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Reviere
ОглавлениеKurz vor Jajce, berichtete vom Balkan die FAZ (am 14.9. 1996), verlaufe das, »was im Jargon der Friedensstifter Inter-Entity Boundary Line heißt, abgekürzt IEBL. Diese innere Demarkationslinie zwischen Republika Srpska und Föderation ist mehr als tausend Kilometer lang. Dem Buchstaben des Friedensvertrages zufolge ist die IEBL nicht mehr als die unsichtbare Linie zwischen zwei Verwaltungsbezirken und darf von den örtlichen Polizeien nicht überwacht werden. In Wirklichkeit wagt sich kaum ein Kroate oder Bosniake auf serbisches Gebiet und kaum ein Serbe in die Föderation.«
Aber nicht wegen der Gefahr allein, denn das Risiko hatten die Menschen in Jugoslawien gesucht, statt es zu meiden, andernfalls hätten sie keine Sezessionskriege und Bürgerkriege geführt. Ihr Elend besteht darin, dass nunmehr hinter der Grenze kein Neuland ist, sondern noch einmal dasselbe. Das Kämpfen, ihr Hauptspaß, macht keine Freude mehr, weil der Eroberer sich wie der Hamster im Tretrad fühlen muss, der unentwegt »no place to run, no place to hide« murmeln würde, wenn er sprechen könnte. Denn alle Wege führen dorthin, wo er herkam. Er bleibt in Bosnien, und wie Bosnien ist die Welt.
Mit Grenzen hatte sich einmal die Vorstellung verbunden, dass »hinter den Bergen bei den sieben Zwergen« eine andere Welt beginne. Dort, so die Hoffnung, würde man eine Art von Schönheit finden, wie sie selbst die Schönen und die Reichen in dieser Welt nicht besitzen können, weil sie durch Härte und Gemeinheit verunstaltet sind. Dergleichen Hirngespinste setzten voraus, dass in der wirklichen Welt noch Gebiete existieren, wo die Ideen vor der Überprüfung durch den verifizierenden Verstand geschützt sind.
Die unbekannten, unzugänglichen Länder aber gehören der Vergangenheit an, seit alle weißen Flecken auf der Landkarte verschwanden. Auf provozierende Art erinnert daran die Cola-Reklame. Durch ihre Präsenz noch im tiefsten Elend macht die Weltmarke dem Zuschauer ihre Botschaft glaubhaft, welche heißt: »Ich erwische dich überall, du entkommst mir nie und nirgends.«
Nur der Ostblock gab sich verschlossen, undurchsichtig. Er zog die Aggression auf sich, in welche der vergebliche Wunsch nach einer Zuflucht umgeschlagen war. Aber die Ablehnung blieb ambivalent, wie in solchen Fällen immer, und es klang ein sehnsüchtiges Verlangen nach dem Land »hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen« mit, wenn es abschätzig und angewidert hieß »hinter dem Eisernen Vorhang«. Der war nur keiner, wie man inzwischen weiß. Die Mauer entpuppte sich als Schleier, und als der fiel, lag dahinter die One World. Heute beginnt und endet an der Demarkationslinie daher nichts. Fast sehnt man sich zurück nach dem gehässigen »Geht doch nach drüben«, welches früher die Empfehlung der Passanten an die Demonstranten war. Die Deportationsdrohung klingt wie eine Verheißung, seit es kein drüben mehr gibt.
Wenn hinter jeder Zelle die nächste kommt, heißt das, dass man im Gefängnis ist. Allerdings hat es sich verändert. Die mächtigen Mauern, die für tatkräftige, listige Insassen immer auch ein Ansporn sind, sie zu überwinden, weil dahinter die Freiheit winkt, waren obligatorisch in der alten Zeit, wo zum Warenregal nur der Verkäufer Zutritt hatte, wo man für die U-Bahn am Schalter bezahlte und im Bus der Schaffner kam. Heute sind Sperren, Zäune und Gitter oft durch IEBLs ersetzt, durch Grenzen, an denen weder Pass noch Fahrschein vorgezeigt werden muss. Mittels Gewalt oder List durchbrechen lassen sie sich nicht. Sie sind unüberwindlich, weil das Erreichen der anderen Seite keinen Vorteil bringt.
