Читать книгу Der Steinzeitmensch in uns - Wie uralte Programme uns unbewusst steuern, wir aber trotzdem zivilisiert sein können - Wolfgang Issel - Страница 6
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Der menschliche Geist ist das Höchste, was die Natur jemals hervorgebracht hat: hoch entwickelte Technik, Internet, Smartphones, medizinische Fortschritte, Kultur, das erwachende Gefühl für die Natur … Das hat alles seinen Preis, sodass die Belastung am Arbeitsplatz und der Bedarf an Koordination in der Familie ebenfalls wächst und schließlich zum Stress wird. Es spricht auch nicht gerade für einen hohen Intelligenz-Level, sich mit einer weltweit wachsenden Bevölkerung die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen zu erlauben, ohne deren Endlichkeit zu berücksichtigen, mit dem Risiko, Mensch und Natur durch Klimawandel und Auseinandersetzungen um die immer knapper werdenden Ressourcen in Gefahr zu bringen.
Wird die natürliche Intelligenz des Menschen ausreichen, die ungelösten gesellschaftlichen und globalen Probleme zu lösen? Es gibt ohne Zweifel große Entwicklungsschritte, die aber an eine mentale Grenze stoßen: Irgendwie geht es nicht weiter, es fehlen Überblick und langfristiges Denken und Handeln, ganz abgesehen von einer schlüssigen Zukunftsvision. Wo wollen wir hin?
Im krassen Gegensatz zur Realität schwärmen manche von einem Geist, der so erhaben sei, so emergent, dass er durch banale Tätigkeiten von Neuronen und Synapsen nie und nimmer repräsentiert werden könne.
Alles nur Einbildung, hätte man früher gesagt. Einbildung ist, was das eigene Gehirn seinem Träger Mensch als angebliche Realität vorspiegelt. Ist diesem Trugbild zu trauen? Fern der Realität merkt der zu sehr Vergeistigte nicht, dass sein eigenes Gehirn ihn an der Nase herumführt, er zu lange versäumt hat, sich selbst zu reflektieren, sich an der Realität zu orientieren und sich einmal wieder richtig zu erden. Es ist aber auch verständlich, lieber weiter in einer eingebildeten rosaroten Blase leben zu wollen, als mit der Realität eine harte Landung zu riskieren …
Wir können nicht nur von Geist, Verstand und Vernunft sprechen. Gefühle haben schon deswegen einen weit höheren Stellenwert, weil der Mensch ohne seelisch tragende Gefühle gar nicht leben kann. Gefühle sind Signale des Organismus, wie es um ihn bestellt ist. Aber nur nach momentanem Gefühl und aus dem Bauch heraus zu agieren, ist keine gute Idee, dabei wird oft zu kurz gedacht, vielleicht übertrieben und das meist mit zu viel Flurschaden. Es ist auch ein gerüttelt Maß an Verstand und Vernunft erforderlich, die eigentliche Stärke des Menschen, worin er sich ja am meisten vom Tier unterscheidet. Ist also natürliche Intelligenz im Zusammenwirken von Gefühl und Verstand die Lösung der anstehenden Probleme? Wird das reichen oder ist tatsächlich die Hilfe einer künstlichen Intelligenz vonnöten, weil der Mensch aufgrund seiner oft grenzwertig geforderten althergebrachten Auslegung diese Unterstützung dringend braucht?
Wie kommt man zu solchen Fragen?
Sobald man an Programmen für menschenähnliche Roboter arbeitet und sich bei deren Auslegung am Menschen orientiert, muss man sich notgedrungen die Frage stellen, inwieweit sich die prinzipielle Arbeitsweise eines menschlichen Gehirns von der Steuerung eines menschenähnlichen Roboters unterscheiden sollte.
Humanoide Roboter sind in ihrem Verhalten dem Menschen nachempfunden und sollen vorgegebene Aufgaben erfüllen, z. B. Menschen im Altersheim informieren und unterhalten oder Patienten vor einer MRT-Untersuchung (Magnet-Resonanz-Tomografie) aufklären. Gerade wenn es sich um seelisch besonders belastende Situationen handelt, kommt es sehr auf eine einfühlende und beruhigende Ansprache an, die zukünftig mit digitaler Empathie erreicht werden soll.
Roboter werden von einer Software gesteuert, die sie befähigt, das ihnen Aufgetragene bestmöglich auszuführen. Sollte das in ähnlicher Weise auch für den Menschen gelten? Wenn ja, dann wäre der Roboter eben aus Metall, der Mensch aus Fleisch und Blut. Beide würden von Programmen und Algorithmen gesteuert. Könnte das sein? Und wenn ja, nach welchen Prinzipien würde ein menschlicher Algorithmus arbeiten? Das wollen wir herausfinden.
Was ist eigentlich ein Algorithmus?
Laut Wikipedia ist ein Algorithmus eine eindeutige Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems. Es folgen weitere Bedingungen wie Lösung in endlich vielen, wohldefinierten Einzelschritten.
Diese mathematische Definition mag für die Bereiche Computer und Roboter gelten, will man das aber auf den Menschen übertragen, gibt es ein grundsätzliches Problem: Bei einem lebenden Organismus ist nichts eindeutig und schon gar nichts wohldefiniert. Bis auf ein paar Zwillinge gleicht kein Produkt dem anderen. Die Natur arbeitet im Gegensatz zur Technik mit riesengroßer Streuung in den Eigenschaften und Fähigkeiten ihrer Lebewesen. Anders als beim Roboter mit seinen festen Algorithmen sollte es sich beim Menschen – wenn überhaupt – also um einen weit umfassenderen und höchst anpassungsfähigen Algorithmus handeln.
Wie könnte man sich einen biologischen Algorithmus zur Steuerung eines Menschen modellhaft vorstellen?
Ein Bio-Algorithmus?
Im Gehirn findet sich zwar der größte Teil der Neuronen (Nervenzellen) konzentriert und durch den knöchernen Schädel gut geschützt, Neurone und ganze Neuronen-Netze finden sich aber auch als Niederlassungen rundum im Körper verteilt. Fast der gesamte Magen-Darm-Trakt wird vom enterischen Nervensystem durchzogen, das als eigenständiger Funktionsteil z. B. die Verdauung steuert und – falls nicht anderweitig beeinflusst oder gestört – sogar autonom arbeiten kann.
Eine Unzahl von Sensoren verteilen sich auf alle Körperregionen. Da sind nicht nur Augen, Ohren, Geruchs- und Geschmackssinn als primäre Sinne gemeint, auch die Hautoberfläche und das Körperinnere sind mit einer gewaltigen Zahl von Sensoren ausgestattet. Berührungen von sanftem Streicheln bis hin zu schmerzhaftem Druck werden ihrer Stärke entsprechend wahrgenommen. Temperatursensoren in der Haut lassen vor der heißen Herdplatte zurückschrecken und jedes kleine Härchen am Körper lässt auch den feinsten Luftzug spüren. Und wenn ein geblähter Darm Bauchschmerzen verursacht, mahnt er damit, in Zukunft nicht mehr so viel Apfelsaft auf einmal zu trinken. Niederdrückende Gedanken können als seelische Belastung auf den Magen schlagen, obwohl es ihm rein körperlich bestens gehen sollte.
Seelische Nöte oder unbewältigte Ängste setzen den Organismus also unter Stress, bringen ihn von seiner normalen Funktion ab und lösen auf Dauer körperliche und seelische Fehlfunktionen bis hin zum Burn-out aus. – Was jetzt? Alles beeinflusst alles. Wer hat nun das Sagen und bestimmt das Verhalten? Ist es der Körper, das gute Bauchgefühl, auf das manche schwören? Oder diktiert eine Seele das Vorgehen?
