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2 Selbstinitiation oder: wie er damals man wurde
ОглавлениеInferno
Der neue Platz sei aber doch auch schön, versuchten einige der Freunde Cameo zu trösten. Sogar noch viel anheimelnder, trauter, irgendwie gemütlicher. Cameo war auch hier der Meinung ? ähnlich wie anlässlich des gelegentlichen Lobes nach Beendigung der gestrigen Erzählung, die er, insofern sie an verschiedenen Stellen empfindlich gestört worden war, mit Mühe nur zu Ende gebracht hatte ? , dass man sich bemühte, höflich zu sein.
Eine Anfrage Cameos bei der verantwortlichen Stelle der Gemeindeverwaltung hatte ergeben, dass der Umzug in den kleineren Bruch nicht rückgängig gemacht werden könne, da Privatpersonen und Gruppen ohne Vereinsstatus für den großen Taternbruch ohnehin nie eine Genehmigung erteilt werden könne. Man solle sich mit dem kleineren Bruch begnügen und sich, nebenbei bemerkt, glücklich schätzen, dass man sie dort unbehelligt ließ.
Zumal im großen Bruch, direkt nach dem Volksmusiktreffen, am darauffolgenden Wochenende, also vom 25. bis 27. 6., die alljährliche Lesung von Erfolgs- und Bestsellerautoren stattfände.
"Was für 'ne Lesung?"
Liest er denn keine Zeitung?
Nicht mehr!
Na-ja, die Vereinigung der regionalen Buchhändler veranstaltet doch seit ein paar Jahren eine sehr erfolgreiche Lesereihe an historischen Orten der Harzregion, nie gehört? Dieses Jahr zum vierten Mal, daher "Harz Vier"; davor hatte die Veranstaltung in Osterode, dann Claustal und voriges Jahr in Hahnenklee stattgefunden.
"Und dieses Jahr haben wir die eben hier."
Nachts hatte Cameo sein Zelt verlassen und war Pinkeln gegangen. Es hatte derart pechschwarze Dunkelheit geherrscht, dass er die anderen Zelte nicht sehen, nicht die Begrenzung des Bruchs auch nur erahnen konnte. Ein paar Fledermäuse waren in unheimlicher Nähe an seinem Kopf vorbeigeschwirrt, er war über eine der Zeltleinen wie über eine Fußangel gestolpert, hatte fröstelnd gegen etwas aus Holz gepisst, schlug sich im Ekelrausch eine fühlbar große Spinne, die (keine Ahnung) von einem Baum gestürzt, womöglich gesprungen war oder an einem Faden von einem Ast hing, aus dem Gesicht.
Cameo hatte augenblicklich beschlossen, sich hier unbehaust, beengt, eben unwohl zu fühlen, an diesem Ort, den er bislang nur bei Nacht kannte.
Am Morgen fror er noch immer, als er mit nackten Füßen durch Gras gestapft war, das vom kühlen Tau ? was gab's dafür überhaupt für ein Wort? -..."quitschte" oder "quatschte"?
Er beschloss, am Montag aus diesem düsteren, kalten Inferno... (war das nicht paradox: ein kaltes Inferno?) Na-ja: eben aus diesem düsteren, feucht-kalten, unwirtlichen Höllenschlund, nein auch nicht... aus dem schaurigen, abweisenden Angst-Ort zurückzuziehen an den hellen, freundlichen, sonnenbeschienenen Platz: in das Paradiso. Mit besagtem Ergebnis.
Bald stellte er zudem fest, dass hier die Stimme nicht weit trug, dass dieser enge, düstere Ort nicht nur die Gedanken einschnürte, sondern auch die Stimme fraß.
Er würde hier, paradox, am viel engräumigeren Ort, ein Mikrophon brauchen. Insofern die Frauenband VierTussimo, die tagsüber ein kabarettistisches Programm aus alten Songs der Commedian Harmonists, Georg Kreisler-Chansons und eigenen Stücken zum Besten gab, ein elektrisch verstärktes Klavier und einen Verstärker nutzte, den eine Autobatterie speiste (und, für alle Fälle) auch über Mikros verfügte, war die Verstärkung seiner Sprechstimme kein Problem.
Nur, dass (wie nachmittags ein erster Lesetest ergab) die elektronische Verstärkung einen merkwürdigen Hall- und Zerreffekt erzeugte. Warum fiel an einem engeren Ort wie diesem ausgerechnet der Amphitheater-Effekt weg?
Äußerst störend machten sich bereits am frühen Nachmittag die Geräusche des Soundchecks der schlagerfestiven Nachbar- ... oder sollte er sagen: Gegenveranstaltung? bemerkbar.
Er musste früher anfangen; denn wenn abends der überverstärkte, aufgeblähte Dummschmalz herüber quoll, würde er kein Wort mehr über die Lippen bringen. Man würde ihn auch wohl weder verstehen, noch würde man konzentriert zuhören können.
Wie konnte Fetty, mit dem er damals in der Siebzigern des letzten Jahrtausends bei Hammock immerhin an Wishbone Ash, gelegentlich an Procol Harum erinnernden Rock gespielt hatte, heute so einen kulturellen Dünnschiss veranstalten!? Fetty, der vor zwanzig Jahren als Student am Wochenende in der Einkaufspassage sein Soloprogramm aus Hannes Wader-Frühbürgerliedern und Dylan-Songs präsentierte! Der auf dem Marktplatz an einem Stand des Kommunistischen Bundes Mitglieder geworben und selbst in seiner (auch vom politischen Alltag) freien Zeit schon wenigstens Supertramp oder Level 42 gehört hatte!
Was war plötzlich mit dem Menschen los?
Wozu muss man eine Familie und Kinder durchbringen, wenn man ihnen, nur weil man sie ernähren musste, für später nicht mehr hinterlässt als eine verlogene, verhunzte Lebens- und Musikkultur?
Sein Opa hatte ihm, Cameo, mit brechender Stimme zwar und gezeichnet von der zunehmenden Dumpfheit einer merklich nachlassenden Geistesschärfe (indes umso mehr glanzäugig begeistert) von Konzerten der Chöre und Sängerbünde der Region berichtet. Von Treffen der Wandervogelvereine, von Frei-Gottesdiensten der Kirchengemeinden, von Pogromen gegen das verlauste Zigeunerpack.
