denn er starrte auf die blonde junge Frau, die draußen barbusig auf die Schiebetür zukam. Mit raschen Schritten war er bei der Tür und zog sie auf. So heftig, dass die Frau erschrocken zurückwich.

„Was wollen Sie hier?“, rief er ihr entgegen.

„Sind Sie Gast unserer Tochter?“

Doch die Fremde schüttelte nur den Kopf.

„Ich … ich wollte nur …“, rief sie und machte kehrt.

„Halt! Hiergeblieben“, rief Reinhard der Flüchtenden mit dem Arschgeweih hinterher und legte einen kräftigen Sprint ein, um die Frau zu fassen zu bekommen. Doch die dachte gar nicht daran, stehen zu bleiben.

Desiree war furchtbar erschrocken. Wie hatte sie sich nur so irren können? Wie konnte es passieren, dass sie diese Frau für ihre Tochter gehalten hatte? Sie hatte zwar die gleiche Figur und gleiches Haar. Aber … Kurz entschlossen rannte sie ins Arbeitszimmer, um die Polizei anzurufen.

Im Garten kam Reinhard Klinkert der Fremden schnell näher. Doch bei dem Bogen um die Thuja trieb die Fliehkraft Jäger wie Gejagte aus der Kurve. Mit dem Erfolg, dass es beide der Länge nach auf den Rasen haute. Nur war er schneller wieder auf den Beinen. Deshalb konnte er die Frau mit einem beherzten Sprung erwischen, bevor sie sich wieder ganz aufrichtete.

„Wie kommen Sie denn hier auf unser Grundstück, verdammt? Was machen Sie denn hier?“, fragte er, nach Luft hechelnd. Der Sprint hatte ihn Kraft gekostet. „Nun los, antworten Sie“, insistierte er weiter.

„Was wir hier machen?“, kam es von der anderen Seite der Hecke. „In aller Ruhe vögeln, Alter. Und jetzt werden wir erstmal duschen. Und, wenn Du uns einlädst, auch noch gesittet zu Abend essen. Danach werden wir mal sehen.“

„Was erlauben Sie sich?“, brüllte Klinkert dem Mann entgegen, den er gar nicht sehen konnte. „Was sollen denn diese Unverschämtheiten?“

„Kann ich Dir sagen, Alter. Mit solchen Unverschämtheiten verdienen wir unser Geld“, sprach der Unbekannte in aller Seelenruhe weiter und tauchte plötzlich hinter der Hecke auf. Mit einem Trommelrevolver in der rechten Hand, den er auf den Hausherrn richtete.

‚Oh Gott, ein Tarzan-Verschnitt‘, schoss es Reinhard ganz plötzlich durch den Kopf. Langes schwarzes Haar, sonnengebräunt, frisch eingeölt und scheinbar durchtrainiert. Allerdings mit nur kleineren Muskelpaketen.

Wie einer, der vor lauter Kraft nicht gehen kann, kam der Typ auf Klinkert zu und zielte mit der Waffe direkt auf sein Gesicht. „Irgendwas schiefgelaufen beim Italien-Urlaub? Schon überraschend, dass Ihr so früh wieder zu Hause seid. Sonst hätten wir Eure Hütte in aller Ruhe ausgeräumt und wären geräuschlos wieder verschwunden.“

„Wie – Urlaub in Italien. Woher wissen Sie das denn? Hat Ihnen das unsere Tochter erzählt? Wo ist die überhaupt?“

„Nein, das hat uns ihre Nachbarin erzählt, die uns heute Vormittag anquatschte. Die wollte wissen, was wir hier treiben. Da haben wir ihr erzählt, dass wir Hanna Marie an ihrem Geburtstag überraschen wollten.“

„Also kennen Sie unsere Tochter?“, fragte Reinhard nach.

„Nee. Aber sie hatte ja zum Glück den Perso an ihrer Badestelle liegen lassen.“

„Den was?“

„Den Perso, den Personalausweis, Du Knaller. Und den wird sie jetzt vermutlich dort auch noch suchen. Vergeblich, wie Du Dir denken kannst.

„Ja, aber …“

„Was aber?“

„Wo ist Hanna denn jetzt?“

„Keine Ahnung. Ist uns auch scheißegal. Wir hatten ja alles, was wir brauchten. Die Adresse und sogar ‘ne offene Terrassentür an Eurem Superbunker hier.“

„Und woher wissen Sie von dem Geburtstag?“

„Schon mal in so ‘n Ausweis reingeguckt? Da steht auch ein Geburtsdatum drin, Du Hirni! Scheint Euch hier recht gut zu gehen, was?“

„Hören Sie augenblicklich mit dem Geschwafel auf“, herrschte Klinkert den Aggressor an und ging samt der zappelnden Arschgeweihträgerin im linken Arm noch einen Schritt auf ihn zu. Was den dazu veranlasste, Reinhard die Waffe fast auf die Nase zu drücken.

„Oh, die kenne ich. Das ist ‘ne Röhm“, bemühte sich Klinkert um totale Lockerheit. „Reiner Schreckschussrevolver. Hab‘ ich auch – für Silvester.“ Völlig unerschrocken schaute er dem Versuchsrambo tief in die Augen.“

„Hä, Schreckschussrevolver?“, stieß der hervor und schaute sich die Waffe prüfend an. „Willste mich verarschen?“

In dem Moment stieß Reinhard die junge Frau weg und entwandt dem blöde dreinschauenden Typen mit stahlhartem Griff die Kanone. Indem er das Ding in dessen Hand so gegen den ‚Strich‘ und Richtung Boden drehte, dass die Finger zu knacken begannen. Beim letzten Knack löste sich ein Schuss. „WUMM“, Dreck spritzte unmittelbar neben seinem rechten Fuß auf.

„Oh, Scheiße, verguckt! Is‘ ja doch scharf.“ Noch immer gab sich der Hausherr betont lässig. Aber ihm sauste die Muffe 1:200.000. Doch der Coup war nun mal gelungen.

Lässig zielte er seinem Widersacher mit der Waffe auf den Bauch und befahl: „Umdrehen! Und ab zum Haus. Und Sie auch“, herrschte er die total verdutzte Frau an. „Aber dalli! Wie ich meine Frau kenne, wird die sich richtig freuen über Ihren Besuch.“

Und wie die sich ‚freute‘. Desiree stand drinnen, hinter der geschlossenen Glastür und starrte, das Telefon noch in der Hand, auf das Trio, das ihr da entgegenkam. Auf einen Wink ihres Mannes schob sie den schweren Glasflügel zur Seite und begab sich außer Reichweite der beiden Einbrecher.

Mit einem katzenhaften Satz war die immer noch halbnackte Frau bei ihr und wollte sie angreifen. Doch das büßte sie schneller als sie gucken konnte. Desiree hatte ihren Sprung nach vorn noch in der Luft mit einem wuchtigen Handkantenschlag seitlich auf den Hals jäh gebremst und sie kraftlos zusammenbrechen lassen.

„Taekwondo, schwarzer Gurt, zweiter Dan“, stellte ihr Mann nüchtern fest. „Ich würde Ihnen raten, sich nicht mit meiner Frau anzulegen. Mit mir übrigens auch nicht. Ich kann aber leider nur Karate.“ Der Schmalspurtarzan schluckte und schaute jetzt noch blöder aus der Wäsche.

„Ich hab‘ übrigens die Polizei schon angerufen. Die schicken so schnell wie möglich eine Streife, wurde mir versichert.“ Desiree Klinkert legte das Mobilteil des Telefons zur Seite und schaute mit einer Mischung aus Wut und Mitleid auf die Frau am Boden. Die kam langsam wieder zu sich und weinte, während sie mit einer Hand die Einschlagstelle an ihrem Hals massierte.

„Wo ist Hanna?“, fragte sie die mittlerweile erbärmlich Zitternde am Boden.

„Wo ist wer?“

„Unsere Tochter. Hanna! Wo ist sie?“, insistierte die Mutter mit Nachdruck.

„Keine Ahnung. Woher soll ich das denn wissen?“

„Woher?“, rief Desiree hysterisch. „Ja, aber wie kommen Sie denn in unser …“ – ‚Haus‘ wollte sie noch sagen. Doch ihr Mann unterbrach sie und packte dem Kumpanen, der sich gerade dem Griff seiner linken Hand entwinden wollte, mit rechts ziemlich brutal zwischen die Beine.

