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[10]Dialektik und Analytik

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Die sokratische Idee, so wie Platon sie gedeutet hat, ist im Kern die Forderung, nicht einfach unter dem Diktat unserer natürlichen urwüchsigen Wünsche und Begierden durchs Leben zu trudeln, sondern zu klären, was ein gutes Leben für uns wäre, welche Art von Mensch wir sein wollen und wie wir unsere Vorstellungen von einem guten Leben realisieren könnten. Dieser Klärungsversuch muss, der sokratischen Idee zufolge, von einer kritischen und argumentativen Prüfung verschiedener Entwürfe von Lebensprojekten begleitet sein. Wir sollten also ein geprüftes Leben führen. Damit treten wir in das Spiel des Gebens und Einforderns von Gründen ein – wir gehen aus dem Reich der Natur unserer gegebenen Präferenzen in den logischen Raum der Gründe über. Dieser Schritt liegt in unserem wohlverstandenen rationalen Eigeninteresse und ist die allgemeinste Form der Bildung (paideia). Die klare Artikulation dieser großen Idee ist ein bedeutendes Verdienst Platons.

In diesem praktischen Kontext wird die Frage wichtig, welche Gründe gute Gründe sind und wie wir zwischen guten und schlechten Begründungen unterscheiden können, und zwar unabhängig von dem Gegenstandsbereich, über den wir reden. Diese spezifische Unterscheidungsfähigkeit nennt Aristoteles »Bildung« – ganz im Geiste Platons, aber präziser als sein großer Lehrer (PA 639a 1–15).

Bemerkenswert ist dabei die klare Unterscheidung zwischen der inhaltlichen und formalen Beurteilung einer Argumentation. Die formale Beurteilung eines Arguments erfordert kein inhaltliches Wissen, sondern nur [11]methodisches Wissen. Damit können wir prüfen, ob die Prämissen eines gegebenen Arguments, wenn sie wahr sind, gute Gründe für die Konklusion des Arguments abgeben, ohne dass geprüft werden müsste, ob die Prämissen wirklich wahr sind. Hier liegt der entscheidende Grund dafür, dass die formalen Disziplinen, die dieses methodische Wissen entfalten, nicht auf einen spezifischen sachlichen Gegenstandsbereich gerichtet sind und allein nicht für einen Zugewinn an sachlichem Wissen ausreichen (Top. I 1, 100a 18–20).

Vor Aristoteles gab es weder eine klare Unterscheidung zwischen der inhaltlichen und formalen Beurteilung einer Argumentation noch auch nur einen Ansatz zu einer Ausarbeitung formaler Disziplinen. Es ist eine der größten innovativen Leistungen des Aristoteles, eine solche Ausarbeitung zum ersten Mal – und bereits auf hohem Niveau – vorgelegt zu haben. Er hat dabei sogar schon zwischen methodischen Standards allgemeiner Gesprächsführung (Dialektik) und strengen Regeln des korrekten Schließens (Syllogistik) unterschieden.

Die Dialektik als formale Technik der Unterredung und Diskussion lehrt, wie wir beliebige Thesen, die von unseren Diskussionspartnern präsentiert werden, auf ihre Begründbarkeit oder Widerlegbarkeit prüfen können. In seiner Schrift Topik hat Aristoteles die formale Technik der Unterredung in außerordentlich differenzierter Form ausgearbeitet. Wir können uns hier nur einige allgemeine Richtlinien und Beispiele vor Augen führen, um einen Eindruck von der aristotelischen Topik zu gewinnen.2

Der Ausdruck »Topik« ist abgeleitet vom griechischen Begriff topos für »Ort« oder »Raum«. Ein dialektisches [12]Gespräch im Sinne der Topik ist eine Unterhaltung zwischen einer Person, die eine These aufstellt und zu begründen versucht (Proponent), und einer Person, die diese These und ihre Begründung zu widerlegen versucht (Opponent). Die Topik soll Richtlinien für Begründungen und Widerlegungen von Thesen entwickeln, Fehler aufzählen, die ein Proponent oder Opponent machen kann, und argumentative Schachzüge vorschlagen, die vor allem der Opponent benutzen kann, um den Proponenten möglichst lange über die Stoßrichtung der Widerlegung im Unklaren zu lassen. Die Arten dieser Richtlinien, Fehler und Schachzüge heißen »Örter« (Topoi), daher der Name »Topik«, Lehre von den Örtern.

Bevor Aristoteles die formalen »Örter« bestimmt, trifft er einige terminologische Bestimmungen über die Technik der Unterredung. Allgemeine Aufgabe der Topik ist es, eine Methode zur Bildung von wahrscheinlichen Schlüssen und zur widerspruchsfreien Diskussion von beliebigen vorgelegten Problemen und Thesen bereitzustellen (Top. I 1). Ein Schluss ist nach Aristoteles eine notwendige Folgerung aus vorausgesetzten Prämissen. Ein demonstrativer Schluss beruht auf wahren Prämissen, ein dialektischer Schluss auf wahrscheinlichen Prämissen (dabei ist wahrscheinlich oder plausibel all das, was alle oder doch die meisten Menschen oder zumindest alle Weisen oder doch die meisten Weisen für wahr halten). Ein eristischer Schluss endlich gründet auf nur scheinbar wahrscheinlichen Prämissen oder stellt eine Folgerung dar, die nur scheinbar ein guter Schluss ist.

Wenn wir plausible dialektische Prämissen finden und angemessene dialektische Schlüsse konstruieren wollen, müssen wir die speziellen logischen »Örter« (Top. II 2, [13]109a) beachten. Dabei sollten wir vor allem die Homonymien und Synonymien berücksichtigen, dürfen also gleichlautende Wörter nicht als bedeutungsgleich und bedeutungsgleiche Wörter nicht als notwendig gleichlautend ansehen. Damit macht Aristoteles klar, dass wir in dialektischen Gesprächen sorgfältige Bedeutungsanalysen voraussetzen müssen, weil für gute Schlüsse semantische Konsistenz unabdingbar ist, wie bereits Sokrates in Platons Dialogen demonstriert hatte.

Nun kann eine dialektische Argumentation (a) von Prämissen ausgehen, denen die jeweiligen konkreten Gesprächspartner zustimmen, oder (b) von Prämissen, die zusätzlich auch von allen oder den meisten Menschen oder doch zumindest von allen oder den meisten Weisen als zutreffend angesehen werden (Top. I 1, 100a–b). Der Fall (b) stellt eine weitaus schärfere Bedingung für die Akzeptanz einer Prämisse dar. Wir können daher von zwei Formen der Dialektik sprechen, einer Dialektik ad hominem (a) und einer allgemeinen Dialektik (b).

Wer die Technik der dialektischen Diskussion lernen will, muss nach Aristoteles auch ein metaphysisches Basiswissen haben, das für die Bestimmung der logischen Örter relevant ist. So bestimmt er beispielsweise (Top. I 4–5):

Jeder prädikative Satz der Form »A ist B« oder, invers formuliert, »Das B kommt dem A zu« hat eine von vier möglichen Formen: (a) B ist Definiens von A; (b) B ist Gattung oder spezifische Differenz von A; (c) B ist Proprium von A; (d) B ist Akzidenz von A. Diese Formen werden genauer bestimmt: B ist Definiens von A, wenn B das A identifiziert (z. B. »vernünftiges Lebewesen« für »Mensch«). B ist Gattung von A, wenn B dem A notwendigerweise [14]zukommt; und A ist spezifische Differenz von B, wenn A der engste Unterbegriff ist, der zusammen mit der Gattung von B das Definiens von B bildet (z. B. »Lebewesen« ist Gattung von »Mensch«, und »vernünftig« ist spezifische Differenz von »Mensch«, wenn »Mensch« sich durch »vernünftiges Lebewesen« definieren lässt). B ist Proprium von A, wenn B zwar nicht essenziell ist für A, wenn aber B stets allen und nur den As zukommt (z. B. »fähig zu lachen« für Menschen). B ist Akzidenz von A, wenn B den As zukommen oder auch nicht zukommen kann, also eine kontingente Eigenschaft der As ist (z. B. »musikalisch« für Menschen).3 Jetzt können wir uns einige Beispiele für logische Örter ansehen4:

(a) Behauptet der Proponent »A ist B« in der Weise, dass B Akzidenz von A ist, dann kann der Opponent versuchen zu zeigen, dass B Proprium oder Gattung oder spezifische Differenz von A ist (und umgekehrt). Das kann unter anderem so geschehen: Ist B Akzidenz von A, so auch C, wenn C Gegensatz von B ist; der Opponent könnte also zu zeigen versuchen, dass ein Gegensatz von B etwa Gattung eines Dinges ist (Top. II 2, 109b–110a).