Da hatte sein Vater sich eingemischt: das mit den Zigeunern seien Märchen. Das fahrenden Volk hätte zwar nicht in die Stadt gedurft, aber man habe sie hier in Ruhe gelassen.
Er erzählte im gleichen Zusammenhang an anderer Stelle, dass die Nazis den Ort solange für Kundgebungen genutzt hatten, bis er erheblich zu eng geworden war für die anströmenden Volksmassen. Danach hätten sie jedoch öfter noch im Taternbruch mit dem Jungvolk, der Hitlerjugend und dem Bund Deutscher Mädchen Lagerfeuer veranstaltet. Im großen Bruch, wohlgemerkt, dem Paradiso, nicht im Inferno!
Heute tagte an diesem Ort regelmäßig einmal im Jahr der Geschichtsverein und feierten hin und wieder Industriebonzen ihre Geburtstage.
Nach einigem Hin und Her hatten Cameo und die anderen sich schließlich doch entscheiden müssen, die Erzählungen auf den Abend zu legen. Zumal einige der Anwesenden das schöne Wetter für Ausflüge zu nutzen gedachten. Außerdem sorge der Abend, die einbrechende Dunkelheit, doch Ambiente-mäßig, glaubte man, eher für die entsprechende Stimmung, die derartige Geschichten brauchen ? Schlagerfestival hin oder her.
In das von Cameo an der Theke ausgelegte, aus selbstgeschöpftem Papier selbstgemachte Gästebuch hatten sich gestern Nacht eingetragen: Ulli, Pi, Di, Gabi, Benni, Taucher, Sonni, Berni, Rossi, Li, Puddle, Ulle. Heute Morgen noch: Gerdi, Berti, Ki, Bi, Grüni, Rafe, Günni, Olli und Caro. Toto hinterließ nie und nirgends seinen Namen. Der Verfassungsschutz hörte ihn ab, das wusste er verlässlich. Auch, dass er auf der schwarzen Liste der Staatsfeinde stand.
Rossi und Sonni hatten den Vorschlag gemacht, als Scharazad und Dinarasad die Erzählungen mit der Formel zu eröffnen: "Wenn du noch nicht müde bist, Schwester, erzähl uns doch bitte eine deiner spannenden Geschichten..." Am Ende sollte es immer heißen: "Da erreichte das Morgengrauen Scharazad und sie sprach zu ihrer Schwester: wenn der Herrscher ihrer nicht überdrüssig sei und sie am Leben ließe, werde sie die Geschichte morgen fortsetzen und beenden." Cameo hielt das für keine gute Idee. Er wolle vor allem nicht auf den Effekt von Cliffhängern setzen! Die Leute sollen morgen freiwillig für eine neue Erzählung wiederkommen, nicht, weil sie noch das Ende einer alten hören mussten!
Nach Einbruch der Dunkelheit trägt nun also Cameo seinen zweiten Text vor, untermalt von den herüberwabernden Klängen "forciert fröhlicher Feiermusik falscher Gefühle". So hatte er die in einer kurzen Einleitung zum zweiten Literaturabend genannt...
Selbstinitiation
Wie er damals man wurde
Als er klein war, war er abends Riese, nach den verlorenen Kämpfen des Tages. Er holte den Karton mit den genau dreiundneunzig kleinen Plastiksoldaten aus dem Schrank, setzte die Figuren auf die Gäule. Kurze gegenseitige Kriegserklärungen der beiden verfeindeten Armeen, keine Friedensverhandlungen, es werden keine Gefangenen gemacht!
Worüber sie in Streit geraten waren, wusste später niemand mehr.
Er warf Radiergummis in die Menge und schoss mit einem über Daumen und Zeigefinger gespannten Gummiband Papierbomben auf die Reiter, zuerst die Anführer.
Die Bomben: die vermasselte Lateinarbeit mit der großen roten "6" darunter in schmale Streifen geschnitten, die er zusammenrollte, in der Mitte knickte und auf das Gummi legte. Dann zog er an, zielte und schoss.
Wurde ein Anführer getroffen, der daraufhin rücklings vom Pferd stürzte, unterwarf sich der demoralisierte Rest ihm, Ludewig, dem Herrn über Leben und Tod, augenblicklich.
Nachmittags aber im Wald Kröten aufblasen, kleinere Jungs quälen, Mädchen ärgern und Feuer legen, was andere gemacht haben ? bei diesen Übungen, wie man man wird, war er nie dabei. Und ebenso: später, bei diesem legendären Anschlag, als der Briefkasten hochging von Kikero (das war der Spitzname des Lateinpaukers, den der sich eingehandelt hatte, als er plötzlich Cicero nur noch mit K aussprach)... Da glaubten sie alle sicher zu wissen, Lutz sei das gewesen mit der Bombe. Aber es war Ringo. Die Sprengladung bestand aus vielleicht zwanzig Kanonenkrachern, die Ringo zu Silvester in verschiedenen Läden geklaut hatte. Er hatte sie aufgeschnitten, das Pulver in eine flache Zigarrenkiste geschüttet und mit einer Lunte versehen. Klar, Lutz hätte ein Motiv gehabt, mehr als sonst irgendwer. Aber er war auch hier nichtmal dabei.
Wenn sie in der kurzen Pause nach der ersten Stunde um Milch anstanden im düsteren Kellergewölbe des alten Bullenklosters, so nannten sie das Jungengymnasium damals, wurde er von den Großen mit den tiefen Stimmen zur Seite gedrängt und schaffte es nicht rechtzeitig zur zweiten Stunde.
Er schlich geduckt ins Klassenzimmer, kroch sachte in die letzte Bank und schob die Milchpackung geräuschlos unter die Schreibplatte. Sein Herz pochte, raste, er versteckte sein Gesicht im schützenden Quadrat der verschränkten Arme auf dem Pult; das Holz war angenehm kühl unter der heißen Wange. Zum Glück hatte keiner ihn bemerkt.
"Na, deine Uhr geht wohl nach'm Mars, was?! Die würd' ich mal nachseh'n lassen".
Er zuckt zusammen, die triumphierend hell überschlagende Stimme Kikeros direkt über ihm.
