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Montag, 7. März

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„Ich würde Ihnen das alles ja furchtbar gerne glauben, was Sie mir hier erzählen. Aber mir fehlt der Aufhänger dazu. Wer, um alles in der Welt, soll denn der Empfänger dieser Post sein?“

Pattrick Born saß in seinem Büro einer rund 25 Jahre alten Frau gegenüber, die sich krampfhaft an ihrem Rucksack festhielt. Eine sportliche Blondine in schmuddeligem Winter-Wanderoutfit. In früheren Tagen hatte sie sicher häufiger mal eine Dusche oder zumindest eine Waschgelegenheit gesehen. In den letzten zwei, drei Tagen aber mit Sicherheit nicht.

„Die stinkt wie ein Iltis“, hatte Jürgen Winter seinem Kollegen zugeraunt. Der hatte sie nämlich am Berleburger Busbahnhof „abgegriffen“, wie die Polizei einen solchen Zufallsfang nannte. Die Frau war gerade dabei gewesen, Pennälern kleine Beutelchen zu verticken, deren Inhalt verdächtig nach geschrotetem Heu aussah.

Der Kommissar hatte sich in der Vergangenheit schon oft zu den Wartenden an einer der Haltestellen gesellt und Ausschau gehalten, war aber nie so recht fündig geworden. Doch diesmal konnte er recht offene Transaktionen eben dieser Dealerin beobachten. Ein Gramm Haschisch für zehn Euro. Der Zulauf von 14- bis 18-Jährigen war beträchtlich.

Mehrere der Verkäufe hatte er klammheimlich mit seinem Smartphone fotografiert, manche sogar gefilmt. Als sicheren Beweis. Zwar hätte er sich die Schüler sofort vornehmen können, streng gesehen sogar müssen. Aber dann wäre ihm die Dealerin abgehauen. Und genau das wollte er vermeiden. Sein Zielobjekt war sie.

Nach fünf, sechs dokumentierten Deals schlug er zu. Mehr im Vorbeilaufen. Das war eine schon oft erfolgreich geübte Taktik. Nachdem er, immer wieder mal auf die Uhr und sein Smartphone schauend, den Bussteig gewechselt und sich knapp an der Frau vorbeigeschlängelt hatte, griff er sie von seitlich hinten an, drehte ihr blitzartig den rechten Arm auf den Rücken und gab ihr damit keine Chance. „Polizei!“, rief er, „bleiben Sie bitte ganz ruhig. Dann wird Ihnen nicht wehgetan.“

Drei, vier vermeintliche Kunden der Frau stoben davon und drängelten sich eilends durch eine ganze Korona von Schülern, die mit gezückten Fahrscheinen gerade in einen Bus einsteigen wollten. Die Dealerin wäre ebenfalls zu gerne getürmt, kapierte aber beim ersten Versuch blitzartig, dass ihr jede weitere Bewegung nur Schmerzen eingehandelt hätte. Nach vorne gebeugt, ihr Hinterteil zwangsläufig Richtung Winter herausstreckend, ließ sie das Anlegen der Handschellen über sich ergehen.

„Was willst Du, Bulle?“, brachte sie stöhnend heraus. „Willste ‘ne billige Rektal-Nummer schieben, oder was?“

Jürgen wollte auf diese obszöne Ansprache antworten und riss sie zu sich herum. Aber dabei waberte ihm ihr nach altem Schweiß und kaltem Zigarettenrauch müffelnder Körpergeruch entgegen. Unweigerlich drehte er den Kopf außer Riechweite. „Nee, will ich wirklich nicht“, hatte er seine Geruchssinne wieder sortiert. „Aber Sie sind vorübergehend festgenommen.“

Natürlich war die Aktion der große Bringer für die Halbwüchsigen, von denen manche den Bus einfach Bus sein ließen, um der Show beizuwohnen. Einer von ihnen, offenbar der ganz große Zampano, beschimpfte Winter auf das Übelste. „Ey, Du Scheißbulle, lass´ die Frau los! Aber sofort! Die hat Dir nichts getan. Hab´ ich genau gesehen.“

„Komm Junge, sei bitte vernünftig und stör´ mich nicht bei meiner Arbeit. Mach mal´n bisschen Platz hier.“

Der Knilch, vielleicht 16 oder 17 Jahre alt, Pickelgesicht und Einheitsfrisur „Brötchen“ auf dem Kopf, hatte irgendwie gecheckt, dass ihm der Polizist nichts konnte, solange der die Frau am „Wickel“ hatte. Also drehte er noch ein wenig an der Provokationsschraube: „Ich werde Dich anzeigen, Bulle, wegen Freiheitsberaubung. Hier gibt´s jede Menge Zeugen, die gesehen haben, wie Du mit der Frau umgesprungen bist.“

Die Umherstehenden johlten vor Begeisterung. Da traute sich doch tatsächlich einer der ihren, einem Bullen so richtig die Hörner zu verbiegen. Wie geil war das denn? Winter musste tief Luft holen, um nicht loszubrüllen. Also ließ er sich zwei Sekunden Zeit für seine Antwort.

„Pass´ mal auf, mein Lieber, Du machst einen ziemlich schlecht erzogenen Eindruck. So was mag ich überhaupt nicht. Ich …“

„Ich bin nicht Dein ‚Lieber’, Du Knöllchenschreiber“, unterbrach ihn der aggressive Schüler. „Und was Du magst, ist doch klar. Du willst ja wirklich nur ‘n Nümmerchen schieben mit der Madame hier. Oder warum ziehste sie so hinter Dir her?“

Feixend lief der Maulheld neben Jürgen her, der die Festgenommene mit der linken Hand an deren Handschellen festhielt und mit der Rechten ihre Schulter führte. Doch diese Hand wurde mit einem Schlag überflüssig für die Probandin, schoss rüber zu dem total „geflashten“ Pennäler und packte ihn am Kragen seiner Winterjacke.

Mit einem Ruck riss Jürgen Winter den Rotzbock herum, knallte ihn mit dem Rücken gegen die Seitenwand des Busses und brüllte ihm, Nase an Nase, ins Gesicht:

„Wenn Du nicht augenblicklich Deine große Klappe hältst, dann schraub´ ich Dir Deinen Piephahn raus, Du Kasper! Gaaaanz langsam, weißt Du. Und außerdem überlege ich mir, ob ich Dich nicht vielleicht anzeigen sollte – wegen Beamtenbeleidigung und Behinderung von Polizeiarbeit.“

Dem anderen blieb die Luft weg. Allerdings nicht unter dem Griff des Beamten, sondern wegen der Gewissheit, dass es gleich eins auf die Schnauze geben könnte.

Doch Winter blieb besonnen und hielt seine beiden Kandidaten mit ruhigem, stahlhartem Griff in jeweils unangenehmer Position.

„So. Und jetzt sieh zu, dass Du nach Hause kommst, Du jämmerliche Pfeife. Und lass´ Dir von Deiner Mama bei Kaba und Marmorkuchen mal erzählen, wie sehr sie Dich dafür bewundert, dass Du die Festnahme einer Rauschgifthändlerin vereiteln wolltest. Viel Spaß dabei!“

Der Angebrüllte wurde weiß wie eine Wand. Seine Knie zitterten gottserbärmlich. Und wieder johlte die Menge. Endlich war das Großmaul aus ihren Reihen mal so richtig zur Sau gemacht worden. Sogar von einem echten Bullen. Wie geil war das denn? So schnell ändern sich die Fronten.

‚Solche Freunde muss man sich erarbeiten’, dachte Jürgen und ließ den total am Boden zerstörten Knilch los. Wie ein geprügelter Hund stieg der jetzt in den Bus und war wohl froh, dass der Busfahrer ein Einsehen hatte und hinter ihm die Türe schloss.

Mit angewidertem Gesichtsausdruck hatte er die arretierte Dealerin an der Kioskmauer kurz gefilzt und, soweit das einem Mann bei einer Frau erlaubt ist, auf Waffen abgesucht. Gesichert durch einen Kollegen, mit dem Winter zusammen auf Stadtstreife unterwegs war. Der hatte sich aber für kurze Zeit verdrücken und einem dringenden Bedürfnis nachgehen müssen. So hatte er den ganzen Zinnober hier nicht mitbekommen. ‚Schade’, dachte Winter, ‚dabei hätte er was lernen können.’

Beim Filzen war den beiden Beamten so einiges in die Hände gefallen, was ihre geballte Aufmerksamkeit erregt hatte. In der rechten Seitentasche des Rucksacks, dort wo der Wanderer üblicherweise seine Trinkflasche positioniert, gab´s jede Menge kleiner Tütchen mit Gras. Und in der linken Hosentasche ordentlich was an Geldscheinen. 5er, 10er, 20er.

Das Prinzip war klar. Bei Anfrage konnte rechts schnell die geforderte Anzahl an „Stoff“-Tütchen hervorgeholt werden, während links die entsprechende Summe kassiert und eingesackt wurde.

Neben den Grasportionen hatten die Polizisten noch jede Menge Dope aller möglicher Provenienzen und Zusammensetzungen zutage gefördert. Alle schön säuberlich verpackt und, wie im Warenhaus, mit Preisschildchen versehen. Großabnehmer-Rabatte gab´s offenbar nicht.

Das Aufregendste in dem Rucksack allerdings war ein großes gefüttertes Kuvert. Drinnen eine Marihuana-Platte. Ein Kilo schwer. Marktwert rund 10.000 Euro. Adressiert an einen „Klaf“.

„Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was da in diesem Umschlag steckt“, schwor die Frau, die immer noch nicht bereit war, ihren Namen zu nennen. Seit einer guten Stunde ging das nun so. Und Pattrick Born, der knallharte Vernehmer mit der Nase eines Spürhundes, litt wie ein Tier. Am liebsten hätte er der Frau vor seinem Schreibtisch die Klamotten vom Leibe gerissen und sie in ein Sagrotan-Bad gestopft. Aber nicht etwa, weil er sie so begehrte. Sondern weil sie ihm rein olfaktorisch gegen den Strich ging. Mit anderen Worten: ihm stank ihre ungewaschene Anwesenheit gewaltig.

‚Das muss ich mir nun wirklich nicht geben’, dachte sich Pattrick. Aber wie macht „Mann“ dieser Frau klar, dass es hier unter keinen Umständen weitergeht, bevor sie sich einer intensiven Körper- und Klamottenreinigung unterzogen hat? Das konnte er ihr nicht so einfach vor den Koffer hauen. Denn bei der Polizei hat jeder das Recht auf menschenwürdige Behandlung. ‚Nur’, sinnierte er weiter, ‚ist meine Würde etwa nicht in Mitleidenschaft gezogen, wenn hier die ganze Bude stinkt?’

Aber dann kam ihm die Erleuchtung. Es war ja noch eine Leibesvisitation fällig. Vorhin, als die hatte stattfinden sollen, war keine weibliche Beamte im Revier gewesen. Vielleicht hatte sich das geändert.

Ein kurzer Anruf beim Diensthabenden – und schon war Kommissarin Claudia Siegemund auf dem Weg, um der Probandin im wahrsten Sinne des Wortes an die Wäsche zu gehen.

Ein Double-win-Geschäft für die Frau, wie sich später herausstellte. Claudia war nämlich erfolglos bei der Suche nach weiteren verbotenen Stoffen, Geld und dergleichen mehr geblieben. Und die Namenlose hatte plötzlich Geschmack an einer heißen und ausgiebigen Dusche bekommen. Plus Trainingsanzug der Polizei. Denn ihre Kleider waren schon, während sie sich noch abtrocknete und föhnte, in der Waschmaschine für Einsatzanzüge verschwunden.

Sie roch gut, als sie, mit offenem, wallendem Haar und in „Bullenblau“ wieder auf dem Stuhl vor Pattrick Born Platz nahm. Der hatte natürlich in der Zwischenzeit nicht nur ausreichend gelüftet. Er hatte auch den Rucksack der Blonden Millimeter für Millimeter untersucht. Nichts! Nicht einmal ein Zettelchen, das Auskunft über die Identität seiner Gegenüber hätte geben können.

„Wollen Sie mir jetzt vielleicht Ihre Personalien nennen? Ich nehme an, Sie haben sich ordentlich erfrischen können und sind jetzt vielleicht ein wenig besser drauf.“

„Ich habe nicht die Absicht“, erwiderte sie. „Jetzt nicht und auch nicht später. Vergessen Sie´s einfach.“

Plötzlich war da ein komischer, rhythmisch klingender Brummton zu hören. Die Fremde blickte erschreckt nach unten. Pattrick auch. Es brauchte seine Zeit, bis er kapierte, dass dort einer der Trekkingschuhe der Frau sachte vibrierte. Die Schuhe hatte sie direkt neben ihrem Rucksack am Boden deponiert und bückte sich nun danach.

Born hatte begriffen. Er ließ seinen Bürostuhl nach hinten rauschen, fiel blitzartig auf die Knie und tauchte unter dem Schreibtisch hindurch zu ihr herüber. Dort riss er ihr die Schuhe aus der Hand und krabbelte wieder zurück.

Es vibrierte noch immer – in der rechten Schuhsohle. Pattrick hatte nach zwei Versuchen den Dreh raus, klappte die Sohle zur Seite weg, griff hinein und beförderte ein Smartphone ans Tageslicht, an dem er sofort das Gespräch annahm.

„Jou“, nuschelte er in die Muschel.

„Hey“, kam´s von der anderen Seite, „wer biss´n Du?“

„Der Pattrick“, nuschelte er zurück, als sei´s das normalste der Welt, an fremde Telefone zu gehen.