(b) Behauptet der Proponent »A ist B« in der Weise, dass B Gattung von A ist, so kann der Opponent nachzuweisen suchen, dass es As gibt, die nicht B sind, denn wenn B Gattung von A ist, kommt B allen As zu (Top. II 3, 110a).

(c) Man darf nicht Gattung und Differenz verwechseln. Wer z. B. behauptet, das Staunen sei ein Übermaß an Verwunderung, setzt sich dem Einwand aus, dass [15]Staunen nicht eine Art von Übermaß, sondern eine Art von Verwunderung ist – nämlich eine übermäßige Verwunderung. Man sollte auch nicht Gattung und Materie von Dingen verwechseln. Wer z. B. sagt, Wind sei bewegte Luft, liegt falsch, denn Luft ist nicht Gattung, sondern materieller Träger von Wind – Wind ist eine Bewegung der Luft (Top. IV 1, 121a).

(d) Behauptet der Proponent »A ist B« in der Weise, dass B Proprium von A ist, dann kann der Opponent zu zeigen versuchen, dass es As gibt, die nicht B sind, oder dass es Bs gibt, die nicht A sind (Top. II 4, 111b).

Oft stellen Proponenten oder Opponenten in ihren Diskussionen Definitionen auf. Aristoteles macht daher in der Topik auch einige allgemeine Bemerkungen zu angemessenen Definitionen, die aus Gattung und spezifischer Differenz bestehen (Top. I 8, 103b) und natürlich ebenfalls als logische Örter verwendet werden können; auch diese Bemerkungen setzen Einsichten der frühen essenzialistischen Metaphysik voraus (Top. VI 1–2):

(i) Eine Definition ist angemessen, wenn ihr Definiens (a) deutlich ist, (b) keine überflüssigen Zusätze enthält, (c) Proprium für das Definiendum ist, (d) die Essenz des Definiendums angibt, (e) zur Erkenntnis des Definiendums beiträgt, (f) nicht zirkulär ist, (g) mindestens Gattung und spezifische Differenz angibt.

(ii) In (i) ist (d) – die Angabe der Essenz – im Wesentlichen auf (c), (g) und (e) reduzierbar: Die Essenz eines Dinges anzugeben heißt, Merkmale anzugeben, die insgesamt ein Proprium des Dinges sind, seine Gattung und [16]spezifische Differenz enthalten und explanatorisch fruchtbar für weitere Merkmale des Dinges sind.

Definitionen sind nach der Topik also nicht Explikationen von Wortbedeutungen, sondern wahre universelle Sätze über die Welt, die ein Ding identifizieren und erklären können.

Allgemein wird das methodisch angeleitete dialektische Gespräch nach Aristoteles durch zwei neutrale Bedingungen bestimmt: durch das Konsensprinzip und das Nicht-Widerspruchsprinzip. Der Proponent darf demnach nur fortfahren, wenn der Opponent seinen Thesen zustimmt (Konsens), und er muss einräumen, dass seine These unhaltbar wird, wenn der Opponent ihn zwingen kann, im Rahmen des Begründungsversuchs mindestens einmal einen Satz und dessen Negation zu behaupten (Widerspruch). Wie könnte man die beiden wichtigsten Aspekte einer fairen Diskussion besser charakterisieren?

In der Topik arbeitet Aristoteles, wie wir gesehen haben, unter anderem mit der Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen, dialektischen und eristischen Schlüssen. Bei der Kennzeichnung der eristischen Schlüsse deutet er an, dass diese Schlüsse nur scheinbar gültige Schlüsse sind. Was ist genauer ein gültiger Schluss? Diese nahe liegende und zugleich schwierige Frage hat sich Aristoteles offensichtlich in einer Reflexion auf seine Topik gestellt. Das können wir aus den Anfangskapiteln des ersten Buches seiner Ersten Analytik erschließen, die allein ihn schon für immer unsterblich gemacht hätten (APr. I 1–7). Diese Kapitel enthalten nämlich das Herzstück seiner Syllogistik und damit die Erfindung der formalen Logik, die in der späteren [17]Antike und im Mittelalter auf raffinierte Weise weiterentwickelt wurde.

Aristoteles selbst nennt seine Syllogistik »Analytik« (Metaph. VII 12, 1037b 9, NE VI 3, 1139b 27). Hintergrund dieser Bezeichnung ist die Idee, dass befriedigendes Wissen oder eine gute Theorie vor allem die Kenntnis der wichtigsten Elemente des jeweiligen Gegenstandsbereichs umfasst. Die methodische Zerlegung eines komplexen Gegenstandsbereichs in einfachere oder einfachste Bestandteile heißt bei Aristoteles »Analyse« (Metaph. IX 10, AN. III 6; NE III 3, 1112b 20–24), und die Zusammensetzung der einfachsten Bestandteile zum gegebenen komplexen Gegenstandsbereich wurde später »Synthese« genannt. Das analytisch-synthetische Verfahren blieb seit Aristoteles für rund zweitausend Jahre das Leitbild für die Etablierung einer wissenschaftlichen Theorie. Die raffinierte Ausgestaltung dieses Leitbildes in einer wissenschaftlichen Analytik führte bei Aristoteles zu der historisch ersten explizit formulierten formalen Logik und Wissenschaftstheorie.5

Die methodische Analyse, wie Aristoteles sie versteht, kann auf verschiedene Gegenstandsbereiche angewendet werden, etwa auf Mittel-Zweck-Relationen in der Ethik oder auf geometrische Figuren. Wenn wir beispielsweise genauer erklären wollen, warum Sokrates junge Leute einer gezielten Befragung unterzog, damit sie über ihr Leben nachzudenken beginnen, dann könnte eine Antwort sein, dass Sokrates die gezielte Befragung dazu benutzte, um die Auffassungen der jungen Leute einem Konsistenztest zu unterziehen und sie auf Widersprüche in ihren Meinungen aufmerksam zu machen, und dass er dies wiederum als [18]Mittel für eine Hinführung zur Selbstreflexion benutzte. Auf diese Weise können wir die ursprüngliche – latent komplexe – Mittel-Zweck-Relation in zwei einfachere Mittel-Zweck-Relationen auflösen und damit besser durchschauen. Und eine Erklärung der ursprünglichen Mittel-Zweck-Relation bestünde im Wesentlichen darin, sie aus den einfacheren Mittel-Zweck-Relationen wieder zusammenzusetzen (NE III 3). Oder wenn wir auf eine geometrische Figur schauen, etwa auf das Dreieck im Halbkreis, dann brauchen wir nur ein oder zwei geeignete weitere Hilfslinien zu ziehen, die das gegebene Diagramm feiner analysieren, um den Beweis für den Thales-Satz zu erkennen, der behauptet, dass alle Dreiecke im Halbkreis rechtwinklig sind (Metaph. IX 9, 1051a). Allgemein ist das Beweisverfahren der euklidischen Geometrie ein paradigmatischer Fall des analytisch-synthetischen Verfahrens. Denn Kreis und Gerade galten als einfachste Elemente des geometrischen Kontinuums, und deshalb mussten euklidische Beweise mit Zirkel (=Kreis) und Lineal (=Gerade) geführt werden: Was sich mit Zirkel und Lineal effektiv konstruieren ließ und sich damit als aus Kreis und Gerade zusammengesetzt erwies, galt als euklidisch beweisbar und geometrisch existent.

