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1.2 Enkyklios Paideia und Artes Liberales – Das hellenistisch-römische Bildungssystem

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Obgleich am Anfang der pythagoreischen Mathematik das Studium der Zahlen steht, haben die Mathematiker unter den Pythagoreern schon früh damit begonnen, ihre Studien auf andere Gebiete auszudehnen. Am Beginn des 5. Jahrhunderts n. Chr. schreibt der griechische Neuplatoniker Proklos Diadochos, vorletzter Leiter der platonischen Akademie in Athen, in seinem Kommentar zum 1. Buch der „Elemente“ Euklids:

„So schien es den Pythagoreern richtig, die gesamte mathematische Wissenschaft in vier Teile zu zerlegen. Der einen Hälfte weisen sie das ‚Wie viel’ zu, der anderen Hälfte das ‚Wie groß’, und jede dieser Hälften teilen sie wiederum in zwei. Das ‚Wie viel’ [die Zahl] kann nämlich entweder für sich betrachtet werden oder [im Verhältnis] zu einer anderen [Zahl], und die Größe kann in Ruhe oder in Bewegung sein. Die arithmetische [Wissenschaft] betrachtet die Zahl für sich, die Musikwissenschaft ihr Verhältnis zu einer anderen Zahl, die Geometrie die Größe in Ruhe, die Sphärik [Astronomie] die Größe in Bewegung“ (Proclus, 1. Vorrede, S. 188).

Diese von Proklos aufgezählten vier mathematischen oder pythagoreischen Wissenschaften Arithmetik, Musik (Harmonielehre, vgl. 4.2), Geometrie und Astronomie gehörten seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. zum Grundbestand der enkyklios paideia, dem Kreis des Wissens, des Wissenswerten und Wissensnotwendigen. Mit diesem Begriff wurde teils die Propädeutik für die höheren Studien in der Philosophie, teils die Allgemeinbildung schlechthin umschrieben. Inhaltlich unterlag der Kanon im Laufe der Jahrhunderte freilich starken Schwankungen. Neben den genannten vier Fächern nahmen bereits seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. im Unterricht der Sophisten Rhetorik und Dialektik (Logik), später auch Grammatik, eine bedeutende Stellung ein, und in dieser Siebenzahl hielten die Fächer Einzug in das griechisch-hellenistische, und – im Zuge der Hellenisierung der römischen Kultur seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. – auch in das römische Schulsystem. Für die Gelehrten des Frühmittelalters bildeten sie den Inbegriff der Wissenschaft schlechthin, einen Kanon, dem nichts hinzuzufügen war, der aber auch keine Einschränkung duldete.

Bei den Römern wurden diese sieben Wissenschaften die septem artes liberales genannt, die „sieben freien Künste“. Wie die Bezeichnung schon andeutet, handelte es sich dabei keineswegs um einen Bildungskanon für alle Schichten der römischen Gesellschaft. So klärt Seneca (4 v. Chr. – 65 n. Chr.) uns darüber auf, dass diese Wissenschaften deshalb liberal genannt werden, weil sie allein „eines freien Mannes würdig sind“. Ihnen gegenüber stehen die praktischen Kenntnisse und Fähigkeiten, die Cicero die artes illiberales, auch artes sordidae, (niedrige, unedle Künste) nennt, die der Fachbildung zugerechnet und gegen Bezahlung ausgeübt werden. Statt ars war auch das Wort disciplina verbreitet, beide Vokabeln im Sinne von Lehrgegenstand oder auch Wissenschaft.

Die drei sprachlichen Fächer wurden im Mittelalter unter der Bezeichnung Trivium, Dreiweg, zusammengefasst, die vier mathematischen unter dem Namen Quadrivium, Vierweg.

Die Übernahme griechischen Bildungsgutes in den römischen Kulturkreis ging anfangs keineswegs konfliktfrei vonstatten. Ein frühes Zeugnis dafür ist eine Schrift, die Cato der Ältere (234–149 v. Chr.) seinem Sohn gewidmet hat. Sie handelt in vier Büchern von Landwirtschaft, Medizin, Rhetorik und Kriegswesen. In diesen Disziplinen traditioneller römischer Kultur wollte Cato seinen Sohn erziehen; keinesfalls wollte er dessen Erziehung – und die Erziehung der römischen Jugend allgemein – griechischen Lehrern überlassen. Cato war entschieden dagegen, dass die traditionelle römische Kultur von griechischer Philosophie und Wissenschaft durchdrungen oder gar überlagert werde.