Kurze Pause beim Gesprächspartner. „Wo iss´n die Anna?“

„Hä?“

„Wo iss´n die Anna Berg?“

„Hier“, antwortete Born trocken und hätte laut jubeln können. ‚Bingo, hat geklappt, verdammt noch mal!’

„Warum bist Du dann an ihren Apparat gegangen? Wer bist Du denn?“ Der andere wurde unleidlich.

„Sach ich doch“, nuschelte er weiter. Der Pattrick. Aber mal ‘ne Gegenfrage. Wer bist Du denn?“

„Geht Dich nix an. Kann ich sie nun sprechen?“

„Nee.“

„Wie, ‚nee’?“

„Nee. Das ist doch wohl eindeutig.“

„Was soll denn dieser Blödsinn? Warum sagst Du, ich kann Anna nicht sprechen, wenn sie doch in Deiner Nähe ist? “

„Weil ich der Polizist bin, der sie gerade verhört.“

Auf der Anruferseite war es augenblicklich still geworden. Das Display des Smartphones zeigte Gesprächsende an.

Für die vermeintliche Anna war das alles viel zu schnell gegangen. Nicht einen Muckser hatte sie während der ganzen Prozedur von sich gegeben. Nur mit offenem Mund angehört, was Pattrick Born da gesagt hatte.

„Wer war´n das?“

„Weiß ich nicht. Hat er nicht sagen wollen, Frau Anna Berg.“

Poff! Die Angesprochene sackte in sich zusammen. Hatte der Blödmann da ihren Namen verraten. ‚So eine …’ Sie versagte sich, den Gedanken fertig zu denken. ‚Aufgeflogen, verdammt noch mal. Was mach´ ich ‘n jetzt?

„Psssst, Mäuslein, still. Bitte, bitte beruhige Dich.“ Klaus Klaiser wanderte im Kinderzimmer auf und ab und trug ein kleines, süßes Bündel in der rechten Armbeuge. Sein Töchterchen Luisa, gerade einmal drei Wochen alt. Am 15. Februar war das Würmchen geboren. Das Wunschkind der Klaisers. 53 Zentimeter groß, 3.550 Gramm schwer, bildhübsch, meistens hungrig und dann laut.

Letzteres brachte Klaus gerade an den Rand seiner nervlichen Belastbarkeit. Ute war nur kurz unter die Dusche gestiegen und hatte die Kleine seiner Obhut überlassen. Dem extrem stolzen Papa hätte eigentlich nichts Schöneres widerfahren können. Denn er nutzte jede sich bietende Gelegenheit, um mit Luisa zu schmusen und sie ‚auf Händen zu tragen.’ So, wie er es ihr in der Geburtsnacht flüsternd versprochen hatte.

Aber hatte sich was mit dem „auf Händen tragen.“ Die Kleine brüllte wie am Spieß. Von dem kleinen Gesichtlein war nur die Hälfte zu sehen. Der Rest war aufgerissener Schnabel. „Wääääh, wääääh, wääääh!“ Klaus geriet langsam in Panik. Unweigerlich fühlte er sich an Wilhelm Busch erinnert: „Früh belehrt sie die Erfahrung. Sobald sie schrie, bekam sie Nahrung.“

„Was machst Du denn mit ihr?“ Mit fast vorwurfsvoller Stimme nahte Ute, die sich in ihren Morgenrock gewickelt hatte und mit ausgestreckten Armen sofort bereit war, das Brüllkind zu übernehmen. Nur zu gern überließ er ihr Luisa. Und kaum hatte die Süße ihre Mama vernommen, setzte sie ihr Konzert aus und war plötzlich das bravste Kind der Weltgeschichte.

„Ich werde ihr was zu essen geben. Hast Du noch so lange Zeit? Oder musst Du zum Dienst?“, fragte Ute über die Schulter hinweg, während sie es sich in dem eigens angeschafften Stillsessel bequem machte und Luisa an die Brust anlegte. Gierig schmatzend begann das Baby seine Mahlzeit. Und Klaus schmolz dahin. Für ihn offenbarte sich das wunderbarste Bild, das er sich vorstellen konnte. Seine beiden Schätze, die er liebte bis zum Umfallen.

„Nein, Süße, ich muss. Ich hab´ dermaßen viel Arbeit auf dem Schreibtisch liegen. Die erlaubt auch keinen Aufschub mehr. Ich muss. Leider. Kommst Du denn wirklich allein zurecht?“

„Aber natürlich. Mach´ Dir um mich keine Gedanken. Schlaf´ mir aber bitte nicht ein während der Fahrt. Die letzten Nächte waren für Dich ja alles andere als erholsam.“

Tatsächlich hatte der Kriminalhauptkommissar in keiner der letzten gut 15 Nächte mehr als vier Stunden geschlafen.

Jeder kleinste Muckser des Babys hatte ihn aufstehen und zum Kinderzimmer rüberrennen lassen. Um dort mit der weinenden Luisa auf dem Arm herumzuwandern, ihr leise Lieder vorzusingen, sie zu Ute ins Schlafzimmer zu bringen oder einfach ihr Einschlafen zu bewachen. Klaus war platt. Und das sah man ihm auch an.

Als er gegen 13 Uhr die Dienststelle betrat, roch es seltsam in den Fluren des Kommissariats. Irgendwie nach Gras. „Hier muss doch jemand gekifft haben!“, rief er laut und marschierte den Flur entlang. Dem dichter werdenden Geruchsbild folgend. „Stimmt!“, rief´s aus einer offenen Tür. „Ich kiffe hier.“ Es war Kriminalhauptmeister Sven Lukas, der aus einem Büro heraus Laut gab. Aus seinem sogenannten „Labor“.

„Ich glaub´, Dir ist´n bisschen zu warm geworden!“, herrschte Klaiser den Kollegen an, der unter einer milchig blauen Rauchwolke an seinem Schreibtisch saß. „Mmmmann, Du kannst doch hier keine Rauschgifthöhle aufmachen. Mitten im Revier. Mensch!“

„Entschuldige Chef, aber das war jetzt leider nötig. Drüben bei Pattrick hockt zur Zeit ‘ne Dealerin, die dieses Zeug pfundweise mit sich rumschleppt. Und ich bin gerade dabei zu testen, wie gut dieser Scheiß ist, mit dem sie Schulkinder en masse betört hat.“

„Das kann doch wohl nicht wahr sein!“ Klaiser wandte sich kopfschüttelnd ab. „Jetzt kifft Ihr hier schon im Dienste der Qualitätskontrolle. Mitten in der Bullerei. Und jeder darf vermutlich mal ziehen an dem Joint. Oder? Ich glaube, wir sollten dringend mal reden.“

Rumms! Die Tür war zu. Und plötzlich wieder offen, mit einem wütenden Klaiser im Rahmen. „Hör jetzt sofort auf mit dem Scheiß, mach´ die Tüte aus und lüfte! Aber dalli! Ist das klar?“

„Ja.“

„Dann ist´s ja gut.“ Rumms! Tür zu.

Sven, der ‚Freak’ für alle elektronischen Fragen und Rauschgiftgeschichten, war total erschüttert rübergeschlichen zu Jürgen Winter und hatte dem von seinem Erlebnis mit Klaus Klaiser berichtet. „Was ist denn mit dem los? Hat der nicht so ‘ne Art Mutterschutz – oder so? Der Chef ist ja total überdreht, Mensch. Guck mal, wie der aussieht.“

Doch auch der Kollege zeigte wenig Verständnis für den „Drogen-Test“.

„Das kannste doch nicht bringen, Sven. Haste Dir mal überlegt, was einer unserer Kunden denkt, wenn er hier im Kommissariat auftaucht und meint, er wär´ in ‘nem holländischen Coffeeshop? Womöglich noch einer, den wir wegen BTM-Vergehen am Arsch haben. Geh´ doch mit dem Scheiß in den Wald, wenn Du meinst, Du müsstest solche Experimente machen.“

„Ja, ja. Und da fallen dann alle Rehe ins Koma und mich fangen die Bullen“, grinste Sven und verdrehte die Augen. Er hatte begriffen, was er da für einen Bolzen gedreht hatte. „Ich glaub´, ich geh´ jetzt lieber mal lüften.“

Bei Pattrick Born gab´s Lachsbrötchen mit Ei, einen grünen Salat mit Joghurt-Dressing und Cola light zum Mittagessen. Aber nur für ihn. Hatte er sich am Morgen daheim selbst zurechtgemacht. Anna Berg musste derweil mit der kargen Zellenkost Vorlieb nehmen. Aber selbst die hatte in Berleburg noch keinen Insassen am Hungertuch nagen lassen.

Dem frischgebackenen Kriminalkommissar gegenüber saß Klaus Klaiser und ließ sich über die aktuellen Ereignisse informieren. Kauend und gelegentlich Krümel spuckend gab Pattrick bereitwillig Auskunft.

„Kleindealer? Das glaub´ ich nicht. So, wie der Jürgen Winter das beobachtet und auch per Bild dokumentiert hat, mag man das vielleicht auf Anhieb glauben. Sie verschacherte Tütchen an Schüler. Ist ja ohnehin schon schlimm genug. Aber ich fress´ ‘nen Besen, wenn die Frau nicht auch als gut bestallter Drogenkurier unterwegs ist. Oder hast Du schon mal erlebt, dass so´n kleiner Shit-Lieferant mit ‘nem Smartphone in der Schuhsohle durch die Gegend tigert?“

„Wie bitte? Smartphone in der Schuhsohle?“

„Ja“, sagte Born und zeigte den sichergestellten Schuh samt Handy-Versteck vor. „Richtig professionell gemacht.“

„Das ist ja mal abgefahren.“ Fast sprach Bewunderung aus den Worten des Kripo-Chefs, der die Sohle immer wieder hin- und herklappte. „Ich glaube, Du hast recht. Das ist keine Nebenverdienerin. Die Frau hat ordentlich Kasse gemacht. Sonst wäre sie nicht so ausgerüstet. Wo ist´n das Handy?“

„Das hat der ‚Freak’ in Arbeit. Er liest gerade die Daten aus. Wir werden wohl nicht drum herumkommen, dem einen oder anderen Provider ein wenig auf die Füße zu steigen, um an Anschluss-Infos zu kommen.“

„Ach, der ‚Freak’ macht auch richtige Ermittlerarbeiten, neben seinen Selbsterfahrungstrips?“ Klaus mochte den Kollegen nicht bloßstellen. Daher beließ er es bei dieser sibyllinischen Anmerkung. Aber der Kollege hatte schon begriffen.

„Du meinst seine Kifferei?“ Klaus nickte.

„Dreh´ ihm da bitte keinen Strick draus. Das ist mehr oder weniger meine Idee gewesen. Ich dachte bloß nicht, dass er das hier im Haus macht. Hab´s auch eben erst gerochen.“ Klaiser fuhr aus seinem Stuhl hoch. „Sag´ mal, geht´s noch? Du kannst doch Sven nicht damit beauftragen, Joints zu rauchen. Das ist ja Anleitung zu einer Straftat.“

„Mooooment, Chef. Du kennst selbst sehr genau die aktuelle Rechtsprechung: ‚Straffreier Eigenkonsum kommt (nur) infrage, wenn der oder die Konsumierende keine Verfügungsgewalt über das Betäubungsmittel hat. Das liegt z.B. vor, wenn das Betäubungsmittel in verbrauchsgerechter Menge zum sofortigen Verbrauch an Ort und Stelle hingegeben wird’.

Und so war das ja auch. Ich hab´s ihm gegeben.

„Jaaaa, jaaaa, ist ja schon gut. Kenne ich, kenne ich. Aber so was kann man doch nicht im Polizeidienst bringen.“

„Da kannst Du recht haben. Aber wo steht das?“

„Och Mensch, weißt Du was? Ihr könnt mich alle mal kreuzweise.“ Klaiser war jetzt richtig geladen. „Wenn das so ist, dann lassen wir demnächst mal einen von unseren Kollegen erst ‘ne Flasche Wacholder saufen und dann mit dem Auto durch die Stadt fahren. Vielleicht wird er eine alte Frau über den Haufen fahren. Womit der Beweis erbracht wäre, dass auch ein besoffener Angeklagter angesichts seines Zustands keine andere Chance gehabt hätte. Ihr habt ‘se doch nicht mehr alle.“

Born sprang auf und wollte noch etwas sagen. Aber da war der Chef schon draußen. ‚Mist, das ist ja super gelaufen’, ärgerte er sich. Dabei hätte er doch ganz zufrieden sein können mit dem bisherigen Verlauf des Tages. Immerhin hatte man nicht alle Tage einen Fang mit mehr als einem Kilo Rauschgift, das jetzt in der Asservatenkammer lagerte. Allerdings würde es jetzt langsam Zeit, dass Anna Berg mal ein paar Infos zum Empfänger des Marihuanas rüberwachsen ließe. „Klaf“, was war das eigentlich für ein Name? Tscheche? Vielleicht.

Am Bahnhof in Aue, oder an dem, was von dem Bahnhof aus einstigen Blütezeiten übrig geblieben war, hockte ein klapperdürrer Hecht, eingepackt in einen Ami-Parker, Thermohose und eine Art Filzstiefel. Er schien auf jemanden zu warten. Der Mann mit eingefallenem Gesicht und schulterlanger Zottelhecke erinnerte ein wenig an Mick Jagger. Ständig schaute er auf die Uhr am Bahnsteig. Und die durchaus noch winterlichen Temperaturen im Wittgensteiner Land ließen ihn heftig frösteln.