Dergleichen imaginäre Linien haben vermutlich existiert, seit die ersten wilden Stämme aufeinandertrafen, die zwar Gebietsansprüche erhoben, aber keine Grenzbefestigungen kannten. Weil ein Stück Wald dem anderen gleicht, geschah es leicht, dass einer sich beim Jagen auf fremdes Territorium verirrte, was Strafe nach sich zog, wenn er dabei erwischt wurde. In der bürgerlichen Gesellschaft aber schien Freizügigkeit allgemeines Recht zu sein. Wo der Zutritt verboten war, war er auch verwehrt.
Das änderte sich wieder, als Anfang der Zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts inmitten der modernen Großstadt die Herausbildung von Einflusszonen und Gebietsgrenzen geschah, die weder ausgeschildert waren noch dem Stadtvermessungsamt bekannt. Wie an Saudi-Arabiens Grenze keine Tafel darüber informiert, dass an amerikanischem Interessengebiet sich vergreift, wer in den nah-östlichen Ölförderländern wildert; oder wie in Miami kein Schild mit der Aufschrift »Achtung! Lebensgefahr! Sie verlassen jetzt den zivilisierten Sektor« den ortsunkundigen Touristen vor der Weiterfahrt in den Slumgürtel warnt, so wies im Chicago der Zwanziger Jahre kein öffentlich verkündetes und zur Einsichtnahme ausliegendes Dekret den künftigen Betreiber einer Flüsterkneipe in der Halsted Street daraufhin, dass dort eine Konzession von Al Capone benötigt würde.
Zwar waren Grenzen ohne Ausschilderung, Markierung und Rechtsgrundlage nicht ganz unbekannt. Mit der Monroedoktrin von 1823 hatten die USA Anspruch erhoben auf den ganzen amerikanischen Doppelkontinent. Den behandelten sie fortan als ihr Revier, etwa in dem Sinn zunächst, wie Hunde in einem durch Duftmarken bezeichneten Bereich keine Rivalen dulden. Anfang des 20. Jahrhunderts dann, als Kuba erobert wurde, war der Staat ein Racket in dem Sinn, dass er fremde Länder seinem Machtbereich einverleibte und sie den eigenen Interessen unterwarf. Capone hätte von McKinley gelernt haben können oder von Roosevelt, dessen Wahlspruch »Speak softly and carry a big stick« das Erfolgsrezept kluger Mafia-Bosse ist. Es war allerdings ein wechselseitiges Geben und Nehmen, insofern McKinleys politische Lehrzeit in die Jahre nach dem Bürgerkrieg fällt. Verwaltung und Regierung machten damals gemeinsame Sache mit dem kommerziell kalkulierenden Teil des organisierten Verbrechens, während der andere, mehr auf schnelle Triebbefriedigung bedachte, unterdessen Schwarze jagen ging.
Überhaupt konnte das Bandenwesen selbst keinen überraschen. Es kommt über alle Epochen hinweg so häufig vor, dass Barrington Moore lakonisch konstatierte: »In Ländern, in denen Gesetz und Ordnung schwach sind, entsteht fast immer ein Gangstertum.« (Moore 1974:255) Dessen amerikanische Anfänge haben Historiker bis ins Jahr 1719 zurückverfolgt, und schließlich waren es die Siedler – kleine Gruppen mit hoher Gewaltbereitschaft, also Banden –, denen die Nation ihre Existenz verdankt. »A history of crime in America«, schreiben daher Frank Browning und John Gerassi in The American Way of Crime, »cannot help but be a history of America, in which the sagas of the outlaw and the gangster, the rebel and the mob, the crusader and the horde, are played back again and again in counterpoint to the dominant themes of unbridled progress and prosperity.« (Browning/Gerassi 1980:13)
Nun aber sahen die Banden anders aus, nicht mehr wie die alten Outlaws und Gangster. Die kannte man als klar umrissenen und von den übrigen Bürgern deutlich unterschiedenen Personenkreis. Sie lebten in der Illegalität, sie wurden verfolgt und sie waren geächtet. Sie machten Gebiete unsicher, eine dauerhafte Herrschaft installierten sie dort aber nicht. Sie waren ungebunden, bindungslos, es fehlte ihnen die Schwere. Denn ihre Macht war flüchtig, und sie selbst waren dauernd auf der Flucht.