Auf die Dauer konnten es die konservativen Kräfte dennoch nicht verhindern, dass das griechische Bildungsgut zu einem integrierten Bestandteil der römischen Kultur wurde. In der Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. war dieser Inkulturationsprozess im Wesentlichen abgeschlossen. Von da an wurde die Überzeugung vom Sinn und von der Notwendigkeit einer Ausbildung in den freien Künsten bis zum Ende der Antike im Prinzip aufrecht erhalten und an das Mittelalter weitergegeben. Vitruv (ca. 55 v. Chr.–14 n. Chr.) singt in seinem berühmten Werk De architectura libri decem (vgl. 1.3) ein geradezu überschwängliches Loblied auf die griechischen Philosophen, denen man

„[…] nicht nur Palmen und Kränze verleihen müsste, sie müssten für würdig befunden werden, dass man ihnen einen Platz unter den Göttern anweise“ (Vitruvius, S. 292).

Die Praxis sah allerdings anders aus. Das Interesse der Römer, die theoretischen – insbesondere die mathematischen – Wissenschaften um ihrer selbst willen zu studieren, war durchweg gering.

Das hatte verständlicherweise Konsequenzen für das Niveau des Schulunterrichtes. Zwar gab es etwa in der Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. ein erstes Lehrbuch über die freien Künste in lateinischer Sprache, ob es aber tatsächlich für Unterrichtszwecke verwandt worden ist, ist zweifelhaft. Marcus Terentius Varro (116–27 v. Chr.), der auf Grund seiner zahlreichen Schriften lange Zeit als der gebildetste Römer galt, hat es unter dem Titel De disciplinis libri IX zusammengestellt. Die Zahl IX im Titel erklärt sich daraus, dass das Werk außer den sieben freien Künsten noch Medizin und Architektur beinhaltet. Seit dem Ende des Römischen Reiches ist dieses Werk verloren; über seinen Inhalt bestehen bei Historikern auch heute noch Zweifel. Von den vielen anderen Schriften Varros sind immerhin einige Fragmente erhalten geblieben. In ihnen finden sich auch geometrische Berechnungen, die zu den ältesten Stücken römischer Mathematik gehören dürften.

Über den Umfang und die Inhalte der schulischen Bildung in der griechischen und römischen Welt gibt es keine wirklich zuverlässigen, verallgemeinerungsfähigen Nachrichten. Henri Marrou zeichnet in seiner „Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum“ in etwa das folgende (nicht unumstrittene) Bild: Ein Elementarunterricht in den Grundfertigkeiten, die für die Angelegenheiten des täglichen Lebens einer bäuerlich geprägten Gesellschaft erforderlich sind – darunter Lesen, Schreiben und Rechnen –, gab es von alters her, noch bevor die Römer mit der griechischen Kultur in Berührung kamen. Er wurde vornehmlich durch Privatlehrer erteilt und war demzufolge den Kindern der höheren Gesellschaftsschichten vorbehalten. Auch in späterer Zeit war der Privatunterricht in diesen Kreisen beliebt, und er hielt sich bis zum Ende des Römischen Reiches.

Einen öffentlichen Schulbetrieb hat es mindestens seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. gegeben. In den folgenden Jahrhunderten wurde er sowohl hinsichtlich des Lehrstoffes als auch der Organisationsform ganz am hellenistischen Schulsystem ausgerichtet. Nach Absolvierung der Elementarausbildung gab es die Möglichkeit, zu einem grammaticus in die höhere Schule zu gehen. Diese Schulstufe hat ihre endgültige Form am Beginn der Kaiserzeit unter Augustus erreicht. Der Unterricht war hier ganz überwiegend literarisch geprägt: Grammatik, Stilübungen, Lesen und Erklären von Werken der Dichter; aber auch Geschichte und Geographie gehörten zum Lehrstoff.

Die letzte Phase der höheren Schulbildung war ganz und gar durch die Rhetorik geprägt. Hier erhielt der Student die Ausbildung in der Redekunst, im Recht und in dem, was er sonst noch für ein öffentliches Amt benötigte. Der gebildete Römer war der Rhetor.

Berühmte und einflussreiche Rhetoriklehrer haben dem Kanon der freien Künste eine allgemeine Bildungsfunktion zugemessen und sich dadurch verdient gemacht, dass in den römischen Schulen die mathematischen Fächer neben den sprachlichen einen, wenn auch bescheidenen, Platz fanden; über mehr als ein nur in Ansätzen verwirklichtes Ideal sind diese Bemühungen aber nie hinausgekommen.

In seinem vielgelesenen Werk „Über die Ausbildung des Redners“ setzt sich der Rhetoriklehrer Quintilianus (um 35–95 n. Chr.) mit einem Argument, das auch heutigen Mathematiklehrern noch geläufig ist, dafür ein, dass

„[…] die Knaben, ehe sie zum Redelehrer gegeben werden, in den freien Künsten unterwiesen werden sollen, weil es den Geist in Bewegung setzt, den Scharfsinn entfaltet und dadurch zur schnelleren Auffassung führt, damit der Kreis des Wissens sich schließe, den die Griechen [enkyklios padeia] nennen“ (Quintilianus, S. 127).

