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Linke sind heute Zankhähne in Filzpantoffeln

Wir, die Alten, die vor 40 oder 50 Jahren jung gewesen sind, kennen das aus unserer eigenen Geschichte. Der lange Marsch durch die vielen dicken blauen Bände begann, als wir auf der Straße nichts mehr zu tun hatten. Die große Viet­nam-Demo in Berlin im Februar 1968 war der Kulminationspunkt der Protestbewegung und da­mit ihr natürliches Ende gewesen. Das Erreichbare war erreicht, die Bewegung konnte nicht mehr wachsen, und wenn eine Bewegung nicht mehr wächst, wenn sie sich nicht mehr bewegt, wenn sie stagniert, zerfällt sie.

Was sie zuvor zusammengehalten hatte, war ein Lebensgefühl, das ich selbst nicht mehr in meinem Kopf, sondern nur noch in meinen Notizen wiederfinde. Ich zitiere daraus:

»Die Studentenrevolte als eine nichtproletarische und sich dennoch um sozialistische Inhalte organisierende Massenbewegung zeigt exemplarisch, dass der Kapitalismus eine Entwicklungsstufe erreicht hat, auf welcher er gene­rell – fast unabhängig von der Klassenzugehörigkeit – unerträglich geworden ist.

Wie sich die Chancen dafür, dass die objektive Unerträglichkeit der Erfahrung eines Menschen kommensurabel und damit für die Entwicklung seiner Lebensgeschichte bestimmend werde, nach Klassenzugehörigkeiten verteilen, ist keineswegs schon ausgemacht. Weder besteht eine Garantie dafür, daß diese Erfahrung einem Arbeiter in den Schoß fällt, noch dafür, dass sie einem Kleinbürger ewig verschlossen bleibt.

Darüber zu sprechen ist schwer geworden, weil die Wörter ihre Bedeutung verloren. Habermas, dessen Theoriegeklapper die Verständigung behindert, ist kein Einzelfall. Er ging dem Verfall der Protestbewegung nur entschlossen voran. Als den engagierten Studenten Begriffe wie Kapital, Ausbeutung, Imperialismus noch Kristallisationskern verschiedenster Leiderfahrungen waren, hatte Habermas die Worte schon zum Material akademischer Tüfteleien entwertet.

Das Wegfiltern von Erfahrungsinhalten kennzeichnet die Begriffsbildung der Sozialforschung überhaupt: Arbeit für endloses monotones Leiden; Interaktion für Sprechen, Lachen, Gestikulieren; Rollenspiel für das wie eine Leichenhalle temperierte psychische Klima des Verkehrs unter den Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft.

So beschnitten ist die Theorie ohnmächtig, wo ihr keine administrative Gewalt zur Seite steht. In ihr kommen keine individuellen und kollektiven Leiderfahrungen befreiend zur Sprache, die zu materieller Gewalt werden und als solche die Gesellschaft zertrümmern könnten. Der Filter, durch den die Erfahrungen gepresst werden, ehe sie in die Einöde sozialwissenschaftlichen Vokabulars münden, sind auf die Eliminierung der wirklichen Bedürfnisse lebendiger Menschen geeicht.

Dass man in der neuen Linken heute von der geölten Maschine einer Partei träumt, ist kein Zufall. Eliminierung von Inhalten und Technokratisierung gehen Hand in Hand.

Wer anders als die administrative Gewalt eines Parteiapparates vermöchte auch dem monotonen Singsang von Kapitalismus und Imperialismus, Grund- und Nebenwiderspruch usw. zu praktischen Konsequenzen verhelfen.

Die gleichen Begriffe, deren aufschließende Kraft sich einst in der revolutionären Radikalität der Studentenrevolte zeigte, sind auf dem besten Weg, so inhaltsleer und tautologisch zu werden wie das Gebetsmühlengeklapper aus den Propagandaorganen des Ostblocks. Die Ein­dimensionalisierung der Sprache wird gegenwärtig von Teilen der neuen Linken selbst forciert.