Davon konnte bei Capone keine Rede sein. Als 1927 der von ihm protegierte Kandidat zum Bürgermeister von Chicago gewählt worden war, quartierten der Gangsterboss und sein Stab sich als Dauermieter in 50 Zimmern eines nahe Rathaus und Polizeihauptquartier gelegenen Komforthotels ein. Beamte und Politiker sollten kurze Wege haben, denn die engen Geschäftsverbindungen erforderten regen Besucherverkehr: »Vom Polizeigebäude, das in Wirklichkeit zu einer Söldnergarnison geworden war, die sich für den höchstzahlenden Condottiere zur ständigen Verfügung hielt, kamen Polizeibeamte, um ihren Lohn für geleistete Dienste zu kassieren – wie etwa für den Geleitschutz bei Alkoholtransporten; für Vorankündigungen von Razzien, die zur Beruhigung der Reformanhänger durchgeführt werden mussten, für die Ausstellung von behördlich gestempelten Karten an Capones Revolvermänner mit dem Wortlaut: ›An das Polizeidepartment. Dem Inhaber ist jederzeit Schutz und Hilfe zu gewähren‹.« (Köhler 1981:185f.)
Wenn die Polizei ohne viel Heimlichtuerei mit den Verbrechern gemeinsame Sache macht, vergeht die augenfällige Differenz, an welcher das moralische Unterscheidungsvermögen sich bildet – ohne Evidenz keine Reflexion. Weil die Guten nicht mehr an der Uniform zu erkennen sind, wird der Unterschied zwischen Gut und Böse unsichtbar. An der Differenz weiterhin festzuhalten, setzt nun den tröstlichen Glauben voraus, dass die moralischen Qualitäten sich nach innen verlagert hätten und dort, gleichsam im Verborgenen, fortexistieren würden. Ihn stärken Privatdetektive wie Chandlers Marlowe, aber die Helden der Leinwand und der Groschenromane sind solche des Übergangs. Sie repräsentieren Verschwundenes, solange das Publikum ihm nachtrauert. Doch die Trauer hört auf, wenn die Erinnerung an das Verschwundene erloschen ist.
Die Gangsterfilme und Wildwestfilme fesseln seit den Zwanziger Jahren das Publikum, weil es sich noch zurücksehnt nach Bedingungen, die vom Einzelnen moralische Entscheidungen verlangen. Das Wunderbare an der Pflicht, ein gottgefälliges Leben zu führen, ist, dass sie dem Einzelnen die Freiheit lässt, sich statt mit Gott lieber mit dem Teufel zu verbünden. Er kann auch Schurke, Bandit, Verbrecher werden, wenn er will, zumindest kann er mit dieser Möglichkeit liebäugeln. Sie existiert nicht mehr, wenn einer, der Justizbeamter war und Schieber wird, nur die Abteilung wechselt, aber bei der gleichen Firma bleibt. Sogar die Anforderungen sind überall dieselben. Wie in der Oberwelt kommt in der Unterwelt nur voran, wer sich zum leitenden Angestellten eignet.
