Читать книгу Mit Onno durch Ostfriesland - Wolfgang Manfred Epple - Страница 4
Mit Onno zum schiefsten Turm der Welt
Оглавление„Kennste das Rheiderland“, fragte Onno, „warst du schon mal im Rheiderland?“
„Ditzum“, sagte ich, „die Mühle.“
„Also“, sagte Onno, „ich werd‘ dir heute mal was zeigen, da kommste aus dem Staunen nicht mehr raus.“
Wir haben wieder die Räder genommen, weil Onno gesagt hatte, seit ich hier oben wohne, da hätt er endlich einen Grund, mit dem Rad zu fahren, zu lange habe er sich schleifen lassen.
Onno übernahm die Führung. Zügig ging‘s voran, am Bahndamm entlang, bei der Post vorbei und bei C&A.
„Uferpromenade?“ rief ich.
„Nee“, sagte Onno. „Links. Links rüber.“
Wir links rüber und über die Straße, bei Rot, und vor uns lag ein Hafenbecken mit flachen Kähnen mit Kies drauf oder Sand. Und da waren Kräne am Kai und Sandberge und aufgebockte Schiffchen. Eingelassene Schienen auf dem Fahrweg hemmten unser Vorwärtsrollen.
„Das ist alles Teil des Industriehafens“, sagte Onno.
„Was riecht denn da?“ fragte ich, „was qualmt denn da vorne?“
„Nicht war“, sagte Onno, „das ist ein Parfümchen.“
Eine Brauerei war’s nicht, es war die Ölmühle Connemann, die da ihren Duft verströmte.
„Rapsölmethylester“, sagte Onno, „Biodiesel, hochsubventioniert - bei Multi kannst es tanken, wenn du dich traust -; mein Bruder sagt immer, das riecht wie der Furz eines Vegetariers.“
Ich lachte fünfzig, sechzig Meter weit, bis Onno „Vorsicht!“ rief und einen Schwenk nach links machte. Hinter uns zurück blieben die bunten Öltanks, es ging hinaus aus Leer, die Straße machte einen Rechtsbogen, und bald tauchten Schrotthügel hinter rostigen Zäunen auf und ganze Gebirge von zersplitterten Paletten und Holzbrettern, und wir sahen Wasser und Schiffe und wieder Kräne; und das war der Handelshafen von der Rückseite.
„Evert Heeren“, sagte Onno. „Schrottkönig. Alle zwei, drei Jahre fackelt der seinen Laden ab.“
Es ging bergan, Onno sagte, „Früh herunterschalten, sonst saugt ’s dir das Mark aus den Knochen, auf dem Rückweg.“
Ich wählte den dritten Gang, und ganz flott erreichten wir eine Brücke und ein Brückenhäuschen.
„Rechts ist die Seeschleuse“, sagte Onno. „Voriges Jahr ist das halbe Hafenbecken leergelaufen, weil der Wärter besoffen war.“
„Nicht übel“, sagte ich, „das wär ’n Job…“
„Nee, weißte“, sagte Onno. „Nichts für mich: den ganzen Tag die Beine hoch und Playboy lesen. Wenn schon, dann auf der Jan-Berghaus-Brücke. Da siehste wenigstens was von der Welt.“
Im Hui ging‘s bergab über die Groninger Straße und an einem Urwald vorbei mit mannshoher Pestwurz und zerborstenen Weiden und allerlei verrottetem Unterholz.
„Wir müssen rüber“, sagte Onno an der Ampel.
Nach der Ampel schob ich erneut den dritten Gang rein.
„Halt!“ rief Onno, „sachte!“ Und sein Bart flatterte ihm um die Ohren. „Langsam! Jan-Berghaus-Brücke!“
Neben uns hatte sich eine Autoschlange gebildet, und vor uns stauten sich andere Fahrräder. Und dann war eine Wand, eine graue, hohe Barriere bis in den Himmel hinauf, die hatte einen weißen Mittelstreifen, und da blinkte links und rechts unter uns ein Fluss; „Die Ems!“ rief Onno.
Wir kamen zum Stehen.