„Junge, wenn Du noch einen solchen Versuch machst, mach Dich auf was gefasst. Dann is‘ nix mehr mit ‚mal in aller Ruhe vögeln‘, wie draußen im Garten. Du bleibst jetzt hier stehen, bis die Polizei da ist. Und in der Zwischenzeit erklärst Du uns noch mal in aller Ruhe, warum Ihr hier seid und wie Ihr in den Besitz von Hannas Sachen kamt.“

Doktor Kölblin war gemeinsam mit dem ‚Freak‘ zur Fundstelle auf der kleinen Lichtung gekommen. Während der Doc noch ein Telefonat führte, gab der Kriminalbeamte seinem Chef schnell einen Bericht über die Befragungen. „Nichts brauchbares darunter“, erzählte er enttäuscht. „Keiner hat etwas gesehen. Bis auf die beiden Jungs, die die Tote gefunden haben. Zwei Brüder, neun und elf Jahre alt. Die sind total fertig und werden jetzt zu Hause vom Notfallseelsorger und einem Arzt betreut.

Die Eltern sind natürlich fast genauso schwer betroffen. Wer rechnet schon damit, dass seine Buben beim Spielen am Flussufer einen solchen Fund machen? Keine Ahnung, wie man das aus deren Köpfen wieder rausbekommt.“

„Das wird schwer“, nickte Klaus. Man sah ihm an, wie sehr auch ihn der Fall belastete. „Das ist so unerträglich, was wir hier haben. Ich …, ich kann es gar nicht beschreiben.“

„Ja, ich muss ganz ehrlich zugeben, dass ich mich da heute schon an meinen Grenzen gesehen habe“, nickte Lukas. „Und was Ihr hier im Wäldchen gefunden habt, muss die Unerträglichkeit ja nur noch steigern, sagen die Kollegen.“

„Da vorne auf der kleinen Lichtung muss sich Furchtbares abgespielt haben“, antwortete Klaiser. „Hier, guck Dir das an“, zeigte er Lukas das Display seines Smartphones, auf dem er im Zweisekundentakt Fotos durchlaufen ließ.“

„Oaaaaah, mach das weg, Chef. Bitte!“ Sven wandte sich ab und bekam einen Hustenanfall, während Doktor Kölblin um eine erneute Vorführung der Bilder bat. Tonlos bewegte er dabei seine Lippen. Der Mediziner verstand offenbar die Welt nicht mehr.

Genauso wenig wie jene Männer im weißen Ganzkörperkondom, die jetzt auf und um die Lichtung herum Schwerstarbeit leisteten. Teilweise auf allen vieren kriechend, suchten sie den Waldboden nach jeder noch so kleinen Spur ab. Stets darauf achtend, dass sie nicht irgendetwas übersehen oder gar durch Fußtritte zerstören würden.

Keiner von ihnen hielt seinen Blick länger auf den Blutlachen, die einen hässlich süßlichen Duft verbreiteten und offenbar eine Labsal für jede Art von Fluginsekten darstellten.

„Wir müssen die Fläche absperren und Proben nehmen an allen möglichen Stellen. Kann sein, dass da auch Blut eines Täters dabei ist. Das will ich haben“, hatte Steiner denn auch entschieden. „Bringt die Proben bitte schnell zum Doc raus, bevor der hier reinkommt. Wir brauchen nicht noch jemanden, der alles platt trampelt.“

„Hab‘ schon verstanden“, erscholl die sonore Stimme des Gerichtsmediziners durch das Gebüsch. „Danke fürs Einsammeln. Ich mach‘ mich dann, wenn nichts dagegen spricht, schon mal zurück ins Institut. Ich will möglichst schnell obduzieren und mich an einer Gesichtsrekonstruktion versuchen. Wir wollen ja schließlich wissen, wer die unglückselige Person ist.“

„Klar“, rief Gerd Steiner zurück. „Aber Sie werden sich noch einen Moment gedulden müssen. Hier geht noch ein Pfad in die Büsche, der, wenn ich mich nicht irre, auf dem Weg herauskommen müsste. Auch da liegt reichlich Blut. Kann da mal jemand von draußen ran und nachschauen, ob dort was zu finden ist?“

Rüdiger Mertz war mit wenigen Schritten an der vom KTU-Mann beschriebenen Stelle. „Sie haben recht“, rief er, „hier muss ebenfalls was ganz übles passiert sein!“

„Wieso?“ Steiner war hellhörig geworden.

„Weil hier nicht nur Blut im Gras und auf dem Boden zu finden ist. Hier gibt es offenbar auch Gewebefetzen. Aber das müssen Sie sich selbst anschauen. Ich glaube, das könnte auch interessant für Doktor Kölblin sein.“

„In Sachen Haut und Blut bin ich eh die Nummer eins“, rief es aus dem Busch. Kölblin hatte sich in Gang gesetzt.

„Aber lassen Sie mir noch ‘n Schluck übrig“, rief Steiner zur Vervollkommnung der makabren Inszenierung hinterher.

„Das ist deren besondere Art des Sarkasmus, den sie wohl pflegen müssen, um mit einer solchen Scheiße überhaupt fertig werden zu können“, entschuldigte Klaiser gegenüber Sven Lukas die lautstark geführten Gespräche der beiden Spezialisten.

„Ach, wir können noch ganz anders“, wandte Doktor Kölblin ein. „Aber mir ist hier wirklich nicht danach.“

Nachdem er, neben den Tüten aus dem Gebüsch, auch noch die mit der DNA vom vermeintlichen Liebesspiel übergeben bekommen hatte, verabschiedete sich Kölblin und ließ sich vom ‚Freak‘ wieder zurück zur Ederbrücke bringen. Dort warteten seine beiden Mitarbeiter bereits in dem Transporter, in dem sie auch gleich die sterblichen Überreste der jungen Frau mit nach Siegen nahmen.

„Hier ist die Polizei. Sie hatten uns gerufen.“ Die Meldung einer netten Frauenstimme kam aus der Haussprechanlage, an der sich Desiree Klinkert auf Klingeln gemeldet hatte. Mit dem Summer öffnete sie die Haustür und ging dann selbst zur Tür zum Vorraum, um die Beamten einzulassen.

„Oh, das ging ja dann doch ganz schön flott“, sagte sie und bat die Uniformierte und deren Kollegen ins Haus.

„Guten Abend. Ich bin Oberkommissarin Sarah Renner. Und das ist mein Kollege, Oberkommissar Jens Höver“, stellte sie den zweiten Beamten vor.

„Wir sind vom Revier Bad Laasphe und von den Berleburger Kollegen um Hilfe gebeten worden. Für die gibt es augenblicklich sehr viel zu tun. Was ist denn passiert?“

„Kommen Sie erst mal mit durch, bitte. Dann werden Sie selbst sehen, was hier los ist.“ Desiree führte die beiden Polizisten um die Kaminecke, wo sie von Reinhard Klinkert mit ‚Tarzan‘ im Schraubstockgriff und der ‚falschen Hanna‘ auf dem Fußboden begrüßt wurden. Die junge Frau trug inzwischen ein T-Shirt, das ihr die Dame des Hauses aus eigenen Beständen gegeben hatte.

Als Jens Höver die Waffe auf dem Tisch liegen sah, verfinsterte sich seine Miene. „Wem gehört die?“, fragte er scharf, bevor überhaupt ein anderes Wort gesprochen worden war.

„Ihm“, antwortete Klinkert und drehte ein wenig an der Armschraube.

„Warum haben Sie eine Waffe dabei?“, wollte der Beamte wissen. „Lassen Sie ihn bitte mal los. Der haut uns nicht ab“, bat er beiläufig.

„Warum, warum …“, äffte der Einbrecher nach. „Warum hat man eine Kanone? Zum Selbstschutz natürlich. Hätte ich vorhin gut gebrauchen können. Der Typ hier hat auf mich geschossen.“

„Ist das wahr?“

„Blödsinn! Ich habe nicht auf ihn geschossen. Der Schuss hat sich gelöst, als ich ihm die Waffe abringen wollte. Niemand wurde getroffen. Das Geschoss steckt draußen im Rasen.“

„Abringen. Interessant“, meinte Höver, während der mit spitzen Fingern den Revolver aufnahm und an der Mündung schnupperte. „Wie lief das denn ab? Oder warten Sie“, wehrte er mit erhobenen Händen ab. „Das wird alles später kommen. Jetzt prüfen wir erst einmal Ihrer aller Identität. Können wir mal Ihre Personalausweise oder Reisepässe sehen?“

Desiree holte ihren und den Pass ihres Mannes aus dem kleinen Büro. Die beiden Eindringlinge konnten oder wollten mit derlei nicht aufwarten.

„Wie, keine Personalpapiere dabei?“, fragte Sarah Renner, immer noch sehr freundlich. Schulterzucken bei den Angesprochenen.