„Scheint sich ziemlich verspätet zu haben, seine Verabredung“, meinte Claudia Siegemund, während sie sich einen Becher Tee aus der Thermoskanne einschenkte. Gemeinsam mit Kommissar Rüdiger Mertz saß sie in einem Zivilstreifenwagen auf einem Platz hinter dem kleinen Supermarkt. In direkter Nachbarschaft zum Bahngelände. Wenn der Mann auf dem Bahnsteig mal genauer herüberschauen würde, müsste er sie sogar fast sehen können.

Aber der hatte offensichtlich ganz andere Interessen. Und die machten ihm schwer zu schaffen. Das sah man. Selbst auf diese Entfernung. Zum gefühlt zehnten Mal griff er gerade wieder in seine Parkatasche und holte Tabak und Papierchen hervor. Mit steifen Fingern drehte er sich eine Kippe, zündete sie an und sog gierig den Rauch ein.

„Das ist nicht die Erleichterung, die er jetzt verspüren würde, hätte er seinen Stoff in den Tabak bröseln können. Aber der scheint ihm ausgegangen zu sein.“ Rüdiger Mertz ließ schon fast Mitleid erkennen, mit dem polizeibekannten Kiffer. Seit einer halben Ewigkeit hatten sie ihn schon auf der „Liste“ im Berleburger Revier.

Harald Pröger, Ex-Jurist und Gelegenheitsmusiker, war kein schlechter oder gar bösartiger Mensch. Im Gegenteil. Er war eher einer, der sich für die Belange seiner Mitmenschen einsetzte und deren Rechte dort einforderte, wo die Betroffenen es selbst nicht vermochten. Eisenhart und gerecht. Im Rathaus hatte man Respekt vor ihm. Genauso wie im Landratsamt und bei anderen Behörden. „Der hat richtig was auf dem Kasten“, sagten die Leute anerkennend.

Nur vom Kiffen kam Pröger nicht los. Und das hatte ihn letztlich seine Karriere in einer Anwaltskanzlei gekostet. „Bewusstseinserweiternd“ sei die eine oder andere Tüte am Tag, hatte er zur Begründung angegeben. Ein Argument, das fast jeder Konsument vorträgt. Und dafür hatte er schließlich in Kauf genommen, dass ihn der Chef der Kanzlei feuert. „Mit blutendem Herzen“, hatte der noch angemerkt. Denn Harald Pröger habe das Zeug zu einem ganz Großen in der Juristerei.

„Bin echt mal gespannt, auf wen der wartet.“ Mertz, der mit der Kollegin zusammen nicht etwa den Altfixer observieren, sondern mehr das Geschehen am Bahnhof beobachten sollte, machte sich gerade Notizen in sein Oktavheft. Das hatte er immer griffbereit in irgendeiner Jacken- oder Gesäßtasche. Für Gedächtnisstützen. Um beim Tagesbericht nicht immer hirnen zu müssen.

Hier hatte es in der jüngeren Vergangenheit öfter mal richtig Senge gegeben – unter rivalisierenden Jugendgruppen. Die einen kamen mit dem Bus aus Berleburg, die anderen per Zug aus Erndtebrück. Pennäler, die sich offenbar gegenseitig nicht ausstehen und es gar nicht erwarten konnten, sich mal wieder gegenseitig das Fell zu gerben. Um anschließend dann noch eine oder zwei Schaufensterscheiben beim Supermarkt nebenan zu zerballern.

Und dann zogen deren Eltern richtig über die Polizei her. „Weil die einfach nie dort ist, wo sie gebraucht wird. Man weiß doch, wo die sozialen Brennpunkte sind.“ Dass sie selbst es unterlassen hatten, ihre Sprösslinge zu Menschen ohne solche Aggressionen zu erziehen, kam ihnen dabei nicht einmal im Ansatz in den Sinn.

„Haben wir denn eigentlich eine Info, dass es heute wieder rund geht?“ Claudia Siegemund war noch nicht so lange in Berleburg und hatte jetzt etwas Schiss, dass sie als eine von zwei Polizeibeamten womöglich in einen Riesenschlamassel hereingezogen werden könnte.

„Nichts dergleichen. Wäre ja auch reiner Selbstmord, wenn wir hier ‚allein gegen die Mafia’ spielen wollten.“ Rüdiger Mertz erklärte der Kollegin noch einmal Sinn und Zweck ihrer Beobachtungen, die rein prophylaktischer Natur seien. „Weißt Du, wenn wir in der Lage sind, die wirklich heftigen Aggressoren zu …“ Er unterbrach sich. „Was macht der denn da?“

Mertz zeigte rüber zu Pröger, der sich in einer Art panischem Anfall in die hinterste Ecke des Wartehäuschens zurückgezogen hatte. Nebenan spratzte ein Teil der Außenwand weg.

„Das gibt´s doch gar nicht. Da schießt einer auf den Mann. Mertz riss die Tür auf, sprang heraus und zog seine Waffe aus dem Holster.

„Ptschuuu“ machte es, „ptschuuu.“ Kleine Staubwölkchen schossen aus der Wand des Wartehäuschens heraus. „Runter, Herr Pröger! Runter auf den Boden!“, schrie Rüdiger Mertz und rannte gebückt in Richtung des Beschossenen. Der tat wie ihm geheißen und verbarg seinen Kopf unter den Händen. Weitere Geschosse schlugen ein. Mertz versuchte, aus der Deckung eines alten Schneehaufens heraus zu sehen, woher die Schüsse kamen. Ziemlich sicher von jenseits der Bahn. Aber es war nichts zu sehen.

„Wieland 14/01 von Wieland 14/27 kommen.“ Claudia Siegemund hing am Funk. „Wieland 14/01 hört.“ „Feuerüberfall am Bahnhof Aue. Eine Person wird massiv von einem Unbekannten beschossen. Brauchen dringend Unterstützung.“

Als sie ihren Notruf abgesetzt hatte, rannte die junge Beamtin, die gezückte und durchgeladene Walther P99 in der Rechten, um den Supermarkt herum und sah zwei ältere Damen, die vor dem Eingang einen Plausch hielten.

„Gehen Sie bitte gleich wieder in den Markt. Hier wird scharf geschossen.“ Die Frauen grinsten nur und quatschten einfach weiter.

„Hören Sie, ich bin von der Polizei und bitte Sie inständig: Gehen Sie wieder hinein. Hier draußen ist es lebensgefährlich. Umständlich pulte sie ihren Dienstausweis hervor und hielt ihn der einen Frau vor die Nase. „Gehen Sie jetzt. Bitte!“

Um die Ecke herum hörte man zwei Einschläge und erst kurz danach die Schussgeräusche. ‚Muss gut 100 bis 120 Meter entfernt sein, der Schütze’, dachte sie, als direkt vor ihr an der Supermarktecke ein Geschoss einschlug, das sich als jammernder Querschläger in Richtung Kapplerstein davonmachte.

Instinktiv sprang die Kommissarin zurück und klebte an der Glasfront des angrenzenden Bäckerladens.

„Verdammtes Schwein, wo bist Du?“ Rüdiger Mertz kniete noch immer mit gezückter Waffe hinter dem Schneehaufen, der dort von einem Räumeinsatz übrig geblieben war. Er traute sich einfach nicht aufzustehen. Weil er kein zusätzliches Ziel abgeben wollte. Harald Pröger lag nach wie vor flach auf dem Boden. Und dann setzte der Beschuss plötzlich aus.

Zehn, zwölf Sekunden wartete Mertz, bis er schließlich aufsprang und rüberhetzte zu dem Mann am Boden. „Kommen Sie!“, rief er Pröger schon beim Herannahen zu, „kommen Sie, ich nehme Sie mit. Rüber zum Markt. Bleiben Sie immer dicht vor mir.“

Wie mit einer Eisenhand riss er den federleichten Pröger hoch und schob ihn vor sich her. Mit seinem massigen Körper gab er dem Mann Deckung. Dabei dreht er sich ständig und richtete dabei seine Waffe stets in die Richtung, aus der er die Schüsse vermutete.

Da pfiff ein Geschoss an seinem rechten Ohr vorbei und knallte neben der Hauptstraße in den Asphalt. „Ptschuuu“ machte es hinter den beiden. ‚Dieser Drecksack hat nur frisch geladen’, schoss es Mertz durch den Kopf.

Dann überschlugen sich die Ereignisse. Kurz nach dem nächsten Einschlag in unmittelbarer Nähe war jenseits des Marktes plötzlich eine andere Schussfolge zu hören. „Prrrrrrrrtschuuu, prrrrrrrrtschuuu“, eine Maschinenpistole. Claudia Siegemund hatte die MP 5 aus dem Türtresor geholt und war zur Gegenoffensive übergegangen. Hinter dem Polizei-Mondeo Deckung suchend, rotzte sie ein ganzes Magazin in kurzen Feuerstößen leer. Auf der gegenüberliegenden Seite des Bahndammes hatte sie als einzig denkbare Deckung für einen Angreifer einen dicken Baum ausgemacht. Und bei näherem Hinsehen dort kleine Mündungswölkchen gesehen, wenn es gerade krachte.

Da drüben musste es jetzt besonders ungemütlich sein. Auch wenn auf diese Entfernung mit der Maschinenpistole keine präzisen Treffer zu landen waren, so machten die Einschläge im Acker rechts und links neben dem Baum der Schützin doch alle Ehre. Dann war es verdächtig still. Von der anderen Seite kam kein Schuss mehr. Außer einer Polizeisirene, die sich von der Ortsmitte her näherte, war ohnehin kein Ton zu hören. Aber auch eine Bewegung war nicht auszumachen.

„Sag bloß, Du hast ihn erwischt!“, rief Rüdiger aus sicherer Deckung zu der Kollegin hinüber.

„Kann ich mir nicht vorstellen. Aber er weiß, dass er keine Chance hat. Sobald der die Rübe hinter´m Baum raus streckt, gibt´s Saures. Da müssen wir bloß jetzt rüber und den Typen festnageln.“ Noch immer kniete sie hinter dem Wagen.

„Kommt nicht in Frage. Du bleibst auf alle Fälle hier“, bestimmte Mertz. Plötzlich stoppte ein Streifenwagen neben ihm und Harald Pröger, der mit dankbarem Blick dicht bei ihm geblieben war.

„Bei Euch wird geschossen?“, rief Sam Weinrebe zum Beifahrerfenster hinaus. „Wo denn?“

„Poff!“ Das linke hintere Seitenfenster des Wagens löste sich in seine Bestandteile auf.

„Runter!“, brüllte Mertz. „Und zurück in Deckung vor dem Markt.“

Wieder lag der Kiffer auf dem Bauch. Nur diesmal robbte er zurück in den Schatten des Discounters. Auch der Streifenwagen setzte zurück. Drinnen zwei leichenblasse Polizisten.

„Prrrrrrrrtschuuu, prrrrrrrrtschuuu.“ Die Kollegin hatte ihrerseits den Beschuss des vermeintlichen Verstecks wieder aufgenommen. Nur diesmal folgte auf die zweite Salve ein langgezogener Schrei, der gar nicht mehr aufhören wollte. Irgendwie schrill, laut und kläglich.

„Der verarscht uns doch“, rief die Siegemund zu Rüdiger Mertz rüber. „Wenn ich den getroffen habe, dann fress´ ich einen Besen. Das wäre ein Wunder mit der Knarre hier.“ Aber das Geschrei hörte einfach nicht auf.

„Komm, gib Gas“, rief Weinrebe seinem Kollegen am Steuer zu, als er sich wieder gefangen hatte. „Da vorne geht rechts ein Weg rein, der unter der Bahn durchführt. Den Typen holen wir uns.“

„Und wenn der wieder schießt?“

„Wird er nicht. Weil Claudia uns Feuerschutz gibt, bis wir da sind.“

„Ihr seid ja wahnsinnig“, rief Rüdiger Mertz. „Hierbleiben!“

Aber da war der silber-blau-gelbe BMW schon losgerast und gerade mal hundert Meter hinter dem Markt rechts in den Weg abgebogen.

Claudia schoss zwei, dreimal deutlich am Baum vorbei. Nur um Eindruck zu machen, bei dem Schützen auf der anderen Seite. Aber weil der weiter vor Schmerzen brüllte, musste man nicht annehmen, dass er noch sonderlich wehrhaft wäre.

Vorsichtig näherten sich die beiden Kollegen mit ihrem Streifenwagen. Bis auf etwa 30 Meter. Dann stieg Sam Weinrebe aus. Seinerseits mit der Maschinenpistole bewaffnet. Und auf der Fahrerseite bezog Bernd Kleinheisterkamp mit gezückter Pistole Position hinter der Fahrertür.

Langsam näherte sich Sam dem Baum. Schritt für Schritt sichernd und immer mit der MP im Anschlag. Bis er schließlich schneller wurde und direkt neben dem Baum stehen blieb. Dann winkte er heftig und rief etwas. Aber unter dem Lärm einer gerade einfahrenden Bahn war das nicht zu verstehen.