Weil ihr Beruf kein Gegenbild zum eintönigen, grauen Alltag normaler Menschen ist, stehen Berufsganoven nicht besser als Buchhalter oder Akademiker da. Sie brauchen Krimis, sie verschlingen das Zeug, wie Kenner der Szene zu berichten wissen. Joseph F. O'Brien und Andris Kurins schreiben in ihrem auf Abhörprotokollen basierenden Buch Ehrenwerte Männer. Das FBI und der Pate von New York, die Paten-Filme hätten den »Verbrechern eine Menge vorgestanzter Sätze an die Hand gegeben, die sie sagen konnten, wenn sie hart, ehrlich, rechtschaffen oder gar weise klingen wollten« (O'Brien/Kunis 1992:46), und überhaupt: »Die Mafia – oder zumindest die auserwählte Gruppe Mafiosi, die lesen kann – liest gern über sich selbst. Die Analphabeten warten auf den Film. Wie auch immer, die Mobster holen sich ihr Geschichtsbewusstsein bei den Medien. Die Tradition, der Kodex – man kann ohne größere Übertreibung sagen, dass diese Dinge nun in der Obhut von Redakteuren und Drehbuchautoren hegen.« (O'Brien/Kunis 1992:241)6
Statt außerhalb der Gesellschaft zu stehen, sind die neuen Banden ein Teil von ihr – schlecht für die Gesellschaft, aber eine Katastrophe für Bonnie and Clyde. Sie haben keine Chance, wenn jeder sich mit den Verhältnissen arrangieren muss, weil die Bandenreviere nicht mehr Jagdgebieten gleichen, wo der Mensch umherstreifen und wildern kann, ohne dass er vorher infiltriert und organisiert. Wie die Machtsphären, welche die Hegemonialstaaten um sich herum installierten, waren die Bandenreviere nun Gebietskartelle. Die Unterwelt hatte dort Regeln des Zusammenlebens festzulegen und deren Einhaltung zu überwachen. Wo der Staat aufhörte und die kriminelle Vereinigung anfing, war für das ungeschulte Auge kaum noch zu erkennen.
Schwer zu klären war auch die Urheberschaft. Nach herkömmlicher Vorstellung ist die Bande eine Vereinigung, die auf Entschlüssen und Plänen beruht. Ihre Unternehmungen bedürfen des bösen Willens identifizierbarer Subjekte und der Verabredung solcher Subjekte zur schlimmen Tat. Sich beteiligen heißt, eine Entscheidung zu treffen. Man kündigt dann den Gesellschaftsvertrag, dem keiner ausdrücklich zustimmen muss, weil die Zustimmung durch Schweigen als Normalfall gilt.
Nun aber kehrte sich dies Verhältnis um, weil es in den großen Städten Gebiete gab, wo die Bandenbildung zum Normalfall wurde. Die Banden der Zwanziger Jahre waren in der großen Überzahl mehr gesellschaftliches Naturprodukt als Konstrukt, weniger organisiert als organisch. Sie schienen der Naturzustand des gesellschaftlichen Lebens der Menschen zu sein, dessen temporäre Aussetzung einer besonderen Willensanstrengung bedarf.
»Formal society is always more or less conscious of the end for which it exists, and the organization through which this end is achieved is always more or less a product of design«, schrieb Robert E. Park im Vorwort zu Thrashers großer Banden-Studie.
Unter einem Verband, der sich seines Zwecks bewusst ist, und der nun ausgetüftelte Mittel einsetzt, um diesen Zweck zu erreichen, hätte man sich früher eine Räuberbande vorgestellt: Leute beschließen, gemeinsam Tresore zu knacken, und gemäß diesem Ziel werden Manpower, Know-how und Logistik beschafft. Gesellschaft hingegen, hätte man ferner gedacht, bedarf keines bewussten Zwecks. Sie ist lebensnotwendig und geht daher aller bewussten Zwecksetzung voraus.
Bei Robert E. Park aber sind nun die Banden das, was früher Gesellschaft war. Sie entstehen einfach, ohne Absicht und Zutun, ohne dass jemand sät und pflegt, eben wie Unkraut am Straßenrand: »But gangs grow like weeds, without consciousness of their aims, and without administrative machinery to achieve them. They are, in fact, so spontaneous in their origin, and so little conscious of the purposes for which they exist, that one is tempted to think of them as predetermined, foreordained, and ›instinctive‹, and so, quite independent of the environment in which they ordinarily are found.« (Thrasher 1947:ix, f.)