„Vielleicht sollten Sie mal nach deren Klamotten schauen. Die liegen, glaube ich, noch immer draußen hinter der Thuja-Hecke“, meinte Frau Klinkert. „Da haben wir die beiden auch entdeckt, als wir aus Italien zurückkamen.“

„Ja, ich hol‘ sie Ihnen“, rief ‚Tarzan light‘ und wollte schon nach draußen enteilen. Aber da hatte er die Rechnung ohne Sarah Renner gemacht. Die stellte sich kurzerhand in dessen Laufweg und brachte blitzschnell seine rechte Hand in eine außergewöhnlich schmerzhafte Haltung für deren Besitzer. „Wenn, dann gehen wir gemeinsam“, sagte sie. Und das duldete keinen Widerspruch.

„Lass mich doch in Ruhe, Du dumme Fo…!“ Sarah Renner wurde ernst.

„Wie bitte?“, brüllte ihr Kollege den Typen an. „Wir wollen doch hier höflich bleiben. Klar!? Sie hätten zumindest allen Grund dazu.“

„Was willst Du Arschloch denn? Du kannst uns gar nix.“

„Na, schon allein das A-Wort reicht für eine Beamtenbeleidigung. Und Ihr aggressives Verhalten gefällt mir überhaupt nicht.“ Mit einem Griff auf den Rücken hatte er Handschellen von seinem Gürtel geholt und zunächst an dem Arm festgemacht, den die Kollegin so sehr unter Spannung gehalten hatte. Dann kam der nächste dran. „Fertig. Setzen“, befahl Höver.

„Wir haben nix gemacht. Außer ‘nem kleinen Nümmerchen da draußen im Garten.“

„Jetzt nehmen Sie sich mal zusammen! Hier sind schließlich drei Frauen mit im Raum“, motzte der Polizist.

„Wieso? Meinste, die wüssten nicht, was ‘n Nümmerchen ist. Ohne die Weiber ginge das alles ja gar nicht“, griente der Typ, der trotz der Klemme, in der er saß, seine große Klappe einfach nicht halten konnte.

„Setzen!“, wiederholte der Beamte.

Und endlich folgte das Großmaul. Mit den Händen auf dem Rücken. Höver setzte sich daneben, um Notizen machen zu können. Reinhard stellte allen ein Glas Mineralwasser hin.

Auch den ungebetenen Gästen. Derweil war Sarah Renner mit Desiree Klinkert zusammen nach draußen gegangen, um nach den Sachen der Eindringlinge zu sehen.

„Dort vorne habe ich sie entdeckt. Sie hatten Sex. Und ich dachte zunächst, das sei Hanna, unsere Tochter. Wollte natürlich nicht stören und bin gemeinsam mit meinem Mann wieder ins Haus gegangen.“

„Das ist ja nicht zu fassen“, war die Polizistin baff. „Ist das wirklich wahr? Die machen einfach auf fremdem Gelände miteinander rum, wo sie nicht hingehören und wo sie niemand reingelassen hat?“

„Genau so ist es. Die sind ganz offensichtlich durch die Terrassentür rein, die Hanna nur leicht zugezogen hatte, als sie fortging. Ich hab‘ ihr tausendmal gesagt, dass das nicht geht. Aber für sie war‘s praktisch und sie meinte immer, dass hier in dem ‚Kaff‘ sowieso keiner einbrechen würde.“

„Aber wie sollen sie denn an die Adresse rangekommen sein?“

„Angeblich haben sie die an der Badestelle unserer Tochter an der Eder gefunden. Behaupten sie zumindest. Da hätten Hannas Papiere gelegen.“

„Und daher kannten sie wohl auch Ihre Adresse.“

„Genau. Das haben sie uns sogar brühwarm erzählt. Nachdem sie hier eingebrochen waren, haben sie alles fein säuberlich auf dem Tisch im Wohnzimmer deponiert.“

„Ja – und wo ist Ihre Tochter?“

Schulterzucken. „Wir wissen es nicht. Und wir hatten auch noch keine Chance, nach ihr zu suchen. Denn als wir aus Italien zurückkamen, mussten wir ja zunächst annehmen, dass Hanna hier ist. Das Haus war sperrangelweit offen. Und dort vorn glaubte ich sie mit ihrem Freund gesehen zu haben.

Nachdem wir endlich gemerkt hatten, dass die Frau nicht unsere Hanna ist, hatten wir richtig Stress, die beiden unter Kontrolle zu kriegen. Ich habe sofort Ihre Kollegen von der Wache in Berleburg angerufen. Und mein Mann hat die weglaufende Frau eingefangen. Dabei hat ihn dann der Typ mit der Waffe bedroht.

Reinhard wollte ihm das Ding abnehmen. Und bei der Rangelei hat sich wohl der Schuss gelöst. Dann hat er die beiden schließlich reingebracht. Dem Mädel musste ich dann noch eine reinhauen, weil es mich anfallen wollte.“

„Abenteuerlich“, meinte die Beamtin, während sie sich nach einem Rucksack und ein paar Sommerklamotten bückte, die wild verstreut auf dem Rasen lagen. „Ist gar nicht so viel, was die dabei haben. Aber vielleicht steht ja hier irgendwo noch ihr Auto rum, wo der Rest drin liegt.“

Mit ihrer ‚Beute‘ kehrten die beiden Frauen in dem weitläufigen Garten schließlich wieder um. „Hier ist übrigens wohl das Loch, das bei dem Schuss entstanden sein muss“, zeigte Desiree Klinkert auf den sonst makellosen aber recht trockenen Rasen.

„Ui, da müssen wir unter Umständen noch das Geschoss rauspuhlen oder ausgraben lassen.“ Sarah Renner sah die Hausherrin dabei von der Seite an und fragte schließlich, ob sie denn nicht mal den Versuch gemacht habe, ihre Tochter per Handy zu erreichen.

„Das ist ja die Krux“, lamentierte Frau Klinkert. „Das Handy liegt auch bei den Sachen im Wohnzimmer. Allerdings mit leerem Akku. Wundert mich bei unserer zerstreuten Professorin allerdings nicht. Sie büffelt nämlich augenblicklich für mehrere Prüfungen an der Uni. Sie hat den Kopf wo ganz anders.“

Auf der kleinen Lichtung im Uferwald und am Wegesrand hatten die KTU-Leute sogar noch Akku-Strahler aufgebaut, um noch eine Weile effektiv arbeiten zu können. Es war zwar noch immer genügend Tageslicht vorhanden. Doch das wurde von der mittlerweile tiefer stehenden Sonne so flach über die Berge am Rande des Edertals ausgesandt, dass sogar die Grashalme störende Schatten warfen.

„Das Licht muss hell sein und von oben kommen“, hatte Gerd Steiner bestimmt. Aber geholfen hatte es nicht mehr sehr viel. Und die Männer in den weißen Anzügen waren auch so ziemlich am Ende ihrer Kräfte.

Schweißnass und ausgezehrt saßen sie zu einer Art Abschlussbesprechung auf ihren Klappstühlen am Rüstwagen der KTU und leerten dabei eine Flasche Mineralwasser nach der anderen.

Kriminalkommissar Lukas, an diesem Tag ja Einsatzleiter, bedankte sich bei den Männern für ihre außerordentliche Leistung. „Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht“, sagte er. „Aber für mich muss ich sagen, dass ich heute auf das Ergebnis der grausigsten Tat geschaut habe, die mir bisher im Dienst untergekommen ist.“ Die meisten nickten beifällig. Keiner von ihnen wusste, wie lange er die Bilder des heutigen Tages mit sich herumschleppen würde. Auch keiner von den ganz Hartgesottenen.

Wenig später hatten sie zusammengepackt und ihr Fahrzeug beladen. Steiner, Klaiser, der ‚Freak‘ und Rüdiger Mertz waren sich einig, dass für den Tag alles Nötige getan war und man die Fahrt in die jeweiligen Reviere antreten könne. Lediglich das Absperrband musste wegen eventueller Nacharbeiten am nächsten Tag bleiben.

„Ach du heilige Scheiße, was für ein Aufmarsch“, schnaufte Jens Höver, als er mit dem Streifenwagen an einer Wegegabelung hinter Hannas Badestelle ankam. Drei Polizeifahrzeuge und der Wagen von der KTU. Dazu lauter Uniformierte und Männer in Zivil, die gerade einsteigen wollten.