Die Syllogistik ist ein weiterer wichtiger Fall von Analytik, wie sich an ihren wichtigsten Elementen zeigt (APr. I, 1–6):

Ein syllogistischer Satz hat eine der vier folgenden Formen: (i) Das A kommt allen Bs zu (abgekürzt AaB); (ii) das A kommt keinem B zu (abgekürzt AeB); (iii) das A kommt einigen Bs zu (abgekürzt AiB); (iv) das A kommt einigen Bs nicht zu (abgekürzt AoB). Dabei sind A und B Variablen für [19]einstellige universelle Begriffe und a, e, i, o die syllogistischen Relationen, also die entscheidenden logischen Konstanten der Syllogistik.

Ein syllogistischer Schluss ist ein Schluss, der genau zwei syllogistische Sätze als Prämissen und einen syllogistischen Satz als Konklusion enthält, derart dass die beiden Prämissen einen universellen Begriff teilen und der syllogistische Schluss eine der drei folgenden Formen hat:

(1) AxB, BxC ⇒ AxC

(2) BxA, BxC ⇒ AxC

(3) BxA, CxB ⇒ AxC

Dies sind die drei syllogistischen Figuren. Dabei ist B der gemeinsame Begriff oder Mittelbegriff, während A und C Außenbegriffe sind. Der Mittelbegriff ist entweder Subjekt der ersten und Prädikat der zweiten Prämisse (wie in (1)) oder Prädikat beider Prämissen (wie in (2)) oder Subjekt beider Prämissen (wie in (3)).

Wenn wir in den syllogistischen Figuren für die Variable x die vier syllogistischen Relationen (a, e, i, o) in allen möglichen Kombinationen einsetzen, erhalten wir 192 (= 3 × 4 × 4 × 4) syllogistische Schlüsse. Die entscheidende Frage lautet dann: Welche der 192 syllogistischen Schlüsse – auch einfach Syllogismen genannt – sind syllogistisch gültig? Diese Frage zu beantworten ist die Aufgabe der Syllogistik, und die Antwort, die Aristoteles fand, bestand in der Entwicklung der ersten formalen Logik der Weltgeschichte.

Die entscheidende Idee ist zu sagen, dass und warum eine kleine Zahl von syllogistischen Schlüssen perfekt und damit formal gültig ist. Hier sind die vier perfekten [20]Syllogismen (samt ihren mittelalterlichen mnemotechnischen Namen), die Aristoteles angibt (der Pfeil steht für eine gültige Deduktion):

A1 AaB, BaC ⇒ AaC (Barbara)

A2 AeB, BaC ⇒ AeC (Celarent)

A3 AaB, BiC ⇒ AiC (Darii)

A4 AeB, BiC ⇒ AoC (Ferio)

Diese Syllogismen sind perfekt oder gültig aufgrund unseres Verständnisses der a-Relation und der e-Relation. AaB verstehen wir beispielsweise so, dass es kein B-Ding gibt, das nicht auch ein A ist (APr. I 4, 25b 39–40, vgl. 24a 18 und 26a 27). Wenn es nun kein C-Ding gibt, das nicht auch B ist, und kein B-Ding, das nicht auch A ist, dann kann es auch kein C-Ding geben, das nicht auch A ist. Denn angenommen, es gäbe mindestens ein C-Ding, das nicht A ist – nennen wir es C* –, dann folgt, dass wenn C* gemäß der zweiten Prämisse in A1 auch B ist, es mindestens ein B-Ding gibt, das nicht A ist, im Widerspruch zur ersten Prämisse in A1. Somit muss A1 schon aufgrund unseres Verständnisses, und damit aufgrund der Bedeutung der a-Relation, gültig sein. Aristoteles erwähnt übrigens die o-Relation und die i-Relation hier nicht, weil, wie er selbst zeigt, A1 und A2 theoretisch ausreichen: A3 und A4 können mittels A1 und A2 bewiesen werden. (APr. I 7)

Ferner ist aufgrund der Bedeutung der syllogistischen Relationen klar, dass gilt (der Doppelpfeil steht für »wechselseitig logisch gültige Deduktion« und »¬« für »es ist nicht der Fall, dass«):

[21]L1 AeB ⇔ ¬ (AiB)

L2 AaB ⇔ ¬ (AoB)

Und schließlich setzt Aristoteles das Prinzip des indirekten Beweises (das er Prinzip der zum Unmöglichen führenden Deduktionen nennt) voraus, z. B. in der folgenden Form:

PI Seien R, S, T syllogistische Sätze, dann gilt:

Wenn die Deduktion ¬ T, S ⇒ ¬ R gültig ist,

dann auch die Deduktion R, S ⇒ T.

Es gibt in den logischen Schriften keine Rechtfertigung von PI, aber weil PI aus dem Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten (»p oder nicht-p« gilt für jeden Satz p) folgt und dieses Prinzip in Buch IV der Metaphysik ausführlich gerechtfertigt wird, können wir auch PI als begründet ansehen.

Die Annahmen A1, A2, L1, L2 und PI sind eine hinreichende Grundlage für die nächste Herausforderung, die von der Syllogistik zu bewältigen ist: syllogistisch zu beweisen, welche weiteren Syllogismen formal gültig sind. Dazu musste Aristoteles zunächst bestimmen, was ein guter syllogistischer Beweis eigentlich ist. Und genau für diese Bestimmung griff er erneut auf die Idee des analytisch-synthetischen Verfahrens zurück.

Die grundlegende Idee ist, dass ein syllogistischer Beweis eines nicht-perfekten Syllogismus R, S ⇒ T darin besteht, ihn in perfekte oder bereits bewiesene gültige Syllogismen zu zergliedern oder zu analysieren. Diese Analyse muss dann konkret darin bestehen, die Kluft zwischen den Prämissen R, S und der Konklusion T mit perfekten oder [22]bewiesenen Syllogismen anzufüllen, so dass wir von R und S allein aufgrund bekannter gültiger Syllogismen zu T gelangen. Das allgemeine Beweisschema der syllogistischen Analyse einer Deduktion D (R, S ⇒ T) ist also die Beweisformel

P R, S: D1 (R, S ⇒ X1) – D2 (X2, X3 ⇒ X4) – … – Dn (X n–1, Xn ⇒ T): T

Dabei sind D1, D2, …, Dn perfekte oder bewiesene Syllogismen. Der erste benutzte Syllogismus D1 beginnt mit den Prämissen des zu beweisenden Syllogismus D, und alle weiteren benutzten gültigen Syllogismen verwenden als Prämissen zwei syllogistische Sätze, die vor ihrem Einsatz in der Reihe R, S, Xi auftauchen, bis T erreicht ist. Auf diese Weise wird in der Tat der zu beweisende Syllogismus D in die gültigen Syllogismen D1 – Dn analysiert und wieder zusammengesetzt.

Die ersten syllogistischen Deduktionen, die Aristoteles auf diese Weise beweist, sind nicht syllogistische Schlüsse im definierten formalen Sinn, sondern einfachere syllogistische Deduktionen mit nur einer Prämisse – die sogenannten Konversionsregeln (APr. I 2, 25a 14–25):

K1 AeB ⇒ BeA; K2 AiB ⇒ BiA; K3 AaB ⇒ BiA.