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Wenn Banden sich immer und überall bilden und ihre Reviere Gebietskartellen gleichen, entsteht die verwaltete Welt. Den Ort für »Freiheit und Abenteuer«, den die Zigarettenreklame verspricht, gibt es nirgends als im Urwald. Wie unter den Lebewesen in der Natur gilt in der menschlichen Gesellschaft die Regel »Jedes Plätzchen ist vermietet und verpachtet«. Solche Verhältnisse fand Frederic Thrasher vor, als er um 1920 mit seiner großen, 1927 erschienenen Studie über Chicagoer Jugendgangs begann. Die territorialen Verhältnisse, die der Sozialforscher fand, waren so verwickelt, dass er es für nötig hielt, dem Bericht einen großformatigen, um eigene Eintragungen ergänzten Stadtplan beizufügen. Die Reviere der Banden waren darin markiert, außerdem die Wohngebiete der verschiedenen Bevölkerungsgruppen – manche besaßen mehrere Siedlungsräume, verteilt über die ganze Stadt. Eine Folge ethnisch homogener Wohngegenden ist, dass sich auch ethnisch homogene Straßenbanden Jugendlicher bilden. Von den 1.313 Gangs, die Thrasher und seine Mitarbeiter fanden, wurden 880 genau genug studiert, um Auskunft über die darin vertretenen Nationalitäten geben zu können (Thrasher 1947:191):
Nationalität | absolut | in Prozent |
Mixed nationalities | 351 | 39,89 |
Polish | 148 | 16,82 |
Italian | 99 | 11,25 |
Irish | 75 | 8,52 |
Negro | 63 | 7,16 |
American-white | 45 | 5,11 |
Mixed negro-white | 25 | 2,84 |
Jewish | 20 | 2,27 |
Slavic | 16 | 1,82 |
Bohemian | 12 | 1,36 |
German | 8 | 0,91 |
Swedish | 7 | 0,79 |
Lithuanian | 6 | 0,69 |
Miscellaneous | 5 | 0,57 |
Total | 880 | 100,00 |
Zusammen bilden die aneinandergrenzenden oder sich auch überschneidenden Reviere der Banden das, was Thrasher einprägsam Gangland nennt. Je nach sozialer Topographie der Stadt kann es verschiedene Formen besitzen. Chicagos Gangland zum Beispiel ist – zu Thrashers Zeit – ein bratwurstförmiges Gebilde, welches das Geschäftszentrum der Stadt von drei Seiten umschließt. Wenn man es durchquert, kommt man in die besseren Wohnviertel weiter außerhalb. Kennzeichnend für die Zwischenzone sind Gleisanlagen, Fabriken, Brauereien, Lagerhäuser, Schutthalden, Brachflächen, Abwasserkanäle, Docks, heruntergekommene, unverputzte, verschmierte, rauchgeschwärzte, oft baufällige Gebäude. Außerdem ist das Gebiet übervölkert, bis zu 50.000 Personen pro Quadratmeile werden dort gezählt. Keiner hat sich die Gegend ausgesucht, keiner will dort bleiben, die Bevölkerung ist Treibsand.
Sie lebt in einer mittelalterlichen Welt, denn Gangland mit seinem komplizierten Tribalismus ist eher feudal aufgebaut als modern und städtisch.
Von hier aus herrschen die Gangleader wie die alten Barone. Sie wachen darüber, dass die Konkurrenz draußen bleibt, sie sind aber ihrerseits stets bereit, ins Gebiet von Rivalen einzudringen. Dort werden Beute oder Gefangene gemacht, oder man unternimmt eine Strafexpedition, bei welcher der Schaden des Gegners mehr zählt als der eigene Gewinn.