„Das mein ich“, sagte Onno, und seine Brillengläser funkelten. „Das hier ist live. Du meine Güte, das kannst du dir gar nicht vorstellen, was hier los ist, wenn wieder einer von Papenburg runtergeschlittert kommt. Letzten Herbst erst war’s die Radiance Of The Seas. Lag die Nacht über in Leerort. Wie das aussieht - alles leuchtet, fünf Stockwerke hoch und anderthalbmal so lang wie die Titanic.“
Und Onno sagte, letzten Herbst sei’s gewesen, da hätten die zum ersten Mal eine Würstchenbude hingestellt, diese Penner, das hätten sie längst schon machen sollen - direkt gegenüber - und was das für ein Geschäft wär, eine eigene Würstchenbude und Bier, bei dem Andrang.
„Tausende“, sagte er, „Zehntausende sind das. Der ganze Deich ist schwarz von Menschen“, und in Oldersum hätten sie’s bereits verboten, weil die alles kurz und klein trampelten - besonders die Pottis. „Und demnächst“, sagte er, „kommt’s noch dicker. Da überführen sie nämlich die Brillance Of The Seas, die wär noch ein Stückchen größer, daneben nehme sich die Titanic wie ein Rettungsboot aus. „Sollst mal sehn“, sagte er, „das vergisste dein Lebtag nicht, da kannste deinen Enkeln noch von erzählen - ich nehm dich mal mit.“
Ein Schiff mit langem Mast durchfuhr die offene Lücke, die Wand senkte sich sachte ab, wurde wieder Straße, und die Motoren sprangen an, und die Radler huckten auf; manche riefen, „ich bin nicht schwindelfrei!“, und stiegen wieder ab und hielten den ganzen Verkehr auf. Wir hinterdrein in Schrittgeschwindigkeit.
Da drüben, sagte Onno, hätt er mal ein Schiff zu liegen gehabt, in der Marina von Bingum, und die Häuschen zwischen dem Grüngemüse, das seien keine Gartenhäuschen, sondern Camper von überall her, hauptsächlich Holländer, und sein Schiff, das hätte er nun nicht mehr, das würde sich nicht mehr lohnen, nach Holland durch die Kanäle, und sein Schiff hätte eine Ruderpinne besessen und Wasser in der Bilge und ein Helmholz, überhaupt sei alles aus Holz gewesen, mit fünf Mann hoch hätten sie drin übernachtet so manches Mal, schade, dass wir nicht, aber bei Ebbe liege der Kahn ganz schief im Schlick, wenn man keinen gescheiten Liegeplatz, und auf diese Weise wär es kein Vergnügen, so dicht aufeinander wie die Heringe, und immer nur Kniffel, das könne einen wahnsinnig machen, und mit dem Wein müsse er auch kürzer treten, seit der Arzt im März; es lasse sich nicht verleugnen: ein eigenes Boot sei doch ein rechter Klotz am Bein.
„Mensch, guck mal“, sagte ich, „das ist ja klasse!“
Der Radweg lief jetzt nicht mehr direkt neben der Straße; er lief unterhalb des Deiches, es war ruhig, bis auf das Gellen der Lerchen in der Luft und dem gelegentlichen Schafgeblöke; und das sei die Dollard Route, sagte Onno, da könne man bis Eemshaven und noch weiter. Mich wunderte, dass da Dollard auf dem Schild stand und nicht Dollart, aber Onno wusste keine vernünftige Antwort, er meinte, das hänge irgendwie mit dem Euro zusammen.
„Jemgum!“ rief Onno, fünfzig Meter vorneweg. „Pause!“
Dann hielt er neben einer roten Mauer.
„Pause“, sagte ich, „das ist gut.“
Onno war abgestiegen und sagte, eigentlich reiche es ihm für heute, zwar schwitze er wie ein Schweinebraten, „aber mein Schal, ich hab meinen Schal vergessen, und wenn ich Zug kriege, ist meine Stimme weg, und die brauch ich heute Abend.“
„Honig“, sagte ich, „oder ein Glas Milch.“
„Auch ein Fisherman‘s Friend?“ fragte Onno und sagte, „Na denn. Da hinten ist das Luv up“, als wir durchs Sieltor radelten. „Biergarten und Speiserestaurant - dort haben wir unsere silberne gefeiert. Hätte mir Ilse nicht ‘ne Kleinigkeit eingepackt, würden wir da auf ‘n Sprung rein - die Scholle ist ausgezeichnet.“
Da reihten sich Lampen am Stiel, mit Jever drauf, bis nach hinten hin, wo die Ems vorbeizog - mit auflaufender Flut, wie Onno wusste; und: „komm, wir hauen uns auf ’ne Bank. O Mann, hab ich Schmacht!“
Wir lehnten unsere Räder an und pflückten unsern Picknickkram vom Gepäckträger und pflanzten uns auf die Bank, mit Blick aufs Hafenbecken. Die Spaßboote und Sonntagsjachten lagen tief unten in einer gelblich-grünen Brühe mit Schaumflocken drauf. Sachte schlich sich die Flut herein. Links außen zur Ems hin lag die Bounty Luv up, Jemgum und daneben die Finnklipper 29, mit einer dicken Frau im Ruderhaus, die putzte Fenster. Hinter uns rauschten die Weiden im auffrischenden Ostwind, der Himmel hatte sich grau verdichtet. Eine Gruppe Radtouristen kam herzu. Einer rief, hier sei früher mal ein Schwimmbad gewesen.