„Naja, das war ja fast zu erwarten nach all dem, was da über Funk kam“, zog er die Stirn kraus. „Pass bitte auf die Typen auf“, bat er Sarah Renner, die auf dem Beifahrersitz saß und darauf achtete, dass Bonnie und Clyde keinen Blödsinn machten.

Die Beamten hatten die beiden Eindringlinge bei den Klinkerts einfach nach dem amerikanischen Gangsterpaar benannt. Denn die beiden, die jeweils mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt hinten im Wagen saßen, zeigten sich nach wie vor nicht bereit, ihre Identität preiszugeben. Und Papiere hatten sie, wie sich herausstellte, auch keine dabei.

Erstaunt und fast verängstigt schauten sie nach draußen. „Was ist denn hier geboten?“, flüsterte der Muskelmensch. „Die werden doch wohl nicht wegen uns hier sein. Um Himmels Willen.“

Höver sprang aus dem Wagen und ging rüber zu den Kollegen. „Grüß Euch. Schlimm, die Geschichte hier, oder?“

„Allerdings. Du machst Dir keine Vorstellung. Eine Riesensauerei. Sei froh, dass Ihr nicht dabei wart“, entgegnete Mertz, der mehr auf den Boden als dem Kollegen ins Gesicht schaute. „Was treibt Euch denn hierher?“

„Wir haben zwei junge Leute hier im Ort festgenommen, die in ein Haus eingebrochen sind und behaupten, sie hätten die dazugehörige Adresse auf Ausweispapieren heute Vormittag etwa hier gefunden. Hier muss irgendwo ‘ne Badestelle sein, an der alle möglichen Klamotten rumliegen. Wir haben die beiden dabei. Die könnten uns das genau zeigen.“

„Das glaube ich jetzt nicht“, schüttelte Rüdiger Mertz den Kopf. „Ihr habt Leute gefangen, die heute Vormittag hier gewesen sein wollen? Hier an dieser Stelle? Warte mal ‘n Moment, Kollege.“

„Ja, aber was ist denn hier eigentlich genau passiert?“, rief ihm Höver hinterher. Doch Mertz hörte schon nicht mehr hin und war mit einem Satz bei Klaisers Audi.

„Macht mal bitte kurz aus“, rief er Klaus zu und bedeutet sowohl ihm als auch Sven Lukas, noch einmal auszusteigen und mitzukommen. Auch die übrigen Beamten blieben und kletterten wieder aus ihren Fahrzeugen.

„Hier, Kripo-Chef Klaus Klaiser kennt Ihr ja. Und das ist Sven Lukas.“

„Kennen wir auch“, meinte Höver und gab beiden die Hand.

„Die können Dir mehr erzählen“, erklärte Mertz. „Aber erzähl Du den beiden am besten noch mal, wen Ihr da dabeihabt und was die auf‘m Kerbholz haben.“

Während Jens Höver die Geschichte in kurzen Zügen wiedergab, ging er gemeinsam mit den Beamten rüber zum Streifenwagen, um ihnen auch gleich Gelegenheit zu geben, die Festgenommenen in Augenschein zu nehmen. Klaus Klaiser schüttelte während des Berichts fortwährend den Kopf und schaute jetzt durch die Seitenscheibe, um das Pärchen anzusehen.

„Das kann ich gar nicht glauben. Oder könnt Ihr Euch das vorstellen? Die zwei bringen eine Studentin um und gehen dann in deren elterlichen Garten, um rumzuvögeln. Nä! Die …“

„Moment“, unterbrach ihn der Kollege, „hier ist der Mord geschehen? Wir dachten, dass sei unten an der Ederbrücke passiert.“

„Nee. Die Frau wurde heute Nachmittag dort unten in der Eder gefunden, aber ganz offensichtlich da vorne ermordet.“ Klaus zeigte in Richtung der Stelle, an der Blut am Wegrand gefunden worden war. „Dort müssen sich fürchterliche Szenen abgespielt haben. Die SpuSi ist gerade mit ihrer Arbeit fertig.“

„Das ist ja Wahnsinn“, entfuhr es Höver. „Die beiden behaupten, wie gesagt, sie seien heute Vormittag hier gewesen und hätten an der Stelle den Personalausweis einer Studentin aus dem Ort gefunden. Das sollen sie Ihnen am besten selbst erklären“, fuhr er fort, während er die hintere Tür des Wagens öffnete und den gefesselten Mann herauszog.

„Kommen Sie, raus hier.“ Und zu seiner Kollegin rief er rüber: „Sarah, holst Du bitte die Frau auf Deiner Seite raus?!“

Während der ‚Tarzan‘ auf die Füße gekommen und an Lukas weitergereicht worden war, fragte der unverhohlen, „Ey Bulle, was veranstaltet Ihr denn hier für ‘n komisches Trachtenfest?“

„Ich werd‘ Ihnen helfen, ‚komisches Trachtenfest‘“, konterte Sven. „Packen Sie sich schon mal schön warm ein. Bei Mord verstehen wir keinen Spaß. Vor allem nicht, wenn es sich um eine derart grausame Tat handelt.“

Der gefesselte Spaßvogel wurde weiß wie eine Wand. „Mord?“, kam fast tonlos aus seiner Kehle. Hypernervös räusperte er sich und wechselte dabei die Gesichtsfarbe wie ein Chamäleon. „Mord? Seid Ihr wahnsinnig? Ihr könnt uns doch keinen Mord in die Schuhe schieben“, hüstelte er und wollte sich dem Griff des Kommissars entziehen.

Doch der hielt ihn wacker an der Kette zwischen den Handschellen fest und zog dabei leicht an. Dem Träger schmerzten die Gelenke. „Ihr seid doch alle bekloppt“, rebellierte der, „wir bringen doch niemanden um. Hey, Schatz“, rief er seiner Begleiterin zu, die von Sarah Renner gerade aus dem Wagen geholt wurde, „hast Du das gehört? Die Arschlöcher hier behaupten, wir hätten jemanden ermordet.“

„Waaas? Wiiir?“ ‚Bonnie‘ erstarrte. „Ich …, wir …“, stammelte sie, „wir haben doch niemanden umgebracht.“

Auch die Oberkommissarin wurde blass. „Wie? Die sollen das gewesen sein?“

„Wir waren das auch nicht, Ihr Idioten!“, schrie Clyde lauthals.

„Mäßigen Sie sich“, pfiff Lukas den Einbrecher an, der sich wie ein Tanzbär gebärdete. „Sie gehören nun mal zum engsten Kreis der Verdächtigen. Offenbar sind Sie ja wohl schon an diesem Platz hier gewesen und haben so richtig abgeräumt.“ Das mit dem ‚engsten Kreis‘ war wohl mehr ein Versprecher. Die beiden waren bisher die einzigen Verdächtigen.

„Ja sag mal, habt Ihr ‘n Spleen, oder was?“, protestierte die junge Frau. „Deswegen bringen wird doch niemanden um. Wir ziehen den Leuten höchstens ‘n bisschen Kohle aus der Tasche oder schauen nach, was bei denen daheim so alles geboten ist. Das war‘s aber auch schon!“

„Ach, das war‘s aber auch schon? Dann kommen Sie doch mal und zeigen Sie uns, was hier geboten war“, forderte der Kripo-Chef. „Und Sie kommen auch mit“, rief er mit Blick auf deren Begleiter. „Zeigen Sie uns, von wo Sie gekommen sind und was Sie hier vorgefunden haben.“

Die beiden Festgenommenen wechselten kurze Blicke und schienen sich so über ‚mitspielen‘ oder ‚weigern‘ verständigen zu wollen. Das gelang ihnen aber nur unzureichend. Denn während ‚Clyde‘ auf eine besonders plattgelegene Stelle am Flussufer zulief, zauderte sie und wehrte sich gegen den Griff von Sarah Renner.

„Hier“, rief der Dieb, „hier war heute Morgen noch ein Badetuch, ‘n ziemlich großes. Und unter dem Busch da lagen ein paar Klamotten, eingerollt zu so ‘nem Bündel. Hat man auf Anhieb erstmal gar nicht sehen können.“

„Was waren das für Sachen?“, fragte Sarah Renner nach. Denn es war ja zunächst Sache der festnehmenden Beamten, zu erfahren, wo denn nun die Besitztümer der Tochter gefunden worden waren. Übrigens auch im Interesse der Eltern.

„Eine weiße Bermuda und ein Poloshirt“, meldete sich ‚Bonnie‘ aus dem Hintergrund. „Und ‘n roter Bikini. Der lag auf dem Badetuch.“ Gert Steiner von der KTU nickte bei der Aufzählung der Wäschestücke.

„Aha. Und wo haben Sie den Personalausweis von Hanna Klinkert gefunden?“, wollte die Oberkommissarin weiter wissen.