Nach Aristoteles sind von den 188 nicht perfekten Syllogismen, die es insgesamt gibt, lediglich vierzehn syllogistisch gültig. Zwei typische Beweise lassen sich folgendermaßen notieren:

[23](a) Beweis von BaA, BeC ⇒ AeC (Camestres, zweite Figur): BaA, BeC: K1 (BeC ⇒ CeB) – A2 (CeB, BaA ⇒ CeA) – K1 (CeA ⇒ AeC): AeC

(b) Beweis von AiB, CaB ⇒ AiC (Disamis, dritte Figur):AiB, CaB: K2 (AiB ⇒ BiA) – A3 (CaB, BiA ⇒ CiA) – K2 (CiA ⇒ AiC): AiC

Diese Beweise erfüllen offenbar die Beweisformel P, d. h., sie sind genuine logische Analysen.

Zuweilen muss Aristoteles auf einen indirekten Beweis zurückgreifen: Die Prämissen des zu beweisenden Syllogismus werden positiv gesetzt; aber dann wird angenommen, die Konklusion des Syllogismus sei falsch, und diese Annahme wird dann wieder unter Einsatz gültiger Syllogismen zum Widerspruch geführt. Ein Beispiel ist

(c) Beweis von AaB, BiC ⇒ AiC (Darii, erste Figur):AaB, BiC, ¬ AiC: L1 (¬ AiC ⇒ AeC) – K1 (AeC ⇒ CeA) – A2 (CeA, AaB ⇒ CeB) – K1 (CeB ⇒ BeC) – L1 (BeC ⇒ ¬ BiC), aber ¬ BiC steht im Widerspruch zur zweiten Prämisse BiC.

Mit (c) ist einer der vier perfekten Syllogismen (A3) seinerseits bewiesen.

Wenn wir uns die Grundzüge der Syllogistik vor Augen führen, sehen wir sofort, dass die Syllogistik die zentrale Idee der Logik realisiert, wie sie bis heute anerkannt geblieben ist.

Dieser Idee zufolge ist die Logik eine spezielle Theorie des Argumentierens. Sie betrachtet Formen von [24]Argumenten, nicht konkrete Argumente. Es geht ihr nicht nur darum, wichtige Formen von Argumenten voneinander zu unterscheiden, sondern sie will auch beweisen, was gute und zwingende Formen von Argumenten sind. Insofern Argumente immer Folgerungen oder Schlüsse sind und man zwingende Schlüsse auch gültige Schlüsse nennt, kann man die Logik auch als normative Theorie gültiger Schlüsse bezeichnen. Die Auszeichnung der gültigen Schlüsse erfolgt allein anhand der Semantik der logischen Zeichen: Genau diejenigen Schlüsse sind logisch gültig, die allein aufgrund der Bedeutung der logischen Konstanten, die in ihnen vorkommen, gültig sind; und auch das Beweisverfahren für die Auszeichnung der logisch gültigen Schlüsse basiert auf der Semantik der logischen Zeichen – im Falle der Syllogistik also, wie Aristoteles ausdrücklich bemerkt, letztlich allein auf der Bedeutung der beiden syllogistischen Ausdrücke »x kommt allen y zu« und »x kommt keinem y zu«.

Die Syllogistik setzt Aristoteles in seiner Theorie des Wissens und der Wissenschaft – der »wissenschaftlichen Analytik« – voraus. In einem seiner bedeutsamsten Dialoge, dem Theätet, hat Platon das Wissen als wahre gerechtfertigte Meinung bestimmt (Plat. Theät. 201c–d, vgl. Men. 98a) – eine Definition, die bis heute einflussreich geblieben ist. Aber erst Aristoteles entwickelt Platons Epistemologie weiter zu einer ausgefeilten Wissenschaftstheorie, die er wie die Syllogistik als Analytik kennzeichnet.6 Die von Platon eingeforderte Rechtfertigungsbedingung für Wissen muss nach Aristoteles genauer darin bestehen, dass vorgelegte Thesen für wahr gehalten und mit Verweis auf weitere Fakten erklärt werden können. Eine solche Erklärung nennt er »Demonstration« (APo. I 2).

[25]Zu Beginn der Ersten Analytik, in der unter anderem die Syllogistik präsentiert wird, kündigt er eine Untersuchung der Demonstration an. Eine Demonstration ist als Erklärung mehr als ein gültiger Syllogismus. Aristoteles verwendet den Ausdruck »Syllogismus« in zwei unterschiedlich starken Bedeutungen: zum einen im Sinne einer syllogistisch gültigen Deduktion und zum anderen im Sinne einer syllogistisch gültigen Deduktion mit wahren Prämissen. Den Syllogismus im zweiten, stärkeren Sinne können wir »Beweis« nennen. Eine Demonstration schließlich ist eine wissenschaftliche Erklärung – ein Syllogismus im stärkeren Sinne, dessen wahre Prämissen zusätzlich auf erklärende Ursachen verweisen. Die Demonstration ist daher das entscheidende Thema der Wissenschaftstheorie, die in der Zweiten Analytik entwickelt wird. Aristoteles deutet folglich mit seiner Ankündigung zu Beginn der Ersten Analytik an, dass er Erste und Zweite Analytik, also Syllogistik und Wissenschaftstheorie, als theoretische Einheit betrachtet. In der Tat ist jede Demonstration ein gültiger Syllogismus, während das Umgekehrte nicht gilt.

Nicht nur die Syllogistik, auch die Theorie der wissenschaftlichen Demonstration ist mithin eine Analytik. Die wissenschaftliche Analyse bezieht sich aber nicht auf ganze Syllogismen, sondern auf jeweils einzelne syllogistische Sätze, die universelle Fakten beschreiben – also vornehmlich Fakten, die wir mit generellen Sätzen der Form »Alle Bs sind A« (AaB) bzw. »Kein B ist A« (AeB) beschreiben. Die wissenschaftliche Analyse dieser universellen Sätze und der entsprechenden universellen Fakten bringt die Syllogistik zum Einsatz: Einen als wahr geltenden universellen Satz AaB oder AeB wissenschaftlich zu analysieren heißt, [26]zwei weitere als wahr geltende Sätze zu finden, die Prämissen für einen syllogistisch gültigen Schluss auf den gegebenen universellen Satz sind. Und die Syllogistik gibt uns gerade die Form der gesuchten Prämissen an die Hand (APo. I 32). Nach A1 könnten die gesuchten Prämissen für AaB beispielsweise die Formen AaC und CaB haben, und nach A2 könnten die Prämissen für AeB die Formen AeC und CaB haben (in der Tat behauptet Aristoteles, dass die Wissenschaften primär mit Demonstrationen in der ersten syllogistischen Figur operieren). Diese Analyse und Synthese können wir folgendermaßen notieren (der Buchstabe in Klammern zeigt die syllogistische Relation zwischen A und B an):

(i) A(a): AaC, CaB: B

(ii) A(e): AeC, CaB: B

Syllogistisch formuliert besteht diese Analyse von AaB oder AeB darin, dass wir einen geeigneten Mittelbegriff C finden, der die Aufstellung der beiden Prämissen erlaubt. Es ist möglich, dass wir die inneren syllogistischen Sätze in (i) oder (ii) ihrerseits durch Auffindung anderer Mittelbegriffe weiter analysieren und somit weitere syllogistische Prämissen für sie finden können, etwa für AaC und AeC:

(iii) A(a): AaD, DaC: C

(iv) A(e): AeE, EaC: C

Dann können wir (i) mit (iii) und (ii) mit (iv) zu größeren Analysen verbinden:

[27](v) A(a): AaD, DaC, CaB: B

(vi) A(e): AeE, EaC, CaB: B

Und dieses Spiel können und sollten wir fortsetzen, bis wir zu Prämissen kommen, die wir nicht weiter analysieren können. Das sind dann für den gegebenen Ausgangssatz die ersten oder unvermittelten Prämissen, für die wir keine weiteren Mittelbegriffe finden können. Aristoteles spricht hier anschaulich von einer Verdickungsprozedur, durch die wir die Lücke zwischen den Außenbegriffen des Ausgangssatzes gleichsam mit möglichst vielen Mittelbegriffen anfüllen (APo. I 23). Wenn die Analyse eines universellen syllogistischen Satzes mehr als einen Schritt enthält, können wir übrigens aus den gefundenen Prämissen weitere Sätze neben dem Ausgangssatz logisch ableiten, z. B. aus den in (v) aufgeführten Prämissen den Satz DaB, und aus den in (vi) aufgeführten Prämissen den Satz EaB.