Auf den ersten Blick ist das verwirrend und es gilt, ein Gedankenmodell zu entwerfen, mit dem man sich mehr Überblick über die Abläufe verschaffen kann:
Angenommen dein Körper ist gesund, gut versorgt, fit und auch nicht hungrig, dann würden alle Organe gut koordiniert und automatisch arbeiten. Wenn alles in Ordnung ist, nimmst du kein Organ bewusst wahr: Der Herzschlag interessiert dich nicht, Magen, Darm, Leber, Nieren tun ihre Arbeit. Wärst du nun auch noch im seelischen Gleichgewicht, hättest keine unmittelbaren Probleme und keine offenen Bedürfnisse, die dich beunruhigen, dann wäre die Welt für dich und deinen Organismus rundum in Ordnung. Du fühlst dich also entspannt im Liegestuhl im Grünen und lässt die ganze körperliche und seelische Chose unbewusst auf Autopilot laufen, es gibt ja auch keinen Grund, sich Gedanken zu machen oder aktiv zu werden. Weil dein Gehirn Beschäftigung sucht, mag es sein, dass es dich sogar ein wenig kreativ herumspinnen lässt, was du noch alles tun könntest, z. B. Gleitschirmfliegen, einen Kochkurs machen oder endlich die Modelleisenbahn im Keller aufbauen. Du lebst im Hier und Jetzt mit kleinen Ausflügen in die Zukunft. Nach ausführlichem Chillen hantierst du, nun hungrig geworden, vielleicht in der Küche und schnippelst, von der Problemlosigkeit noch immer reichlich eingelullt, irgendein Gemüse, passt nicht auf und … schneidest dich nur ein ganz klein wenig in den Finger. Es blutet wirklich nur ein bisschen.
Blut zu sehen wirft deine bislang heile Welt nun schlagartig über den Haufen. Auf dieses kleine Schnittchen hin wirst du bereits chaotisch. Da du kein Blut sehen kannst, das eigene schon gar nicht, musst du dich extrem zusammenreißen, um nicht wegen dieser Lappalie umzukippen. Unversehens ergießen sich Stresshormone in dein Blut, dein Herzschlag beschleunigt sich, dein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen, deine Verdauung hält inne und du hast plötzlich ein ganz mieses Gefühl im Bauch – denn auch dein Selbstwertgefühl hat einen heftigen Dämpfer bekommen, weil du dich so blöd angestellt hast: Ich bin verletzt! Hilfe! Mit der Ausgeglichenheit ist es aus und vorbei und zu allem Überfluss fragt dich dein Verstand, warum du keinen Schutzhandschuh getragen hast, der schon lange griffbereit in der Schublade liegt, genau für solche Schussel wie dich konzipiert.
Um wieder runterzukommen, den seelischen Dämpfer auszugleichen und dich selbst zu trösten, genehmigst du dir nach dem eiligen Verpflastern einen doppelten Schnaps.
Ein zweites Mal rekelst du dich symbolisch im gleichen Liegestuhl, da drängt sich mit Macht ein beunruhigender Gedanke in dein Bewusstsein: War da nicht eine Rechnung, die du unbedingt termingerecht hättest überweisen sollen? Der Ärger, die Aussicht auf Mahnkosten und die Enttäuschung über deine Vergesslichkeit: Das hätte nicht sein müssen. Diesmal reagierst du nicht aus dem Bauch heraus, sondern es ist dein Verstand, der dir den Fehler anlastet. Trotzdem die gleiche Reaktionsfolge: Stresshormone im Blut und körperlich-seelische Reaktionen wie zuvor beim Schnitt in den Finger, aber diesmal mental ausgelöst.
Oder der Klassiker: Ein inneres Bedürfnis tritt auf. Du kannst chillen, so lange du willst, aber irgendwann wirst du zumindest Hunger bekommen. Spätestens wenn dein Magen knurrt, ist es aus mit deiner Ausgeglichenheit: Unruhe erfasst dich und du bist nicht mehr du selbst, wenn du Hunger hast. Wieder treten Stresshormone auf den Plan und aktivieren dich, um endlich Essbares zu beschaffen, deinen Hunger zu stillen und damit auch deinen Seelenfrieden wiederherzustellen. Erst danach kannst du in Ruhe wieder auf Autopilot schalten.
Man kann sich diese Abläufe modellhaft so vorstellen: Gleich, ob eine innere oder äußere Anforderung an deinen Organismus herantritt: Dein Körper mit seinen Organen, deine Seele und dein Verstand bilden ein extrem stark vernetztes Kontinuum nach dem pfiffigen Prinzip: Die Befehlsgewalt wandert immer dorthin, wo die größte Anforderung auftritt. Tut etwas ernsthaft weh, dominieren die Schmerzen die Verhaltensberechnung deines Algorithmus, beim Lösen eines Kreuzworträtsels führt er deine mentalen Fähigkeiten ins Feld und ein Hungergefühl bringt deinen Algorithmus dazu, seine Aufmerksamkeit der Beschaffung von Nahrung zu widmen.
Wie dein Organismus das macht? Die einfache Erklärung lautet: Ein Problem tritt auf, irgendein neuronales Netz in deinem Körper mit der passenden Fähigkeit fühlt sich angesprochen und holt sich die Priorität, indem es unterdrückende Impulse an die anderen Netze sendet. Ist die Aufgabe erledigt, das Problem also gelöst, ist das eben noch aktive Netz zufriedengestellt und regt sich wieder ab – keine blockierenden Impulse mehr, alles okay. Tritt nun ein weiteres Problem auf, kümmert sich das nächste sich zuständig fühlende Netz darum und beansprucht seinerseits die Priorität. Beispiel: In einer Prüfungssituation fließt alle Energie in die Bewältigung der gestellten Aufgaben, die Verdauung wird heruntergefahren, selbst Schmerzen zeitweise ausgeblendet. Ist die Prüfung vorbei, sind die Schmerzen wieder da.
Ist immer nur ein Neuro-Netz in Funktion? Manche Schlaumeier brüsten sich damit, nicht nur eine, sondern mehrere Aufgaben gleichzeitig bewältigen zu können. Multitasking nennen sie das. Dieses Gleichzeitig passt dem persönlichen Algorithmus aber so gar nicht in die gewohnt seriellen Abläufe – lieber schön eins nach dem anderen. Was macht er also in Wirklichkeit? Beim ersten Durchlauf erledigt der Gute die erste Aufgabe, beim nächsten eben die zweite. Dieses dauernde Umschalten kostet aber viel Energie, muss er doch eine weitere und höhere Ebene zuschalten, die sagt, wer an der Reihe ist, und sich merkt, was jeweils der letzte Stand war, an den man wieder anknüpfen muss. Der Algorithmus selbst hat dazu eine klare Meinung: Multitasking ist äußerst anstrengend und nichts von allem wird wirklich bestmöglich gemacht.
Natürlich kann man Auto fahren und sich gleichzeitig unterhalten. Aber bereits mit dem Handy zu telefonieren und sich dabei auch nur ein bisschen auf das Gespräch zu konzentrieren, bringt den Algorithmus in die Bredouille: Seine Aufmerksamkeit wandert zum Gespräch, eben dahin, wo er am meisten gefordert ist. Ein intensives Gespräch, am Handy oder mit der Beifahrerin, womöglich sogar ein heftiges Techtelmechtel oder ein Streit … jede Tätigkeit, die den Algorithmus stärker in Anspruch nimmt als die andere, verlagert dessen Rechenvorgänge zwangsläufig zum stärker beanspruchenden Thema. Das Autofahren an sich wickelt er nur noch mit Autopilot auf niedrigstem Level ab. Beim geringsten unvorhergesehenen Vorfall kann er dann nicht mehr schnell und schon gar nicht bewusst reagieren. – Bis umgeschaltet ist, hat es längst gekracht.