„Der steckte in der Hosentasche der Bermuda.“

„Und Sie sind sicher, dass das alles aufeinander gelegen hat?“ Klaus Klaiser versuchte, mehr als nur eine reine Fundsachenabfrage aus der Geschichte zu machen.

„Klar“, rotzte ‚Clyde‘ richtiggehend heraus. „Das war genau so, wie sie‘s beschrieben hat. Aber da war keine Studentin dabei, die wir abgemurkst haben oder so.“

Klaiser zögerte mit einer Nachfrage. Wenn es stimmte, dass das Pärchen heute zum ersten Mal an dieser Stelle aufgetaucht war, konnte es für den Mord nie und nimmer infrage kommen. Das wussten auch die Kollegen. Immerhin hatte die Leiche laut Gerichtsmediziner mehrere Tage im Wasser gelegen. Und auch die übrigen Funde waren alles andere als frisch.

Wieder zerrte der Versuchs-Tarzan an den Ketten. „Ihr wollt uns hier irgendeine Scheiße anhängen. Aber da habt Ihr Euch geschnitten.“

„Wir wollen Ihnen keineswegs ‚irgendeine Scheiße anhängen‘, wie Sie sagen. Nur Fakt ist, dass Sie für uns bisher die Einzigen sind, von denen wir wissen, dass sie an dieser Stelle waren. Und hier ganz in der Nähe hat ein bestialischer Mord stattgefunden. An einer Frau, die hier gebadet und womöglich danach ein wenig geschlafen hat. Geht das vielleicht in Ihre Birne?“

Wieder entwich die Farbe aus dem Gesicht des Mannes in Handschellen. „Wir waren das nicht, wirklich nicht“, wurde er plötzlich ganz kleinlaut. „Ganz bestimmt nicht. Mit dem Mord haben wir nix zu tun.“

„Wann genau soll das denn gewesen sein?“, fragte ‚Bonnie‘ mit provokanter Stimme. „Heute Morgen, oder was?“

„Das wissen wir nicht genau“, blieb der Hauptkommissar bewusst vage in seiner Antwort. „Wann genau waren Sie denn hier? Und warum eigentlich?“

„Na, rate doch mal, Polyp“, antwortete sie spitz.

„Komm, jetzt mach‘ keinen Blödsinn“, wurde der junge Mann plötzlich kooperativ. „Das können wir ihm ja ruhig sagen. So um halb zehn sind wir hier aufgetaucht.“

„Und wo kamen Sie her?“

„Von oben im Ort. Von der Kirche.“

„Von der Kirche? Was haben Sie denn da gemacht?“

„Nix“, antwortete die Frau, bevor ‚Clyde‘ etwas sagen konnte. Sie schien die Härtere von den beiden zu sein.

„Wie? Nix.“

„Wir haben nix gemacht. Wir waren nur da.“

„Ach so, Sie haben eigentlich in den Gottesdienst gewollt, aber dann die Lust verloren. Oder wie muss ich das verstehen?“

„Wie Du das verstehen musst, ist mir so was von scheißegal, das kannste Dir überhaupt nicht vorstellen, Du Arsch.“

„So, jetzt reicht‘s!“ Klaiser war stinksauer. „Ich lasse mich von Ihnen nicht permanent beschimpfen und beleidigen. Das gilt im Übrigen auch für die Kollegen. Ihnen fehlt es ganz offensichtlich an jeder Form geistiger und sittlicher Reife. Und an Unrechtsbewusstsein sowieso. Sperrt die Frau bitte schon mal in den Bulli“, sagte er, an die Laaspher Kollegin gewandt.

„Wieso das denn jetzt schon wieder? Wir haben doch gar nix gemacht!“, schrie ‚Bonnie‘ auf und wand sich wie ein Aal in ihrer Fesselung.

„Nix gemacht, ist schon mal leicht untertrieben“, merkte Sarah Renner an, als sie die Randalierende mit Mertz‘ Hilfe in den Wagen verfrachtete und an einer Halteschlaufe festmachte.

Als die Frau weggeschlossen war, machte der Kripo-Chef einen erneuten Versuch, mit deren Compagnon zu reden. Der schien ihm mittlerweile so ‚weichgeklopft‘, dass er reden würde, hatte Klaus den Eindruck. Sven Lukas und er waren mit ‚Clyde‘ rüber zu dem zweiten VW-Bus gegangen, in dessen Fond sie sich nun an einem Tisch gegenübersaßen.

„Also, noch mal“, eröffnete er das Gespräch, „was haben Sie an der Kirche gewollt und wieso kamen Sie hierher?“

Sein Gegenüber rieb sich die Handgelenke, die mittlerweile von den Metallfesseln befreit waren. „Wir haben mit dem Mord nichts zu tun!“

„Das war nicht meine Frage“, antwortete Klaus ruhig. „Was wollten Sie an der Kirche und wieso kamen Sie anschließend hierher?“

„Wir haben mit dem Mord nichts zu tun“, kam es stereotyp über den Tisch.

Klaiser blieb ruhig. „Hören Sie. Wenn Sie sich weiter stur stellen und nicht antworten wollen, können Sie sicher sein, dass ich Ihnen die Frage so oft stelle, bis Sie Alpträume kriegen. Wenn Sie wirklich nichts mit dem Gewaltverbrechen zu tun haben, dann war der Diebstahl heute hier dagegen doch nur ein Klacks.

Oder erzählen Sie mir nur Scheiß und haben die Frau doch ermordet und sie anschließend in Gebüsch geworfen?“ Klaus, der ‚Clyde‘ bei der Frage fast ins Gesicht gekrochen wäre, hatte bewusst das Gebüsch gewählt und nicht das Wasser, in das die Ermordete geworfen worden war. Er erhoffte sich davon eine erkennbare Irritation. Aber da war nichts.

„Nee, nee, nee! Nix da!“ Der andere wollte aufspringen, wurde aber von Sven wieder in den Sitz gedrückt. „Wir? – ‘ne Frau umgebracht und ins Gebüsch geschmissen? Nix! Du bist ja total bekloppt, Bulle! Wir waren an der Kirche, weil wir bei den Leuten da ‘n paar Geldbeutel ziehen wollten. Hat aber nicht geklappt. Einer hat‘s gemerkt. Und da mussten wir türmen.“

„Ach du Sch…e“, verkniff sich der ‚Freak‘ den Kraftausdruck, den er öfter mal aus purer Verwunderung einsetzte. „Ihr seid Taschendiebe? Hundsgemeine Taschendiebe? Das darf doch nicht wahr sein.“

„Ja“, antwortete ‚Clyde‘, in einer Art Kapitulation. „Wir sind nix anderes als hundsgemeine Taschendiebe.“

Dann begann der Mann zu erzählen. Die beiden seien mit ihrem Wagen und „ohne was auf der Tasche zu haben, nicht mal Geld für Sprit“ am Sonntagmorgen durch Arfeld gekommen. „Als wir langsam durchfuhren, standen jede Menge Leute vor der Dorfkirche. Hochzeit oder so was, haben wir gedacht. Da lässt sich was machen. Wäre nicht das erste Mal gewesen.

Aber das ging schief. Gleich beim ersten Versuch“, erzählte er freimütig. Ein Mann habe wohl ein Krabbeln an seiner rechten Pobacke gefühlt und beim Hinfassen die Hand von ‚Bonnie‘ erwischt, die in der Tasche mit der Geldbörse steckte. Sie habe sich losreißen können. Aber nur ein Sprint zum Auto habe sie gerettet.