Die Studentenrevolte war eine sozialistische Bewegung von Kleinbürgern. Dieser Widerspruch zur orthodoxen Revolutionstheorie ist nicht zu verdrängen oder in diffamierender Absicht auszuspielen, sondern er ist festzuhalten als die lebensgeschichtliche Identität der ein-zelnen engagierten Studenten wie als Identität dieser Bewegung überhaupt.

Zu viele sind an der Geschichte dieser Bewegung zugrunde gegangen, manche durch Selbstmord – ein Grund mehr, die gespaltene Identität von friedlichem Kleinbürger und militanten Revolutionär ernst zu nehmen.

Die lebensgeschichtlichen Klippen, an denen zu scheitern man permanent Gefahr läuft, haben ihre Schärfe vielleicht in folgendem Umstand: Während der Arbeiter der fragwürdig ge­wordenen orthodoxen Theorie zufolge schon durch seinen naturwüchsigen Zusammenhang mit der bürgerlichen Gesellschaft und in diesem Zusammenhang potentiell Revolutionär ist, wird es der Kleinbürger nur durch die radikale Liquidierung seines Zusammenhangs mit der bürgerlichen Gesellschaft. Seine Politisierung und Radikalisierung hat zur Voraussetzung die existenzielle Entscheidung, an seiner ursprünglichen naturwüchsigen Identität Selbstmord zu verüben. Das bedeutet: Bruch mit Familie, familiären Freundschaften, der Perspektive auf ein bürgerliches Leben, Studium, Beruf usw. Damit ist der revolutionäre Kleinbürger praktisch eine postrevolutionäre Existenz. Dem Umstand, daß die Utopie sein Lebenselexier ist, verdankt er seine eigentümliche kritische und antizipatorische Kraft wie das Prekäre seiner Existenz.

Nach vollbrachter Tat ist der Kleinbürger ein Deklassierter. Bei Gelegenheit einer Rezension nennt Benjamin den politisierten Intellektuellen einen ›Lumpensammler, frühe – im Morgengrauen des Revolutionstages‹. In diesem Zusammenhang ist Benjamins Mitteilung wichtig, dass im Milieu der Boheme zwischen Berufsverschwörern und Lumpenproletariat gar nicht mehr unterschieden werden konnte. Die Nachtasyle der Penner in Bahnhöfen und U-Bahn­schächten haben mit der Revolution gemein­sam, dass sie jenseits der bürgerlichen Gesellschaft liegen. Für den deklassierten Kleinbürger ist die Revolution eine Existenzfrage, die er mit unerbittlicherer Radikalität beim geringsten Hoffnungsschimmer verfolgen wird als der Proletarier, der in der bürgerlichen Gesellschaft als Arbeiter immerhin auf seine Weise heimisch ist. Es ist kein Zufall, dass die Kontakte der Studentenbewegung zu anderen Gruppen sich auf ausgeflippte Proletarier – Rocker, Fürsorgezöglinge – beschränkten oder auf Arbeiter, die zur Deklassierung bereit waren und im Gefolge ihrer Politisierung ihren Job an den Nagel hängten.

Die Klassengesellschaft zerschlagen könnte heute heißen: die Deklassierung organisieren. Die Angestellten zu politisieren kann doch nur heißen, ihnen bewusst zu machen, dass sie keine Angestellten mehr sein wollen. Die Opel-Arbeiter politisieren kann doch nur heißen, ihnen klar zu machen, dass sie keine Opels mehr bauen und keine Arbeiter mehr sein wollen.

Die gediegenen, redlichen, rationalistischen, positiven, optimistischen, kurz spießigen Züge der Arbeiterbewegung sind heute allesamt obsolet geworden. Revolution kann in den kapitalistischen Metropolen nicht heißen: Aufbau des Sozialismus, sondern: Zertrümmerung der Warenwelt. Die erste Aufgabe des ›Hammerschlags der Revolution‹ wäre es, die physische Warenwelt zu zerklopfen. Diese Destruktionsarbeit wäre die einzig noch vorstellbare positive und sinnvolle.