Wie auch immer scheint es keine verortbare Institution zu geben, die in diesem Kontinuum zentralistisch das Sagen hätte. Die Suche nach dem Ich hätte insofern wenig Sinn. Es geistert irgendwo im Organismus herum und ist jeweils dort, wo es etwas zu fühlen oder zu tun gibt. Als Regierung dauernd auf Reisen zu sein, hat sich anscheinend bewährt.
Schmerzt dich dein Rücken, mutierst du zum Rücken-Ich. Du wirst ganz davon dominiert, den üblen Schmerz zu vermeiden, indem du deine Bewegungen einschränkst. Jetzt ja nicht bücken oder etwas Schweres tragen. Liest du ein spannendes Buch, wirst du zum Lese-Ich, indem du dich von der Handlung mitreißen lässt und nicht einmal bemerkst, wie dringend du auf die Toilette musst. Das wird dir erst bewusst, wenn du das Buch zuklappst und sich deine Priorität verlagert.
Die Rechenvorgänge in deinem körperlich-seelisch-mentalen Kontinuum sind unaufhörlich im Organismus unterwegs, selbst noch im Schlaf. Sicherlich nicht als wohldefinierte Endlosschleife wie in einem Computer, sondern eher in Form eines höchst dynamischen und unablässig aktiven Algorithmus. In Zeiten ohne wesentliche Anforderungen wären eher zufällige, womöglich auch chaotische Abfolgen zu erwarten bis hin zu einer Art kreativem Herumspinnen, sobald jedoch eine ernsthafte Anforderung auftritt, wird sich dein Verhaltensrechner auf diese konzentrieren, gleich ob körperlicher, seelischer oder mentaler Natur. Es kann sich um ein inneres Bedürfnis, z. B. Hunger handeln oder eine äußere Anforderung, z. B. eine Aufgabe zu erfüllen oder einen Angriff abzuwehren.
Wenn nichts Wichtiges anliegt und Langeweile aufkommt, wird der Algorithmus jeden noch so kleinen Anlass zur Hauptsache erklären, sogar die Fliege an der Wand kann dann zum Mittelpunkt aller Empfindungen und Entscheidungen werden. Außerdem wird sich noch zeigen, dass jegliches Organ und jede Funktionseinheit in Anspruch genommen werden muss, um nicht aus Gründen mangelnder Effizienz reduziert oder gar körperlich abgebaut zu werden. Daher ist anzunehmen, dass der Algorithmus von Zeit zu Zeit aus Barmherzigkeit auch Bereiche mitnehmen muss, die eigentlich im Moment so gar nichts beizutragen haben, auf die man aber aus Gründen der Daseinsvorsorge nicht ganz verzichten will. Wenigstens die Basisfunktionen sollen erhalten bleiben – auch im Gehirn, wie wir später sehen werden.
Aus dieser Sicht erübrigt sich die Diskussion darüber, ob nun irgendein Bauch-Gehirn die Psyche beeinflusst oder eher umgekehrt. Der Gedanke liegt nahe, dass der Algorithmus des Menschen neben seinen Routinetätigkeiten immer dann besonders anspringt, wenn Signale auftreten, die in ihrer Stärke eine bestimmte Erregungsschwelle überschreiten. Alles darunter ist langweilig und spielt keine Rolle.
Ein Schaufensterbummel: Die Kleider und Röcke in den Auslagen lassen die junge Frau kalt. Sie entsprechen nicht dem, was sie sucht. Wie ein Blitz durchfährt es sie, als ihr ein Kleid ins Auge fällt, das genau ihrem inneren Suchmuster entspricht. Es hat eine heftige Resonanz zwischen ihren Wunschvorstellungen und der Realität im Schaufenster gegeben. Ein gewaltiger Schuss Belohnungssubstanz ergießt sich in ihre Seele. Euphorisch und höchst motiviert betritt sie den Laden.
Resonanz, Belohnungssubstanz? Geduld, Geduld … Wie wäre es mit einer Antwort auf die Frage, wie viele verschiedene Persönlichkeiten nach diesem Gedankenmodell in einem Menschen schlummern? Nicht fünf, nicht zehn, sondern … unendlich viele, je nach Bedürfnislage, Umfeldbedingungen und Höhe des seelischen Pegels. Schon der geringste aus der Gewohnheit fallende Einfluss, wie der Schnitt in den Finger, aber auch stärker belastende oder vorher nie gekannte Situationen können ganz neue, zum Teil sogar völlig überraschende Verhaltensmuster offenlegen.
Bei der Bundeswehr gab es regelmäßig Nachtübungen nach dem Muster »Stoßtrupp und Feldposten«. Das lief in etwa so: Ein Funkwagen, meist auf einer kleinen Anhöhe, sollte durch rundum verteilte Feldposten gegen Angriffe gegnerischer Stoßtrupps in Stärke von meist vier bis fünf Mann geschützt werden. Das hieß: Die eine Hälfte nistete sich gut getarnt rund um den Funkwagen ein, immer mit Überblick und Schussfeld, um die Stoßtrupps abzuwehren, die andere Hälfte versucht, die Kette der Feldposten mit List und Tücke zu durchbrechen, um an die Funkverschlüsselung zu kommen und den Funkwagen zu neutralisieren.
Da liegt man nun stundenlang mehr oder weniger bewegungslos und starrt in die sich ausbreitende Dämmerung. So dunkel, dass die Farbzäpfchen im Auge versagen und das Bild durch die lichtempfindlicheren Stäbchen immer mehr schwarz-weiß wird wie früher bei den ersten Fernsehern. Schließlich sind fast nur noch konturlose Schatten zu erkennen. Plötzlich die Trugbilder: Ein Schreck durchfährt mich, haben sich dort nicht die Büsche bewegt, als wenn da einer durchkäme? Mein Algorithmus hat nicht nur die Situation selbst ausgewertet, er hat sogar schon vorausgedacht, was alles passieren könnte. Er drückte von sich aus den Alarmknopf und rüttelte mich auf. Ich muss es nun überprüfen und den Alarm wieder löschen. Und das immer wieder über Stunden hinweg. Unglaublich anstrengend.
Der Stoßtrupp wird rechtzeitig erkannt, gestellt und gefangen genommen. Einer der Festgenommenen schlägt in seinem Frust, mit starrem Blick und ohne Sinn und Verstand, seinem »gegnerischen« Kameraden mit dem Gewehrkolben so hart über den Helm, dass das Griffstück abbricht. Es ist zum Glück nichts weiter passiert, aber der »Gegner« ist eigentlich sein Stubenkamerad und Freund, das hat er in seinem übernächtigten und tief frustrierten Zustand aber gar nicht wahrgenommen. Die Aggression auf den Frust hin musste einfach raus, egal wie …
Für mich das Wichtigste an meiner Zeit bei der Bundeswehr sind die richtungsweisenden Erfahrungen, wie sich Menschen in Grenzsituationen verhalten, wozu sie fähig sind und welchen körperlichen und seelischen Grenzen man selbst unterliegt – und wie wichtig es ist, sich auf seine Kameraden verlassen zu können. Es ist beeindruckend zu sehen, welch immense Schlagkraft selbst eine kleine Gruppe entwickelt, wenn sie optimal und intelligent zusammenarbeitet.
Eine weitere Erfahrung aus dieser Zeit ist der Zweifel an der Annahme, dieser oder jener Mensch könne keiner Fliege etwas zuleide tun. In bekanntem ruhigem Fahrwasser mag Wohlverhalten leichtfallen, aber in Extremsituationen? Sturm, Wellen, Sandbänke, Untiefen? Den Gewehrkolben über den Kopf? Es ist kaum möglich vorherzusagen, wie sich ein Mensch in einer neuen, ihn möglicherweise körperlich oder seelisch überfordernden Situation verhalten wird, wie sein Algorithmus in einer kritischen Situation seine Prioritäten setzt – besonders dann, wenn der Mensch bereits seelisch angeschlagen ist.