Das hätten sie aus Sicherheitsgründen ganz vorne an der Straße abgestellt. Und das sei in diesem Fall ihr Glück gewesen. Weil der Mann sie nämlich verfolgt habe. „Wir haben‘s nur ganz knapp geschafft und konnten noch rechtzeitig abhauen.“

Unten im Ort, so erzählte er weiter, seien sie dann rechts abgebogen. „Hätte ja jemand mit dem Auto hinter uns herkommen können. Deshalb sind wir auch sofort auf so ‘n altes Industriegelände abgebogen, mit jeder Menge Schrott und Autos drauf. Mit dem bisschen Sprit im Tank wären wir wahrscheinlich nicht mal mehr zwei Kilometer weiter gekommen. Dann wäre die Karre stehen geblieben.“

Und weil sie noch immer nicht sicher waren, ob ihnen jemand auf den Fersen war, hätten sie den Wagen dort stehen lassen und seien zu Fuß „in die Botanik gerannt. Erst über so ‘n kleinen Kanal und ein paar Meter weiter über eine Holzbrücke auf die andere Seite der Eder.“

„Aha. Und wo war das?“

„Da drüben“, zeigte ‚Clyde‘ flussabwärts. „Wir sind ein ganzes Stück am Fluss lang, bis wir hier an dieser Stelle rauskamen. Da hatten wir wenigsten Deckung. Und dann haben wir halt die Klamotten und den Personalausweis mit Wohnadresse gefunden.“

„Moment, Moment“, unterbrach der ‚Freak‘, dem die ganze Story viel zu flott vorgetragen war, „im Personalausweis steht aber nur der Wohnort, also Bad Berleburg.“

„Na und? Stimmt das etwa nicht?“

„Doch, doch. Aber vom Ortsteil ist darin keine Rede. Woher wussten Sie denn, dass die Besitzerin der Kleidungsstücke aus Arfeld kommt? Hätte ja auch jeder x-beliebige andere Ort sein können.“

‚Clyde‘ nahm den etwas scharf vorgetragenen Einwand gelassen hin. „Stimmt. Aber uns war klar, dass das jemand hier aus dem Ort sein musste. Schließlich stand da ja noch so ‘n altes Fahrrad rum. Und bei der Hitze, dachten wir uns, fährt niemand kilometerweit von einem Dorf ins andere mit einem Fahrrad, nur, um bis zu den Knien im Wasser stehen zu können. Noch dazu mit so ‘nem Drahtesel, der nicht mal ‘ne Gangschaltung hat.“

„Das mit dem Fahrrad irritiert mich jetzt ein wenig. Davon war bisher noch keine Rede“, versuchte Klaus Klaiser der Sache jetzt auch weiter auf den Grund zu gehen.

„Sie können mir doch nicht erzählen, dass hier ein Fahrrad tagelang völlig unbehelligt herumstehen kann und keiner Notiz davon nimmt.“

„Hier kommt ja wohl sonst kein Schwein hin. Die Ecke ist doch so was wie Urwald“, argumentierte der Mann.

„Ich glaub‘s Ihnen aber nicht.“

„Dann lass‘ es doch. Es war aber so. Dort hinten hat es an einem Baum gelehnt.“ Der Ganove zeigte aus dem Bulli heraus in das Wäldchen hinein. „Und etwas dahinter lag das Kleiderbündel unter einem Busch.“

Klaus und dem ‚Freak‘ klingelten die Ohren. Was für eine Geschichte! Aber was hätten sie machen sollen? ‚So eine Story saugst du dir nicht so einfach aus den Fingern. Immerhin ist sie bis hierhin schlüssig‘, dachte Lukas. ‚Und dass der Typ plötzlich plaudert wie ein Wasserfall, ist nachvollziehbar. Schließlich lässt sich niemand gern des Mordes verdächtigen. Dann lieber kleinere Schandtaten zugeben.‘

Eine gute Stunde später, erzählte der Festgenommene weiter, hätten sie sich schließlich aus dem Versteck herausgetraut und seien auf einem Wiesenweg der Straße entgegen gelaufen, die sie von dort hatten ausmachen können. Das Fahrrad hätten sie mitgenommen, um sich dann zu zweit, er auf dem Sattel, sie auf dem Gepäckträger, komfortabler fortzubewegen.

„Wir waren nur wenige Meter auf Asphalt gefahren, als wir schon das Schild ‚Stedenhofstraße‘ sahen. Dort, wo diese, … ääh diese Hanna zu Hause ist. Einfach der Hammer! Manchmal hat man halt auch mal Glück“, grinste ‚Clyde‘ besonders schräg. Den Polizisten standen die Haare zu Berge.

In das Haus zu kommen sei ein echtes Kinderspiel gewesen. Schließlich hätte auf der Gartenseite die Schiebetür zum Wohnzimmer einen Spalt weit offen gestanden. Nur eine Nachbarin hätte neugierig nachgefragt, wer sie denn eigentlich seien, als sie ums Haus herum in den Garten gegangen seien. „Wir haben ihr einfach ‘ne Geschichte erzählt. Von wegen Geburtstag und so. Und da haben wir von ihr erfahren, dass die Eltern im Italien-Urlaub sind.“

Dem Kripo-Chef reichte das erst einmal. Im Übrigen dauerte ihm das alles viel zu lange. Wenn es, was er vermutete, tatsächlich die falsche Spur auf der Suche nach dem oder den Mördern war, dann gab es jetzt Wichtigeres zu tun. „Kommen Sie, wir bringen Sie jetzt nach Berleburg. Alles andere machen wir später dort im Kommissariat.“

„Wie“, fragte ‚Clyde‘ entsetzt, „was heißt denn später?“

„Na, heute Abend oder vielleicht auch erst morgen.“

„Seid Ihr verrückt? Wir haben doch gar nix gemacht.“ Irgendwie wollte der Ganove nicht wahrhaben, dass sich die Kripo trotz der akuten Suche nach einem Mörder auch um Einbrüche und Diebstähle kümmert.

„Sven, tu mir einen Gefallen und bring ihn rüber zu seiner Frau. Rüdiger und die Kollegen können jetzt hier Schluss machen. Anschließend soll Mertz mit den Festgenommenen bei dem Industriegelände vorbeifahren, sich das Fahrzeug zeigen lassen und nach Schlüssel und Zulassung gucken. Danach sollen sie sie zur Wache bringen. Die beiden kommen in Arrest. Und Du fährst bitte zusammen mit mir zu den Eltern der Studentin.

Und bei den Laaspher Kollegen bedanke ich mich ausdrücklich für die hervorragende kollegiale Hilfe. Wir übernehmen das jetzt. Oder wollt Ihr noch mit zu den Eltern?“

„Oh nein, bitte nicht“, antwortete Sarah Renner. Und auch der Kollege Höver verzichtete herzlich gerne darauf. „Ihr bekommt noch heute Abend unseren Bericht per Mail“, verabschiedete sich die Oberkommissarin.

„Oh Gott, wird das bitter“, murmelte der ‚Freak‘ und brachte ‚Clyde‘ zu dem Bulli, in dem schon ‚Bonnie‘ saß. Für ihn war der Typ ein Lügenbeutel ‚Würde mich echt interessieren, welche Aktien die beiden tatsächlich in der Geschichte haben.‘

Dann löste sich der Fuhrpark am Ederufer langsam auf. Doch als auch das KTU-Fahrzeug langsam anrollte, kam Klaiser plötzlich eine Idee. „Stopp, Herr Steiner!“, lief er laut rufend hinter dem Transporter her. „Bleiben Sie noch einen Moment stehen!“ Der Fahrer schien ihn aber nicht gehört zu haben und fuhr weiter. Klaus blieb hartnäckig und holte auf.

Als er am Heck des Transporters war, schlug er mit der flachen Hand gegen das Rückfenster. Mit dem Erfolg, dass das Gefährt scharf abbremste und der Hauptkommissar krachend auflief.

„Hörte sich fast an wie ‘ne Sprengung“, grinste der Kriminaltechniker, als er ausgestiegen war und Klaus kopfreibend von hinten auftauchte. „Was kann ich denn noch gegen Sie tun?“

Der Mann hatte halt diesen schrägen Humor. Und Klaiser gefiel das in dem Moment sogar. Obwohl er der Leidtragende war. „Ich müsste mindestens ein Foto von jedem der gefundenen Kleidungsstücke haben. Damit ich den Klinkerts was vorzeigen kann. Immerhin ist es ja möglich, dass es sich bei dem Opfer doch nicht um ihre Tochter handelt.“

„Möglich ist das“, erwiderte Steiner, während er an seinem Smartphone rumhantierte, „aber glauben Sie das nach all dem, was wir bisher wissen? Ich nicht.“

„Ich werde nicht für‘s Glauben bezahlt, sondern …“

„… für‘s Wissen und Beweisen. Ist mir klar“, lächelte der ältere Herr aus Siegen und sagte: „Ich hab‘ Ihnen vorhin schon ein paar Fotos auf Ihr Smartphone geschickt.“

Klaiser bedankte sich. „Okay, hauen Sie ab und machen Sie Ihre Arbeit gründlich“, grinste er etwas verklemmt. „Wir sind wirklich auf jeden Fingerabdruck und jeden identifizierten Wollfaden angewiesen. Aber …“

„Aber was?“

„Sie haben natürlich recht. Es wäre ein Wunder, wenn die Tochter der Klinkerts irgendwo pumperlg‘sund herumspringen würde. Nur wer, bitteschön, ist dann die Tote?“

„Das wäre dann wieder Ihr Spiel“, entgegnete Steiner beim Einsteigen. Dann schlug er die Tür zu und gab Gas.