"Nee, die geht genau nach Radio!"
"Dann würd' ich mal mein Radio nachseh'n lassen!"
Hätte es einmal einen anderen erwischt, er wäre der erste gewesen von denen, die sich jetzt prustend mit der flachen Hand auf die Oberschenkel schlugen.
Hatte, "übrigens, mein Lieber", sein Vater endlich die Arbeit unterschrieben? Nein, er war auf Montage. Nächste Woche!
*
Patrizia war außerordentlich hübsch. Ganz allerliebst, hätte seine Oma gesagt, seine Mutter: reizend; apart vielleicht sein Vater ? hätte der je mit ihm darüber gesprochen, wie Mädchen aussahen, statt: wie Mönchengladbach gespielt oder was er in der Lateinarbeit hatte.
Ursprünglich hieß sie Gila (also vollständig wohl Gisela), aber die Zeitungen und die Köpfe der Leute waren damals voll von Gracia Patricia (eigentlich, wie sie später erfuhr, Grace Kelly).
Patrizia verbarg ihr zauberhaftes, wie sollte er sonst sagen (dufte, geil, super?) ...nein, da war er sich ganz sicher: ihr zauberhaftes Gesicht verbarg sie hinter langen braunen, leicht gewellten Haarsträhnen. Wegen ihrer roten Backen! sagte ihr Bruder, und da hatte sie ihren nächsten Spitznamen weg. Den aber benutzten nur Ringo und die anderen.
Rotbäckchen hielt sich beim Lachen die Hand vors Gesicht. Süß, fand er. Um ihren schwarzen Zahn zu verbergen, wusste Ringo, Olli wiederum fand das albern, feige und lächerlich, eben weibisch.
Frauen kamen in ihrem Leben vor als Mütter, Omas, Tanten und alte, strenge Klavierlehrerinnen. Oder manchmal schon als barbusige Covergirls auf den Illustrierten am Bahnhofskiosk. Mädchen liefen gelegentlich für Sekundenbruchteile in doof giggelnden, artig verzopften Gruppen am schmiedeeisernen Schulhofgatter vorüber und verschwanden wieder hinter der düsteren Sandsteinfassade. Nachdem er Patrizia alias Gila zum ersten Mal aus dem Schulbus steigen sah, hatte er dieses seltsam warme Brennen im Bauch und einen Projektor im Kopf. Er konnte im Unterricht jederzeit den Film wechseln: "Wenn du von diesem hohen Abgrund springst, in den kalten, tiefblauen Bergsee, muss sie der böse König freilassen, und sie ist für immer dein!"
Als das schwere Schlüsselbund Kikeros vor ihm auf die Bank klatscht, damit er aufwacht, ist er augenblicklich wieder zurück. Und Caesar immer noch in Gallien. Oder Kaisar?
*
Omma, die Mutter seiner Mutter, war keine schöne Frau, zeitlebens. Auf alten Fotos stand sie da: unsicher blinzelnd, mürrisch ? als habe sie jemand zehnmal vorher zurechtgewiesen: "kuck nich' so bedrömmelt!" Woraufhin sie so bedrömmelt guckte. Wie alle Mädchen, die wenigen jedenfalls, die Lutz kannte, und alle Frauen, die sich auf den Kaffeekränzchen von Omma über so was unterhielten, hat auch sie ihre Nase nicht gemocht. Omma aber konnte er diesbezüglich verstehen: Wer hat schon gern eine Kartoffel im Gesicht! Je älter sie wurde, desto mehr verwandelte sich ihr verstockter, griesgrämiger Ausdruck in Niedlichkeit. Sie blickte nicht mehr mufflig aus der Wäsche, hatte ihre Streitlust weitgehend abgelegt und sah aus kleinen runden, aber klugen Augen zunehmend gelassen in die Welt.
Sie unterstützte Lutz, als die Gefechte mit seinen Eltern um lange Haare und Levy's-Jeans auf Hochtouren liefen. Ihren dicken Hintern, der auf zwei kurios nach außen gebogenen, kurzen Beinen saß, zwängte sie in ein mächtiges Korsett.
Wie'n Rollbraten auf zwei Säbeln, fand er.
Nee, wie'n Paket, das selbst zur Post läuft, fand Ringo.
Nach oben lief sie erstaunlich spitz zu, wie eine Mensch-ägere-dich-nicht-Figur, fand er. Nee, wie'n Nappo, fand Ringo. Auf dem kleinen runden Kopf trug sie kleine runde Hüte.
"Lass doch mal die albernen Omma-Mützen weg!" Er hatte mehr als einmal versucht, ihr die lächerlichen Dinger auszureden.
"Ich bin doch 'ne Omma, da kann ich auch Omma-Depse tragen!"
Über solche Antworten musste er lachen. Schlimmer war's, wenn sie beleidigt klang: "Ach, schämst dich wohl für die Ollsche, das hässliche alte Reff, was? Warte mal ab, wie du mit fünfundsiebzig aussiehst!"
Seine Klassenkameraden standen auf dünne Mädchen mit langen blonden Haaren. Er weiß, warum er unbedingt mit Omma zusammen an der Gammelmauer (so hieß die Mauer gegenüber der Schule an der katholischen Kirche) vorbei musste, wo sie nachmittags alle saßen, die beiden anstarrten und albern feixten. Er wollte es ihr beweisen, sich selbst schließlich auch: dass er zu ihr stand, sie nicht verleugnete seinen Freunden gegenüber.
Und er hatte immer schon gewusst, dass er die schüchterne, feinfühlige mandeläugige Schönheit, die ruhig etwas füllig sein durfte, aber welliges schwarzes oder mindestens dunkelbraunes Haar tragen sollte (die ihn vor allem deswegen liebte, weil er zu seiner Großmutter stand) nur so finden konnte. Und er würde sie dafür auch lieben; denn sie war also die Richtige, von der Omma immer sprach. Die Richtige, die jetzt schon lebte, irgendwo, und auf die er irgendwann zwangsläufig treffen musste. Er hatte immer gefunden, dass der Omma-Test eine echt super Methode war!
Patrizia hatte gelächelt und verschämt zur Seite gesehen.