Zurück zum Schaufenstereffekt und der unwiderstehlichen Resonanz, die ein so sehr ersehntes Suchmuster auslöst, ganz gleich ob es eigentlich entbehrlich, unmoralisch oder gar kriminell ist:
Eine der wichtigsten präventiven Maßnahmen besteht folgerichtig darin, Situationen zu meiden, die eine solch überbordende Resonanz und damit eine kaum mehr zu bändigende Motivation in Gang setzen könnten. Wenn die Prämisse z. B. Sparen lautet, dann am besten keine Schaufensterbummel mehr: Resonanz weg, aber Geld noch da. Doch was dann? Kann man auf die damit ebenfalls eingesparten erhebenden Gefühle einfach so verzichten?
Die Schlussfolgerung: Der Mensch arbeitet mit einem biologischen Algorithmus als Verhaltensrechner: Sein Gehirn ist die Hardware, sein Algorithmus die Software.
Was ist nun erste Aufgabe eines Algorithmus? Sich ein realistisches Bild seiner inneren und äußeren Umgebung zu verschaffen – das ist der Klassiker beim Aufwachen: Wo bin ich? Was ist los?
Wie schwer sich eine solche Aufgabe darstellt, lässt sich erst so richtig einschätzen, wenn man eine derartige Standortbestimmung mit einem Roboter versucht, z. B. mit einem humanoiden Roboter wie meinem kleinen Roby. Er ist nicht viel mehr als einen halben Meter groß. Auf mein fröhliches »Hi Roby, wie gehts?«, schaut er mich mit großen Augen an, verharrt kurz, bis seine Gesichtserkennung mich identifiziert hat, und begrüßt mich mit den Worten »Ich kenne dich, du bist Wolf. Wie geht es dir heute, Wolf?« Das sind die einfacheren Übungen.
Roby verfügt über hochauflösende Bilder aus seinen Kameras und Audiodateien aus seinen Mikrofonen. Nun soll er diese Ansammlung von Pixeln und Lautschnipseln so interpretieren, dass er sich in seiner Umgebung zurechtfinden und seiner Aufgabe gemäß richtig verhalten kann. Das ist allerdings alles andere als einfach. Das Wichtigste dabei ist das Zuordnen von Bedeutung: Was ist ein Mensch, ein Tisch, ein Stuhl? Roby soll einmal in der Lage sein, diese Gegenstände bewusst wahrzunehmen.
Fragen wir uns aber zunächst, wie das beim Menschen geht.
Wahrnehmung
Die Videokameras von Roby geben eine objektive Realität wieder. Jeder Betrachter würde im Video dasselbe sehen – aber durchaus Unterschiedliches wahrnehmen, ganz abgesehen davon, dass es einen gehörigen Unterschied macht, ob man sich in Ruhe am grünen Tisch eine Szene anschaut oder unmittelbar in die Situation verwickelt ist. – Unter Stress wertet der Organismus andere Merkmale aus und verfolgt andere Ziele als im entspannten Zustand.
Im Prinzip handelt es sich bei deinem Algorithmus um einen grandiosen Verhaltensrechner. Dieser erfasst die aktuelle Situation mit all seinen Sensoren und konstruiert daraus deine ganz subjektive Realität: Es ist deine Wahrnehmung und nur deine. Aber Überraschung: Diese hat mit der objektiven Realität nicht allzu viel zu tun, denn Wahrnehmung ist die Interpretation einer objektiven Situation im Sinne deiner subjektiven Interessen und Erfahrungen.
Bevor dein Algorithmus dir deine subjektiv wahrgenommene Realität auf deinem inneren Bildschirm präsentiert und vielleicht sogar bewusst macht, hat er viele andere Einflüsse eingearbeitet. Das bedeutet: Objektive Realität bearbeitet mit einer Art HirnPhotoshop ergibt die dir von deinem Algorithmus präsentierte subjektive Realität. Je angespannter deine Seelenlage, desto mehr Verfälschung. Da du nur diesen einen inneren Bildschirm hast, bleibt dir nur übrig, zu glauben, was der dir zeigt. Es ist deine subjektive Wahrnehmung, deine persönliche Wahrheit. Für dich gibt es nichts anderes, du musst es glauben, selbst wenn dein Algorithmus dir eine völlig aus der Luft gegriffene Fata Morgana zeigen sollte: Du kannst es nicht wissen, du musst ihm vertrauen. Mach aber nicht den Fehler zu glauben, ein anderer hätte in derselben Situation das Gleiche auf dem Schirm wie du!
Welches Interesse, wirst du dich fragen, sollte dein eigener Algorithmus denn haben, dir deine persönliche Realität vorsätzlich und systematisch dermaßen zu verfälschen? Wenn du dich beim Errechnen deines Verhaltens an einer manipulierten, mehr oder weniger falschen Realität orientierst, handelst du dir doch unkalkulierbare Risiken ein?
Gute Frage. Aber wenn es doch so ist? Jedes offene Bedürfnis verändert deine Wahrnehmung: Mit einem wahren Bärenhunger interessiert dich doch nur noch Essbares. Auf deinem Bildschirm erscheint dir dein Umfeld nur noch nach Essbarem gefiltert. Energieversorgung hat eben höchste Priorität! Mit Magenknurren einem Vortrag folgen? Nur ein Übermensch könnte sich da noch konzentrieren.
Die objektive Realität hat auch wenig Chancen, wenn du seelisch nicht gut drauf bist und halb depressiv herumhängst. Je weiter unten du seelisch bist, desto mehr bist du bereits bei alltäglichen Anforderungen überlastet und desto stärker macht dir dein Algorithmus Angst: Er übertreibt bedrohliche Aspekte der objektiven Realität und zeigt dir überall Risiken und Gefahren: Alle sind gegen dich und die Welt ist böse.
Dann lieber verliebt: Auf Wolke sieben mit einem überhohen seelischen Pegel lässt dich die gleiche Realität federleicht schweben: Die Welt ist zum Umarmen schön, die Farben schillernd und die Zukunft rosarot. In deiner Euphorie traust du dir so ziemlich alles zu.
Aber da ist ja noch die Erfahrung. Zum Glück, so meinst du nun sicher, kannst du dich wenigstens auf dein Gedächtnis verlassen! – Aber denkste: Glaubst du wirklich, was du schon mal erlebt und in deinem Gedächtnis abgelegt hast, könntest du immer wieder im Original abrufen? Ohne dass vom Algorithmus daran herummanipuliert wird? Leider nicht. Bereits beim Abspeichern wird massiv gefiltert: Nur was deinem Algorithmus wirklich wichtig erscheint, wird ins Archiv verfrachtet. Etwas Beiläufiges ist es nicht wert, abgespeichert zu werden, umso mehr aber Vorgänge, die dich persönlich oder unmittelbar stark betreffen. Diese Highlights gelangen besonders nachhaltig in dein Archiv. Ein heftiges Schockerlebnis wiederum setzt dich unter so starken Stress, dass davon nur die gröbsten Basics eingelagert werden. – Dann kannst du dich einfach nicht an Einzelheiten erinnern.
Deine Erfahrungen sind in deine neuronalen Netze eingebettet – gut untergebracht sind sie da nicht. Nur selten oder gar nicht aufgerufen, gehen vor allem die Details mit der Zeit verloren. Permanente Speicherung kostet zu viel Energie und es ist nicht effizient, unwichtige Daten zu erhalten, eine grobe Übersicht über Vergangenes muss genügen. Es sind sowieso immer nur Bruchstücke deiner realen Erfahrungen im Speicher, die bei jedem Abruf wieder irgendwie zu einer dir selbst plausibel erscheinenden Szenerie rekonstruiert werden müssen.