Die beiden Fahrzeuge mit den Kojak-Lampen auf dem Dach fielen in der Stedenhofstraße sofort auf. Zumal manche ihrer Bewohner dabei waren, vor den Häusern oder an ihren Gartentischen über die gefundene Leiche zu diskutieren.

Desiree Klinkert hatte die Beamten bangen Blickes an der Haustür empfangen und erschreckt registriert, dass es sich um andere Leute handelte. Und dass die ohne die Einbrecher kamen. „Was ist? Wer sind Sie? Wissen Sie etwa, wo Hanna ist?“

„Guten Tag, Frau Klinkert“, reagierte Klaus Klaiser so normal, wie er es in dieser Situation vermochte, „ich bin Hauptkommissar Klaus Klaiser von der Kripo Bad Berleburg und das ist mein Kollege, Kommissar Sven Lukas. Können wir bitte drinnen darüber reden?“

„Ja, aber was ist denn mit Hanna? Wenn schon die Kriminalpolizei kommt. Ist ihr etwas passiert, oder hat sie was angestellt?“

„Frau Klinkert, bitte. Wir sollten nicht hier draußen reden. Im Übrigen wäre es besser, wenn Ihr Mann dabei wäre. Ist er da?“

„Ja, natürlich. Er telefoniert die ganze Zeit und versucht, Bekannte von Hanna zu erreichen.“

Mehr sanft geschoben als freiwillig, war die Hausherrin schließlich hineingegangen und hatte ihnen einen Platz am großen Esstisch angeboten. Im Hintergrund hörte man eine Männerstimme sagen: „Gut. Dann vielen Dank. Und wenn Sie etwas hören, bitte rufen Sie uns an. Egal, zu welcher Uhrzeit.“

Kurz darauf war auch Reinhard Klinkert mit den Neuen bekannt gemacht worden. Doch bevor einer der beiden mehr sagen konnte, fragte er: „Sagen Sie, Herr Hauptkommissar, ich habe gerade erfahren, dass in der Eder eine Frauenleiche gefunden wurde. Ist das wahr?“

Seine Frau schaute ihn entsetzt an. „Was? Eine Frauenleiche? Wer erzählt das?“

„Maybrit Berger. Sie hat es von einem Nachbarn erfahren.“

„Das ist ja furchtbar. Sind Sie etwa deswegen hier?“, fragte sie bei Klaiser nach.

„Schatz, bitte beruhige Dich“, fuhr ihr Mann dazwischen, „das muss für uns zunächst mal nichts zu bedeuten haben. Zumal die Frau schon länger im Wasser gelegen haben soll. Das stimmt doch, Herr Klaiser?“

„Ja, das stimmt. Wir gehen davon aus, dass die Frau schon seit mehreren Tagen tot ist. Aber wir kennen ihre Identität noch nicht.“

„Na, Gott sei Dank“, seufzte Frau Klinkert erleichtert auf. „Es kann sich also unmöglich um Hanna handeln. Sie hat nämlich heute Nacht in ihren Geburtstag hineingefeiert.“

„Nein Schatz, hat sie nicht.“

Die Nachricht ihres Mannes durchfuhr Desiree Klinkert wie ein Blitz. Tief atmend fragte sie: „Hat sie … nicht? W…, wo…, woher weißt Du das so genau?“

„Von Maybrit, Sophie und Ole. Die waren gestern Abend alle im ‚Tonkrug‘ und haben gewartet. Nur Hanna war nicht da. Zur verabredeten Zeit um 21 Uhr nicht und auch zum Geburtstag um Mitternacht nicht.“

„Und wo war ihr Freund? Wo war Arne Priester?“

„Der war auch nicht da.“

„Ja, aber wie ist denn so was möglich? Das gibt‘s doch gar nicht. Vielleicht war sie ja bei ihm zu Hause. Hast Du ihn denn nicht angerufen?“

„Natürlich. Aber der hat sowohl an seinem Festnetz-, als auch an seinem Mobiltelefon die Mailbox hängen. Ich hab‘ nur seine Eltern erreicht. Die sagen, er sei schon seit Tagen nicht mehr aufgetaucht. Das hätte bei ihm aber wenig zu bedeuten. Er sei häufiger mal länger beruflich unterwegs.“

„Aber doch nicht über Hannas Geburtstag“, weinte Desiree Klinkert plötzlich los. „Sie hatte sich so darauf gefreut, mit ihm und den paar Freunden hineinzufeiern.“

Dann sprang sie auf. „Aber Sie, Herr ääh … Herr Hauptkommissar, Sie sind doch nicht ohne Grund extra hergekommen. Was haben Sie denn für Informationen?“

„Ich glaube, Sie setzen sich am besten erst einmal hin, Frau Klinkert“, antwortete Klaiser ganz ruhig. Dabei war ihm so unwohl, dass es kaum zu beschreiben war. „Ich möchte Ihnen zunächst einmal etwas zeigen.“ Dabei legte er sein Smartphone vor ihr auf den Tisch und ließ ein Foto nach dem anderen über das Display laufen.

„Gehören diese Kleidungsstücke eventuell Ihrer Tochter Hanna?“

„Ach, sind das die Sachen, die dieses Einbrecherpärchen gefunden hat? Wo sind die beiden überhaupt?“

„Die sitzen in Berleburg in der Arrestzelle.“

„Und haben die vielleicht was mit Hannas Verschwinden zu tun?“, schaltete sich Reinhard Klinkert ein.

„Das können wir noch nicht sagen“, erklärte der ‚Freak‘, „im Moment sind sie eher nicht verdächtig.“

Klaus lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Fotos. Sein Inneres rebellierte. Weil er ahnte, dass es gleich zu einer Katastrophe kommen könnte.

„Die beiden Einbrecher sind, soweit wir das beurteilen können, Gelegenheitsdiebe. Die klauen zwar wie die Raben, scheinen aber nicht bösartig zu sein.“ Sven Lukas wollte mit seiner Beschreibung von ‚Bonnie‘ und ‚Clyde‘ etwas Druck aus der Geschichte nehmen.

„Nicht bösartig? Das kann ich nun wirklich nicht sagen. Immerhin ist der Typ mit einer geladenen Waffe auf mich los“, bemerkte Klinkert ziemlich schroff. „Und meine Frau wurde von der tobenden Frau angegriffen.“

„Aber für den Mord kommen sie nach derzeitiger Lage der Dinge nicht in Frage. Schon aus zeitlichen Gründen nicht“, erklärte der Kripo-Chef. „Wir werden uns die beiden morgen aber wieder vornehmen. Seien Sie beruhigt. Priorität hat aber auf jeden Fall die Ermittlung des oder der Täter.“

Im Wohnzimmer der Klinkerts war es beunruhigend still geworden. Lediglich das leise Fauchen der Klimaanlage war zu hören. Noch immer herrschten draußen tropische Verhältnisse. Umso angenehmer waren die Temperaturen im Haus. Dennoch standen jetzt kleine Schweißperlen auf der Stirn der Hausherrin.

„Sagten Sie vorhin ‚Mord‘? Herr …“, Desirees Stimme versagte.

„Klaiser, Frau Klinkert. Mein Name ist Klaus Klaiser. Ja, ich sprach von Mord.“

„Das ist ja entsetzlich. Also kein Unfall, kein …“, wieder versagte ihre Stimme. Desiree fand zu keinem klaren Gedanken mehr. Vor ihren Augen geriet alles in Bewegung. Sie fühlte sich einem Zusammenbruch nahe. Doch ihr Mann saß neben ihr, umfing ihren Oberkörper mit einem Arm und gab ihr mit der anderen Hand zu trinken.

„Komm Schatz, bitte, das ist jetzt wichtig für die Polizei. Gehören die Sachen auf den Fotos unserer Tochter?“

Desiree ließ sich die Aufnahmen noch einmal zeigen. Dann knickte sie auf einmal ein. Reinhard konnte sie gerade noch so abfangen. Wieder gab er ihr zu trinken. Mit glasigem Auge schaute Desiree zuerst ihren Mann an, dann Klaus Klaiser. Offenbar hatte sie realisiert, dass eine Tragödie über ihre Familie hereingebrochen war.

„Ja“, stammelte sie, „ich kenne die Sachen. Das Badelaken, den Bikini, die Bermuda und das Poloshirt.“ Dann warf sie ihren Kopf an die Schulter ihres Mannes und plötzlich bebte ihr Körper wie unter Schüttelfrost. Ein unglaublicher Weinkrampf hatte sich ihrer bemächtigt und ließ sie laut schluchzen. Ihr Mann weinte mit.