„Wir brauchen dringend einen Notarzt und einen Rettungswagen“, kam es kurz darauf über den Funk. Die Frau hat zwei Einschüsse im rechten Oberschenkel und verliert sehr viel Blut. Wir binden jetzt ab.“

„Die Frau?“ Rüdiger Mertz stierte erst seine Kollegin, dann Harald Pröger an. „Das war eine Frau, die hier rumgeballert hat?“

„Scheiße, das ist wahrscheinlich Fine.“ Pröger holte tief Luft und streckte sich, als wolle er abheben. Die Arme nach hinten geworfen brüllte er: „Um Gottes Willen, dieses wahnsinnige Weib! Hoffentlich ist das nicht wahr.“

„Wer ist diese Fine? Und was will die von Ihnen?“

„Das ist meine Ex. Josephine Meierling aus Dessau. Wir haben uns schon vor zehn Jahren scheiden lassen.“

„Warum das denn?“

„Hören Sie. Das spielt doch im Moment gar keine Rolle. Helfen Sie ihr bitte. Bitte!“

„Rettungswagen und Arzt sind unterwegs. Die Wache in Berleburg hat ja den Funkspruch der Kollegen mitbekommen.“

Claudia Siegemund hatte sich auf den Beifahrersitz des Mondeo gesetzt. Ihr war etwas schummerig zumute. Eigentlich wollte sie zu der Frau, die sie angeschossen hatte.

„Kommt nicht in Frage“, hatte Mertz beschieden. „Du bleibst hier sitzen, erholst Dich und trinkst etwas von Deinem Tee. Die MP schließe ich schon mal im Kofferraum ein. Du weißt, wegen der Beschlagnahme.

Rüdiger schaute auf den gescheiterten Juristen herunter, der fast einen Kopf kleiner war. Ein richtiger Spargeltarzan, der unruhig geworden war und wohl am liebsten quer über die Bahn zum Tatort gelaufen wäre. Obwohl er seine dämliche Frage nach dem Warum heftig bereute, interessierte Mertz brennend, warum eine Frau auf ihren ehemaligen Ehemann schießt. Zehn Jahre nach der Scheidung.

„Weil sie mir kurz nach der Scheidung schon damit gedroht hat, mich ‚abzuknallen’, wie sie das damals formuliert hat.“

„Und warum kann die Frau so gut schießen?“

„Sie war Scharfschützin bei der NVA.“

„Scharfschützin bei der NVA?“

„Ja, bei der Nationalen Volksarmee. Majorin. Meine Fr…, äääh Fine stammt aus Dessau. Also aus der DDR. Und genau dorthin wollte sie mit mir zurück. Aber mich hätten dort keine zehn Pferde hin bekommen. Ein Umsiedeln in diese Ecke der Republik kam für mich schlicht nicht infrage. ‚Gut, hat sie gemeint. Dann gehe ich eben allein. Dafür musst Du aber bluten, mein Lieber.’

Wissen Sie, damals war ich noch ein gut verdienender Jurist. Als ich aber kurz vor der Scheidung meinen Job verlor und ziemlich mittellos dastand, drehte Fine fast durch. Da war plötzlich nix mehr mit feinem Leben, das sie sich ausgemalt hatte. Arbeiten wollte sie nämlich nicht mehr.“

Von Alt-Aue her kam ein weiterer Streifenwagen angeschossen und bog auf den Parkplatz am Supermarkt ein. Mit knarzenden Reifen hatte er neben dem Trio angehalten. Bernd Dickel war auf der Beifahrerseite herausgesprungen und rasch zu der Gruppe herübergekommen.

„Oh, grüße Sie Herr Pröger. Alles in Ordnung bei Ihnen? Jemand verletzt bei Euch? Wo sind denn die anderen beiden?“

Um den Fragenhagel zu beantworten, hatte sich Claudia Siegemund aus dem Wagen herausgeschält und zu den anderen gesellt. Mertz und sie gaben in jeder Hinsicht Entwarnung und erzählten, was sich da gerade abgespielt hatte. Und der Alt-Kiffer gab unumwunden zu, dass er um ein Haar seine Hosen gestrichen voll gehabt hätte. „Ohne Ihre Bul…, ‘tschuldigung, ohne Ihre Kollegen wäre ich da wohl nicht lebend rausgekommen.“

„Freut mich, wenn Ihnen geholfen wurde. Da wird es Ihnen sicher nicht schwer fallen, uns zu erzählen, auf wen Sie eigentlich an der Haltestelle gewartet haben.“ Nachdem den Kollegen am Vormittag dieser kapitale Marihuana-Fang gelungen war, lag eigentlich für jeden Polizisten der Verdacht nahe, dass auch solch altgedienten Hasch-Konsumenten wie Pröger der Nachschub abgeschnitten wurde, der eigentlich per Bahn hätte kommen sollen. Und vielleicht wartete der ja sogar auf das besondere Päckchen.

„Auf wen ich gewartet habe?“

„Ja. Wer wollte da mit dem Zug kommen?“

„Weiß ich nicht. Ich habe keine Person erwartet.“

„Ja, aber warum haben Sie denn bei diesen unwirtlichen Temperaturen dort herumgesessen?“

„Weil ich nicht auf irgend jemanden gewartet habe, sondern auf den Rothaar-Express.“

„Wie bitte? Wollen Sie mich veräppeln? Wo ist denn da der Unterschied.“

„Kann ich Ihnen erklären. Ich überprüfe derzeit, wie pünktlich die Züge sind. Und ob sie überhaupt fahren. Sie wissen vielleicht, dass es da in der Vergangenheit immer wieder zu beklagenswerten Verspätungen und Zugausfällen gekommen ist. Ich vertrete eine Gruppe von Bürgern, die die Betreibergesellschaft womöglich verklagen wollen. Weil sie wegen dieses Desasters wiederholt zu spät zur Arbeit kamen und ihre Kinder zu spät zur Schule. Und mit dem Nachhausekommen gab es ähnliche Probleme.“

„Mein Gott. Und dabei wird man um ein Haar auch noch erschossen“, sinnierte Dickel. Aber da wusste er noch nichts von Prögers Ex und ihren Drohungen.

Drüben beim Baum fuhren gerade der Notarzt und ein Rettungswagen vor. Und es begann mal wieder zu schneien.

Pattrick Born hatte Anna Berg weich geklopft. Die frisch geduschte junge Frau begann zu reden. Zu schwer lastete auf ihren Schultern die Verantwortung für das Drogenpaket, das sie in ihrem Rucksack zur nächsten „Station“ transportieren sollte.

Das hatten sich die Hintermänner gut ausgedacht. Auf der Liefertour mehrere Einzelpersonen auf der Strecke vom Versender zum Empfänger zwischenzuschalten. So ließen sich falsche Spuren legen und andere verwischen. Und immer waren die Kuriere Leute, die von den Auftraggebern nach Belieben gegängelt werden konnten. Weil sie sie wegen säumiger Zahlungen oder unterschlagenen Stoffs in der Hand hatten.

Für Anna hatte sich der Oberguru am Ende der Lieferschlange etwas Besonderes ausgedacht. Und das konnte wirklich nur einem kranken Hirn entspringen. Denn sie sollte nicht nur den kiloschweren Haschischkuchen von A nach B bringen. Sie sollte auf dem Weg dorthin auch noch den Bedarf am Bahnhof in Bad Berleburg stillen. Mit fertig abgefüllten Grammpäckchen. Dass damit die Gefahr um ein vielfaches größer war, gleich mit dem ganzen Marihuana-Gepäck aufzufliegen, schien er irgendwie außer Acht gelassen zu haben.

Prompt war sie hochgegangen – samt ihrer Identität. Und ihr schwante, dass das aufgrund eigener Dusseligkeit passiert war. Zu groß war wohl ihre Gier, an dem Tütchen-Geschäft noch ein wenig mitzuverdienen. Sie war nämlich dauerklamm. Aber dafür wäre wohl eine bessere Deckung vonnöten gewesen. Sie hatte das alles einfach der Gunst und dem Ansturm der Stunde überlassen.

Sei´s drum, jetzt war eh alles zu spät. Und jetzt wollte sie sich den ganzen Scheiß von der Seele reden. ‚Geständige bekommen manchmal einen Strafnachlass’, dachte sie. Eine durchaus verlockende Option, die ihr im Moment eher sympathisch erschien – im Vergleich zu dem, was ihr in „Freier Wildbahn“ nach dem Verlust der Drogen drohte. Alles sollte auf den Tisch. Bis auf den Bezugsweg für die Ware. Und die Hintermänner. Glaubte sie etwa, daraus ließe sich ein eigenes Geschäft entwickeln?

„Wer ist denn eigentlich der Mensch, der das Kuvert von Ihnen hätte übernehmen sollen?“ Pattrick war ganz wild darauf, die Geschichte in trockene Tücher zu bekommen. Denn der Anschiss des Chefs von vorhin saß tief.

„Der heißt Monkey. Mehr weiß ich nicht. Ich bin dem schon zwei-, dreimal bei solchen Aktionen begegnet. Nur waren die Lieferungen damals nicht so groß.“

„Und wo sollten Sie Monkey treffen? Etwa hier irgendwo in der Stadt?“

„Nein, nein, ich hätte den Bus um 13:30 Uhr nach Winterberg nehmen und in Hoheleye ‚Sanatorium’ aussteigen sollen. Dort wollte er auf mich warten und das Kuvert übernehmen. Ich hätte dann gleich mit dem Gegenbus wieder runter nach Berleburg fahren können.“

„Gibt´s da auch so ‘ne Art ‚Rettungsweg’, falls Sie zu spät oder gar nicht mit dem genannten Bus gekommen wären?“

„Natürlich. Einen Bus später. Wobei das schon mal ganz gewaltig übel genommen werden kann. Wir dürfen nämlich keine Handys dabei haben. Können uns also gegenseitig nicht verständigen.“

„Wie sieht denn dieser ominöse Kollege namens Monkey aus?“ Anna Berg beschrieb ihn, soweit sie das vermochte. Konnte sich aber nicht mehr so ganz genau erinnern. Immer wieder schaute sie aus dem Born´schen Bürofenster heraus und sah dem Flockenwirbel zu. ‚Gut, dass du nicht dort draußen sein musst’, dachte sie. Sie hätte nämlich nicht gewusst, wo sie die nächsten Nächte hätte verbringen können. Ihr Dauerquartier war ihr zu gefährlich, für einen Gasthof hätte ihr Geld nicht ausgereicht und die Kohle aus dem Drogenverkauf hatte die Polizei konfisziert. „Aber dass er auch beim nächsten Bus in Hoheleye am Sanatorium steht, das ist absolut sicher.“

Born hatte es plötzlich sehr eilig. „Alles Weitere besprechen wir später“, entschied er und stand auf. „Bitte bring sie wieder in ihre Zelle“, bat er den Beamten, der auf einem Stuhl neben der Tür der Vernehmung beigewohnt hatte.

Das Wartehäuschen beim „Sanatorium“ war eine Farce. Zumindest bei diesem Wetter. Ohne Unterlass pumpte der Nordwestwind neue Schneeladungen auf den dick vermummten Mann, der in der nach vorne offenen Hütte Schutz gesucht hatte. Gegenüber hätte er zwar ein lauschiges Plätzchen im „Graberhof“ finden können. Aber dafür hatte er weder das Geld, noch hätte er seinen Gast dort abpassen können.

Der Bus in Richtung Winterberg hätte eigentlich seinen Besuch mitbringen sollen. Der hielt zwar auch pünktlich nach Fahrplan um 14:03 Uhr. Aber es stieg niemand aus. Und drinnen saßen gerade mal vier Leute, von denen niemand auch nur ansatzweise nach Frau aussah.

Der verärgerte Busfahrer, der gemeint hatte, der Mann in der Hütte wolle mitfahren, hatte mächtig Probleme, sein schweres Gefährt auf der Steigungsstrecke in Richtung Rothaar-Höhenstraße wieder in Gang zu bringen. Mit grimmigem Gesicht schaute er zur Haltestelle herüber, während der MAN sein Hinterteil schlingernd über die Straßenmitte herüberschob. Nur allmählich griffen die immer wieder durchdrehenden Zwillingsräder der Hinterachse.

Hier oben, dicht am Rothaarkamm, war noch richtig Winter. Gardinen aus Pulverschnee jagten über die Freiflächen und türmten Schneewechten an den Straßenrändern und Ackerrainen auf. Gut zwei Kilometer weiter in Langewiese liefen noch die Skilifte. Deren Betreiber versuchten noch reinzuholen was möglich war. Denn das Weihnachts- und Neujahrsgeschäft hatte so gut wie nicht stattgefunden.

Leise fluchend stand der Wartende auf und ging herüber zum Fahrplan, der als solcher nur an der farbigen Umrandung des Kästchens zu erkennen war, in dem er aushing. Mit seinen Fäustlingen kratzte er Eisstreifen für Eisstreifen das Glas frei. In gut einer Stunde würde der nächste Bus kommen und um 16:03 Uhr der letzte, der noch bei Tageslicht zu erwarten war.

‚Verdammte Hacke, Klaf macht mich fertig, wenn ich ohne die Ware komme.’ Ein Schauer schoss ihm über den Rücken. Und der hatte nun wirklich nichts mit dem Wetter zu tun. Es war nichts als die nackte Angst. Denn dieser legendäre „Klaf“, von dem niemand den richtigen Namen kannte, war ein ausgesprochen brutaler Hund. Einer, der angeblich bereits über Leichen gegangen war. Abends um halb sieben hatten sie sich auf dem Bierloch-Parkplatz in Langewiese verabredet.

Niemand wusste, wo dieser Typ wohnte und niemand hätte sagen können, ob er wirklich der Drogenbaron der Region war. Die Szene zumindest hielt ihn dafür. Fakt war lediglich, dass er offenbar alles und jeden in der Hand hatte. Und dass er vor allem vom Geschäft mit den Tausenden von Holländern lebte, die Winterberg und Umgebung jahrein, jahraus mit Skiern, Bikes und Walkingstöcken heimsuchten. Deren Stoffkonsum musste gewaltig sein.