Die weitreichenden wissenschaftstheoretischen Konsequenzen dieses analytischen Verfahrens in den Wissenschaften können wir allerdings erst dann sehen, wenn wir uns klar machen, dass diese Analysen kein logisches Spiel sind, sondern sich auf universelle empirische Fakten in der Welt beziehen. Wenn wir also in unserer Analyse mit einem universellen oder auch partikulären Satz etwa der Form AaB oder AiB starten, so muss es sich um einen Satz handeln, den wir für empirisch wahr halten – z. B. den Satz (a) »Geräusch (A) kommt allen Formen des Donners (B) zu« oder den Satz (b) »Eklipse (A) kommt einigen Mondstellungen (B) zu« (APo. II 8). Und wenn wir in unserer Analyse einen Mittelbegriff C für Prämissen AaC und CaB bzw. AaC und CiB finden müssen, dann muss es sich [28]ebenfalls um Sätze handeln, die wir für wahr halten, von denen wir also glauben, dass sie universelle oder partikuläre Fakten in der empirischen Welt beschreiben – und das zu entscheiden ist Sache empirischer wissenschaftlicher Forschung, nicht formaler logischer Beweise. Es gab, wie Aristoteles berichtet, zu seiner Zeit die Vorschläge, zu Satz (a) den Mittelbegriff C als »Erlöschen des Feuers in den Wolken« und zu Satz (b) als »Dazwischentreten der Sonne zwischen Erde und Mond« zu bestimmen. Damit wurde behauptet, es sei empirisch wahr, dass gilt: (c) Geräusch kommt allem Erlöschen von Feuer in den Wolken zu; (d) Erlöschen von Feuer kommt allen Formen des Donners zu; (e) Eklipse kommt jedem Dazwischentreten der Sonne zwischen Erde und Mond zu, und (f) Dazwischentreten der Sonne zwischen Erde und Mond kommt einigen Mondstellungen zu. Wenn wir die empirischen Sätze (c) bis (f) tatsächlich für wahr halten dürfen, dann haben wir (a) in (c) und (d) sowie (b) in (e) und (f) analysiert, denn (c), (d) ⇒ (a) und (e), (f) ⇒ (b) sind offensichtlich syllogistisch gültige Schlüsse.

Empirische Anwendungen von Analysen dieser Art machen verständlich, warum Aristoteles fordern muss, dass der erste Schritt bei der Etablierung einer angemessenen wissenschaftlichen Theorie darin besteht, universelle empirische Fakten festzustellen. Und wir haben ein empirisches universelles Faktum der Art AaB festgestellt, wenn wir so viele B-Dinge wie möglich empirisch untersucht und herausgefunden haben, dass jedes untersuchte B-Ding die Eigenschaft A hat. Die Aufzählung endlich vieler solcher Beispiele in einer Liste nennt Aristoteles »Anführung«; das ist seine Auffassung von »Induktion«. Eine [29]induktive endliche Liste ohne Gegenbeispiel ist dann natürlich ein exzellenter Grund dafür, den universellen Satz AaB (»Alle B-Dinge sind A« oder »A kommt allen Bs zu«) für wahr zu halten (Aristoteles redet hier allerdings nicht von einem induktiven Schluss). Erst die Fakten, dann die Erklärung – das ist die Devise, die Aristoteles nicht müde wird zu betonen (APo. II 1–2). So hat er auch selbst ein großes biologisches Werk verfasst, das eine reine Faktensammlung beinhaltet und sich aller Analysen und Erklärungen enthält – die Historia Animalium (die Erkundung der Tiere) in zehn Büchern.

Doch welche Rolle spielt die empirische Erfahrung für die Konstatierung empirischer Regularitäten und Prinzipien genauer? Nach Aristoteles entsteht die empirische Erfahrung in vier kognitiven Schritten (APo. II 19):

(1) Wahrnehmung: das Erfassen und Unterscheiden verschiedener Qualia (etwa das Gelbe, Große, Kalte oder Bewegte).

(2) Speicherung und Erinnerung an vergangene Wahrnehmungen der Stufe 1.

(3) Induktion, empirische Erfahrung: Mengen singulärer Fakten der Form »x ist B« (geschrieben B(x)), wobei Träger x und Eigenschaft B auseinandertreten und die verschiedenen Instanzen B(x), B(y), B(z) (oft auch in der komplexen Form B(x) ⇒ A(x), B(y) ⇒ A(y), B(z) ⇒ A(z) …) als ähnlich empfunden werden. Dabei kommt das B und gegebenenfalls das A in der Seele zum Stehen.

(4) Wissen, Einsicht: Vernetzung der empirischen Erfahrung durch logische Analyse.

[30]Diese Stufen folgen genetisch aufeinander, stellen also eine genetische Epistemologie dar. Die Stufen 1 bis 3 sind kognitive Prozesse auf nicht-sprachlicher Ebene, die dem Wahrnehmungsprozess inhärent sind.

Aristoteles ringt an dieser Stelle mit einem ewigen Problem der Wahrnehmungstheorie und des Empirismus: Inwieweit greifen in einen zunächst passiv verstandenen Wahrnehmungsprozess strukturierende Mechanismen ein? Die genetische Epistemologie spiegelt die bedeutende Einsicht, dass empirische Erkenntnis auf der grundlegendsten Ebene nicht auf Prozessen beruht, die sich in Begriffen von Sprache, Logik und Begründung fassen lassen, sondern auf eingespielten und verlässlichen natürlichen Prozessen (die aus heutiger Sicht Strukturerfassung, Merkmalanalyse und Gestaltgesetze umfassen). Damit sind für Aristoteles die tiefsten Grundlagen des Empirismus skizziert.

Wenn nun auf diese Weise für einen bestimmten Gegenstandsbereich möglichst viele Fakten gesammelt und mittels Induktionen in Behauptungen über universelle Fakten überführt worden sind, muss für den Aufbau einer guten Theorie in einem zweiten Schritt die Analyse und Synthese dieser Fakten erfolgen. Damit werden die Sätze über gefundene Fakten, wie beschrieben, in eine logische Ordnung gebracht. Es ist von großer Bedeutung, dass die Analyse grundsätzlich eine Bottom-up-Prozedur ist – von den Konklusionen hoch zu den Prämissen und gegebenenfalls zu den Prämissen der Prämissen, bis wir zu den unvermittelten Prämissen gelangen. (In der Syllogistik wurden die Zeilen formaler Beweise, wie in der heutigen Logik und Mathematik, vertikal von den höchsten Prämissen bis hinunter zur Konklusion geschrieben.) Diese Prozedur stellt [31]kein logisches Verfahren dar, denn im Allgemeinen können wir nicht von den Konklusionen rein logisch auf die Prämissen schließen. Vielmehr handelt es sich um eine kreative Theorienkonstruktion. Allerdings unterliegt die Auffindung der Prämissen zu einem gegebenen universellen Satz der logischen Bedingung, dass diese Prämissen den gegebenen Satz logisch herzuleiten gestatten. Diese logische Herleitung wurde später auch Synthese genannt, weil sie den gegebenen Satz, etwa AaB, aus den Prämissen, etwa AaC und CaB, »zusammensetzt«, z. B. in der Form A(a) – AaC, CaB – B. Eine vollzogene Analyse enthält also bereits einen Teil der Synthese, die dadurch komplettiert wird, dass wir aus den gefundenen Prämissen möglichst viele weitere Konklusionen über die Ausgangssätze hinaus ableiten. Dadurch entsteht ein komplexes logisches Netz von empirisch akzeptierten Sätzen über die Welt.