Manchmal sah er mit seinen Eltern abends fern. Mit seinen Alten!
So sagten er und die anderen, die die Rolling Stones damals dufte und dann geil fanden, die Beatles lahm, später exi.
In Western hatten Patrizia und er die Hauptrollen. Vor dem Schluss ging er in sein Kinderzimmer, wie seine Eltern immer noch sagten, und träumte in dem riesigen weichen Ehebett, das Tante Trude nach ihrer Scheidung dort untergestellt hatte, sich seinen eigenen Schluss.
Er hatte Patrizia dem brutalen Zocker und Revolverhelden längst ausgespannt, der eine viel zu üppige und zu gut sitzende schwarze Perücke und einen strichdünnen Lippenbart trug.
Affig, fand er.
Sie flogen in einem ruhig durch den Äther dümpelden Raumschiff, in dem ein breites Himmelbett stand mit weicher weißer Satinwäsche, irgendwohin, wo es keine neidischen Klassenkameraden gab und auch keine Bauarbeiter, die von Gerüsten hinter ihr herpfiffen.
Niemand würde ihr Glück hier stören können. Nicht einmal ein Klavier gab es an Bord. Nur eine Gitarre, auf der er ihr vorspielte; sie hörte ihm bewundernd andächtig zu.
Dann wieder hockten sie, in raue Felle gehüllt, in einer zugigen Hütte irgendwo in Alaska oder Sibirien, umgeben von meterhohen Schneewehen, an denen der Blick durch die Ritzen im Fensterladen jäh endete und die sie beide die beängstigend endlose Weite vergessen ließen. Der eisige Wind kroch zwischen den Wandbrettern hindurch in den Raum, trieb stiebende Schneeflocken in ihr Strohlager und ließ die Glut im Kamin hell aufatmen. Das dürre Singen des Sturms imitiert Lutz, indem er mit runden, gepressten Lippen die Luft einsog und durch Heben und Senken des Tons. Ihr rührendes Schaudern beim Heulen der nahenden Wölfe!
Sie kriecht näher an ihn heran, legt ihre Arme um seinen Hals. Seine rechte Faust greift die Axt jetzt fester. Sein Gesicht: Pierre Brice mit dem kräftigen blonden Haar von Lex Barker ? beruhigend weich und doch entschlossen.
Später hebt sich ihre Brust ruhig und gleichmäßig, als sie in seinem Arm schläft.
Morgens hat er die graue, zerzauste Steiff-Katze noch im Arm, auf der Wange spürt er die kalte Spucke, die aus seinem Mundwinkel in ihr Fell getropft war, wirft sie durch das Spinnennetz auf dem Kleiderschrank. Er wird sie nie wieder zwischen den ekligen Staubflusen dort oben hervorholen. Er wird auch nicht länger die aus den Sexheften von Axels großem Bruder herausgerissenen Blätter aufbewahren: nackte, dicke und faltige alte Frauen, die ihre Slips auf die Schenkel gezogen, die Zunge lasziv in den Mundwinkel geschoben hatten und ihn auffordernd anglotzten. Er zieht sie unter dem Teppich hervor, steckt sie in einen großen Briefumschlag, den er zuklebt und in den Papierkorb knüllt.
Aus seinem Versteck unter dem Bett zerrt er die Jeans hervor, die Ringo zu eng geworden war. Seine Mutter durfte sie nicht sehen. "Ich steige einfach aus dem Kellerfenster!" ist sein erster Gedanke.
Dann entscheidet er, so vor seine Alten zu treten: die enge, an den Knien abgeschabte Hose, das etwas gelblich verblasste aber taillierte Nyltesthemd.
Dazu die schwarze Marshall-Schleife, wie Wyatt Earp sie trug. Er hatte dafür die Schnürsenkel aus seinen Turnschuhen gezogen und zusammengeknotet. Wenn es heute wieder Ärger gibt, seh'n die mich nie wieder!
*
Lutz hatte es nicht sofort gemerkt, nur manchmal fragte Omma ihn merkwürdige Dinge. Schon morgens machte sie ihm Brot für die Arbeit. Er war aber erst vierzehn und ging zur Schule. Unterhielten sie sich abends in ihren Zimmer, fragte sie beispielsweise, ob er sich noch an ihre Hochzeit erinnern könne oder ob ihre Eltern (also seine) bald heiraten. Die Herstellung der richtigen zeitlichen Bezüge und familiären Zusammenhänge war ein hartes Stück Überzeugungsarbeit, für das er sich anfangs noch die Zeit nahm.
"Omma, denk doch mal nach: deine Hochzeit war schätzungsweise 1925, also 26 Jahre vor meiner Geburt. Daran kann ich mich unmöglich erinnern! Und meine Eltern sind nicht deine Eltern. Meine Mutter ist deine Tochter, und mein Vater ist dein Schwiegersohn. Du bist vielleicht 1910 geboren und ich 1951. Wir können also nie und nimmer Geschwister sein!"
Seine Erklärungen wurden mit einem eher ungläubigem "meinst'e wirklich?" kommentiert. Oder mit einem nur Verständnis heuchelnden "ach was, is' ja interessant!"
Sie sah ihm dabei auf die Schuhe oder mit stumpfen Augen durch ihn hindurch. War er aus dem Zimmer, hörte er sie leise zu sich sprechen: "Die glauben, sie können ihre alte Omma verklapsen. Die woll'n mich alle verrückt machen!"
Ein andermal rief sie ihn leise zu sich. Sie stand verwirrt, mit zerzaustem Haar, in ihrem Zimmer, hatte ein leeres, offenes Portemonnaie in der Hand. Sie sprach ganz sanft und verständnisvoll:
"Lutz, du weißt doch, dass du alles von mir haben kannst, du
brauchst mich nur zu fragen!"
"Ja, klar, Omma!" (Er verstand nicht recht... )
"Warum klaust du mir mein Geld?"
Er ahnte, dass es völlig gleichgültig war, was er antworten würde. Die Ausweglosigkeit seiner Lage machte ihn wütend, er maulte nur "ach, Quatsch!" und ließ sie stehen.
Danach sprach sie auch mit ihm für lange Zeit nicht mehr. Viel später, nach ihrem Tod, fanden sie Geldscheine zwischen ihrer Wäsche im Vertiko versteckt.