Diese Rekonstruktion ist aber vielen Einflüssen ausgesetzt: Bereits, wenn du ein wenig down bist, erscheint dir deine Erinnerung grau in grau eingefärbt, im halb depressiven seelischen Zustand wird dir eine unschöne Erinnerung womöglich Angst machen und unter besonders starkem Stress, z. B. bei einer Prüfung, kann es sein, dass du blockiert bist und gar nichts mehr abrufen kannst.
Die Rekonstruktion des Erinnerten zu einer Erinnerung kann auch durch äußere manipulierende Einflüsse massiv verfälscht werden. Julia Shaw1, Rechtspsychologin aus London, konnte nachweisen, dass sich allein durch immer wiederkehrende geschickte Fragetechnik auf Dauer sogar frei erfundene Straftaten ins Gedächtnis einer Versuchsperson implantieren ließen. Diese hatten zwar nie stattgefunden, doch die Person selbst glaubte auf Dauer an ihre extern gefälschte Erinnerung. – Die Art der Befragung von Zeugen kann im Sinne gewünschter Ergebnisse sehr manipulativ sein. Aber auch ohne solche Eingriffe widersprechen sich Zeugenaussagen in der Regel: Der eine hat den Unfall so gesehen, der andere schwört Stein und Bein, dass es sich genau umgekehrt abgespielt hat.
Aufgrund seines höchst subjektiven Filters gibt es für einen Menschen keine objektive Sicht auf die Realität. Menschen mit einer innerlich besonders stark verfremdeten Wahrnehmung hoffen und behaupten sogar, es gäbe gar keine objektive Realität. Ihre Angst ist verständlich, denn die ungeschminkte Realität kann durchaus zum Fürchten sein; sie ist hart, kompromisslos und lässt keine Spielräume.
Unabhängig davon wird deine noch so löchrige, grobkörnige und wenig vertrauenswürdige Erfahrung in die aktuelle Wahrnehmung eingearbeitet. Eine einzige in einer ähnlichen Situation gemachte schlechte Erfahrung reicht aus, um bei der Einschätzung der aktuellen Sachlage zutiefst befangen zu sein. Schnell sind alle Männer rücksichtslos, alle Frauen untreu und die Bahn nie pünktlich.
Auch positive Erlebnisse spiegeln sich in deiner inneren Präsentation wider: Warum soll es nicht ein weiteres Mal gut gehen? Der Bursche auf dem dunklen Parkplatz ist doch bestimmt harmlos und die Bahn auf dem Weg zum Flughafen pünktlich? Wenn dir jemand sympathisch ist, siehst du an ihm eher die positiven Seiten. Magst du jemand so gar nicht leiden, traust du diesem miesen Kerl oder jener arroganten Zicke hingegen so ziemlich alles zu.
Grenzwertig verfremdet indes erscheint die Realität oftmals dann, wenn Ideologien oder ein Glaube, womöglich in extremer Form, mit von der Partie sind. Der Algorithmus verengt dann die Wahrnehmung so sehr, dass die ideologische Sicht mit der objektiven Realität fast nichts mehr gemein hat. Jede Diskussion wird sinnlos und zu bewegen ist nichts mehr. Hat der Algorithmus einmal fern der Realität sein Flussbett gegraben, verengt und vertieft sich dieses ganz von selbst immer weiter. Dann ist es nicht mehr weit zu Gewalt, Extremismus und Terror. Ein übermächtiges, fast nicht mehr kontrollierbares Bedürfnis kann schließlich zur totalen Fehleinschätzung einer Situation mit nachfolgendem Fehlverhalten führen, da der Algorithmus bei der Berechnung des Verhaltens von völlig überzogenen Wunschvorstellungen dominiert wird. Wird ein Mann von einer heiß begehrten Frau angelächelt, schließt er daraus womöglich: Die ist sicher scharf auf mich. Nichts wie ran! Aber vielleicht war sie einfach nur höflich.
Es muss nicht unbedingt ein Bedürfnis von innen heraus sein. Auch Menschen, die sich einer ihnen wichtigen Sache mit Haut und Haar verschrieben haben, neigen aus purer Fehleinschätzung dazu, zu glauben, ihnen sei zur Durchsetzung ihrer hehren Ziele nun alles erlaubt:
In der Einbahnstraße fährt der Radfahrer, obwohl ein Radweg existiert, in voller Absicht so gemächlich in der Mitte der Straße, dass er vom zunehmend genervten Autofahrer nicht überholt werden kann. Alles in dem wohligen Gefühl, der bessere Mensch gegenüber diesem »üblen Stinker« zu sein und diesen Klimasünder in die Schranken zu weisen.
Die Ursache für das Extrem: Der Algorithmus des Radfahrers dreht sich fast ausschließlich um sein persönliches Thema. Nur noch daraus gewinnt er seelische Energie. In seiner Überheblichkeit fühlt er sich dem Klimasünder moralisch überlegen und leitet daraus die Berechtigung ab, diesen provozieren und schließlich Macht über ihn auszuüben zu dürfen. Er bestimmt, ob überholt wird oder nicht, denn für einen seiner Meinung nach unzweifelhaft guten Zweck muss schließlich alles erlaubt sein. – Ideologie statt Übersicht und sozialem Empfinden und Denken.
Wie das? Andere seelische Quellen, seine Freunde beispielsweise, müssen zurückstehen und zuschauen, wie er sich – ohne darüber hinaus zu denken – immer weiter in sein Gutmenschentum hineinsteigert. Die Gefahr solch einseitigen Engagements ist die gleiche wie bei Drogen: Die Dosis muss immer weiter erhöht werden. Seine Verhaltensweisen werden damit zwangsläufig verbissener und seine Aktionen extremer.
Langsam aber sicher wird aus dem eben noch akzeptablen Idealisten ein starrköpfiger Tyrann mit der giftigen Traumvorstellung einer öffentlichen Verbrennung aller SUVs unter dem Beifall gleichgesinnter Massen. Gute Menschen müssten das gegen schlechte Menschen doch tun dürfen!
Auch esoterische Strömungen jeglicher Art entstammen dem reichhaltigen Werkzeugkasten deines Algorithmus. Wenn das Schönen und Manipulieren der Realität den seelischen Abwärtstrend immer noch nicht aufhalten kann, dann muss er halt zu Illusion und Fata Morgana greifen. Wie in einem Science-Fiction-Film sind dann der Fantasie keine Grenzen mehr gesetzt.
Das kann alles nicht wahr sein? Doch! Es scheint nur so, als ob die Natur da irgendwie chaotisch arbeiten würde, ist aber nicht so, denn es gibt im Hintergrund eine nicht verhandelbare Größe: Einen Minimalpegel an Energie, der auf keinen Fall unterschritten werden darf. Ohne diese Minimal-Energie würde das Lebewesen in die Depression fallen und – ohne Unterstützung anderer – nicht mehr lebensfähig sein.
Dein Algorithmus ist da kompromisslos: Wenn es ums Überleben geht, rechtfertigt das für ihn sogar Lug und Trug, notfalls auch Gewalt. – Sogar Gewalt gegen den eigenen Träger. Beispiel Heißhunger: Wenn der Energiepegel unter eine kritische Grenze zu fallen droht, zwingt dich dein Algorithmus dazu, den Kühlschrank zu plündern – mentaler Widerstand zwecklos, eine unkontrollierbare Fressattacke wird als letztes Mittel eingesetzt, dich durch diese Kompensation vor dem seelischen Absturz zu bewahren. Seelisches Überleben hat einfach unbedingten Vorrang.