Längere Unterbrechungen kennt dies Treiben nicht, weder die Polizei noch andere Ordnungsinstanzen können es kontrollieren oder unterbinden. Die Gewalt und die Anarchie, die in Gangland herrschen, vermitteln den Eindruck von einer Sphäre, die weit jenseits der zivilisierten Gesellschaft liegt: »In some respects these regions of conflict are like a frontier; in others, like a ›no man's land‹, lawless, godless, wild.« (Thrasher 1947:6)
Gesetzlos, gottlos, wild – welche Kinoreklame könnte verheißungsvoller klingen, und die Namen sprechen für sich. North Side jungles. West Side wilderness. South Side badlands sind die Großräume, innerhalb derer wiederum viele kleinere Bezirke ihr Eigenleben führen. Einer heißt zum Beispiel Grand Canyon, weil das Aufeinanderstoßen von extremem Reichtum an der Gold Cost und extremer Armut in Hobohemia tiefe soziale Zerklüftung bewirkt. Ein anderer ist Little Sicily, wo die Jugendlichen im Bandenkrieg alte Bräuche pflegen, hauptsächlich den der Blutrache. Der hohe Body-Count hat einem Teil dieser Gegend den Namen Little Hell oder auch Death Corner eingetragen. Slave market ist die Anlaufstelle für Neueinwanderer, weil hier die Arbeitsvermittlungsbüros konzentriert sind. Manche Gangs geben sich Namen, die gut zu ihrem äußeren Erscheinungsbild passen. Die Night Riders sehen aus, als wenn sie nie ans Licht kämen, es sind die blassen, blutarmen Kinder aus Familien, die sich keine richtige Wohnung leisten können, sondern nur ein Zimmer.
Meist werden solche Gegenden von Einwanderern gleicher Nationalität oder Hautfarbe bewohnt, aber dies nur vorübergehend. Moonshine (= schwarzgebrannter Whiskey) Valley oder Bloody Nineteenth war zunächst eine Kolonie von Iren und Deutschen, aber dann rückten Italiener, Russen, Juden und Griechen nach. Little Italy und Little Greece haben ihre beste Zeit auch schon wieder hinter sich, denn inzwischen sickern Zigeuner, Schwarze und Mexikaner ein. Nahe einer Litauischen Siedlung liegt Little Pilsen, aber der Name stimmt schon nicht mehr, denn die böhmischen Bewohner räumen das Feld und überlassen es Einwanderern aus Polen und Kroatien. Zu erwähnen ist noch das Ghetto mit der Boundary Gang, die man auch unter dem Namen Jews from Twelfth Street kennt, ferner der Black Belt, Wohngebiet Schwarzer, Amüsierviertel mit zahllosen Lasterhöhlen und Slums von der übelsten Sorte.
Außerhalb ihres Kerngebiets kommen Banden an bestimmten Grenzlinien vor. Entlang der Flüsse, Kanäle, Eisenbahngeleise und Geschäftsstraßen, welche die anständigen Viertel durchziehen und die gute Wohngegend von der besseren trennen, bildet Gangland Außenposten. Immer weist die Bandenbildung auf eine Trennlinie hin – zwischen Kolonien von Einwanderern verschiedener Nationalität oder verschiedener ethnischer Gruppen, zwischen Stadt und Land oder zwischen Stadt und Suburb, zwischen ineinander übergehenden Städten, zwischen Geschäftsbezirk und Wohngebiet, und innerhalb des Wohngebiets zwischen der guten Gegend und der besseren. »Gangland is an interstitial area« (22), behauptet Thrasher daher, und er meint, dies wäre das wichtigste Resultat seiner Studie: »Probably the most significant concept of the study is the term interstitial – that is, pertaining to spaces that intervene between one thing and another.« (22)
Interstitial ist von interstices abgeleitet, interstices sind die Lücken im Lattenzaun, einem Gebilde, bei dem die unaufhörliche Abwechslung vollkommene Monotonie hervorbringt. Überall folgt Lücke auf Latte oder umgekehrt, je nach Standort und Tageszeit, weil im Gegenlicht die Latte eine Lücke ist. Analog dazu hängt es vom Standpunkt ab, ob man den Bandenbezirk oder das noble Wohnviertel als intersticial area betrachtet, denn umstellt bleibt man hier wie dort. Innerhalb der areas setzt das äußere Gliederungsprinzip sich dann beliebig fort – Little Pilsen, Little Italy und Little Greece sind die kleineren Käfige im großen. Wirkliche Freiheit, etwa die, nachts im Park herumzuspazieren, ohne auf den Weg zu achten, allein und unbewaffnet, ganz in seine Gedanken versunken, genießt auch der Bewohner des prächtigen Villenviertels nicht, weil es nur eines Schrittes vom Wege bedarf, um statt an der Gold Coast in Hobohemia zu landen, wo einem leicht was zustoßen kann.