*
Er konnte Patrizia nur am Bus abfangen. Mit zitternder Stimme hatte er sie für nach der Schule in die Milchbar am Alten Stadttor eingeladen. Sie hatte nicht geantwortet, nur gelächelt, dabei die Hand vor den Mund gehalten und genickt.
Um halb zwei hocken sie auf unbequemen, kleinen kalten Metallstühlen mit tiefer Sitzfläche und steif steiler Rückenlehne. Er hatte stotternd für sie einen Espresso bestellt, sich selbst ein Fürst Pückler mit Sahne.
Als er von der Toilette kommt, wo er seine Frisur und den Sitz der Schleife kontrollieren musste, sitzt einer der Kellner neben ihr am Tisch. Auf seinem Stuhl!
Sie lachen beide. Später wird der ihr noch zwei Espresso auf Rechnung des Hauses bringen, wobei er sie anlächelt, ihn hingegen ignoriert. Selbst als er zahlt (zwanzig Pfennig Trinkgeld immerhin!).
Auch sie sieht jetzt nicht mehr zu ihm herüber, grinst hin und wieder verstohlen in Richtung Theke.
Er weiß nicht, worüber er reden soll, drückt "Satisfaction" in der Music-Box.
Vor der Tür verabschiedet sie sich eilig und kühl, "muss Hausaufgaben machen", wendet sich ab und rennt los: "krieg' den Bus sonst nicht mehr!"
Er war mit dem Rad zum Bauernhof seines Onkels in Hanndorf gefahren, um die Tiere zu besuchen. Auch sie sahen deprimiert aus. Er füttert den einsamen Esel mit seinem Schulbrot, der dankbar den Kopf gegen den Maschendraht presst, geht mit sanftem Rotieren des Bauches dem angenehm warmen Druck entgegen.
Omma überrascht Lutz abends mit seiner Jeans. Die Nietenhose, wie sie sagt, die er vorgestern in die Wäsche getan hatte und die heute, wie er hoffte, rechtzeitig zum Cola-Ball trocken war, lag abends um sieben der Länge nach aufgetrennt über den runden Wohnzimmertisch ausgebreitet.
"Aber du wolltest doch, dass ich das Ding weiter mache!"
Natürlich wollte er die Hose, die er extra eine Nummer zu klein gekauft hatte, mit der er sich danach in die Badewanne gesetzt, deren Knie er mit Imi weißgeschrubbt und die er schließlich am Körper hatte trocknen lassen, damit sie wie angegossen saß, "eng wie 'ne Wurstpelle", nicht wieder weit haben:
"Du hast geglaubt, dass ich sie weiter haben wollen müsste, weil sie dir so nicht gefällt!"
Omma überaschte ihn oft mit selbstgenähten Hosen, die zu kurz, zu weit, auf jeden Fall irgendwie unmodern waren. Mit langen, aus hässlich schreienden Farben gestrickten Schals, die ? zusammen mit Hemden, die sie billig bei Woolworth erstand, altmodischen Strickjacken, Golfer-Pullovern mit knalligen Rauten-Mustern und elektrisch aufladbaren Polyester-Mänteln der verstorbenen Gatten ihrer Freundinnen ? im blauen Plastiksack für die Altkleidersammlung der Diakonie verschwanden, nachdem Lutz die Sachen zwei-, dreimal zum Schein getragen hatte.
Er schämte sich; schließlich wusste er, dass sie Tage und Nächte damit verbracht hatte, die Kleidungsstücke auf die Größe eines Vierzehnjährigen umzuändern. Er vertraute ebenso auf ihre (durch die Alzheimersche Krankheit verstärkte und ohnehin für ihr Alter übliche) nachlassende Erinnerungskraft, wie auf die Gültigkeit des Sprichworts "Aus den Augen, aus dem Sinn".
Er wusste es beim besten Willen nicht mehr, möglicherweise steckte Sabotage dahinter, vermutlich handelte es sich aber nur um Materialermüdung aufgrund unablässiger Benutzung; jedenfalls war niemand wirklich traurig und schon gar nicht sonderlich hilfsbereit, als ihre Nähmaschine irgendwann nicht mehr funktionierte.
"Och, Omma, das alte Schittding repariert dir keiner mehr!"
Sie nähte unbeeindruckt mit der Hand weiter; und da ihr das Entwerfen, Zeichnen, Ausschneiden und Zusammennähen ganzer Hosen, Hemden oder Jacken einfach nicht mehr gelingen wollte, verlegte sie sich aufs Kürzen oder Verlängern der Hosenbeine und Ärmel bereits vorhandener Objekte.
Es tat ihm entsetzlich leid, aber er fing nun an, seine Wäsche zu verstecken, selbst zu waschen, aufzuhängen, nicht aus den Augen zu lassen, bis sie trocken war, sie abzuhängen und wieder zu verstecken.
Zum Ändern gab er ihr abgelegte Hosen, die Omma zu Shorts umarbeitete, bevor sie in die Sammlung kamen, alte Jacken und Mäntel, die sie wendete, also auf links umnähte. So hatte sie im und nach dem Krieg aus Uniformstoffen Kleidung für ihre drei Kinder gemacht; sie säumte Taschentücher ein, obwohl man längst Tempos benutzte, und stopfte Strümpfe, die keiner mehr trug.
Alle waren erleichtert, als irgendwann ihr kleiner Fernseher nachmittags schon quäkte. Omma hatte keine Lust mehr zu nähen.
*
Eines Abends, an einem Freitag, das wusste Lutz noch, sieht er Patrizia wieder. Auf dem dunklen Weg vom Schützenplatz zum Alten Stadttor. Lachend an einen Baum gelehnt.
Einer dieser brutal und dumm aussehenden, tätowierten Kartenabreißer beugt sich über sie, küßt sie, drückt seinen Bauch an ihren. Lange Mähne, muskulös. So hätte er auch gern ausgesehen, das musste er zugeben. Aber seine Eltern hatten ihm die lange Matte verboten.