Betreten schauten die Polizeibeamten zunächst einander an und dann zu Boden. Diese beklemmende Szene hatte sich keiner von ihnen ausgesucht. Und doch konnte ihr niemand entkommen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit richtete sich Reinhard Klinkert auf und fragte: „Haben Sie ein Foto von der Toten? Wir brauchen Gewissheit. Wir müssen wissen, ob das unsere Hanna ist.“

„Nein“, sagte Sven Lukas, der gemerkt hatte, dass Klaus Klaiser zu einer Antwort nicht fähig gewesen wäre. So nahe war ihm der Zusammenbruch der Frau gegangen.

„Tut mir leid. Wir haben kein Foto, das wir Ihnen zeigen können.“

„Das glaube ich Ihnen nicht. Sie haben doch sicher Fotos von dem Ort gemacht, an dem die Tote gefunden wurde. Und Sie haben mit Sicherheit auch Fotos von dem Leichnam. Warum dürfen wir die nicht sehen?“, insistierte Klinkert.

„Weil sie zu einer Identifizierung nicht taugen würden“, stellte Sven nun nüchtern fest. „Tut mir leid.“ Seine Blicke suchten irgendwas in der Wohnung, nur nicht die Blicke von Hannas Vater.

Reinhard Klinkert gab sich mit dieser Antwort nicht zufrieden. „Wenn Sie kein Foto haben, dann lassen Sie uns bitte zu ihr.“

Sven schluckte. „Das geht nicht. Die Lei…, äh … die Frau ist in der Gerichtsmedizin.“

„Hören Sie“, wurde der Hausherr plötzlich bestimmend, „Ich will jetzt sofort ein Foto von der toten Frau sehen. Ich habe ein Recht darauf!“

„Aber es ist doch, wie gesagt, bisher nur eine Vermutung. Wir wissen nicht, wer die Tote ist.“ Der ‚Freak‘ hob und senkte resignierend die Schultern. Er wollte unter allen Umständen vermeiden, dass die Eltern die so malträtierte Leiche zu Gesicht bekommen. Und er wollte deren Zustand auch nicht beschreiben. Da kam ihm Klaus zu Hilfe, der sein extremes Unwohlsein endlich in den Griff bekommen hatte. „Ein Foto würde Ihnen nichts helfen, Herr Klinkert. Denn ihr Gesicht ist durch äußere Einflüsse total entstellt.“

Der Angesprochene starrte ihn an.

„Was heißt das, ‚total entstellt‘?“

Klaus druckste herum. Doch der erregte Vater nötigte ihn zu einer klaren Auskunft. Also atmete der Kripo-Chef durch und fasste sich ein Herz. Wissend, dass er die Grenzen des Erträglichen sprengen würde.

„Verzeihen Sie. Aber es lässt sich leider nicht anders beschreiben. Die Tote hat kein Gesicht mehr.“

„Neiiin, lieber Gott, neiiin!“, schrie Reinhard. „Mach, dass das nicht wahr ist!“ Noch immer hielt er seine Frau eng umschlungen. Doch die bekam gar nicht mehr mit, was gerade passierte. Eine gnädige Ohnmacht ließ sie fast seinen Händen entgleiten.

Die Beamten waren wie erstarrt. Das Leid der Eltern auch noch durch diese furchtbare Nachricht zu verstärken, das war das größte Elend für die beiden.

„Herr Klinkert, ich bitte Sie, wir sind nach wie vor nicht sicher, ob es sich bei der Toten tatsächlich um Ihre Hanna handelt“, griff Sven wieder ein. Doch der Vater hatte resigniert. Weinend fragte er zurück, „ja, wer soll es denn sonst sein?“

Als Klaus Klaiser an diesem Abend nach Hause kam, fiel er in die Arme seiner Frau und legte seinen Kopf auf ihre Schulter. Ute hielt ihn fest und wartete, bis er sich erklären konnte. „Weißt Du“, sagte er nach einiger Zeit, „es gibt Tage, da verfluche ich meinen Entschluss, zur Polizei zu gehen. Heute ist einer davon.“

Sie fragte nicht nach. Denn sie wusste, dass er erzählen würde, wenn er es denn wollte. Und wenn nicht, dann würde er es schon allein deshalb nicht tun, um sie nicht zu beunruhigen. Grausame Begebenheiten, so wusste sie, erführe sie ohnehin nicht von ihm. Und so blieb auch an diesem Abend vieles von dem unausgesprochen, was ihn über Gebühr belastete. Bis in den späten Abend hinein saßen sie auf ihrer Terrasse und tranken fast zwei Flaschen eines herrlich spritzigen badischen Weißburgunders. Klaus hatte den Löwenanteil davon beansprucht. Der Wein hatte seine Zunge gelockert und ihn zu seinem Humor zurückfinden lassen. Die Erlebnisse in Arfeld waren wie weggeschaltet.

Beide amüsierten sich denn auch köstlich über so manche Episode im Münsterland. Zum Beispiel die Erlebnisse mit Onkel Karl. „Dieser Mann ist einfach eine Granate“, lachte Klaus, als er an die Spiele des alten Herrn mit Luisa erinnerte.

Der alte, liebenswert knorrige Bauer hatte in einem Korbsessel beim Abendbrot gesessen und quer über den großen Tisch dem Töchterchen der Klaisers Grimassenschneiden beibringen wollen. Die Kleine hatte mit den unglaublichsten Versuchen darauf reagiert und gemeinsam mit „Ontel Tarl“, wie sie ihn nannte, die gesamte Großfamilie zu Lachsalven animiert.

Schon allein dieses Abendessen auf dem Bauernhof von Utes Großeltern war die Reise ins Münsterland wert gewesen. Beide brauchten solche Besuche in der Heimat. Hin und wieder eine Fahrt zurück zu den Wurzeln. Für Ute und Klaus immer etwas Wertvolles.

Auch Sven, der ‚Freak‘, war am späten Abend mit einem regelrechten Stimmungsleck nach Diedenshausen zurückgekehrt. Nur im Gegensatz zu Ute Klaiser war Mina bereits bestens informiert, über den Fund der Leiche und deren Zustand. Was Wunder auch. Als Hebamme im Krankenhaus hatte sie beste Verbindungen zu Ärzten und Rettungssanitätern.

Und die hatte sie genutzt, als sie noch am frühen Abend wegen einer unvorhergesehenen Geburt in die Klinik gemusst hatte. Nachdem das Baby auf der Welt und Mutter und Kind versorgt und glücklich waren, holte sie die nötigen Informationen ein. Die würde sie brauchen, um ihren Lebensgefährten auffangen zu können, wenn er nach Hause käme. Denn sie wusste, dass auch Sven Lukas höchst sensibel auf jede Art von Gewaltverbrechen reagierte.

Im Freundeskreis hatte sie ihn schon mehrfach für diesen Wesenszug gelobt. Und sie hoffte, dass er niemals so abstumpfen würde, dass für ihn Mord und Totschlag eines Tages zum Alltagsgeschehen zählen würde. Zwar bestand diese Gefahr in Wittgenstein ohnehin nicht. Doch Minas Denke zeigte, wie sehr sie sich um das Seelenleben ihres geliebten Sven sorgte.

Und sie wusste ihn zu verzaubern. Mit gutem Essen und überhaupt. Ein leichtes und raffiniert zubereitetes Abendessen mit hauchfein geschnittenem Knochenschinken, Melone, eingelegten Maiskölbchen, Spargelspitzen, Schnitzen von Cocktailtomaten und Dillgürkchen, brachte Kommissar Lukas langsam auf andere Gedanken.

„Ihr müsst lernen abzuschalten! Ohne die Fähigkeit dazu werdet Ihr es schwer haben, in Eurem Beruf“, hatte man ihm und seinen Lehrgangskameraden in der Polizeischule mit auf den Weg gegeben. „Ansonsten lauft Ihr Gefahr, jedes miese Erlebnis wie einen bleiernen Rucksack mit Euch herum und nach Hause zu tragen. Hütet Euch davor. Denn für eine Partnerschaft ist das auf Dauer tödlich.“

Sven Lukas hatte sich das zu eigen gemacht. Doch die Fähigkeit dazu wurde mit dem gewaltsamen Tod jener jungen Frau zerstört, die er auf dem Stünzelfest kennengelernt und noch am selben Tage wieder verloren hatte. Jetzt, zwei Jahre später, half ihm Mina auf besondere Art und Weise dabei, sein Gefühlsleben gewissermaßen zu restaurieren.

Eine Tote im Fluss

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