Gäbe es nicht solche Leute wie ihn, Monkey, wäre Klaf aufgeschmissen. Denn dann müsste er sich den Stoff an weitaus pikanteren Stellen abholen, als auf einem unverdächtigen Liftparkplatz. Aber er hatte halt solche Kuriere rekrutiert. Durch Köder-Aktionen, von denen er ganz genau wusste, dass sie für den Betreffenden schiefgehen mussten.

Monkey hatte er drangekriegt, indem er ihn beauftragte, Hasch-Tütchen an Disco-Besucher in Schmallenberg zu verkaufen. Bei fünfzehn Prozent Gewinn. Und das just in einer Zeit, in der Monkey besonders klamm und seine Monatsmiete seit drei Monaten offen war. Schon dessen Getränkerechnungen in den Discos schluckten den Gewinn aus den Verkäufen. Der Rest ging an seinen Wohnungsvermieter drauf. Sonst hätte sich Monkey das Wartehäuschen als Dauerbleibe ausgucken können.

Er war also in Klafs Hand. Und das hatte der ihm überaus deutlich gemacht. Mit brutalen Schlägen in die Magengrube und Tritte in die Weichteile. „Dabei forderte er ihn immer wieder auf: „Wehr´ Dich doch. Schlag zurück und mach´ mich fertig. Dann kannst Du ja zur Polizei gehen.“ Doch er war machtlos.

Diese Kurier-Mission sollte eine Art „zweiter Versuch“ sein. Im Erfolgsfall wollte ihm sein Auftraggeber 25 Prozent seiner Schulden erlassen und ihn dauerhaft in seine Dienste aufnehmen. Was ihm aber widrigenfalls blühte, wollte sich Monkey erst gar nicht ausmalen. Er musste also handeln. Bevor er um 18:30 Uhr mit leeren Händen vor seinem brutalen Auftraggeber stünde. Er ahnte, dass er das nicht überleben würde. Denn für 10.000 Euro gäbe es von Klaf mit Sicherheit nicht nur ein paar Fausthiebe und Tritte.

Auf der gegenüberliegenden Seite hielt der Bus auf der talwärtigen Strecke nach Bad Berleburg. Drei Leute stiegen aus und kamen zu ihm herüber. Allerdings ohne Notiz von ihm zu nehmen. Sie bahnten sich einen Weg in Richtung Sanatorium. Wobei das längst eine andere Funktion hatte und in ein Seniorenheim umfunktioniert worden war. ‚Die armen Alten hier oben’, dachte sich Monkey, ‚die haben in solchen Wintermonaten nicht die Spur einer Chance, mal an die frische Luft zu kommen.’

Versonnen schaute er dem abfahrenden Bus nach, als ihm plötzlich eine Idee kam. Er wollte noch den nächsten Bus abwarten. Wenn der aber wieder nichts und niemanden für ihn dabei hatte, würde er die nächste Gelegenheit wahrnehmen und runter nach Berleburg fahren. Und diese Gelegenheit wäre, er schaute auf den Fahrplan, um 15:12 Uhr. ‚Diese Scheißwarterei bei der Kälte hier. Wo bleibt dieses dämliche Weib nur?’

Ob die Frau sich wohl mit ihrem Kuriergut durch die Äste gemacht hatte? ‚Dann gnade ihr Gott. Das lässt sich Klaf auch von einer Frau nicht gefallen’, überlegte Monkey, der diesen Spitznamen seinen etwas zu groß geratenen Ohren zu verdanken hatte. ‚Du musst versuchen rauszubekommen, was da schiefgelaufen ist.’

Insgeheim bewunderte er die beiden Typen, die gerade mit ihrem Mondeo eingebogen und in Richtung Seniorenheim gefahren waren. ‚Die haben´s wenigstens warm in der Karre.’

Auch der nächste Bus kam auf die Minute pünktlich. ‚Unten im Tal haben sie offenbar keine schneebedeckten Fahrbahnen’, dachte Monkey, als das Fahrzeug der „Busverkehr Ruhr-Sieg“ haltmachte. Diesmal stiegen hinten zwei Männer aus. Die einzigen Fahrgäste. Und der Fahrer stand auf und öffnete die Vordertür. „Sind sie Herr Monkey?“, fragte er von der oberen Stufe aus, als der Angesprochene zu ihm rüberschaute.

Er erschrak. „Ääääh …, ja. Wieso fragen Sie?“

„Weil ich was für Sie habe.“ Mit einem Griff in seine große schwarze Arbeitstasche beförderte der Fahrer ein großes, etwas schwereres Kuvert zutage und reichte es zur Tür heraus. „Müssen Sie mir aber quittieren“, merkte er an. „Kleinen Moment, ich hole den Block.“

Monkey dachte gar nicht daran, seine Unterschrift unter den Lieferschein für ein Päckchen Gras zu setzen und drehte ab. Aber da standen ihm die beiden Männer im Weg, die gerade erst aus dem Bus ausgestiegen waren.

„Kripo Bad Berleburg, Born mein Name. Und das ist mein Kollege Lukas. Geben Sie das Päckchen ruhig wieder her, Monkey.“

Dem Drogenkurier fiel die Kinnlade herunter. Und eine Art Schockstarre schien ihn befallen zu haben. Er stand wie angefroren vor den Kripo-Männern. Hinter ihm schloss sich die Bustür. Der Chauffeur wollte offenbar seinen Fahrplan einhalten und fuhr an.

‚Was für eine Riesenchance’, dachte Monkey, der in dem Moment, als sein Rücken frei war, kehrtmachte und losrennen wollte. Aber da standen weitere vier Männer. Und zwei Streifenwagen. Einer bergwärts und einer talwärts. „Scheiße!“, brüllte Monkey und hob die Hände – samt Päckchen.

„Das können Sie getrost wegwerfen. Da ist eh nichts drin, was Ihnen Freude bereiten könnte“, meinte Sven Lukas, während er ihm bereits an der linken Hand eine Handschelle anlegte. „Es sei denn, Sie rauchen Rosshaar aus einer alten Matratze. Muss aber dann das sein, was man ‚hard stuff’ nennt“, feixte der junge Beamte.

„Okay, Euer Mann“, sagte einer der beiden bergwärts stehenden Beamten in Zivil. Es war Jörg Beuter, der Kripo-Chef von Winterberg, der jetzt auf Klaus Klaiser zuging und ihm die Hand drückte. „Hat ja prima geklappt. Solche Operationen sollten uns häufiger mal zusammenführen. Da würden die Großen im Ruhrgebiet oder sonstwo mal so richtig ins Staunen kommen.“

„Da sagste was“, antwortete Klaiser lachend. „Ich bin ja schon froh, wenn die uns überhaupt zur Kenntnis nehmen. Ich danke Euch auf jeden Fall heftig für Eure Hilfe. Übrigens …?“, fragte er im Abdrehen, „wie machen wir das jetzt mit den Protokollen?“

„Lassen wir uns am besten gegenseitig per Mail zukommen.“

„Okay. Aber das ist ja verdammt knapp hier mit dem Grenzverlauf zwischen Siegen-Wittgenstein und Hochsauerlandkreis.“

„Verbuch´s unter ‚Nacheile’ in unser Gebiet. Da gibt´s keine Probleme. Im Übrigen war das mal Euer Beritt. Kannst Du aber nicht wissen. War lange vor Deiner Zeit. Bis Januar 1975 gehörte Hoheleye noch zum Landkreis Wittgenstein.“

„Wow. Also Wildern auf einst eigenem Territorium“, grinste Klaus und verabschiedete sich, wie auch die anderen, von den Kollegen aus Winterberg. „Macht´s gütt!“, rief ihnen Beuter gut gelaunt zu. Er stammte aus Langewiese. Auch der Ort hatte einmal zu Wittgenstein gehört.

„Das war ja mal ‘ne absolut geile Nummer, wie wir den abgegriffen haben.“ Pattrick Born, hinten im Mondeo, kriegte sich vor Begeisterung kaum ein. „Besser hätten wir den Zugriff ja kaum planen können.“

„Da hast Du völlig recht“, antwortete Klaus Klaiser. „Alles stand und fiel allerdings mit dem Busfahrer. Wenn der nicht bereit gewesen wäre mitzuspielen, hätten wir arg dumm ausgesehen und womöglich Jagdszenen im Tiefschnee veranstalten können.“

„Aber er war ja durch uns geschützt.“ Zufrieden lächelnd steuerte der ‚Freak’ den Wagen bergab und bog an der Schmelzhütte rechts ab, in Richtung Girkhausen.

„Wie geht´s eigentlich Corinna? Von der hab´ ich schon ewig nichts mehr gehört“, brachte er Klaus auf dem Beifahrersitz gewaltig in Schwulitäten. „Die wohnt doch noch immer da vorne in Girkhausen, oder?“

Für Klaiser war das Thema „Corinna“ zu einem echten Wackerstein geworden. Der Name der Kollegin, die sich nach offizieller Lesart im Sommer vergangenen Jahres in einer ‚psychischen Ausnahmesituation’ befunden hatte, bewirkte bei Klaus Schweißausbrüche. Kollegin und beste Freundin seiner Frau. Das war eine tolle Kombination. War, leider. Doch Corinna hatte sich durch mehrere Ausraster und dienstliche Entgleisungen derart ins Abseits geschossen, dass es im gesamten Kommissariat als allgemeine Erleichterung angesehen wurde, als sie plötzlich nicht mehr zum Dienst erschienen war.

Einzig Klaus hatte es die Kollegin aus Girkhausen zu verdanken, dass sie keinerlei disziplinarische Konsequenzen hatte ertragen müssen. Dafür musste sie sich im Gegenzug verpflichten, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Seither war sie im Krankenstand. Genauer: jetzt müsste sie eigentlich im Mutterschutz sein und vor gut fünf, sechs Wochen ihr Baby geboren haben. Aber darüber gab es null Information.

„Ich kann Dir nicht sagen, wie es ihr geht“, antwortete Klaiser schließlich. „Sie war ja ziemlich krank. Aber über den Verlauf ihrer Genesung habe ich keine Infos. Schade drum. Unser Kontakt ist bedauerlicherweise total zusammengebrochen.“

„Soweit ich weiß, ist Corinna vor einiger Zeit Mutter geworden. Sie hat ´nen kleinen Jungen bekommen. Der ist wohl ´n properes Kerlchen und die Mama topfit“, verkündete Jürgen Winter, der sich die ganze Zeit aus der Unterhaltung herausgehalten hatte. „Wundert mich schon, dass Ihr alle nichts davon mitbekommen habt.“

„Oh, das ist ja klasse. Schön, dass sie jetzt auch ihr Baby hat.“ Klaiser wirkte irgendwie erleichtert. Natürlich war ihm sehr an dieser guten Nachricht gelegen. Denn Corinna war eigentlich nicht nur eine gute Kriminalistin, sondern auch ein prima Kumpel. Allerdings musste nach all den Vorkommnissen im vergangenen Jahr mal ein vorläufiger Schlussstrich gezogen werden.

Als er sich zu Winter herumdrehte und ihm seine Freude mit einem Lächeln quittieren wollte, fragte er eher beiläufig: „Woher weißt Du das, wenn ich fragen darf? Habt Ihr engeren Kontakt?“

„Nee, enger nicht. Aber ich hab´ vor ein paar Wochen mal bei ihr angerufen, weil ich nicht begreifen konnte, warum sie mich bei der Stünzel-Geschichte so unheimlich attackiert hat. Ich kannte sie so ja nun wirklich nicht. Und das hat mir richtig wehgetan. Daher wollte ich endlich mal Klarheit. Seitdem sind wir in lockerem Kontakt.“

„Aha. Und was sagt sie so?“

„Du willst mich doch jetzt nicht wirklich über ein privates Telefonat ausfragen. Oder?“

„Naja, so ganz privat kann´s ja nicht gewesen sein. Denn immerhin war ja ein dienstlicher Disput die Ursache. Sagst Du ja selbst.“

Jürgen Winter war es plötzlich unwohl in seiner Rolle. Denn was immer er erzählen würde, es wäre eine Art Verrat gewesen. ‚Eigentlich’, dachte er, ‚eigentlich wäre es besser gewesen, du hättest den Mund gehalten, du Blödmann.’

„Sie hat sich halt wahnsinnig gegrämt, dass bei ihr alles so aus dem Ruder gelaufen ist. Das tut ihr leid. Sie weiß aber nicht, wie sie Dir das beibringen soll. Ich glaube, ihre Scham ist größer als ihr Mut“, endete Jürgen seinen Kurzrapport. „Mehr werde ich dazu nicht sagen.“ ‚Und damit habe ich sie auch nicht verraten’, dachte er.

Klaus Klaiser schwieg und schaute wieder nach vorn. Gerade durchfuhren sie die lange Rechtskurve, wo man links die außergewöhnliche Kirche von Girkhausen sehen konnte. Hier stand nämlich der wuchtige Kirchturm um einiges entfernt von der eigentlichen Kirche. Was die Bauherren im 13. Jahrhundert zu dieser eigenwilligen Konstruktion getrieben hatte, dazu, hatte Klaus gehört, stritten sich Wissenschaftler noch bis zum heutigen Tage. Manche behaupten, die Kirche habe einst bis an den Turm herangereicht und nach der Reformation als „Steinbruch“ gedient. Um aus dem gewonnenen Baumaterial andere Häuser errichten zu können.