Körperliche und seelische Energie
Bisher war immer von Energie die Rede: Eine die ich körperlich freisetzen kann, indem ich jogge oder Holz spalte – oder welche Energie sollte denn sonst gemeint sein?
Bei meinem Roboter Roby ist es einfach: Da ist Robys Körper mit Armen und Beinen, die eben nicht durch Muskeln, sondern vielen Elektromotoren bewegt werden. Die Software sorgt dafür, dass jeder der Motoren seinen Strom so erhält, dass Roby z. B. winkt, ein paar Schritte macht oder nach einem Glas greift; elektrische Energie für die Motoren und die gleiche für die Recheneinheit, die mittels der Software das Verhalten des Roboters berechnet. Solange der Akku elektrische Energie liefert, gibt es keinen Grund für irgendwelche Einschränkungen in seiner Leistung. Ein Roboter kennt weder Müdigkeit noch Motivationsschwäche.
Beim Menschen werden die Muskeln als ausführende Elemente des Körpers nicht mit elektrischer, sondern chemischer Energie betrieben. Der entscheidende Unterschied besteht aber darin, dass es beim Menschen für die Berechnung seines Verhaltens nicht ausreicht, genügend chemische Energie im Gehirn bereitzustellen, vielmehr ist zusätzlich eine Art Steuerungsenergie nötig, damit der Algorithmus überhaupt arbeiten kann.
Ein Beispiel: Stellen wir uns Max vor, gestählt im Fitnesscenter, fähig und bereit, Bäume auszureißen. Aber er hängt antriebslos herum, weil ihn seine Freundin verlassen hat. Ein Kerl voller körperlicher Energie wird gelähmt durch einen Mangel an Steuerungsenergie, hier seelische Energie genannt. Selbst wenn sein Gehirn noch so gut mit Zucker als chemischer Energie versorgt sein sollte, kann er keine Motivation für irgendetwas aufbringen. Ganz ohne seelische Energie befindet sich sein Organismus im Stadium der Depression. Und in der Depression läuft gar nichts. – Wir werden noch davon hören, denn wir wollen herausfinden, warum in aller Welt die Natur das System seelische Energie eingerichtet hat.
Beim Menschen gibt es einen weiteren wesentlichen Unterschied zur Arbeitsweise eines Roboters: Mit vollem Akku ist Roby mit seinen Motoren im Körper, seinem Computer im Kopf und dessen Software voll einsatzfähig. Der Roboter schaltet sich ab, bevor sein Akku ganz leer ist. Demgegenüber kennt das menschliche Gehirn bei sinkendem chemischem wie auch seelischem Energiepegel Zwischenzustände, was die Präzision seiner körperlichen Abläufe wie auch die seines Algorithmus betrifft. Eine Studie der University of Bristol2 hat sich mit dem Zusammenhang zwischen Energieversorgung des Gehirns und mentaler Leistungsfähigkeit beschäftigt und kommt zu dem Ergebnis: Ist das Gehirn nicht ausreichend mit chemischer Energie versorgt, erhält es zunächst die Grundfunktionen aufrecht, um den Organismus am Laufen zu halten. Die geistige Leistungsfähigkeit, die als Letztes mit Energie versorgt wird, bricht dadurch ein und man kann nicht mehr klar denken. Die Folgerung ist, dass es eine geschichtete Struktur im Algorithmus geben muss: Auf unterster Schicht sind die Basics, die lebensnotwendigen Abläufe, darüber die Komfortschichten, die nur bei besonders guter Versorgung mit chemischer und seelischer Energie ins Spiel kommen – je größer der Mangel an diesen Energien, desto geringer die Performance des Menschen.
Heutzutage besteht in der Regel kein Mangel an chemischer Energie durch Hunger mehr, die Begrenzung der Leistungsfähigkeit muss daher von einer ungenügenden Versorgung mit seelischer Energie herrühren.
Ein alltägliches Beispiel: Wie gewinnen wir seelische Energie und wie verlieren wir sie? Zum Vergleich: Die Sonne scheint und der Morgenkaffee mit der wohlgelaunten Familie schmeckt vorzüglich. Die Verkehrslage ist kommod. Im Büro eine motivierende Aufgabe und die Kollegin hat Kuchen mitgebracht. Seelische Energie fließt reichlich zu: Ein guter Tag.
Oder: Regenwetter und Kopfschmerzen ziehen runter, die Kinder nerven schon beim Frühstück, der Verkehr ist chaotisch. Zu spät dran, der Chef wartet schon, eine lästige Besprechung steht an und die Kollegin ist kurz angebunden. Seelische Energie fließt in Strömen ab: Ein ausgesprochen mieser Tag.
Investition, Gewinn und Motivation
Was ist das Wesen der seelischen Energie? Klären wir das am Beispiel Hunger: Ein chemisches Defizit baut sich auf, indem im Blut die Konzentration von Glucose (Traubenzucker) absinkt. Eine größere Abweichung vom Normalzustand gefährdet vor allem die Energieversorgung des Gehirns. Dein Algorithmus muss nun schnellstens ein Verhalten errechnen und einleiten, um den Zuckerpegel wieder auf Normalhöhe zu bringen. Das tut er, indem er ein Hungergefühl erzeugt und dich damit auffordert, für Nahrung zu sorgen. Dieses unbefriedigte Bedürfnis Hunger bedeutet nach dem Modell der seelischen Energie die Belastung eines fiktiven seelischen Kontos. Je größer der Hunger, desto stärker sinkt der seelische Kontostand ab und muss durch Essen wieder aufgefüllt werden.
Dein wegen des Hungers unbefriedigter Algorithmus hat also den Auftrag, Nahrung zu beschaffen. Diese Aufgabe erfordert die Investition von Energie, also tröpfelt dein Algorithmus ein bisschen Adrenalin ins Blut und schon ist Energie zum Investieren da, um das Umfeld auf Nahrung hin abzuscannen. Besonders gesucht ist Zucker, da dieser kaum Energie zu seiner Verdauung benötigt, sozusagen netto und steuerfrei genossen werden kann. Ein Apfel gerät ins Blickfeld. Wie bei dem Kleid im Schaufenster entsteht starke Resonanz zwischen deinen bedürftigen neuronalen Netzen und dem lockenden Apfel mit der Aussicht auf Befriedigung des Hungers. Her mit dem Apfel und aufgegessen! Zucker satt und der Blutzuckerspiegel ist wieder im Normalbereich.
Was macht nun dein Algorithmus? Er schüttet dir in Anerkennung deiner erfolgreichen Aktion Belohnungssubstanz aus, die nicht nur dafür sorgt, dass das Hungergefühl verschwindet, sondern dir darüber hinaus die Empfindung eines Genusses und weitere gute Gefühle verschafft. Du bist befriedigt, dein seelisches Konto ist wieder ausgeglichen.
Was sind nun Belohnungssubstanzen? Mit dieser belohnt der Algorithmus im Auftrag der Natur seinen Träger, den Menschen, für eine erfolgreich ausgeführte Aktion, indem er Glückshormone, vor allem Dopamin, je nachdem aber auch Endorphine, Serotonin oder Oxytocin usw. ausschüttet. Diese Belohnungssubstanzen werden z. B. in besonderen Bereichen des Gehirns freigesetzt und verschaffen beim Andocken an spezielle Rezeptoren in Körper und Geist Wohlgefühl. – Belohnungssubstanzen sind also das chemische Pendant zur seelischen Energie und füllen beim Andocken dein seelisches Konto wieder auf. Im Übrigen hast du mit deinem erarbeiteten hohen seelischen Pegel Mutter Natur bewiesen, dass sich eine Investition in dich lohnt. Sie revanchiert sich entsprechend: Dein gestärktes Immunsystem tötet alles Schädliche bereits im Vorfeld ab, deine Organe laufen wie geschmiert, dein Hirn erblüht in voller mentaler Pracht und rundum herrscht Wohlbehagen: Energie in Fülle, innere Ruhe, hohes Selbstwertgefühl und zielgerichtete Tatkraft, dazu Widerstandsfähigkeit gegen jegliche seelische Unbill – Resilienz würde man heute Letzteres nennen.