Am Beispiel der Geometrie argumentiert er:

„Die Geometrie bildet zugestandenermaßen eine nützliche Aufgabe für das zarte Jugendalter: denn dass sie den Geist in Bewegung setzt, den Scharfsinn entfaltet und dadurch zur schnelleren Auffassung führt, gibt man zu, jedoch glaubt man, sie nütze nicht, wie die anderen Fächer, wenn man sie beherrscht, sondern nur, während sie erlernt wird. Aber nicht ohne Grund haben die bedeutendsten Männer dieser auch ihre volle Kraft gewidmet. Denn von den zwei Bereichen, in die die Geometrie sich gliedert, den Zahlen und den Figuren, ist ja die Kenntnis der Zahlen nicht nur für den Redner, sondern für jeden, der die Anfangsgründe der Bildung besitzt, notwendig“ (Ebd., S. 141).

Dass hier die Zahlen als Teil der Geometrie genannt werden, hat seinen Grund darin, dass Geometrie, wie das Wort in der ursprünglichen Bedeutung als „Erdvermessung“ schon sagt, mit Messen zu tun hat.

Als Rhetoriklehrer behandelt Quintilianus die freien Künste (das Werk bietet auch ein ausführliches Kapitel über Musik und einige Bemerkungen über Astronomie) verständlicherweise im Kontext der Ausbildung des Redners. Unabhängig davon misst er ihnen aber auch, wie die obigen Zitate belegen, eine allgemeinbildende Funktion zu und verweist sie in das Curriculum der höheren Schule.

Der berühmteste und einflussreichste Rhetoriklehrer war zweifellos Cicero (106–43 v. Chr.). Obgleich er seine Bildung zum großen Teil in Griechenland erhalten hatte, hatte er in den Quadriviumsfächern nur geringe Kenntnisse (was auch ein Schlaglicht auf den Stand des Unterrichts bei den Griechen seiner Zeit wirft). Seine Einstellung zu einer umfassenden Allgemeinbildung im Sinne der artes liberales war zwiespältig. Einerseits bezeugt er eine große Hochachtung vor den griechischen Wissenschaften und beklagt, dass seine römischen Landsleute nichts Vergleichbares zustande gebracht und auch gar nicht angestrebt hätten:

„Bei den Griechen hat die Geometrie in höchsten Ehren gestanden; deshalb ist nichts glänzender als ihre Mathematiker: bei uns ist diese Kunst beschränkt auf den Nutzen des Rechnens und Ausmessens“ (Cicero 1991, S. 57).

Bei anderer Gelegenheit lässt er aber keinen Zweifel daran, dass das Quadrivium – zumindest für den Rhetor – ersetzbar ist und die literarischen Studien absolute Priorität haben:

„Mag der Redner auch den Stoff der anderen Künste und Wissenschaften nicht kennen und nur das verstehen, was zu den Rechtserörterungen und zur gerichtlichen Übung erforderlich ist, so wird er doch, wenn er über diese Gegenstände reden soll, sobald er sich bei denen Rat geholt hat, die das, was jeder Sache eigentümlich angehört, kennen, als Redner weit besser darüber reden als selbst jene, die diese Gegenstände berufsmäßig treiben“ (Cicero 1873, I, XV. 64).

Für diejenigen, „die diese Gegenstände berufsmäßig treiben“, wie Cicero sagt, gab es Handbücher, die der Ausbildung des Nachwuchses dienten. Diese Werke, von denen wir im nächsten Abschnitt einige genauer behandeln werden, haben sich als die wichtigsten Quellen für die römische Mathematikgeschichte erwiesen. In ihnen finden sich naturgemäß vornehmlich Anwendungsaufgaben, häufig ist aber auch ein beträchtlicher Teil der theoretischen Mathematik gewidmet. Man kann hieraus den Schluss ziehen, dass es den Römern nicht vollständig an Interesse für die theoretischen Zweige der Mathematik fehlte, solange nur ein Bezug zur Praxis angenommen werden konnte. Noch Cassiodor bemerkt im 6. Jahrhundert n. Chr. zum Unterricht im Quadrivium (vgl. 2.2), die Ankündigung eines Kollegs über Arithmetik habe einen leeren Hörsaal zur Folge, und ein Geometriekurs werde nur von Spezialisten besucht; dagegen seien angewandte Wissenschaften wie die Landvermessung sehr beliebt, weil sie praktisch sind und einen Bezug zum Leben haben (Ullmann, S. 266).

Die Mathematik im Mittelalter

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