Irgendwie, dachte er, sei der Sakralbau Sinnbild für den Zustand seiner Kollegin. ‚Manchmal steht man auch mal neben sich. Wäre schön, wenn Corinna den Zustand beenden würde. Denn sie wäre dazu in der Lage. Der Kirchenbau sicher nicht.’

Im Streifenwagen dahinter saß der Gefesselte neben einem Beamten im Fond. Ihm ging dermaßen der Stift, dass er laufend sabberte. Schon kurz nach der Abfahrt hatte er den Polizisten nebenan um ein Papiertaschentuch gebeten. Doch das hatte längst seine Aufnahmekapazität überschritten. Monkey schluckte Unmengen an Spucke runter. Immer wenn er Druck hatte, war das so bei ihm. Und heute war der Druck unerträglich.

‚Scheiße, Scheiße, was mach´ ich bloß? Wenn ich heute Abend nicht pünktlich in Langewiese auftauche, bringt mich Klaf um, sobald er mich zu packen bekommt. Wenn ich aber den Bullen die ganze Geschichte stecke, fahre ich erst mal für ‘ne Weile ein. Das bewahrt mich zwar zunächst vor dem Zugriff dieses Wahnsinnigen. Aber noch mal für längere Zeit im Knast? Nee. Das wird nix. Also Maul halten, Alter. Erst mal.’ Außerdem konnte er sich kaum vorstellen, dass es heute noch zu einem Verhör kommen würde. Es war fast halb fünf. ‚Irgendwann müssen auch die Bullen mal Feierabend machen.’ Es gab also noch Bedenkzeit.

In Langewiese herrschte dicke Luft. Bis 18:50 Uhr hatte Klaf in seinem Hummer H2 auf Monkey gewartet. Bei laufender Standheizung und mit einem angeheuerten Knochenbrecher auf dem Beifahrersitz. Dann rastete er aus.

„Das wird mir dieser verfluchte Gangster büßen! Jetzt hat er mich zum zweiten Mal gelinkt! Was glaubt der eigentlich, was für Spielchen er mit mir spielen kann? Ich dreh´ ihn durch den Wolf, diesen Drecksack!“

Mit einem Satz war der in Pelz gepackte Dealer aus dem Ami-Gefährt heraus und wie Rumpelstilzchen drum herum gesprungen. Dann haute es ihn dermaßen auf die Schnauze, dass plötzlich nur noch ein Winseln zu hören war. Der große Klaf war mit seinen Cowboystiefeln ohne Profilsohle auf dem arschglatten Boden des Liftparkplatzes ausgerutscht und voll mit dem Schädel aufgeschlagen.

Der Schläger drinnen bekam sich kaum mehr ein vor Lachen. Besser wäre es für ihn aber gewesen, wenn er sich gleich fürs Aussteigen und für Erste Hilfe entschieden hätte. Denn als Klafs blutverschmiertes Gesicht plötzlich wie Kasperle in einem Puppentheater hinter der Scheibe der Beifahrertür auftauchte, war es für andere Überlegungen des Mitfahrers zu spät. Mit einem Ruck riss der arg lädierte Oberdealer die Tür auf, packte den total verdutzt dreinschauenden Mann am Kragen seiner gefütterten Bomberjacke und beförderte ihn fast fliegend nach draußen.

Einem Entsetzensschrei des Mehrfachtätowierten folgte ein dumpfer Aufschlag. Eine Weile hörte man nur noch den unermüdlich arbeitenden Liftmotor und parlierende Skifahrer. Aber wenig später wurde es laut auf dem Parkplatz. Der Schlägertyp schrie plötzlich wie am Spieß. Als ihm Klaf nämlich mit seinen spitzen Stiefeln ein ums andere Mal in die Seite trat und ihm dabei mindestens drei Rippen brach.

„Ich habe Dich nicht für Hohngelächter eingekauft, Du Vollidiot!“, schrie der Blutende. Eine klaffende Platzwunde zierte seine Stirn. „Steh´ auf und wehr´ Dich!“, brüllte er erneut.

Doch der Mann am Boden krümmte sich nur vor Schmerzen und hatte große Not, Luft zu holen. „Steh auf, Arschloch! Sofort! Sonst brech´ ich Dir alle Knochen. Zehn, neun, acht, sieben …“

Der andere quälte sich, auf die Beine zu kommen. Aber das gelang ihm nicht auf Anhieb. Während er vergeblich versuchte, aus dem Vierfüßerstand hoch zu kommen, trat ihn Klaf derart heftig von unten in den Brustkorb, dass es den Mann seitlich umwarf. Plötzlich schrie er aus Angst um sein Leben. Schrill und dermaßen laut, dass zwei Männer aufmerksam wurden, die gut 20 Meter entfernt gerade ihre Skier aus dem Wagen geladen hatten.

Eigentlich hatten Carlo Brenner und Philipp Köne vor, den Abend beim Flutlicht-Funrace zu verbringen. Doch die Schreie des Mannes elektrisierten sie förmlich. Also liefen sie rüber zu dem Hummer, hinter dem sich schreckliches abzuspielen schien. Unter dem hochbeinigen Wagen hindurch sahen sie in der Parkplatzbeleuchtung den Schatten eines Beines, das wieder und wieder gegen etwas Liegendes zu treten schien. Und jedes Mal ein Aufschrei. Doch die Schreie wurden schwächer.

Die Männer umrundeten das Fahrzeug auf der Vorderseite, wo sie sich im Rücken des brutalen Treters wähnten. Und sie hatten Glück. Tatsächlich bot ihnen der in Pelz Gehüllte seine Rückseite an. Mit zwei, drei Schritten waren sie unmittelbar hinter ihm. Als er seine Lage vergegenwärtigte, traf ihn bereits ein gewaltiger Tritt in die Kniekehle des linken Standbeins. Ächzend und mit verwundertem Blick stürzte Klaf auf die Knie. In diesem Moment knallte eine Handkante gegen seine linke Kopfseite, was ihm kurzfristig einen Blackout bescherte.

Als der Drogendealer wieder wach wurde, kniete er neben seinem Hummer und spuckte Blut. Philipp Köne hatte ihm vorsichtshalber noch einen Ellbogencheck ins Gesicht verpasst. Was Lippe und Nase des Getroffenen nicht unbedingt gut getan hatte.

Neben ihm lag stöhnend sein Opfer. Der Knochenbrecher. Carlo Brenner hatte ihn auf eine Decke aus dem Protzkarren gebettet und redete jetzt mit dem Rettungsdienst. „Natürlich bleiben wir bei dem Mann. Beeilen Sie sich bitte. Es geht ihm nicht gut. Hier ist auch noch ein zweiter Mann, der Hilfe braucht. Der ist allerdings sehr gewalttätig.“ Schnell informierte er dann auch noch die Polizei.

„Und, alles klar?“, fragte Köne. „Alles klar. Rettungswagen und Polizei sind unterwegs.“

Beim Wort POLIZEI schoss Klaf wie von einem Stromschlag getroffen nach oben und rammte den am nächsten stehenden Brenner so zur Seite, dass der fürchten musste, auf den Verletzten am Boden zu fallen. Mit einem Ausweichschritt gelang es ihm jedoch, dies zu vermeiden. Klaf war für ihn damit aber schon außer Reichweite geraten. „Philipp!“, rief er, „pass auf, pack ihn.“ Aber der bekam eine derart wuchtige Gerade in die Magengrube, dass er nach vorn überkippte und würgte.

Zehn Sekunden später sprang der Hummer an und raste schlingernd und ohne Licht über die Parkplatzauffahrt in Richtung Albrechtsplatz davon.

„Diese verfluchte Drecksau, diese elende!“, brüllte Brenner. „Was für ein Unmensch. Und wir Idioten müssen mal wieder voll in die Scheiße rasseln.“

„Ja, jetzt hab´ Dich mal nicht so von wegen Idioten“, würgte Philipp nach wie vor etwas. „Wenn wir nicht aufgekreuzt wären, hätte dieser widerwärtige Mensch den Mann hier alle gemacht.“

Wenige Minuten später tauchte der Rettungswagen auf. Er kam vom Skilift in Neuastenberg und hatte einen jungen Arzt dabei, der bereits angesichts der erkennbaren Verletzungen die Stirn in Falten legte. Vorsichtig zogen die Männer den Verletzten auf eine Trage und hoben ihn in das Fahrzeug. Dann stieg einer der Rettungsassistenten wieder aus und erkundigte sich bei Carlo und Philipp nach deren Wahrnehmungen. Doch viel hatten die beiden ja nicht gesehen.

Das entwickelte sich auch zum Problem, als schließlich eine Winterberger Streifenwagenbesatzung aufkreuzte. „Wie, Sie haben nicht gesehen, was der vermeintliche Täter mit diesem Mann gemacht hat?“, fragte eine Polizeibeamtin nach den ersten Kurzberichten der zwei Männer. „Und dann schlagen Sie derart auf ihn ein, dass ihm die Nase bricht. Hielten Sie das für verhältnismäßig?“

Philipp Köne schaute die Frau in Uniform ein wenig blöde an. „Ob ich das für verhältnismäßig halte? Sagen Sie mal, geht´s noch? Schauen Sie sich doch mal das arme Schwein da drinnen an.“ Dabei wies er auf den Rettungswagen, in dem es heftig zuging, wie man an den Schemen hinter der Milchglasscheibe erkennen konnte.

„Woher wissen Sie denn, dass das der Mann war, den Sie als Täter bezichtigen?“

„Na, weil niemand sonst da war. Und außerdem haben wir dessen Schatten unter seinem Wagen hindurch gesehen, wie er ständig zutrat.“

„Schatten sind keine Beweise“, gab die Dame spitz zurück.

Carlo Brenner, der kurz an seinem Wagen war, kam jetzt dazu und bekam vor Verwunderung kein Wort heraus. Obwohl er das gerne wollte. Was war das denn, um Gottes Willen? Hatte die Polizistin nicht alle Tassen im Schrank?

Den Eindruck hatte auch Köne. Und der zog seinen Stiefel knüppelhart durch. „Haben sich Ihre Kollegen eigentlich schon um den silbernen Hummer mit der Siegener Nummer gekümmert? Ich hatte die Info in meinem zweiten Telefonat mit der Notrufzentrale durchgegeben, als der Typ gerade abgehauen war.“

„Eins nach dem anderen. Erst sehen wir mal, ob eine solche Fahndung überhaupt vonnöten ist“, ratterte sie wie eine Sprechmaschine herunter, während sie unablässig Notizen auf ein großes Klemmbrett kritzelte. „Ich bin noch keineswegs davon überzeugt. Dafür müssen Sie mehr bringen als die doch sehr dürftigen Beobachtungen.“

‚Was für eine arrogante Tucke’, dachte Carlo und schaute sich die Dame erstmals genauer an. Alles passte an ihr zusammen. Vom Kniff in der Schirmmütze über den strengen Pferdeschwanz, die knatschenge Lederjacke und die hautenge Cargohose bis zu den Stiefeln. Typ Musterbullette. Hätte aus dem Wunschkatalog des Innenministeriums stammen können.

„Wir müssen mehr bringen?“, fragte Brenner nach. „Wir? Sagen Sie mal, können Sie sich eigentlich selbst noch leiden? Wir haben hier einen Gewalttäter gestoppt und damit womöglich einem Menschen das Leben gerettet, oder ihn zumindest vor noch schwereren Verletzungen bewahrt. Und jetzt kommen Sie und sagen uns, wir müssten mehr bringen. Wo sind wir denn hier überhaupt?“ Die Wut stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Ich dachte immer, wir seien zur Zivilcourage aufgerufen. Das scheint aber bei Ihnen noch nicht angekommen zu sein.“

Es blitzte in seinen Augen, als er die Polizisten so anpfiff. Und irgendwie verschaffte ihm das Erleichterung. Dann drehte er sich um und rief: „Komm, Philipp, ich glaube, wir gehen jetzt. Ich habe keine Lust, mir das Kasperletheater weiter anzutun, das dessen Hauptdarstellerin hier aufführt.“

Die Uniformierte fuhr richtiggehend zusammen. Eine solche, für eine Amtsperson wohl unerträgliche, Unverschämtheit hatte sie offenbar auch noch nicht gehört. Für Sekunden war sie sprachlos.

Die Seitentür des Rettungswagens öffnete sich. Und heraus kam der zweite Polizeibeamte, Kommissar Springer. Er steuerte schnurstracks auf seine Kollegin zu und unterrichtete sie über den Zustand des Verletzten. „Der Mann hat Riesenglück gehabt. Wenn die beiden da nicht gekommen wären, hätten wir wahrscheinlich jetzt einen Leichenfall zu bearbeiten.“

Brenner und Köne konnten beobachten und in Wortfetzen mithören, wie die Muster-Polizistin sich gegen die Theorie des Kollegen wehrte. „Die können ihre Geschichte doch gar nicht beweisen. Was ist denn, wenn sie den Mann selbst so zugerichtet haben?“

„Warum hätten sie denn dann Rettungsdienst und Polizei alarmieren sollen?“

„Was weiß ich. Schlechtes Gewissen?“

„So. Und mit dem schlechten Gewissen sind sie dann schön hier sitzen geblieben. Bis wir kamen. Jetzt lass´ mal die Kirche im Dorf, meine Liebe.“

Doch die Kollegin schien ihm nicht recht folgen zu wollen und argumentierte immer spitzer und immer lauter.