Die Typen kann er ab! Die immer hinter dem Wagen, in dem ein einsames Mädchen sitzt, freihändig zwei, drei Runden auf der schräg rotierenden Platte mitfahren, manchmal auch souverän auf dem Rand der Gondel hocken ? anscheinend ohne überhaupt von ihr die geringste Notiz zu nehmen. Die dann wagemutig an der Kasse abspringen, sich dort von einer ganzen Gruppe giggelnder Gören auffangen lassen!
Er drückte sich rückwärts durch die Büsche, wollte nicht seine schmerzliche Niederlage dadurch komplett machen, dass sie ihn sah. Dass er wie ein Spanner dastand.
In der Montagsausgabe würde es wohl noch nicht stehen. Die Redaktion der Lokalzeitung reagiert meist nicht auf Ereignisse, die sich am Vorabend nach acht zugetragen haben.
Wenn sie es überhaupt brachten!
Er war gespannt.
Er hatte lange nach ihm gesucht. Dann sah er ihn, als Chip-Kassierer an der Berg- und Talbahn. Natürlich fuhr er freihändig mit, manchmal eine ganze Tour, und selbstverständlich sprang er in voller Fahrt an der Kasse ab. Ob Patrizia im Wagen saß, konnte er nicht sehen.
"Tragischer Unfall überschattete die letzten Stunden des diesjährigen Schützenfestes".
Der Lokalteil lag offen auf dem Küchentisch. Weiter las er nicht, schmierte sich stattdessen ein Brot. Das Wort "tragisch", das sie in solchen Zusammenhängen regelmäßig benutzten, störte ihn auch jetzt wieder. Besonders jetzt! Aus dem Deutschunterricht wusste er, dass ein unausweichlicher Konflikt, den Helden griechischer Tragödien durchlebten, ehe sie ihrem unentrinnbaren Schicksal in die Augen sahen und bevor das Publikum in der Katharsis durch Angst und Schrecken geläutert wurde, als "tragisch" bezeichnet werden konnte. Ein Unfall jedenfalls nicht.
Und dieser schon gar nicht!
Ob er nichts mitbekommen hat, er war doch auch da. Nein, was denn? Seine Mutter las ihm aus der Zeitung vor. Da stand, dass ein junger Mann von der Berg- und Talbahn gestürzt und auf dem Weg ins Krankenhaus seinen schweren Verletzungen erlegen war.
Lutz dreht sich um, seine Wangen brennen vor Erregung. Er lässt es dann einmal kurz und triumphierend herausplatzen: "yea!", allerdings leise genug, dass sie es nicht hört, ballt energisch die Faust in der Hosentasche.
Also doch! Er hört nicht weiter zu, sieht jetzt die Szene wieder vor sich: Er hatte sich unter einem der Wohnwagen gegenüber vom Karussell in Stellung gelegt, sah von hier das Gesicht seines Konkurrenten immer an der gleichen Stelle auftauchen; über den anderen, weil er ja stand.
Er merkte sich die exakte Position: etwas links unterhalb des "A" von ...bahn. Einen Fehlversuch hatte er nur gehabt.
Dann greift sich der Typ plötzlich ins Gesicht, kommt irgendwie ins Rutschen, verschwindet zur Seite und muss dann nach vorne von der in voller Fahrt rotierenden Platte geschleudert worden sein. Das konnte Lutz nicht mehr sehen, es standen zu viele Leute um das Karussell. Außerdem war er danach sofort hinten unter dem Wagen hervorgekrochen, zum Toilettenhäuschen gerannt, wo er sein Fahrrad angeschlossen hatte, und nach Hause gefahren.
*
Sein Vater war ungeheuer wütend. Enttäuscht war er. Jawohl!
Das muss man sich mal vorstellen: der Kerl verheimlicht uns seine "6" in der Lateinarbeit. Sein Lehrer hatte im Betrieb angerufen.
Heute Abend gab's jedenfalls kein Fernsehen! Und ab ins Bett, sofort!
Ach übrigens, so'n Mädchen hätte auch angerufen, Gitte, Ina oder Gerda oder so, und sich nach ihm erkundigt. Seine Mutter rief es ihm nach. Da war er schon auf dem Weg in sein Zimmer.
"Gila!" schnaubte er leise. Wie schwer was es, sich Namen zu merken, die ihm wichtig waren?!
Patrizia wollte er aber erst einmal 'ne ganze Weile schmoren lassen. Überhaupt hatte er jetzt unheimlich viel Zeit und Geduld, wo alles in Ordnung war.
Er ritt allein über die endlose Prärie.
Der Barkeeper wollte ihm erst kein Wasser für sein Pferd geben, das er vorm Saloon festgebunden hatte.
Jetzt verlangt er eine indiskutabel überhöhte Phantasiesumme für das schlecht eingeschenkte Glas Cola-Rum, das er ihm mürrisch 'rübergeschoben hat.
Kurze Bewegung aus der Hüfte, zwei, drei gezielte Schüsse; schreiend bricht Kikero hinter der Theke zusammen. Dann erst sieht Lutz nach, ob die Präzisionsschleuder und die Packung Stahlkugeln noch unter der Matratze liegen.
*
Sie waren nicht mehr dagewesen!
Lutz ging auf keine Cola-Bälle mehr, wo die Mädchen rechts, die Jungs links saßen und alle auf Kommando auf die Mädchenbank zustürmten. Alle hatten immer Patrizia gekriegt und er musste mit der Dicken tanzen. Er sah auch nicht mehr mit seinen Alten fern. Er saß bei Omma.
Wie alte Menschen mit dem nahen Tod fertig werden, interessierte ihn sehr. Er wollte immer und immer wieder wissen, ob Omma Angst hatte vorm Sterben.
Nein, Angst vorm Tod hatte sie nicht, im Gegenteil, sie verband damit die Hoffnung, alle wiederzusehen: ihr gestorbenes Kind, ihren Mann, ihre Schwester, ihre Eltern.
"Also glaubst du an den Himmel?"
Nein, daran glaubte sie nicht eigentlich, auch nicht an Gott. "Alles Märchen!"
Ja, aber worauf sie denn sonst hoffe! Er wurde ungeduldig: "Ich meine, du musst dich doch mal entscheiden: entweder du glaubst an Gott, den Himmel, das ewige Leben, dann ist es, zumindest deinem Glauben nach, möglich, dass du sie alle wiedersiehst. Oder du glaubst nicht daran, dann wäre es deinem Glauben gemäß sehr unwahrscheinlich!"