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Seither sind die Latten enger aneinandergerückt. Es ist nicht die Regel, aber es kommt vor, dass Leute, die was zu verlieren haben, sich wie Gefangene fühlen müssen, weil ihre Wohnsitze belagerte Festungen inmitten von Feindesland sind. Bevor sie sich wieder frei bewegen können, müssten die anderen im Gefängnis sitzen, aber die Gefängnisse sind schon überfüllt.
Regelmäßig tauchen kleine Meldungen wie diese auf: »In Baden-Württemberg herrscht in den Gefängnissen drangvolle Enge. Rund 1000 Haftplätze fehlen im Männervollzug, gab Justizminister Ulrich Goll (FDP) gestern vor Journalisten in Stuttgart bekannt.« {Stuttgarter Zeitung vom 11.10.1996) – »Die Gefängnisse in Deutschland sind nach Ansicht des Bundes der Strafvollzugsbediensteten überfüllt. Die Überbelegung sei von Bundesland zu Bundesland verschieden, liege aber zwischen 20 und 100 Prozent.« (FAZ vom 3.8.1996)
Spektakuläre Häftlingsmeutereien, wie es sie in Griechenland, England und Frankreich gab, lenken manchmal das Augenmerk auf die Haftbedingungen. Das Athener Korydallos-Gefängnis, liest man dann zum Beispiel, »wurde für 500 Insassen gebaut, zurzeit befinden sich in den Zellen aber 1700 Häftlinge« (FAZ vom 16.11.95). In Südafrika will »die Gefängnisverwaltung neue abgelegene Hochsicherheitsgefängnisse bauen. In den Haftanstalten sind 30 000 Gefangene mehr als beim Bau vorgesehen.« (FAZ vom 24.8.96) – In den USA hat sich zwischen 1980 und 1994 die Zahl der Gefängnisinsassen verdreifacht. Rund 1,5 Millionen Menschen sitzen dort mittlerweile ein, weitere 3,5 Millionen sind zu Haft verurteilt, aber unter Auflagen auf freiem Fuß. (FAZ vom 16.8. 1995)
Dabei stellen die Vielen im Gefängnis nur einen kleinen Bruchteil derer dar, die dort eingesperrt sein müssten, damit man draußen wieder sicher ist. Konservative amerikanische Theoretiker griffen deshalb Carpenters Escape from New York als Anregung auf, wie Mike Davis in seinem Urban Control. Jenseits von Blade Runner betitelten Aufsatz berichtet hat. Ein erstmals 1990 in der New Republic skizziertes Konzept sehe vor, »dass die Einrichtung ›drogenfreier Zonen für die Mehrheit‹ möglicherweise auch die Schaffung sozialer ›Abfallhaufen‹ für die kriminalisierte Minderheit erfordere« (Davis 1994:18).