Er, Typ ruhiger Vertreter, schüttelte immer wieder den Kopf und schaute die Obermeisterin mit verständnislosem Blick an. „Sabine, Du gehst jetzt besser zum Wagen und erkundigst Dich mal über Funk, ob die Kollegen schon was über den Hummer und den Geflüchteten erfahren haben. Und lass´ bitte Deine Aufzeichnungen hier.“

Schlimmer hätte es nicht kommen können. Für Polizeiobermeisterin Sabine Holzhauer glichen die letzten Sätze des Kommissars offenbar einer ehrabschneidenden Dienstanweisung. Mit durchgedrücktem Kreuz und die drei Männer keines Blickes würdigend stolzierte sie die wenigen Schritte zum Streifenwagen und riss die Seitentür des VW-Busses mit solcher Vehemenz auf, dass sie auf dem glatten Boden ins Straucheln geriet. Bevor aber noch einer der ungeliebten Zuschauer Hilfe leisten konnte, fing sie sich wieder und verschwand mit hochrotem Kopf im Wageninneren.

„Ich bräuchte noch Ihre genauen Wohnadressen und Ihre telefonischen Erreichbarkeiten. Dann lasse ich Sie in Ruhe“, lächelte der Polizist die beiden Helfer an. „Übrigens: ganz herzlichen Dank für Ihr beherztes Eingreifen. Das hätte ja auch ganz anders ausgehen können.“

„Gerne geschehen. Auch wenn Ihre Kollegin eher Zweifel daran hat“, antwortete Köne. „Aber machen Sie sich wegen des kleinen Eingriffs unsererseits keine Gedanken. Wir haben so was mal gelernt bei der Bundeswehr.“ Der Kommissar staunte, stellte aber keine weiteren Fragen. Es gibt, wusste er, auch nach der Dienstzeit beim Militär Dinge, über die man nicht oder nur ungern redet.

Köne kam aus Diedenshausen, Brenner wohnte in Hilchenbach. Hin und wieder trafen sich die beiden ehemaligen Einzelkämpfer, um gemeinsam etwas zu unternehmen. So wie heute Abend. Ob sie sich aber nach dieser Odyssee noch auf Skiern den Hang ins legendäre ‚Bierloch‘ hinunterstürzen würden, da waren sie sich noch nicht so ganz sicher. Wobei sie dem Namensgeber der Piste, dem Bier, durchaus nicht hätten entsagen müssen. Ein Abend bei zwei, drei Pils und einem deftigen Abendessen im Gasthof Gilsbach wäre eine durchaus reizvolle Alternative. Und eine warme und trockene obendrein. Denn das Schneetreiben hatte an Intensität zugenommen und die beiden an eine ihrer Übungen im Hochgebirge erinnert.

Während sie noch unschlüssig am Kofferraum von Carlos Twingo standen, fuhr der Rettungswagen ganz langsam vom etwas unebenen Parkplatz davon. „Alles Gute, armes Schwein“, verabschiedete Philipp den Verletzten mitleidig. Nicht wissend, wie viele Menschen dieser Mann seinerseits bereits krankenhausreif geschlagen oder vielleicht sogar ins Jenseits befördert hatte.

Kommissar Springer, der sich bei der Auswertung der im Rettungswagen aufgenommenen Personalien aus den Schläger-Papieren noch wundern würde, machte noch verschiedene Fotos von den Fahrspuren und Blutflecken am Tatort. Derweil saß seine Kollegin stocksteif im Polizeiauto und rührte sich nicht einen Millimeter. Sie war zutiefst beleidigt. Die Parkplatzbeleuchtung zeichnete ein albernes Bild von ihr.

„Was für eine Frau“, grinste Brenner. „An der könntest Du mich anketten. Da würde ich so lange pinkeln bis ich losgerostet wäre.“ Köne wieherte vor Begeisterung.

Monkey hatte sich getäuscht. Auch Polizeibeamte machen Überstunden. Die meisten von ihnen übrigens ständig, schenkt man den Staatsdienern Glauben.

Jürgen Winter hatte sich den gescheiterten Drogenkurier vorgeknöpft, ihm eine Tasse Kaffee hingestellt und sein Büro „so unpolizeilich wie möglich“ wirken lassen. Winter schwor darauf. Er meinte, das könne zur Entkrampfung bei den Verdächtigen beitragen. „Wirkt wie ein Blasen- und Nierentee“, hatte er vor Monaten im Kollegenkreis verkündet.

„Sagen Sie, Herr Monkey, haben Sie eigentlich auch einen bürgerlichen Namen?“

„Ja.“

„Und der lautet wie?“

Schweigen. Monkey schaute zu Boden.

„Oh, das geht ja gut los. Sie wollen mir also nicht sagen, wie Sie heißen?“

„Ja.“

„Also doch?“

„Nein.“

„Ja? Nein? Verstehe ich jetzt nicht. Erklären Sie´s mir?“

„Sie fragten, ob ich Ihnen nicht sagen wollte, wie ich heiße. Und weil ich das nicht will, habe ich korrekt mit ‚ja’ geantwortet.“

„Och komm´, jetzt hören Sie doch mit solchen Sperenzchen auf. Sie haben ganz andere Probleme, als mit mir Ihren letzten Deutschunterricht durchzudeklinieren.“

„Deklinieren ist was anderes. Die Deklination eines Wortes oder Begriffes …“

„Hey!“, brüllte Jürgen auf und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Es reicht. Wenn Sie hier schon den Schlaumeier raushängen lassen, dann seien Sie mal so schlau und nennen schleunigst Ihren Namen. Den kriegen wir zwar sowieso raus, aber das dauert immer Ewigkeiten. Und so lange sind Sie auf alle Fälle unser Gast. Klar?“

Monkey schien diese Aussicht eher zu belustigen. Jürgen aber konnte dem gar nichts abgewinnen. Daher dreht er die virtuelle Daumenschraube noch ein wenig weiter an.

„Um es Ihnen noch deutlicher zu sagen: bevor ich nicht Ihren Namen kenne, werde ich das Gespräch hier immer wieder mit derselben Frage fortsetzen. Und die lautet: ‚Wie heißen Sie?’ Das wird von manchen Beschuldigten als eine Art Psychofolter wahrgenommen. Kann ich gar nicht verstehen. Aber eines verspreche ich Ihnen. Vor einer befriedigenden Antwort gehen wir beide hier nicht raus. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.“

„Jetzt kommen Sie mir aber nicht mit so ‘nem fundamentalen Scheiß. Ich hab´ nichts am Hut mit dem ‚Amen in der Kirche’.“ „Das können Sie natürlich halten wie der berühmte Dachdecker. Es ändert nur nichts am Sachverhalt. Wir bleiben hier, bis ich Ihren Namen kenne. Und ich halte das aus. Ich hab´ nämlich im Gegensatz zu Ihnen schon zu Abend gegessen“, log er. „Einen herrlichen Wurstsalat mit Baguette-Brötchen. Ihrer steht übrigens in der Zelle und wartet auf Sie.“

Monkey floss das Wasser im Mund zusammen. Außer einem armseligen Kaffee heute Morgen hatte er nichts in den Magen bekommen. Und das wirkte sich in jeder Beziehung nachteilig auf seinen Gesamtzustand aus.

„Ich will meinen Anwalt sprechen“, polterte er plötzlich heraus. „Ohne meinen Anwalt sag´ ich gar nix.“ Natürlich steckte dahinter die große Hoffnung, dass damit eine Unterbrechung des Verhörs verbunden war.

„Prima. Und wer ist Ihr Anwalt?“, wollte Winter wissen.

„Ich hab´ keinen bestimmten. Aber ich hab´ ein Recht auf einen Anwalt. Das weiß ich ganz genau. Und den müssen Sie mir jetzt besorgen.“

„Mach´ ich glatt“, lächelte der Kommissar. „Und wen darf ich bitte melden?“

„Wie, melden? Mich natürlich.“

„Ach so, ich soll also einen Anwalt anrufen und ihn zu einem Festgenommenen ohne Namen bestellen. Das können Sie knicken“, log Jürgen Winter. „Sie glauben doch nicht etwa, dass ein Rechtsanwalt Ihr Mandat als Pflichtanwalt übernimmt, was ohnehin schon miserabel bezahlt wird und dann noch nicht mal im Vorfeld Ihren Namen erfährt. Vergessen Sie´s!“

Monkey verlor an äußerer Gelassenheit. Das konnte man deutlich sehen. Er sah plötzlich noch ausgemergelter aus als zuvor. Und der Spuckefluss nahm zu. Irgendein barmherziger Kollege von Winter hatte ihm eine ganze Schachtel Kosmetiktücher hingestellt. Der Papierkorb füllte sich zusehends.

Das mit dem Pflichtanwalt und der unbedingt erforderlichen Namensnennung konnte er gar nicht glauben. Das Gegenteil aber auch nicht beweisen. ‚Was für ein Spiel spielt der Bulle da eigentlich mit mir? Was hat er vor? Solange er mich nicht kennt, solange kann er mir nichts anhängen. Die Bullen haben nichts als die reine Vermutung, dass ich als Drogenkurier unterwegs war. Wenn er aber meinen Namen kennt und Akteneinsicht bekommt, dann wird´s heftig.’

Eine Reihe von Konflikten spielte sich vor seinem geistigen Auge ab. Natürlich auch der, der sich aus der drängendsten Frage ergab. ‚Was passiert, wenn ich hier rauskomme und Klaf kriegt Wind davon?’ Er wollte sich das gar nicht ausmalen.

Plötzlich wurde es still um die beiden. ‚So still, dass man eine Stecknadel fallen hören kann’, dachte Jürgen.

Und der Polizist stellte sich die unsinnige Frage, ob es wohl irgendwo im Kommissariat überhaupt Stecknadeln gäbe. ‚Widrigenfalls müsste man für die Beschreibung absoluter Stille mal eine andere Metapher finden.’ Denn was wäre denn, wenn plötzlich jemand auf die Idee käme, sich diesen Spruch beweisen zu lassen? Und dann keine Nadeln da? ‚Und überhaupt, es ist doch ziemlich bekloppt zu behaupten, dass man überhaupt den Fall einer Nadel hören kann. Wenn, dann wäre das eher deren Aufschlag.’

Am liebsten hätte er sich das aufgeschrieben. Keineswegs mit ernsthaftem Hintergrund. Nur, damit er überhaupt etwas zu tun hatte. Denn dieses Geduldspiel hier ging ihm ganz gehörig auf den Zeiger.

Monkey räusperte sich und übergab eine weitere Ladung Speichel einem Kosmetiktuch. Andere hätten jetzt einen Schweißausbruch. Er sabberte.

„Passen Sie auf“, sagte er. „Ich bin bereit, meine Personalien zu nennen und eine für Sie sicher interessante Aussage zu einem bedeutenden Dealer zu machen. Aber ich habe eine Bedingung. Die müssen Sie mir erfüllen. Ich bitte Sie sogar herzlich darum, Herr Kommissar.“

„Und was wäre diese Bedingung?“

„Ich sprach eben von einem bedeutenden Dealer. Sie müssen mich bitte vor diesem Mann schützen. Er ist nämlich ein unglaublich brutaler Hund. Und ich bin sicher, dass er mich töten wird, sobald er mich erwischt.“

„Wieso wird er Sie töten wollen?“ Jürgen widmete plötzlich all seine Sinne nur noch dieser Sache. Kein Geplänkel, keine dämlichen Wortklaubereien mehr. „Warum, glauben Sie, wird er Sie töten?“

Monkey holte tief Luft und schaute an die Decke. Wieder musste er schlucken, begann dann aber mit zitternder Stimme:

„Dieser Dealer ist der Mann, bei dem ich heute Abend eigentlich den Haschisch-Kuchen abliefern sollte. Ware im Wert von 10.000 Euro, die er nun nicht bekommen wird. Und ich bin dafür verantwortlich. Warum er sie nicht bekommt, ist für ihn zweitrangig. Selbst wenn er wüsste, dass Ihr Bullen mir den Stoff abgenommen habt, wäre ich dran. Denn ich war in seinen Augen zu blöde, sein Eigentum zu schützen. Außerdem braucht er immer einen Schuldigen, den er nach Gutdünken bestrafen kann.“

„Oh mein Gott“, flüsterte Winter vor sich hin und hasste sich gleich wieder dafür. „Ami-Schäss“, hätte sein Vater auf Wittgensteiner Platt gesagt „Oh my God“ wurde schließlich in jedem US-Spielfilm gefühlte 100.000 mal gerufen, geflüstert oder gehechelt. Zum Kotzen.

Erwartungsvoll schaute Monkey sein Gegenüber an. Würde Winter einen wie auch immer gearteten Schutzmantel für ihn schneidern oder schneidern lassen können? Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Das wusste er selbst. Aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Es klopfte kurz und heftig. Dann wurde die Tür sachte von draußen geöffnet und Sven Lukas streckte seinen Kopf durch den Spalt.

„Haste 'n Moment?“

„Wichtig?“

„Sehr.“

„Komme.“ Schnell stand Jürgen Winter auf, legte Monkey wieder Handschellen an und machte ihn am Heizungsrohr fest. „Sorry, geht nicht anders. Bin gleich wieder da.“

Auf dem Flur empfing ihn der ‚Freak’ mit bedeutender Miene. „Weißt Du, wen wir da gefangen haben?“

„Nee, weiß ich noch nicht. Aber er war, glaube ich, gerade auf gutem Weg, es mir zu erzählen. Und dann kommst Du, Mensch.“ Winter holte zu einer gespielten Ohrfeige aus.