Oder Lutz sagte beispielsweise: "Es gibt keinen größeren Widerspruch als den zwischen dem ewigen Tod und dem ewigen Leben. Ich würde an deiner Stelle wissen wollen, was nun wahr ist."
Sie wollte es weiter so halten, dass sie mal dies, mal jenes glaubte.
Lutz selbst hatte schon vor der Konfirmation aufgehört, an Gott zu glauben, hatte eines abends beim Beten die Hände wütend auseinandergerissen und gebrüllt: "Quatsch, ich laber' doch nicht ständig mit einem, den es gar nicht gibt!"
Danach wurde aus dem Versprechen des Ewigen Lebens die Bedrohung des unendlichen Todes. Manchmal, wenn er in Gedanken auf dem Zeitpfad entlangfuhr, den er sich vorstellte wie einen Lichtstrahl, aus dem Unendlichen kommend, ins Unendliche gehend, und wenn dieser sich immer tiefer ins schwarze Nichts bohrte, dann schrie er in Panik "nein, nein!" und machte Licht.
Langsam wich die Verzweiflung aus dem "Nie, nie wieder!", das er wie ein Mantra der äußersten Verzweiflung so lange vor sich hergebetet hatte, bis die Angst vor der Unendlichkeit endlich da war und, wie ihr Inhalt: das All selbst, bis ins Unermessliche wuchs. Dann rief er: "Lieber Gott, hilf mir!" ? und die Angst ging vorbei.
Später, als Gott merkte, dass Lutz gar nicht an ihn glaubte, half er nicht mehr. Da hätte er gern wenigstens diesen unehrlichen, brüchigen Halbglauben seiner Oma gehabt, sozusagen nur für die paar Male, wo man ihn brauchte.
So ähnlich hatte, fand er, Ommas Generation alles verarbeitet: Dem unbeirrbaren Glauben an den Endsieg folgte schließlich doch die Niederlage; erst danach, als er verloren war, war der Krieg schlecht, der Führer böse, Göbbels ein Demagoge und der Rest dumm gewesen. Er konnte nicht verstehen, wie Leute, die die ganze Welt erobern wollten, wenig später damit zufrieden sein konnten, die alte, jetzt kaputte und geteilte, die sie einst, weil sie ihnen zu mickrig war, aufgegeben hatten, wenigstens halbwegs wieder aufzubauen.
Wie sie mit der Judenvernichtung fertig wurden, von der man nichts gewusst hatte, obwohl links und rechts Nachbarn verschwanden, kleine Kaufläden eingingen, große Kaufhäuser plötzlich Nazis gehörten, Lehrer ihre Stellen verloren. Und wo blieben die alle. Im Urlaub?
"Wir haben das wirklich nicht geglaubt, dass der Hitler so was tun würde! Aber wir haben uns auch nicht gefragt, wo die alle abgeblieben waren!"
"Wohl, weil ihr Angst hattet, auch dorthin zu kommen, wo die angeblich gar nicht waren?"
Omma wurde nicht wütend, wenn Lutz sie ertappte, nicht so wie seine Alten oder der Olle von Ringo, der bei der SS gewesen war und das EK1 trug, weil er, wie er erzählte, eine russische Familie aus einem brennenden Haus gerettet hatte. Veteranen, die mit rotem Kopf anfingen zu brüllen: Man soll doch jetzt endlich mal aufhören mit den Verdächtigungen und der Verfolgung Unschuldiger. Was hätte denn schon ein einzelner kleiner Landser ausrichten können, hä? Und was, bitteschön, war das Verbrechen einer deutschen Mutter, die schließlich nur ihre fünf Panzen... Nein, seine Omma fing an zu weinen und sagte, man muss zusehen, dass so was nie wieder passiert!
*
Welches Recht, dachte Lutz, hatte er eigentlich, Omma moralisch unter Druck zu setzen? Sie hatte jedenfalls, was er zumindest als sicher annahm, nie einen Menschen getötet.
Hatte er getötet? Absichtlich?
Eine Kugel kam geflogen, galt sie mir, galt sie dir? Er hätte nie geglaubt, dass er den Typ auf die Entfernung trifft. Nie und nimmer!
Die Geschichte hatte Lutz nicht einmal seinem besten Freund Ringo anvertraut.
Auch nicht, wie es mit Omma zuende gegangen war. Nur einer wusste es.
Er hatte ausgerechnet Axel ins Vertrauen gezogen. Er hielt Axel als einzigen für moralisch geeignet, weil der einmal, als ein Mädchen aus der Parallelklasse schwer mit dem Rad gestürzt war, gehofft hatte, dass die Kuh stirbt. Weil es dann immer einen Tag Schulfrei gab. Sie hatten blutende Handflächen gegeneinander gepresst und Axel hatte geschworen, die Geschichte von dem Anschlag auf dem Schützenplatz und die näheren Umstände des Todes von Omma niemand anderem zu erzählen.
Axel hatte lange Zeit das Versprechen gehalten.
*
Seinen Eltern, die den ganzen Tag schwer arbeiteten und abends gestresst nach Hause kamen, wurde Omma immer mehr zur Last. Wenn sie das Wohnzimmer betraten, hatte Omma von deren Geld Unmengen Kuchen eingekauft, Kaffee gekocht ("labbrige Plörre", maulte sein Vater, "Boden-seh-Wasser" seine Mutter), den Tisch mit Blumen dekoriert (die Kerzen waren mittlerweile heruntergebrannt), für zwanzig Leute gedeckt.
"Was ist das denn!"
"Aber du hast doch heute Geburtstag?"
"Nein, ich hatte im November, verdammt noch eins! Und wozu, bitteschön, brauchen wir einen riesen Pott Pellkartoffeln, wo die ganze Sechste Armee den Winterkrieg mit überstanden hätte!"
Dem Kater hatte sie den Kopf in der Haustür gequetscht. Schwerhörig wie sie war, hatte sie sein Kreischen vielleicht nicht gehört oder sich jedenfalls nicht erklären können, dass der Kater schrie, nur weil die Tür klemmte. Seither sah er aus wie Jürgen von Manger.