Die Deklassierung organisieren könnte heißen: auf synthetischem Wege jene Erfahrungen herstellen, deren naturwüchsiges Zustandekommen bei den engagierten Studenten die Basis der existenziellen Entscheidung war, den Zusammenhang mit der bürgerlichen Gesellschaft zu liquidieren. Es ist keine Frage, dass eine Revolution in den kapitalistischen Metropolen ohne diese Entscheidung nicht auskommt. Die Strategie der unendlich vielen kleinen Vernunftsschritte im Lernprozess des Proletariats verrät nur den aufklärerischen Aberglauben an die Allmacht der Rationalität. Dass diese Konzeption idealistisch und voluntaristisch anmutet, daraus kann ihr kein Vorwurf gemacht werden. Für den traurigen und entmutigenden Umstand, dass es für die vernünftige Einrichtung der Welt wohl keinen machtvollen Garanten mehr gibt, sondern vorläufig nur die hilflose Geste eines entschiedenen Willens zum Besseren, ist sie gewiss nicht verantwortlich zu machen. Dass solche Überlegungen keine Schreibtisch-Esoterik sind, zeigen etwa die Sabotageakte junger weißer Arbeiter in den neuen Werken von General Motors. In solchen Aktionen haben sich Arbeiter von dem quietistischen Ammenmärchen befreit, je entwickelter der Kapitalismus, und je reicher und besser die Produktivkräfte, desto näher der Sozialismus. Hier­bei wird aufgezeigt, dass es idiotisch ist, noch vom Doppelcharakter der Ware zu sprechen und mit der Wünschelrute nach produktiver Arbeit zu suchen, wo doch die Wertform die Naturalform längst total okkupiert hat. Revolutionär ist der Arbeiter heute eben nicht als »produktiver« sondern nur noch als kollektiver Saboteur.

Die Revolution heute erfordert eine ganz andere Radikalität als im 19. Jahrhundert. Konnte man damals glauben, dass die gegenständliche Welt nur ihren Besitzer wechseln müsse und man danach frisch ans Werk gehen könne mit dem Aufbau einer vernünftigen Gesellschaft, so ist es heute notwendig, die gegenständliche Welt zu zerschlagen. Sie ist unbrauchbar, materialisierte Brutalität, materialisierte Isolierung – materialisierter Kapitalismus. Man steht gewissermaßen vor der Aufgabe, die Resultate einer hundertjährigen Fehlentwicklung beseitigen müssen, um wieder an den Punkt zu gelangen, wo die Revolution notwendig gewesen wäre, aber versäumt wurde. Der war vor 100 Jahren. Benjamin hat Recht wenn er sagt, die Komplexität der Welt vereinfache sich sehr schnell wenn man sie nur unter dem Aspekt betrachtet, was an ihr zerstörenswert ist.

›Wem der Boden nicht so heiß ist, dass er ihn lieber mit jedem anderen vertausche, als dass er da bliebe, dem habe ich nichts zu sagen. Aber auch wir ... meinen, daß wir denen, die angesichts des heraufkommenden Bombengeschwader des Kapitals noch allzu lang fragen, wie wir uns dies dächten, wie wir uns das vorstellten und was aus ihren Sparbüchsen und Sonntagshosen werden soll nach der Umwälzung, nicht viel zu sagen haben.‹ (Brecht, Gleichnis des Buddha vom brennenden Haus)

Brecht widerspricht hier dem Aberglauben, revolutionäre Radikalität wäre verbal, in rationaler Diskussion kommunikabel zu machen. In der Tat: Was haben wir dem Arbeiter zu sagen, der kleinbürgerlich um sein Sparbuch, sein Auto und seine Sonntagshosen fürchtet? Was hilft es, ihm den Terminus der Ausbeutung unter die Nase zu reiben, wenn dieser eine analytische Kategorie ist, von der alle erfahrbaren Inhalte abgezogen sind? Was hilft es auch, seine Ängstlichkeit zu beschwichtigen durch die Versicherung, für ihn und seine Habseligkeiten bestehe gar kein Risiko. Die durch die Ängstlichkeit geschärfte kleinbürgerliche Schlauheit ist zu gewitzigt, solche Versicherungen nicht als Betrug zu durchschauen. In der Tat würde eine wirkliche Revolution unter den kleinbürgerlichen Lebensgewohnheiten der Menschen gewaltig aufräumen. Dass keiner ungeschoren davonkäme, weiß jeder, spätestens seit der Kulturrevolution. Benjamins Forderung, die Revolution müsse ihre Energie nicht aus der spießigen Hoffnung auf das Wohlergehen der Enkelkinder beziehen, sondern aus dem Hass, die Generationen von Unterdrückten und Umgekommenen zu rächen, trifft den Kern. Die Sehnsucht nach einem glücklichen Leben kann sich gegenwärtig nicht als Hoffnung auf eine bessere Zukunft konkretisieren, sondern nur als die unumstößliche Gewissheit, dass ein Leben unter diesen Verhältnissen nicht lebenswert ist. Mit dieser Gewissheit verlieren die kleinbürgerlichen Ängste den totalitären Charakter, sämtliche Lebensäußerungen zu beherrschen.«