„Sachte, sachte, nicht hauen“, grinste Sven. „Denn ich komme als Weihnachtsmann. Ich weiß nämlich mittlerweile, wer uns da ins Netz gegangen ist. Die Mädels und Jungs vom Drogendezernat in Siegen haben ihn für uns ausgeguckt. Nur mit unserem Bild vom Empfangskomitee. Fingerabdrücke hat der Sack ja noch keine abgegeben.“

„Ja, weiß ich. … Das mit den Fingerabdrücken. Toll, dass uns die Kollegen in Siegen geholfen haben. Aber jetzt wird es Zeit, dass Du mal Butter bei die Fische tust. Wer ist dieser Monkey?“

„Kein Geringerer als Cornelius Schneider. Seines Zeichens Ex-Millionär, weil Ex-Chef einer der größten Discotheken in der BRD, Ex-Ehemann des Models Audrey Milton und Ex-Drogendealer im ganz großen Stil.“

„Du willst mich doch auf den Arm nehmen, oder?! Dafür ist jetzt keine Zeit, Mann.“

Jürgen drehte ab und wollte wieder in sein Büro. Doch der ‚Freak’ protestierte heftig. „Ich konnt´s auch erst nicht glauben. Aber die Fakten- und die Aktenlage sprechen eindeutig dafür. Er ist es.“

„Das kapier´ ich nicht. So weit runter kann man doch aus den Positionen nicht kommen, die Du da geschildert hast.“

„Doch, kann man. Schneider ist das lebende Beispiel dafür. Zuerst hat er mit Drogen-Orgien für seine angeblichen Freunde aus der Münchner Schickeria und von sonst woher seine Disco am Frankfurter Flughafen gegen die Wand gefahren. Dann hat sich Audrey Milton von ihm scheiden und Millionen von Euro von seinem Konto abschöpfen lassen. Dabei sei eine mehrere Millionen schwere Steuerhinterziehung aufgeflogen. Und dann ist er der Bundespolizei mit ‘ner viertel Tonne Koks im Heck seines zweimotorigen Fliegers auf irgendeinem Sportflugplatz in Hessen vor die Flinte gelaufen.“

„Ach du dickes Ei. Und der sitzt jetzt vor meinem Schreibtisch. Halleluja, Herr Pastor.“

Winter überlegte einen Moment, während er sich an einem leeren Kaffeebecher festhielt. „Wie lange hat der Junge denn gesessen?“

„Dreieinhalb Jahre insgesamt.“

„Wie bitte? Schon allein für den Kokshandel hätte er mindestens acht Jahre einfahren müssen. Ich glaub´ sogar, noch länger. Das ist doch nicht zu fassen.“

„Er hat wohl einen Haufen Straferlass bekommen, weil er einen ganzen Drogenring hat auffliegen lassen. Musst Du damals eigentlich mitgekriegt haben. Eine ganze Gang von Drogenproduzenten in Medellin in Kolumbien wurde in Ketten gelegt. Und mit ihr die Logistiker, die in Westafrika, Spanien und auf kleinen Flugplätzen in Deutschland für den Weitertransport per Luft gesorgt hatten. Wie ein Staffellauf war das organisiert. Schneider hat das quasi im Alleingang aufgeschmissen.“

Jürgen Winter war geplättet. Was für eine Karriere und was für ein Absturz! Aber dieser Blödmann hatte offenbar nichts aus seinem Desaster gelernt. Er hing schon wieder in Drogengeschäften. Und musste sich, nach all dem internationalen Aufruhr, den er veranstaltet hatte, nun vor einem Provinzganoven fürchten. Die Zeiten ändern sich.

Plötzlich schoss ihm eine Frage durch´s Hirn, deren Beantwortung keinerlei Aufschub duldete. „Komm bitte mit rein“, bat er Sven Lukas und schob ihn einfach vor sich her in sein Büro.

„Sie kennen sich ja mittlerweile“, stellte er trocken fest. „Da muss ich Sie nicht extra vorstellen.“ Monkey nickte und zeigte seine gefesselten Hände vor.

„Klar, ich mache Sie jetzt los. Ich hoffe, es war nicht zu unbequem mit den Handschellen, dort an der Heizung.“

„Nee, das ging. Hab´ schon schlimmeres erlebt.“

„Das kann ich mir lebhaft vorstellen, Herr Schneider“, antwortete Winter mit gespielter Selbstverständlichkeit. Als habe er den Verdächtigen schon immer bei seinem Namen genannt. Noch immer hatte er nur den Schlüssel in der Hand. Noch hing Monkey Schneider am Heizungsrohr. Und das war gut so. Denn bei der Nennung seines Namens schoss er von seinem Stuhl hoch und wollte am liebsten davon rennen. Allein, sein Bewegungsradius war nur endlich.

„Herr Cornelius Schneider, der Kollege Lukas hat Ihre Identität und Ihre Daten ausgegraben. Wir wissen Bescheid über Ihre Karriere. Und wir werden Sie mit Sicherheit heute nicht mehr mit der Vergangenheit konfrontieren.

Morgen, das verspreche ich Ihnen, werden wir mit unserem Chef und der Staatsanwaltschaft darüber nachdenken, wie wir Sie schützen können. Aber ich habe heute eine ganz dringende Bitte an Sie. Erzählen Sie uns bitte, wann und wo Sie das Kuvert mit dem Adressaten ‚Klaf’ übergeben sollten. Und an wen.“

Schneider machte große Augen. „Ich glaube nicht, dass ich Ihnen das heute sagen werde. Erst wird geklärt, ob ich von Ihnen Schutz bekomme.“

„Meine Fresse, Herr Schneider. Wenn wir heute Abend an der Kontaktstelle eingreifen und diesen ominösen Mann dingfest machen können, dann müssen Sie sich für die Zukunft nicht mehr sorgen, dass er Sie umbringen will.“

„Das ist aber´n ziemlich wackeliger Deal, den Sie mir da vorschlagen. Ich sage NEIN!“

„Und das ist Ihr letztes Wort?“

Schneider sabberte schon wieder. Hastig wischte er sich mit einem Papiertuch ab und sagte mit Bestimmtheit: „Jawohl, das ist mein letztes Wort.“

„Gut. Sven, Du hast es mitbekommen. Der Herr Schneider weigert sich, wichtige Infos weiterzugeben, die wir zu seinem eigenen Schutz bräuchten. Stimmt das soweit?“

„Das ist korrekt“, bestätigte der ‚Freak’.

„Dann packen Sie jetzt Ihre Habseligkeiten zusammen, Herr Schneider. Sie können gehen.“

„Was, wie gehen?“

„Ja, Sie sind ein freier Mann. Außer der Mutmaßung, dass Sie womöglich in Hoheleye eine Drogenkurierin getroffen hätten, haben wir ja nichts gegen Sie in der Hand.“

„Haben Sie wohl.“

„Ach ja. Was denn?“

„Mein Geständnis, dass ich dem Dealer den Haschischkuchen überbringen sollte. Wenn ich ihn denn gehabt hätte.“

„Geständnis? Dass ich nicht lache. Nix Konkretes, dafür aber jede Menge Konjunktive, verehrter Herr. Sollte, wollte, hätte. Damit kann ich nichts anfangen.“ Winter wurde jetzt richtig fuchtig. „Dieses angebliche Geständnis haut mir jeder Staatsanwalt um die Ohren. Und wissen Sie mit was? Mit Recht! Mit so was trete ich gar nicht erst an. Und jetzt Adieu. Raus hier!“

„Das können Sie nicht machen“, jaulte Schneider richtiggehend auf. „Der macht mich kalt, sobald er mich gefunden hat. Oder einer seiner Helfershelfer. Ich hab´ ein Recht darauf, dass Sie mich schützen.“

Jetzt war Sven Lukas an der Reihe. „Hören Sie mal, Herr Schneider. Haben Sie damals die vielen Tausend Drogenkonsumenten geschützt, die von Ihnen teilweise den übelsten Drogen-Dreck bekommen haben? Schämen Sie sich nicht manchmal vor sich selbst, wenn Sie darüber nachdenken, wie viele Menschen, vor allem Kinder, durch diesen Scheiß süchtig geworden oder gar daran elendig verreckt sind?“

„Dafür hab´ ich gesessen und gebüßt“, bellte der Angeschissene zurück.

„Und andere dafür drangehängt. Was Ihnen jede Menge Straferlass eingebracht hat. Wissen wir. Wissen wir. Aber wir wissen auch, dass Sie wieder gerne dick ins Geschäft wollen. Wieder Leute süchtig machen. Wieder den dicken Reibach machen mit der Abhängigkeit anderer.

Ist aber leider schiefgegangen, Ihr Plan. Das System schießt zurück. Und Sie stecken bis Oberkante Unterlippe in der Scheiße. Kommt Ihnen das eigentlich nicht selbst komplett bescheuert vor, dass Sie jetzt wie ein Jammerlappen ausgerechnet die Polizei um Schutz für Leib und Leben bitten?“

Das war zu schnell und zu viel für ‚Monkey’ Schneider. Sabbernd suchte er Halt und eine Sitzgelegenheit. Denn ihm schlotterten die Knie wie Espenlaub. Stehen ging in dem Moment gar nicht. Außerdem brauchte er dringend die Papiertücher, die vor seinem Stuhl auf dem Tisch standen. Gierig griff er zu.

‚Oh mein Gott’ hielt Winter nun doch in Gedanken Zwiesprache mit seinem Herrn im Himmel, ‚nur Du allein weißt, wo der Mann die ganze Flüssigkeit gebunkert hat, die da aus ihm herausfließt. Hoffentlich sind die Speicher bald leer. Das ist so widerlich. Und Du weißt sicherlich auch, ob er sich diesen Schaden beim Kiffen oder Koksen geholt hat. Wenn ja, dann geschieht´s ihm recht’.

„So, was ist jetzt? Raus hier. Aber sofort. Ich habe nicht die geringste Lust, mir wegen Ihnen noch den kompletten Abend zu verderben. Also Tschüss!“ Der Kommissar wies auf die Tür. Doch Cornelius Schneider blieb sitzen. Mit glasigem Blick und vorgehaltenem Papiertuch.

„Ich glaube, Sie brauchen Hilfe beim Abmarsch.“ Sven Lukas steuerte auf den leichenblassen Mann zu und griff unter seinen rechten Arm, um ihm aufzuhelfen. Doch der schüttelte den ‚Freak’ ab. „Lassen Sie das.“

„Wie bitte? Ich glaube, Sie sind der einzige hier, der nichts zu befehlen hat. Also los jetzt, sonst wenden wir körperliche Gewalt an.“ Beide Polizisten wussten, dass sie hier mit relativen Unmöglichkeiten operierten. Doch bis auf Gewaltanwendung war ihnen so gut wie jedes Mittel recht, um endlich zu erfahren, wer wann und wo das Drogenpäckchen in Empfang nehmen wollte.

„Okay, scheiß was drauf. Ich bin eh geliefert. So oder so.“ Schneider hatte sich auf seinem Stuhl aufgerichtet und plötzlich einen klaren Blick bekommen. „Wenn Sie mir versprechen, dass ich heute Nacht hier bleibe und morgen, wie verabredet, ernsthaft über meinen Schutz geredet wird, bin ich bereit, Ihnen die nötigen Informationen zu geben.“

Winter und Lukas wechselten einen kurzen Blick und nickten. „Das verspreche ich Ihnen. Der Kollege wird es nötigenfalls bezeugen“, sagte Jürgen schon fast feierlich.

„Also, abgemacht war, dass ich heute Abend um 18:30 Uhr auf dem Liftparkplatz am Bierloch in Langewiese sein werde.“

In Synchronbewegung schauten die beiden Polizisten auf ihre Armbanduhr. „Mist, ‘ne Dreiviertelstunde zu spät“, merkte Jürgen an und stürzte zum Telefon. „Aber erzählen Sie weiter“, ermunterte er Cornelius Schneider, während er die Nummer der Polizei in Winterberg aus dem Speicher suchte. „Wer war Ihr Adressat? Wer wollte das Päckchen übernehmen?“

„Der Mann heißt Klaf. Mehr weiß ich nicht über ihn. Hab´ ihn nur ein- oder zweimal gesehen. Ein ausgesprochen brutaler Hund und ein Showman. Er kleidet sich wie ein Puffbesitzer und fährt das entsprechende Auto. So´n silbernen Hummer. Oder wie heißen diese Nuttenpanzer?“

„Ja, Winter hier, Kripo Bad Berleburg. Grüß Dich“, meldete sich Jürgen bei dem Kollegen in Winterberg. In kurzen Zügen erläuterte er sein Anliegen und wollte um Hilfe bitten. Aber der Schutzmann auf der anderen Seite stoppte ihn und meinte: „Ich vermute, wir suchen denselben Wagen mit demselben Typen drin. Der hat vor gut einer Viertelstunde auf dem Parkplatz einen Mann halb tot getreten und geschlagen und ist dann abgehauen. Wir haben ihn zur Fahndung ausgeschrieben.“

„Kacke, verdammte! Das ist uns hier durch die Lappen gegangen. Wir beackern nämlich gerade ziemlich intensiv den Fall mit dem Drogenkurier, den wir in Hoheleye mit Euren Kollegen zusammen festgenommen haben.“

„Und da hängt der Hummer-Kutscher mit drin? Klar, der war das Ende der Kurierkette“, sinnierte der Kollege. „Ach, übrigens. Der Typ hat sich ein ordentliches Loch in den Kopf gehauen. Der blutet wie verrückt und wird wahrscheinlich einen Arzt oder ein Krankenhaus heimsuchen.“

Volles Rohr

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