Bleiben hingegen Erfolge aus und die Belohnungsrezeptoren offen und unbefriedigt, lässt dir dein Algorithmus schlechte oder gar belastende Gefühle und Ängste entstehen, die den Drang weiter verstärken, endlich für Erfolge und Befriedigung zu sorgen.
Da ist aber noch eine Kleinigkeit: Wenn ich die Motivation meines Roboters berechnen will, um zum Stillen seines Hungers einen Apfel vom Baum zu pflücken, ergibt dies nur dann mit menschlichem Verhalten übereinstimmende Ergebnisse, wenn ich voraussetze, dass das Gefühl einer Belohnung nicht erst beim Pflücken und Verzehren des Apfels selbst entsteht, sondern als eine Art Vorfreude bereits beim Anblick und der Vorstellung, bald diesen attraktiven Apfel genießen zu können.3 Wird der Apfel beim Pflücken dieser Voreinschätzung tatsächlich gerecht, ist alles okay und der Roboter befriedigt. Dem kann ich das einprogrammieren. Beim Menschen geschieht ähnliches, eben über chemische Prozesse: Erscheint der ins Visier genommene Apfel ansprechend, werden chemische Steuersubstanzen ausgeschüttet, die eine Motivation bewirken, den Apfel zu pflücken. Ist der gepflückte Apfel gar noch größer, röter und süßer als erwartet, bestätigt sich nicht nur die Vorfreude, sondern es fließt zusätzliche seelische Energie als Gewinn zu.
Zeigt sich der Apfel wider Erwarten aber eher minderwertig, auf seiner Rückseite z. B. von Vögeln angepickt oder angefault, tritt das Gefühl der Enttäuschung auf den Plan – mit erheblichem Abfluss seelischer Energie. Durch zu hohe Erwartung, eine falsche Vorkalkulation sozusagen, hat man sich getäuscht und ist böse enttäuscht worden. Der als Vorfreude bereits vorweggenommene Vorschuss an seelischer Energie muss nun zurückgezahlt werden. Es ist dieser Abfluss an seelischer Energie, der nach einer erfolglosen Aktion schlechte Gefühle verursacht und das seelische Konto belastet.
Um nicht immer wieder enttäuscht zu werden, sollte die Einschätzung einer Chance zur Investition möglichst realistisch sein. Dies gelingt im seelischen Gleichgewicht am besten.
Die Belohnungserwartung, also der voraussichtliche Ertrag der anvisierten Aktion, ist übrigens ein wichtiger Parameter für die innerlich entwickelte Motivation. Setzt du deine Belohnungserwartung zu hoch an, erwartest also zu viel, wirst du zwar hoch motiviert, jedoch im Falle eines Misserfolgs auch zutiefst frustriert. Schätzt du deine Gewinnchancen hingegen unter Wert ein, wird deine Motivation nicht ausreichen, diese eventuell gute Chance zu nutzen. Erstrebenswert ist also eine möglichst realistische Einschätzung deiner Chancen. Es ist die Hauptaufgabe deines Algorithmus, deine Kräfte im täglichen Leben durch realistisches Erfassen einer Situation so effizient wie möglich einzusetzen.
Noch anspruchsvoller wird die Aufgabe, wenn das Objekt der Begierde kein frei verfügbarer Apfel ist, sondern selbst ein Wörtchen mitzureden hat: Wie sollte man denn dann die Situation und seine Chancen realistisch einschätzen?
Georg auf einer Studentenparty: Auf einer der Bananenkisten sitzt ein hübsches Mädchen mit Drink in der Hand, die Beine übereinandergeschlagen. Sie beobachtet belustigt die Szene. Er hat sie noch nie gesehen, aber sie ist ganz nach seinem Geschmack: dunkles Haar, tiefbraune Augen, gute Figur, nicht zu groß, nicht zu dünn, orientalischer Touch. Darauf fährt Georg ganz besonders ab. Ihre Ausstrahlung ist für ihn höchst erotisch. Leicht beschwipst geht seine Fantasie mit ihm durch: Tausend und eine Nacht. Der Duft des Orients … Eben hat es Theo versucht, der probiert es ja bei jeder. Mit Bierfahne und etwas zu siegessicherem Auftritt ist sein Annäherungsversuch gescheitert und er für alle sichtbar abgeblitzt. Verlegen grinsend machte er sich seitwärts vom Acker. Für Georg ist sie letztlich einfach zu hübsch, um sie anzusprechen, verständlich die Angst vor möglicher Zurückweisung. Angst als Zeichen seines niedrigen seelischen Pegels lässt sein Selbstwertgefühl mitsamt seiner Motivation drastisch schrumpfen. Schade! Zum Trost ein weiteres Bier. Die Schöne lächelt tiefgründig.
Es muss passen! Zu viel der Erwartung fordert Enttäuschung heraus, zu wenig mindert die Motivation. Zu wenig Einsatz bringt nichts, zu viel kann sogar Schaden anrichten. Die Kunst eines Algorithmus besteht darin, das richtige Maß zu treffen. Voraussetzung dazu ist es, die Situation bezüglich ihrer Chancen und Risiken realistisch einzuschätzen.
Wenn besonders starke Bedürfnisse unbefriedigt bleiben, können sie das Seelenkonto bis zur Depression niederdrücken:
Chloe hat Sehnsucht nach ihrem Liebsten. Ihre offengebliebenen Glücksrezeptoren lassen sie schlimm leiden. Beim Wiedersehen ist die Folge eine Überschwemmung der Rezeptoren mit Belohnungssubstanz und Glücksgefühle satt.
Aufgrund großer natürlicher Streuung in der Auslegung eines Organismus kann die Stärke dieser Glücksgefühle bei vergleichbarer Erfolgshöhe von Mensch zu Mensch recht unterschiedlich ausfallen. So schüttet das Gehirn von Max für ein und denselben Erfolg mehr Belohnungssubstanz aus als das von Moritz. Dieser muss also für zahlreichere und größere Erfolge sorgen, um auf den gleichen seelischen Level zu kommen wie Max: Er muss sich nicht nur stärker ins Zeug legen, sondern auch ein gewisses seelisches Defizit und damit häufigere Anflüge von Melancholie in Kauf nehmen und damit klarkommen. Das ist nicht wirklich gerecht, aber so ist die Natur eben.
Auch ein fortschreitendes Lebensalter ändert die Verhältnisse: Es ist weniger Energie zum Investieren da und auch weniger für die Belohnung. Das heißt: Je älter man wird, bei desto geringeren Anforderungen gerät man bereits in Stress und desto mehr gilt es, sich bei der Beschaffung seelischer Energie auf noch machbare Aktionen zu konzentrieren und in Betracht zu ziehen, dass eine erfolgreiche Aktion nicht mehr das gleiche erhebende Gefühl auslöst wie in der Jugend.
Um ein Ziel zu erreichen und die fällige Belohnung zu kassieren, ist in der Regel Aufwand zu betreiben. Simpel ausgedrückt: Mit Adrenalin Energie investieren und Dopamin als Belohnung und seelischen Ertrag einfahren. Nach diesem Muster von Investition und Ertrag wickelt der Algorithmus alle seine Geschäfte ab – manchmal mit Erfolg, ein andermal geht es schief. Verlorene Liebesmüh beispielsweise. Dann fließt eben seelische Energie ab.
Wie bei jedem Konto kommt es auf die Gesamtbilanz an; der mittlere Pegel an seelischer Energie spielt die Hauptrolle.