„Prost“, sagte Onno und riss ein Jever auf.
„Jou“, sagte ich und riss ein Öttinger auf. „Sind das Duckdalben?“ fragte ich und wies auf die Pfosten im Wasser, an denen die Schiffe festgebunden waren.
„Volltreffer!“ sagte Onno in das Brummen eines einmotorigen Sportflugzeugs hinein, das dicht über unseren Köpfen vorüberflog. „Sozusagen“, rülpste er, Bierschaum im Bart.
„Und die Säcke da oben dran, die komischen Turnbeutel?“
„Turnbeutel“, sagte Onno, und seine Brillengläser funkelten. „Fender sind das, haste noch nie was von Fendern gehört? - So ’ne Speckrollen“, sagte er plötzlich und wies mit dem Kopf auf einen Trupp Jungs, die platt redeten und tropfnass von der Ems herzuplatschten. „Hätt ich schon damals solche Ringe gehabt, wär ich heute nicht verheiratet.“
„Ich weiß nicht“, sagte ich. „Platt klingt schön.“
„Denn woll’n wir mal ‘ne Checkung machen“, sagte Onno und wühlte in seiner Jutetüte. Er verputzte das ganze Hähnchen und spülte mit zwei weiteren Dosen nach. „Isst du nix?“ fragte Onno, Fleischfasern im Bart und Bierschaum. Ich hatte Mühe, mein halbes Hähnchen runterzubringen. „Aus dir wird nie was“, sagte er und klappte die Augen zu.
Zilpzalp, Buchfink. Zwei blonde Mädel auf dem Rad, die „Michi – Michel!“ riefen. Auf der Finnklipper 29 saß jetzt kauend die Mama und, fett, zwei igelköpfige Bengels. Sie saßen draußen im Heck und saßen da wie in einer Badewanne.
„Manchmal“, gähnte Onno, „manchmal möchte ich wohl wieder ein Boot haben.“
„Kuckuck“, sagte ich, mit Kleingeld klimpernd, „da drüben ruft ein Kuckuck. Ist da schon Petkum?“
„Dösbaddel“, sagte Onno und fing an, sich hinzulegen. „Petkum liegt gegenüber von Ditzum.“
Das Wasser im Hafen kräuselte sich und strömte immer schneller herein. Ein Fasan krähte, und überall die Stimmen der Skipper, die sich auf ihren Schiffen und schiffsübergreifend unterhielten; und der Junge mit der Speckrolle nahm Anlauf und sprang zwischen die Schiffe ins Wasser. Die Duckdalben wurden kürzer, eine Ente flog schnatternd gen Ems. Die Boote lagen vertäut und knarzten an den Fendern. Leute standen an Deck und knoteten herum oder hockten in der Plicht und starrten vor sich hin. Manche stiegen hinab, andere kamen herauf und zurrten was fest oder läuteten die Glocke oder schossen einen Tampen auf oder pinselten was an.
Das Wasser stieg weiter, die Schaumflocken verschwanden und segelten weiter in den hinteren Hafenbereich. Dann kam ein Tanker mit brausender Bugwelle von Emden hochgedröhnt. „Ganz schönen Zahn drauf“, sagte ich.
„Logisch“, sagte Onno, ohne die Augen aufzuklappen. „Der nutzt die Tide.“
Eine Beleibte mit Düsseldorfer Akzent hielt sich an der Leiter fest und sagte „Kühltasche“ zu ihrem Mann, der an Bord stand und eine blaue Latzhose trug und die Achseln zuckte.