Und heute? Wir dürfen uns für den Mindestlohn und die Anhebung von Hartz-IV begeistern. Viele Menschen brauchen das Geld. Aber für 100 Euro mehr im Monat militante, strapaziöse und riskante Massendemonstrationen im Regierungsviertel veranstalten? Es lohnt sich einfach nicht.

Als die revolutionäre Radikalität, welche die Protestbewegung zusammen gehalten hatte, erloschen war, begann die Dominanz der Partikular­interessen. Es kristallisierten sich aus der Protestbewegung die vielen verschiedenen sozialen Gruppen heraus, die sich nebenbei von dieser Bewegung die Erfüllung ihrer Wünsche versprochen hatten – verhinderte Autorenfilmer und Schriftsteller, die Schwulen, die Lesben, Anhänger der Vielweiberei, Nacktbader und Freikörperkulturelle, Landkommunarden, Körnerfresser, Gesundheitsapostel, Jesuslatscher, Jute­freaks, Hausbesetzer, Frauenrechtlerinnen, Männerbündische, Antiautoritäre und solche, die gern selbst nach Oben kommen und deshalb das Establishment abservieren wollten.

Und dann gab es noch die Lehrer, echte Lehrerstudenten oder Studierende von Studienfächern, bei denen es zum Brotberuf in der Schule kaum Alternativen gibt. Schon die Bolschewiki hatten das Problem, dass unter den Mitgliedern die Lehrer in der Überzahl waren. Lehrer besitzen eine natürliche Neigung zum Dogmatismus und zur Engstirnigkeit. Es gibt Leute, welche den Dogmatismus der KPDSU aus der Berufszugehörigkeit ihrer nach Anzahl bedeutendsten Mitgliedergruppe ableiten.

Diese Gruppe war auch im SDS stark vertreten gewesen – Germanistik, Geschichte etc. Die Geis­teswissenschaftler hatten sich nach dem Zusammensacken der Protestbewegung als Quartier fürs Überwintern den Marxismus ausgesucht, und sie stellten sich dabei nicht ungeschickt an.

Nach der Devise »Konkurrenz ist gut fürs Geschäft« verteilten sie sich auf verschiedene, einander heftig befehdende Vereine, so dass es nun neben den eigentlichen Marxisten die Marxisten-Leninisten gab, die Maoisten, die Trotzkisten etc. Ein kluger Schachzug, weil durch den Streit zwischen ihnen alle diese gegeneinander rivalisierenden Gruppen beschäftigt waren. Denn eine andere Beschäftigung hätten sie nicht gefunden, weil es für sie keine gab, und Mitglieder erwarten von ihrem Verein, dass er ihr Leben mit Beschäftigung, d.h. mit Sinn erfüllt.

Es scheint sich dabei um eine Naturkonstante zu handeln. Verhaltensforscher fanden heraus, dass unter Stressbedingungen der Streit beim Überleben hilft. Sie setzen dazu in einem Rattenkäfig den Metallrost unter Strom. War nur eine Ratte allein im Käfig, ging sie jämmerlich ein. Waren mehrere Ratten im Käfig, fingen sie an, einander zu beißen. Am Ende des Experiments waren sie verletzt, aber sie hatten überlebt.

Kapitalismus Forever

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