Aristoteles nennt den epistemischen Zustand, in dem wir uns befinden, wenn wir die Analyse für einen Untersuchungsbereich abgeschlossen haben, Einsicht (nous) (Metaph. IX 10, An. III 6). Dieser epistemische Zustand beinhaltet unter anderem die Kenntnis der höchsten unvermittelten Prämissen, die in der Analyse auftauchen (APo. I 23; I 33). Aber es wäre grundfalsch zu sagen, dass das Vermögen der Einsicht die Fähigkeit ist, unvermittelt die höchsten Prämissen zu erfassen, aus denen dann »top-down« alle Theoreme der Theorie logisch abgeleitet werden. Die Einsicht entsteht nicht am Beginn einer Synthese ohne vorherige Analyse, sondern am Ende von Analyse und Synthese. Man könnte sagen, dass am Ende von Analyse und Synthese die Theoreme einer Theorie axiomatisiert worden sind, denn sie sind in eine logische Ordnung [32]gebracht. Aber es handelt sich nicht um eine Axiomatisierung im modernen Sinne, die mit der Idee verbunden ist, die Menge der obersten Prämissen möglichst klein zu halten und damit den gesamten Inhalt einer Theorie in wenigen Theoremen zu komprimieren. Eine analytische Axiomatisierung im aristotelischen Sinn wird ungefähr ebenso viele oberste Prämissen wie unterste Konklusionen enthalten (APo. I 32). Ihr Ziel ist nicht Komprimierung, sondern im Gegenteil analytische Entfaltung des Gehalts der komplexeren Theoreme, so dass wir durchschauen können, aus welchen Elementen unser Untersuchungsbereich besteht und wie er aus diesen Elementen zusammengesetzt ist. Die leitende Idee der klassischen antiken Philosophie zur allgemeinen Struktur des Wissens kommt in diesem Entwurf also voll zum Tragen und wird im Detail ausgearbeitet.

Selbst eine vollständige und abgeschlossene Analyse und Synthese im bisher skizzierten Sinne bietet aber noch keine Erklärungen, denn sie verweist aus sich heraus noch nicht auf Ursachen. Zum Aufbau einer erklärungskräftigen Theorie ist jedoch auch die Erforschung der Ursachen erforderlich. Was sollen wir nun genauer unter Ursachen verstehen? Aristoteles entwickelt die historisch erste präzise Antwort auf diese Frage – die Theorie von den vier aristotelischen Ursachen. Wir dürfen allerdings aristotelische Ursachen nicht mit kausalen Ursachen im modernen Sinne verwechseln. Die moderne Standardtheorie zum Ursachenbegriff beruht auf der Idee, dass Ursachen (a) früher als ihre Effekte sind, (b) hinreichende Bedingungen für ihre Effekte sind und (c) in naturgesetzlichen Beziehungen zu ihren Effekten stehen. Wenn wir eine Ursache und das [33]entsprechende Naturgesetz kennen, können wir dieser Idee zufolge den Effekt vorhersagen.

Aristotelische Ursachen erfüllen diese Bedingungen nicht. Beispielsweise ist (i) das Faktum, dass Statuen aus Bronze sind, eine aristotelische Ursache für das Faktum, dass diese Statuen schwer sind; oder (ii) das Faktum, dass die Erde zwischen der Sonne und dem Mond steht, ist eine aristotelische Ursache für eine Mondfinsternis; oder (iii) die Erhaltung der Gesundheit ist eine aristotelische Ursache für Spaziergänge nach dem Essen oder vergleichbare Maßnahmen zur Förderung der Verdauung; und schließlich ist (iv) das Faktum, dass die Saite einer Laute im Verhältnis 1 : 2 geteilt wird, eine aristotelische Ursache für die Erhöhung des Tons um eine Oktave. Diese aristotelischen Ursachen sind nicht früher als ihre Effekte, und sie sind notwendig für ihre Effekte. Wenn wir eine aristotelische Ursache kennen, können wir im Allgemeinen ihre Wirkung nicht vorhersagen; eher können wir aus Effekten auf aristotelische Ursachen schließen (APo. II 11–17). Aristoteles’ Kernidee ist, dass jeder Verweis auf die Ursache einer Wirkung die Frage beantworten muss, warum die Wirkung zustande gekommen ist. Und seine These ist, dass es vier verschiedene Arten von Antworten auf Warum-Fragen gibt: Die eine Antwort verweist auf das Material der betrachteten Dinge (wie in Fall (i)), eine zweite auf den Bewegungsursprung (wie in Fall (ii)), eine weitere auf das Ziel (wie in Fall (iii)) und eine vierte auf die formale Struktur (wie in Fall (iv)). Dementsprechend sind nach Aristoteles vier Arten von Ursachen auszumachen: die materiale, die effiziente, die finale und die formale Ursache (APo. II 11; Phys. II 3).

[34]Der Begriff der finalen Ursache ist von der Frühen Neuzeit an heftig kritisiert worden. Der wichtigste Einwand lautete, dass finale Ursachen einen Einfluss zukünftiger Ziele auf frühere Ereignisse ausüben würden, und das scheint absurd zu sein. Dieser Einwand beruht aber auf einem tiefgreifenden Missverständnis der aristotelischen Ursachenlehre. Die allgemeinste Idee einer finalen Ursache sieht für Aristoteles so aus: Das Faktum »B kommt C zu« ist eine finale Ursache des Faktums »A kommt C zu«, falls es eine empirisch feststellbare reguläre Reihe von Zuständen der C-Dinge gibt, derart dass diese Zustände zunehmende Reifegrade darstellen und gewöhnlich mit der Entwicklung der B-Eigenschaft ihr reifstes Stadium erreichen, und wenn der Zustand »A kommt C zu« einer der früheren Zustände der Reihe ist, dessen Erreichen für die Realisierung des Ziels notwendig ist; man denke etwa an die Stadien der Entwicklung vom Hühnerembryo zum reifen Huhn, die Aristoteles selbst empirisch untersucht hat. Das ist eine der möglichen Erklärungen dafür, dass C-Dinge zuweilen die Eigenschaft A annehmen. Aber damit ist keinesfalls behauptet, dass das Endstadium einen zeitlich inversen Einfluss auf frühere Stadien ausübt. Man kann in diesem Sinne ohne Probleme von finalen Ursachen sprechen.7

Aristotelische Ursachen sind mit ihren Effekten zwar nicht über Naturgesetze verbunden (der Begriff des Naturgesetzes wurde erst von den Stoikern entwickelt), wohl aber über universelle empirische Regularitäten. Wenn »B kommt C zu« eine aristotelische Ursache für »A kommt C zu« ist, muss zugleich gelten, dass A allen Bs zukommt. Wenn beispielsweise das Material Bronze von erzernen Statuen eine aristotelische Ursache für ihr großes Gewicht [35]ist, muss natürlich dem Material Bronze großes Gewicht zukommen. Und wenn die Stellung der Erde zwischen Mond und Sonne eine aristotelische Ursache für die Mondfinsternis ist, dann muss die Verfinsterung jedes Sterns die Stellung eines undurchsichtigen Körpers zwischen Stern und Sonne implizieren.