Die Kirche machte „Bim“; und es begann nach nassem Fisch zu riechen.
„Wann kommt ihr“, fragte die Frau auf der Badewanne einen mit Kapitänsmütze, der ein Fahrrad herbei schob.
„Lagerschaden“, sagte der Mann, „ich liege draußen“.
„Oh“, sagte die Frau, „kannste ihn nicht einfach reinrollen lassen?“
Der Achselzucker hörte auf, die Achseln zu zucken, kam die Leiter rauf und steckte sich eine an und stellte sich neben eine Frau, die gellend lachte.
„Wie schnell das jetzt geht“, sagte ich. „Nicht zu fassen.“
Onno hatte die Augen zu und den Mund offen. „In den paar Minuten ist das einen Meter gestiegen.“
„Tausend Euro“, sagte die Dicke an der Leiter.
„Lagerschaden“, sagte die in der Badewanne zu ihren beiden Jungs.
Keines der Boote verließ seinen Platz, alle blieben liegen und knarzten an ihren Fendern. Es kam auch nichts herein. Der Fasan krähte, die Zilpzalpe zilpzalpten; in der Ferne brüllte ein Motorrad vorüber. Ganz am Ende, unweit des Sieltors, längsseits, lag die Kap Hoorn Jemgum eine Art Schlepper, glaubte ich, aber ich fragte nichts mehr, weil Onno anfing zu schnarchen.
Drüben bog sich Schilf im Wind, mit lehmverkrusteten Füßen. Anderthalb Meter noch, dann ist das Becken voll. Die in der Badewanne saßen dicht aufeinander, und die Frau zeigte überall hin mit dem Finger, und die Knaben saßen brav und hörten zu, was sie sagte. Dann kam die aus Düsseldorf dicht vor unserer Bank vorbei und sagte: „Moin“. Sie war gar nicht aus Düsseldorf, blieb vor der Familienwanne stehen und schnackte plattestes Platt. Die Mutter in der Badewanne sagte „Schlafsack“ und hielt sich eine Flasche an den Mund.
„Slipgebühren“, sagte der Lagerschaden zu der Frau in der Wanne, die Mariannchen hieß. „Sie zahlen einfach keine Slipgebühren.“
„Wir haben keinen Hafenmeister“, sagte Mariannchen, „das ist doch privat hier, das gehört doch uns.“
„Die müssten einfach eine Kette davorlegen“, sagte der Lagerschaden. „Kombinationsschloss, und fertig!“
„Die kommen einfach so rein“, sagte Mariannchen. „Nu guck dir das an: Einer hat sogar den Weg versperrt - in Ditzum nehmen sie hundert Euro!“
„Hundert?“
„Für den Kran.“
„Das ist doch wohl das Wenigste“, sagte der Lagerschaden. „Das ist doch wohl das Wenigste - Mariannchen, da sind schon wieder welche!“
Nachdem ich Onno wachhatte, und ein Motorboot mit Vollgas emsab raste, und die Weiden immer lauter rauschten, sagte Onno: „Komm mit, ich zeig dir jetzt den tiefsten Punkt Ostfrieslands.“
Ich hinterher, und dann standen wir vor der Tür mit dem Schildchen Herren, und Onno sagte: „Da unten!“ und setzte sich auf die Brille, und ich sollte draußen warten, bis er fertig wär.
Ich zurück zu den Rädern, und wir packten zusammen, nachdem Onno erleichtert zurückgekommen war.
„Fahr ’n die nie raus?“, fragte ich, als wir den Hafen durchs Sieltor verließen. „Wieso hocken die da in ihren Kähnen und legen nicht ab?“
„Davon verstehst du nix“, sagte Onno. „Vorsicht, Schafschiet! Eine Hand fürs Schiff und eine für dich selbst“, sagte er und lenkte nach rechts.
Wir waren wieder auf der Dollard Route, unterhalb des Deiches. Die Schafe fraßen Gras und pflückten Gänseblümchen und schissen. Manche waren geschoren. Einige mähten. Alle hatten dumme Augen.