Für die Nachbarn wurde Omma zunehmend lächerlich, wenn sie nachlässig gekleidet, mit verrutschtem Haarteil oder völlig zerzaust, das schlecht sitzende, pralle Kostüm links herum an (und natürlich hinten kaum geschlossen, da sie nicht an die Knöpfe kam), die Straße entlang wackelte.
Wenn sie die Leute, die tuschelnd an den Gartenzäunen standen, nicht mehr erkannte und verwirrt fragte, wo sie zu Hause sei oder ob sie ihren Hausschlüssel gefunden hätten. Oder wenn sie mit Harke, Schaufel und einem riesigen zerbeulten Eimer aufbrach, um die Gräber ihrer toten Familie zu pflegen, die sie vor vielen Jahren auf dem Storbecker Friedhof hundert Kilometer entfernt beerdigt hatte.
Natürlich konnte keiner ihr vertrauen. Auch Lutz nicht, der morgens in der Schule war. Eine verdatterte alte Frau ist eine permanente Gefahr... für sich und andere: der Gasherd, der Elektroboiler, der Kohleofen; "Messer, Gabel, Schere, Licht". Die plötzliche Anwendbarkeit ihrer vormaligen Lieblingsverbote für ihn auf sie selbst fand er traurig paradox.
Ihre Augen machten nicht mehr mit, sagte sie, sie konnte die Fäden nicht in die Nadelöhre kriegen. Jetzt nähte sie nicht einmal mehr mit der Hand.
Seit man die Kontakte im Stecker des Bügeleisens gelockert, den Haupthahn hinterm Gasherd abgedreht und das Kabel der Waschmaschine aus der Steckdose gezogen und in der Rückverkleidung versteckt hatte, funktionierten auch die anderen Geräte aus unerfindlichen Gründen auf einmal nicht mehr. Die materielle Gebrauchswelt um sie herum, die Omma bald ein dreiviertel Jahrhundert lang perfekt befehligt hatte, gehorchte ihr nicht mehr. Auch die Maschinen hatten sich nun gegen sie verschworen.
Zweimal hatte sie wenig später versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Bei Altersdepressionen hilft Tolvin.
Nach ihrem zweiten Schlaganfall wurde sie bettlägerig. Sie lag fiebernd, mit glühender Stirn da, meist schlief sie. Da sie ihre Zahnprothese nicht mehr einsetzen konnte, wirkten ihre sonst gesund geröteten, runden Wangen fahl und eingefallen.
Ohne ihre Zähne konnte Lutz aber nicht verstehen, was sie murmelte. Er erkannte sie auch nicht als seine Omma wieder; sie war ihm fremd geworden.
Dann reagierte sie überhaupt nicht mehr. Er wusste nicht, ob sie ihn hörte und ob sie wirklich etwas sagen wollte, wenn sie durch ihre gelähmten Lippen stammelte und mit fiebrig-glasigen Augen durch ihn hindurchstierte.
Als ein Bekannter seiner Eltern eine Arie sang, in der es um Jugend und Liebe ging, sah er eine Träne in ihrem Auge; und als das Lied vorbei war, erhoben sich zwei dünne, gebrechliche Ärmchen aus ihrem Bett und klatschten schwach, fast unhörbar Beifall.
Der Gedanke, dass sie alles aufnahm und mitbekam, aber nichts mehr aus ihr herauskonnte, dass sie nicht mitzuteilen imstande war, ob sie Angst oder Schmerzen hatte, ob sie Trauer empfand oder auf ihren Tod hoffte, war ihm unheimlich. So unheimlich, dass Lutz jetzt immer öfter ihr Zimmer mied.
Er steht nachts einige Male mit einem Kissen neben Ommas Bett und denkt, dass es in zehn Minuten vorbei wäre. Aber er hat die Befürchtung, ihren Todeskampf unter seinen Händen zu spüren. Er weiß, dass seine Mutter Omma täglich Insulin spritzt. Wenn man zu viel davon kriegt, stirbt man. Er findet die Spritzen und Ampullen im Medizinschränkchen im Bad.
Als am nächsten Tag Mittags Ommas Bett leer ist, spürt Lutz Erleichterung. Die fremde, siechende alte Frau hat sie verlassen.
Erst als sie Tage später unter Blumen in einer massiven, fest verschlossenen Eichenkiste lag, wuchs die Person, die man nun gleich hinaustragen und für immer, für ihn unerreichbar, verscharren würde, vor seinem inneren Auge wieder zu seiner Oma zusammen, so wie er sie kannte, wie er sie gemocht hatte.
Da kommt Omma ein letztes Mal O-beinig und milde lächelnd auf ihn zu, nimmt seine Hand und sagt:
"Du musst dich mal wieder um deine Patrizia kümmern. Sonst war doch alles umsonst."
Nein, umsonst war das alles nicht gewesen. Er hatte sich wie ein richtiger Mann verhalten. Vielleicht wäre sein Vater stolz auf ihn, wenn er's wüsste. Aber einer seiner besten Freunde aus dem Gesangsverein war der Leiter der Mordkommission, Bollmann; wenn die was zusammen saufen, verplappert sein Oller sich vielleicht.
Viel später fand Lutz in Ommas altem Kleiderschrank im Keller, zwischen alten Briefen und Fotos von ihr, seinen Kasten mit den Stahlkugeln und die Präzisionsschleuder.
Erst als Lutz sich vor einigen Jahren auf die Schienen der Bahnstrecke legt und sich in drei Teile zerfahren lässt (ach was: in sechs) ? nur weil diese dumme Pute, wie hieß sie doch? Patrizia (heute heißt sie Kelly und wohnt mit so'nem ollen Spießer, der über zwanzig Jahre älter ist als sie, am Rhein), nur weil die ihn also verlassen hatte ? obwohl Axel und Lutz sich vor Urzeiten heilig geschworen hatten: sie werden allein durch die Hand eines Feindes sterben! Da beschloss Axel, die Geschichte von Lutz zu erzählen. Und das auch nur seinem besten Freund Ringo. Das war Axel Lutz, glaubte er, trotz allem immer noch schuldig. Obgleich sie ja eigentlich, jetzt mindestens, quitt waren!