Auf Resonanz stieß das Konzept freilich nicht, denn es fordert die Schaffung von etwas, das sich von selber bildet. Wer für Hygiene sorgt, kriegt Müll, auch ohne ihn zu wollen. Statt Gefängnisstädte abzuzäunen, mauerten nach Unruhen von Los Angeles 1992 sich die Bürger ringsum selber ein, und zwar so kräftig, dass ein Zeitungskommentar schrieb: »In den Achtzigern entstanden überall kleine Einkaufszentren, die Neunziger scheinen uns einen Boom beim Ausbau von Wohngrundstücken zu Mini-Festungen zu bescheren.«7 (21f.) Ähnliche Reaktionen gab es früher schon. Nach der Rebellion im Stadtteil Watt 1965 beschloss die Geschäftswelt von Los Angeles, sich aus einem dem Unruheherd benachbarten Viertel zurückzuziehen.
In strategisch günstigerer Lage zog sie dann ein neues Bürozentrum hoch, dem die Lärmschutzwände der das Gelände umschließenden Freeways als Befestigungswälle dienen konnten. Ferner hat das sogenannte Hochsicherheitshaus Verbreitung gefunden, ein Gebäudetyp, welcher den Büroturm mit bewaffnetem Wachpersonal und Verteidigungstechnik im Erdgeschoss ebenso umfasst wie die Imbissbude, wo der Hamburger durch ein Drehkreuz aus schussfestem Acrylglas zum Kunden wandern muss. Die städtischen Schulen sehen dann wie Gefängnisse aus, und »Sozialbaukomplexe ähneln immer mehr jenen berüchtigten strategischen Dörfern, die in Vietnam gebaut wurden, um die Landbevölkerung einzusperren« (15).
Dergleichen befestigte Gebäude und Stadtviertel mögen sich für effekthascherische Reportagen eignen, aber sie stellen nur winzige Flächen auf der Karte dar. Wichtiger als Zäune, Mauern, Wälle sind Winter-Entity Boundary Lines. Sie gliedern das Gebiet weiträumig in schwer definierbare Zonen, die Mike Davis Sozialkontrolldistrikte nennt, abgekürzt SCD.
In manchen sind Graffiti oder Prostitution verboten, in anderen ziehen bestimmte Delikte zusätzlich Bestrafung nach sich — Drogenhandel in der drogenfreien Zone rund um staatliche Schulen wird schwerer geahndet als Drogenhandel anderswo. Eine weitere SCD-Variante ist der Eindämmungsdistrikt. Hier ist beispielsweise das Verweilen auf öffentlichen Plätzen untersagt, weil es die Ausbreitung der Obdachlosen über die Grenzen ihres benachbarten Lagers hinaus zu verhindern gilt.
Auch die Sozialkontrolldistrikte mit ihren definierten IEBLs aber bilden die wirkliche Aufteilung des Gebiets nicht zutreffend ab, weil sie die Machtverhältnisse unberücksichtigt lassen, die permanenter Veränderung unterworfen sind. Auch Geschäftsleute oder Wohnungsbesitzer können in Zonen reduzierter Sicherheit die Initiative ergreifen. Zum Schutz vor Kleinkriminellen und jugendlichen Straßenbanden heuern sie Banden an, »Schlägertrupps und bewaffnete Söldner, um das Verbrechen in ihren Wohngebieten ›auszumerzen‹«, oder sie organisieren sich selbst als bewaffnete Banden. Die heißen dann Bürgerwehr, und ein Beamter des Los Angeles Police Department hat erklärt, wie sie funktioniert: »Die Bürgerwehr funktioniert so, wie man das von Wagenzügen aus alten Western-Filmen kennt. Die Bürger sind die Siedler, und das Ziel ist, sie dazu zu bringen, eine Wagenburg zu bauen und die Indianer auf Distanz zu halten, bis die Kavallerie – in diesem Fall das LAPD – zur Rettung angerückt ist.« (19 f.)
Aber in jener alten Zeit, in der die Western-Filme spielen, besaß der Einzelne auch die Möglichkeit, sich in die unermesslichen Weiten der Prärie zurückzuziehen, wenn er des ewigen Gebalges und Gemetzels überdrüssig war. Heute bleibt ihm nichts übrig als mitzumachen, auf der einen Seite oder auf der anderen, wenn er nicht untergehen will.