„Die Kirche von Jemgum“, sagte Onno, „die sparen wir uns.“
„Scheint mir bisschen schief zu stehn.“
„Schief? Dann warte man ab - da hinten in dem Mühlenstumpf wohnt übrigens Peter Cornelius. Ganz prima hat er sich das zurechtgemacht, direkt gemütlich.“
„Mühlen“, sagte ich, „nichts als Mühlen und Kirchen.“
„Weißt du, wie gefährlich der Beruf eines Müllers gewesen ist?“
„Nein“, sagte ich, „aber ich kann’s mir vorstellen, bei all dem Schnaps und all dem Kruiden.“
„Totgestürzt“, sagte Onno, „die meisten haben sich zu Tode gestürzt.
„Himmel“, sagte ich, „der Wind hat gedreht. Ich glaube, ich sollte mal meine Kette ölen.“
Dann waren wir raus aus Jemgum, das sich ganz schön lange hinzog. Und links die Weiden; und der Hahnenfuß blühte, und die Pusteblumen standen auf dem grünen Gras wie kleine Lämpchen; und überall Kühe und Bauminseln mit Gehöften am Rot-Hervorschimmern; und ein dickes schwarze Rohr lief zwischen Weg und Schlot; und rechterhand der Deich und die Schafe; und kurz das Gras; und: „Die haben die Ruhe weg“, sagte Onno, der neben mir radelte. „Pass bloß auf, dass du nicht an einen Bock gerätst - der da vorne - Achtung!“
Dem Bock hing die Wolle in schmutzigen Zotteln bis zum Boden herunter. Er glotzte aus gelben Augen, und sein Schwanz war ganz gelbgepinkelt und braunverkrustet.
„Der nimmt uns an!“ rief Onno. „Warschau!“
Der Bock senkte den Kopf mit den gedrehten Hörnern, machte einen Bocksprung - und vorbei waren wir.
„Möh“, schrie der Bock, und die ganze Herde antwortete „Mäh“ und „Mee“ und sprang wie unsinnig durcheinander, und die Lämmer überkugelten sich und sollen gut schmecken mit Rosmarin, sagte Onno.
Es waren Kiebitze in der Luft, Hähne krähten unsichtbar; ein Tross Rennradler kam herangebraust in wilder Fahrt, mit bunten Trikots. „Harrijasses!“ schrie der Anführer, die Schafe bekamen einen Schreck, „Achtung!“ schrie ein zweiter, dann waren sie durch und wir wieder allein.
„Zum Kotzen“, sagte Onno an einer T-Kreuzung.
Midlum, stand in gelber Schrift auf einem grünen Schild. Kirche.
„Links“, sagte Onno und dann „Stopp!“
„Diese Stille“, sagte ich, „hörst du diese Stille. Und diese Weite des Himmels - unendlich!“
„Na, also“, sagte Onno, den Reißverschluss seiner Jeans schließend. „Midlum. Gleich wirste Bauklötzer staunen.“
„Ich glaub, es gibt Gewitter.“
„Mach hin“, sagte Onno, „ich übernehm wieder die Spitze.“
Der Weg wurde steinig, wir zerknirschten und zerbröselten Ziegelsplitt. Graben rechts, Graben links. Klee, kein Löwenzahn. Eine Holztränke auf Stelzbeinen. Kühe am Schnaufsaufen. Bleiern das Licht am Ortseingang Midlum. Schattiges Dämmergrün. Bemooste Eschen hinter Graben mit Entengrütze. Roter Gulfhof mit grünem Tor und tausend Fenstern. Ein Trecker kam herangerumpelt, hintendran ein Brett mit vier Kindern drauf, die jauchzend Stöcke übern Boden schleifen ließen. Eine Kastanie mit Kerzenschmuck; und dann stießen wir auf die Hauptstraße.
„Hier ist der Hund begraben“, sagte Onno. Er fuhr um eine Kurve und rief: „Wo isse denn?“
Und fertig war Midlum.
„Halt!“ rief er, „Stopp!“ und schwenkte links rüber auf den Hof einer Tankstelle. „Wo ist denn das verdammte Ding!“
„Viel Möglichkeiten sind hier wohl nicht“, sagte ich. „Da, dahinten, vielleicht.“
„Die Schornsteine doch nicht, du Schwachmatikus“, sagte Onno, „das gehört zur Ziegelei.“
Stück zurück, ziemlich enge Angelegenheit.
„Und die Touris rasen hier durch wie die Beknackten! Kein Wunder, dass - hier lang“, sagte Onno.