Diese Bedingungen ermöglichen es gerade, den Verweis auf Ursachen in eine syllogistische Form zu gießen. Und damit kann Aristoteles den Begriff einer Demonstration an der Idee einer deduktiven Erklärung ausrichten: Der gültige Syllogismus AaB, BaC ⇒ AaC ist eine Demonstration oder wissenschaftliche Erklärung, wenn seine Prämissen für wahr gehalten werden dürfen und wenn die zweite Prämisse BaC als eine der aristotelischen Ursachen für die Konklusion AaC klassifiziert werden kann (APo. I 2). Im Allgemeinen sind die Konklusionen von Demonstrationen, wie bereits bemerkt, selbst universelle Fakten, die zunächst induktiv zu etablieren sind. Aber Aristoteles erkennt auch Demonstrationen singulärer Fakten an, obschon sie nicht so »schön« sind wie Demonstrationen von universellen Fakten (APo. II 11; I 24; I 34). Das singuläre Faktum beispielsweise, dass die Perser Athen militärisch angegriffen haben, lässt sich nach Aristoteles durch die beiden Prämissen demonstrieren, dass (a) eine mächtige selbstbewusste Militärmacht mit Krieg reagiert, wenn sie von einer schwächeren Stadt angegriffen wird, und (b) das schwächere Athen mit dem Angriff auf Sardis die Perser als mächtige, selbstbewusste Militärmacht attackiert hat. In Demonstrationen von singulären Fakten ist die aristotelische Ursache selbst ein singuläres Faktum.

Wenn wir uns an den oben skizzierten Beispielen [36](i)–(iv) orientieren, sehen einfachste Demonstrationen, also deduktive Erklärungen, die auf aristotelische Ursachen verweisen, so aus:

(i)* Statuen aus Metall sind schwer, weil (a) Bronze schwer ist und (b) Statuen aus Metall aus Bronze bestehen (Prämisse (b) verweist auf eine materiale Ursache); syllogistische Notation (mit a = kommt allen zu, b = kommt zu):

(a) schwer a aus Bronze bestehen

(b) aus Bronze bestehen a Statuen aus Metall

(c) schwer a Statuen aus Metall

(ii)* Der Mond ist zur Zeit t verfinstert, weil (a) immer wenn ein Stern am Himmel im Sonnenschatten der Erde liegt, verfinstert ist und (b) der Mond zur Zeit t im Sonnenschatten der Erde liegt (Prämisse (b) verweist auf eine effiziente Ursache); syllogistische Notation:

(a) verfinstert a im Sonnenschatten der Erde sein

(b) im Sonnenschatten der Erde sein b Mond zur Zeit t

(c) verfinstert b Mond zur Zeit t

(iii)* Die Verdauung erfordert Spaziergänge nach dem Essen usw. (usw. steht für: vergleichbare Empfehlungen der Mediziner zur Förderung der Verdauung), weil (a) die Erhaltung der Gesundheit Spaziergänge nach dem Essen usw. erfordert und (b) die Erhaltung der Gesundheit das Ziel der Verdauung des Essens ist (Prämisse (b) verweist auf eine finale Ursache); syllogistische Notation:

(a) Spaziergänge nach dem Essen usw. a Erhaltung der Gesundheit

[37](b) Erhaltung der Gesundheit a Verdauung des Essens

(c) Spaziergänge nach dem Essen usw. a Verdauung des Essens

(iv)* Eine Saite S produziert Töne in einer Oktave, weil (a) die Produktion von Tönen in einer Oktave die Teilung der Saite im Verhältnis 1 : 2 erfordert und (b) die Saite S im Verhältnis 1 : 2 geteilt wurde (Prämisse (b) verweist auf eine formale Ursache); syllogistische Notation:

(a) Produktion von Tönen in einer Oktave a Teilung im Verhältnis 1:2

(b) Teilung im Verhältnis 1:2 b Saite S

(c) Produktion von Tönen in einer Oktave b Saite S

In allen diesen Beispielen ist (i) der Schluss von den Prämissen (a) und (b) auf die Konklusion (c) ein logisch gültiger Syllogismus, (ii) der kursiv geschriebene Begriff der Mittelbegriff, und (iii) Prämisse (b) die Prämisse, die auf eine aristotelische Ursache verweist (mit dem Mittelbegriff als erklärender Eigenschaft). Im Übrigen erklären die Demonstrationen (i)* und (iii)* universelle Fakten, die Demonstrationen (ii)* und (iv)* dagegen singuläre Fakten.

Damit hatte Aristoteles das Konzept der deduktiven wissenschaftlichen Erklärung erfunden.

Wir können nun den letzten Schritt im Aufbau einer wissenschaftlichen Theorie, wie Aristoteles sich ihn vorstellt, leicht beschreiben: Unter allen Deduktionen, die in einer vollständigen Analyse auftauchen, müssen diejenigen ausgewählt werden, die zugleich Demonstrationen und damit deduktive wissenschaftliche Erklärungen sind – deren zweite Prämisse sich folglich als eine der aristotelischen Ursachen klassifizieren lässt.

[38]Aristoteles bemerkt des Öfteren, dass die Einsicht in die obersten Prinzipien oder Definitionen das höchste Ziel wissenschaftlicher Aktivität ist und dass sich die obersten Prinzipien oder Definitionen nicht selbst noch einmal demonstrieren lassen (APo. I 2; II 19). Wir dürfen diese logisch triviale Bemerkung nicht missverstehen – so als wollte er sagen, dass wir die obersten Prinzipien und Definitionen direkt und unmittelbar, also ohne weitere rationale Begründung, erfassen könnten. Ganz im Gegenteil können wir sie nach Aristoteles nur am Ende eines zum Teil langen Begründungsganges erkennen.

Allerdings unterscheidet er verschiedene Arten von Prinzipien (APo. 1 2). Die wichtigste Art sind die obersten erklärungskräftigen Prämissen, die an der Spitze einer ausgearbeiteten wissenschaftlichen Theorie stehen. Einige dieser Prinzipien nennt Aristoteles auch Definitionen, und zwar jene, die syllogistisch konvertieren und somit wahre syllogistische Sätze der Form AaB sind, für die auch die Umkehrung BaA wahr ist. Natürlich handelt es sich dabei nicht um Definitionen im modernen Sinne – also nicht um bloße analytische Sätze oder Analysen von Wortbedeutungen, sondern um empirisch oder mathematisch gehaltvolle Sätze über die Welt. Prinzipien dieser Art können trivialerweise nicht selbst demonstriert werden, d. h., sie könnten nicht innerhalb der Theorienkonstruktion deduktiv erklärt werden. Aber ein Erfassen dieser Prinzipien setzt ersichtlich die Konstruktion einer abgeschlossenen Theorie voraus; erst nach der Theorienkonstruktion können wir erkennen, welche universellen Sätze in ihrem Gegenstandsbereich Definitionen sind. Daher sind genau diejenigen vielfältigen Gründe, die für die Konstruktion und [39]Annahme einer Theorie im Ganzen sprechen, auch die Gründe, die dem Postulat ihrer Definitionen zugrunde liegen. In diesem Sinne ist das Erfassen dieser Art von Definitionen nicht unbegründet. Aristoteles bemerkt ausdrücklich, dass die Angabe oberster Definitionen und oberster erklärungskräftiger konvertierbarer Prämissen in Analysen auf dasselbe hinausläuft (APo. II 10).