Nicht nur bei der Wahrnehmung, auch in anderen Bereichen geht die Natur in großer Streubreite mit ihren Lebewesen um: kein deutscher Industriestandard 4.0 mit präzisen oder sogar austauschbaren Produkten in Serie, dafür lauter schlampig dahingeworfene Unikate mit superbreiter Streuung in ihren Eigenschaften und Fähigkeiten, viele davon sogar körperlich oder mental hart auf Kante genäht. Die Natur wirft all diese Unikate auch mit ihren vielen Variationen und auch noch so doofen Macken auf den Markt von Wohlleben und Fortpflanzung und lässt das Ganze dort vor sich hin köcheln. Nichts wie raus mit immer neuen Versionen: groß, klein, dick, dünn, gescheit oder nicht, teils mit absonderlichen Macken und furchterregenden Vorlieben. Die ganze Mischpoke wird auf den großen Markt geworfen, um sich dort zu bewähren. Mal sehen, wer sich unter den gegebenen Umständen durchsetzt und vermehrt, wer sich der aktuellen Umwelt und seinem persönlichen Umfeld am besten anpasst oder es nach seinen Wünschen selbst formt.
Die Natur erschafft in der ihr eigenen pragmatischen Art nach dem Gießkannenprinzip Lebewesen, die in der Lage sind, sich nicht nur an die eben herrschenden Verhältnisse anzupassen, sondern die darüber hinaus so flexibel agieren können, dass sie auch schnellen und extremen Veränderungen ihrer Umwelt, z. B. durch Vulkanaktivitäten, Einschläge von Meteoriten oder auch einem galoppierenden Klimawandel gewachsen sind. Das Rezept der Natur: Nicht nur das Gegenwärtige beherrschen, sondern darüber hinaus durch breiteste Streuung Vorkehrungen für Überraschendes treffen! Die Nachteile einer Strategie überbreiter Streuung sind hohe Kollateralschäden durch viele nicht genügend angepasste Individuen: zu hohe Bevölkerungsdichte, daher Hunger, Krankheiten und Verteilungskämpfe.
Der Natur ist das alles egal, sie hat weder ethische noch humane und schon gar keine humanistischen Hemmungen. Sie ist ja auch niemand Fassbares, verfügt weder über Plan noch Ansprechpartner, nicht einmal über das gesetzlich vorgeschriebene Impressum, und setzt voll und ganz auf das Prinzip Versuch und Irrtum. Die enormen Kollateralschäden nimmt sie ungerührt in Kauf. Es hat ja im Großen und Ganzen bis jetzt gut funktioniert.
Der Mensch jedenfalls ist ein Sonderfall, denn er macht sein eigenes Ding, indem er sich unbegrenzt vermehrt und die Natur ausplündert. Durch Überbevölkerung, Klimawandel und schwindende Ressourcen droht der Mensch sich in eine selbst verursachte Krise treiben zu lassen, die zwar die Natur auf lange Sicht kalt lässt, dem Menschen selbst aber schadet. Um eine selbst gemachte Klimakatastrophe zu vermeiden, wären Intelligenz und systematische geistige Weiterentwicklung des Menschengeschlechts nötig.
Erfolg
Es stellt sich die Frage, wem die Existenz des Menschen eigentlich dient und zu wessen Wohl sein Algorithmus ausgelegt ist. Ist der Mensch – wie jeder Organismus der übrigen Natur auch – als eigene Existenz und für sein eigenes Wohl geschaffen und mit einem Algorithmus versehen, der ihn in jeder Lage unterstützt?
Nein, ist er nicht. Es muss doch stutzig machen, dass Menschen zuweilen in eine tiefe Depression fallen und sich das Leben nehmen. Wenn es hart auf hart geht, lässt uns unser Algorithmus schändlich allein und leitet sogar die Selbstzerstörung ein.
Es ist ganz einfach: Wenn du Erfolg hast, wird dich dein Algorithmus fördern und mit guten Gefühlen belohnen. Versagst du aber, bestraft er dich durch seelische Nöte. Und wenn du dich nicht besinnst und nicht wenigstens die Hoffnung auf ein paar kleine Erfolge nährst, gibt er dich auf und lässt dich gnadenlos fallen.
Damit wäre auch die Frage beantwortet, wie die Natur mit ihren Lebewesen umgeht: Sie wirft sie einfach so, wie sie eben geworden sind, in die Welt und erwartet Erfolge von ihnen, kein bisschen anders als ein eiskalter Investor, der seine Anlagen breit streut und als Investitionen ansieht, die sich gefälligst zu lohnen haben – möglichst schnell; Effizienz, Effizienz! Nicht lohnende Investitionen werden nicht unterstützt und schließlich aufgelöst.
Der Erfolg einer Firma lässt sich am Gewinn ablesen, was aber soll Erfolg für einen Organismus sein? Auf kurze Sicht bedeutet es, dass er genügend Belohnungssubstanz erarbeitet, einen hohen seelischen Pegel erreicht und damit nachweist, dass er gut an die gegenwärtigen Verhältnisse angepasst ist. Dann wird er mit Wohlergehen und einem hohen Selbstwertgefühl belohnt. Aber muss das wirklich sein? Denn auf längere Sicht und als Ziel der ganzen Investition überhaupt gilt es, sich in die nächste Generation hinein fortzupflanzen. Das wäre das Wichtigste: sich zu erhalten und fortzupflanzen. Unter welchen Bedingungen dies letztlich geschieht, wie die Lebewesen sich selbst fühlen, ob sie gut versorgt oder ihr Leben im Kampf gegen Raubtiere, Stress, Entbehrungen, Hunger, Krankheiten und widrige Ihresgleichen führen müssen, ist für die Natur ohne Belang.
Nicht ohne Grund kommen so manchem Denker gewisse Zweifel ob der Sinnhaftigkeit des Lebens insgesamt. Wenn man das breitgestreute auf den Markt werfen und schauen was sich behauptet als Strategie einer natürlichen Entwicklung ansieht, ließe sich als durchaus beabsichtigtes Ziel der Natur leicht herausdeuten, dass sie ihre Lebewesen automatisch zu immer größerer Widerstandsfähigkeit gegen lebensfeindliche Eventualitäten weiterentwickelt, allerdings mit riesigem Kollateralschaden an den vielen, die es nicht schaffen. Widerstandsfähig gegen Naturkatastrophen wie Vulkanausbrüche, Meteoriteneinschläge, Klimawandel, Krankheiten aller Art und was auch immer.
Als die Dinos ausstarben, haben die in ihrer Entwicklung höherstehenden Säugetiere überlebt. Aus Sicht der Natur wäre ihrem Entwicklungswunsch am besten gedient, wenn die jeweils nächste Generation der Menschheit wenigsten ein bisschen weiter entwickelt wäre als die vorhergehende, denn inzwischen ist es doch der Mensch selbst, der die Natur als Ganzes bedroht, der durch Allmachtsstreben und naturfeindliches Handeln wie Übervölkerung und Plündern der natürlichen Ressourcen im Moment die größte und sehr präsente Gefahr darstellt. Die Natur selbst hat sich als Zauberlehrling böse vertan: Die Menschen, die ich schuf, werd‘ ich nicht mehr los … Einige Arten sind seit Jahrmillionen nahezu unverändert, haben sich kein Stück weiterentwickelt, weil es einfach so wie es ist super funktioniert, aber der Mensch … Da kann die Natur höchstens noch auf den menschlichen Verstand hoffen, dass dieser nämlich ein neues Ziel ins Auge fasst mit dem Bestreben, ausufernde Anzahl und Ansprüche der Menschen zu reduzieren, sich zu bescheiden und sich als Teil der Natur, als deren Heger und Pfleger und nicht als arroganter Herrscher und Plünderer zu verstehen.