Ein unscheinbarer, klinkergepflasterter Weg führte zwischen Gärten zur Warft hinan. Hinter einer Eibenhecke blühten Erdbeeren unter blauen Netzen und Johannisbeeren unter grünen Netzen. Apfelbaum, Gewächshaus, Sandsteinmäuerchen. Mutter und Tochter klopften mit Spaten Mist auf Beeten platt.
„Pfarrhaus“, sagte Onno zu dem Rotsteinhaus, das mit weißen Fugen und grüner Tür und weißen Fensterkreuzen tiefverschattet unter einer blühenden Kastanie stand.
„Nur du, nur du“, rief eine Taube, und die rothaarigen Weiber klopften ihren Mist platt und hatten kein Auge mehr, für das, was unweit herumstand.
„Na“, sagte Onno und lehnte sein Rad an. „Da biste platt, wie?“ Haste so was schon gesehn?“
„Aber“, sagte ich, „hab mal ein Büchlein gelesen, das hieß „Schiefer als Pisa“ oder so ähnlich, mit ‘nem Cover, da war ein Turm drauf, der war verdammt noch viel schiefer als der hier.“
„Alles klar!“ rief Onno.
„Was?“
„Da!“
Vor uns ragte, schief wie ein zusammenbrechendes Bücherregal - und nicht viel größer - der schiefste Turm der Welt. Bis vor kurzem, sagte Onno, habe man den Turm von Suurhusen als Rekordhalter geführt, seine Neigung sei wesentlich stärker, verglichen mit dem zu Pisa, aber neulich habe man hier nachgemessen wegen dringender Stabilisierungsarbeiten, und nun sei der Pastor von Suurhusen traurig, denn nun sei es bewiesen: keiner kann es mit Midlum aufnehmen. Zwar sei er viel kürzer, aber das bedeute nichts, „Auf den Neigungswinkel kommt es an, nur auf den Neigungswinkel. Der ist vielleicht SAUER!“ grölte Onno, dass die Weiber aufhörten mit Mistklopfen. „Na, ist das nichts, hab ich dir zu viel versprochen?“
Der Turm war alt, uralt wie so viele Kirchen in Ostfriesland. Und: „Eins - zwei - drei … zehn Fenster“, zählte Onno laut.
„Stimmt“, sagte ich und zählte die auf der anderen Seite. „Bei mir sind’s auch zehn.“
„Witzbold“, sagte Onno. „Wie spät ist es eigentlich?“ Das Kirchenschiff stand, getrennt vom Turm, inmitten von Grabsteinen.
„Muscheln!“ rief ich. „Wie kommen denn die Muscheln auf einen Weg in Midlum?“
„Sturmflut“, sagte Onno. „Große Manndränke. Marcellusflut.“
„Rungholt?“
„Geographie sechs“, sagte Onno. „Das Beste ist, wir fahren jetzt; ich hab ’nen Snirtjebraa in Auftrag gegeben - du kennst doch Snirtjebraa?“
„Dittjes und Dattjes.“
„Komm in die Hufe, ich glaub, da braut sich was zusammen.“
„Was macht wohl die Flut?“ fragte ich. „Lass uns in Jemgum nochmal ins Hafenbecken.“
Donnergrollen fuhr mir ins Wort, und Onno wiegte sich wie wild über den Pedalen und gewann zügig an Vorsprung.
Blitze zuckten, und Regen setzte ein, als wir am Libanesischen Imbiss in Bingum vorbeirasten.
„Zurück!“ brüllte Onno. „Halt an!“
Ich bremste beidhändig.
Wolkenbruch.
„Na, Mussa, alter Zickenbrutzler“, begrüßte Onno den Inhaber.
„Wie immer?“ fragte Mussa.
„Meine Ehre heißt Treue.“
An Tisch sagte Onno, das wär knapp gewesen, auf der Jann-Berghaus-Brücke hätte es uns leicht ein Blitz erwischen können.
Der Regen peitschte gegen die Fenster. Auf Onnos Teller dampften unter weiß-roter Soße vier verschiedene Fleischbrocken, eine doppelte Portion Pommes und zwei händevoll Champignons.
„Warum isst du denn nichts?“ fragte Onno mich und meine Kola.
„Ich hab ’nen Snirtjebraa in Auftrag gegeben.“