Wenn wir eine wissenschaftliche Theorie konstruieren, müssen wir nach Aristoteles auch davon ausgehen können, dass die fundamentalen Gegenstände, die mithilfe der Theorie untersucht werden sollen, tatsächlich existieren: etwa das Heiße und Kalte in der Physik, die natürlichen Arten von Tieren in der Biologie oder Kreis und Gerade in der Geometrie (APo. I 10). Prinzipien dieser Art heißen Hypothesen. Im Einzelfall sind auch die Hypothesen begründungsbedürftig – als Existenzannahmen naheliegenderweise im Rahmen der ersten Philosophie oder Ontologie. Beispielsweise ist es Aufgabe der Ontologie zu zeigen, ob und in welchem Sinne fundamentale geometrische Gegenstände oder lebende Organismen existieren (Metaph. XIII).

Und schließlich benutzen wir zum Aufbau einer Theorie logische Regeln, gelegentlich auch mathematische Formeln. Diese Voraussetzungen sind im Gegensatz zu Definitionen und Hypothesen nicht spezifisch für bestimmte Wissenschaften oder Theorien, sondern kommen gleichermaßen in allen Wissenschaften vor. Prinzipien dieser dritten Art nennt Aristoteles Postulate (griechisch Axiome). Ihre Begründung erfolgt im Rahmen der formalen Logik und Mathematik.

Von allen drei Prinzipienarten lässt sich also sagen, dass sie zwar nicht demonstrierbar und in diesem strengen [40]Sinne nicht erklärbar sind, dass sie aber in einem weniger strengen Sinne nicht nur begründbar, sondern sogar begründungsbedürftig sind. Von einem unmittelbaren Erfassen der Prinzipien kann im Rahmen der aristotelischen Wissenschaftstheorie nicht die Rede sein.

Aristoteles war zweifellos davon überzeugt, dass es selbst für endliche menschliche Wesen prinzipiell möglich ist, die Wahrheit und oberste Prinzipien zu erfassen; in diesem Sinne war er kein Skeptiker. Zugleich betont er jedoch, dass es schwierig ist zu wissen, ob wir etwas wirklich wissen (APo. I 9). Tatsächlich vertritt er die Auffassung, dass endliche menschliche Wesen in ihrem ehrlichen Bemühen um Wissen in der Regel einer Reihe von Irrtümern ausgesetzt sind und nie endgültig sicher sein können, die Wahrheit ein für alle Mal erfasst zu haben. Im einfachsten Fall können wir induktiv etablierte universelle Sätze der Form AaB nur so lange für wahr halten, wie wir empirisch kein B-Ding entdecken, das nicht A ist. Und wenn wir behaupten, dass eine universelle Prämisse der Form AaB unvermittelt, d. h. nicht weiter deduzierbar oder demonstrierbar ist, dann können wir diese Behauptung nur so lange aufrechterhalten, wie wir empirisch keine Eigenschaft C entdecken derart, dass die universellen Sätze AaC und CaB wahr sind. Sofern wir also nicht allwissend sind und einige Fakten im Kosmos noch nicht kennen – und davon ging Aristoteles mit Sicherheit aus (APo. I 12, 78a) –, können wir nicht ausschließen, dass sich unsere bislang empirisch gut gestützte Behauptung, universelle Sätze seien wahr oder unvermittelt, aufgrund der Entdeckung weiterer Fakten am Ende noch als falsch erweist.

Aristoteles hat sich auch mit der Logik der Widerlegung [41]universeller Sätze beschäftigt: mit dem Irrtum durch Deduktion (APo. I 16–17). Wenn wir aus zwei Prämissen in logisch korrekter Weise eine Konklusion deduzieren, die sich als falsch erweist, dann, so Aristoteles, können nicht beide Prämissen zugleich wahr sein. In diesem Fall müssen wir zu klären versuchen, welche der beiden Prämissen falsch ist. Tatsächlich verwendet Aristoteles verschiedentlich selbst dieses Widerlegungsverfahren, indem er gegen gewisse Theorien seiner Vorgänger geltend macht, dass aus diesen Theorien falsche Konklusionen logisch korrekt folgen (Cael. III 7, 306a; II 13, 293a; II 14, 297a; Metaph. XII 8, 1073b–1074a). Und er weist auf eine Reihe weiterer Fehlerquellen beim wissenschaftlichen Arbeiten hin, von denen nicht alle leicht zu entdecken sind, beispielsweise auf zirkuläre Demonstrationen (APo. I 3), auf die Etablierung von Definitionen unabhängig von geeigneten Demonstrationen (APo. II 3–7), auf die falsche Meinung, platonische Begriffsteilungen wären logisch gültige Schlüsse (APo. II 5), oder auf die unzutreffende Vorstellung, es gäbe für jedes universelle Faktum genau eine einschrittige Demonstration (APo. II 16–18).

In den Analytiken findet sich auch die These, dass eine wissenschaftliche Theorie Prinzipien aufstellt, die immer wahr und unvermittelt sind, und dass das, was wahr ist, sich nicht als falsch erweisen kann (APo. I 2, 72a; II 19, 100b). Diese These beschreibt das Ideal einer perfekten wissenschaftliche Theorie. Gerade im Blick auf dieses Ideal können wir nach Aristoteles aber einsehen, dass wir als endliche menschliche Wesen stets in einer fragilen epistemischen Situation sind, die das Scheitern unserer Wissensansprüche niemals endgültig auszuschließen gestattet. [42]Unsere konkrete epistemische Situation in aktiver Forschung wird durch methodische Praktiken strukturiert, die dafür sorgen sollen, dass wir unsere Wissensansprüche möglichst gut begründen und eventuelle Fehler möglichst schnell entdecken können. Die Beschreibung der idealen Wissenschaft ist mit der fallibilistischen Diagnose unserer epistemischen Situation durchaus vereinbar.

Eine der verblüffendsten Entwicklungen der Aristoteles-Rezeption seit dem Mittelalter ist die axiomatische Lesart seiner Epistemologie und Wissenschaftstheorie. Dieser verbreiteten Lesart zufolge soll Aristoteles behauptet haben, dass wir uns der Wahrheit der obersten Prinzipien einer Wissenschaft durch das spezifische Vermögen der Einsicht unmittelbar und endgültig versichern und dann alle Theoreme aus den obersten Prinzipien deduktiv ableiten können – so dass sich auf diese Weise auch die Wahrheit aller Theoreme endgültig sichern lässt. Wir haben jedoch gesehen, dass diese Lesart falsch ist. Ihr Fehler besteht darin, nicht zwischen Wissensideal und konkreter epistemischer Situation bei Aristoteles zu unterscheiden und Bemerkungen über das Wissensideal als Aussagen über unsere konkrete epistemische Situation misszuverstehen. Bereits Aristoteles war im weitesten Sinne wissenschaftstheoretischer Fallibilist. Und auch die moderate fallibilistische Einstellung in der Wissenschaftstheorie zählte er zur Bildung – die Wissenschaftstheorie ist so wenig wie Topik oder Logik eine spezielle Wissenschaft. Wir können Aristoteles selbst kaum dafür verantwortlich machen, dass er viele Jahrhunderte lang – vermutlich unter dem Einfluss des christlichen Denkens – fälschlicherweise als epistemologischer Dogmatiker begriffen worden ist. Mit seiner [43]innovativen moderaten Epistemologie und Wissenschaftstheorie hat er entgegen dieser Deutung vielmehr die sokratische Proklamation des Wissens unseres Nichtwissens mitsamt ihrer argumentativen Technik im logischen Raum der Gründe (und damit im Raum der Bildung) auf theoretisch brillante und nachhaltige Weise umgesetzt. Seine wissenschaftstheoretische Position lässt sich am besten als nicht-fundamentalistischer logischer (genauer: syllogistischer) Empirismus kennzeichnen.

Aristoteles. Eine Einführung

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