Читать книгу Das ewige Leben - Wolf Haas - Страница 6

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3 Am Anfang war natürlich von Gehen sowieso keine Rede. Weil du wachst nicht aus dem Koma auf und spazierst gleich über den Krankenhausgang. Und das war vielleicht überhaupt seine größte Leistung, da kann man jetzt einmal das ganze Mörder-Finden beiseite lassen und dass wir ohne den Brenner heute unter den Grazer Spitzenbürgern einen unentdeckten Mörder sitzen hätten, das hat er bestimmt auch gut gemacht, und vielleicht wäre Graz ohne den Brenner heute schon ein Chicago, ein Moskau, aber ich sage trotzdem, größte Leistung, dass er noch einmal aus dem Rollstuhl herausgekommen ist und das Gehen wieder gelernt hat.

Jeden Tag einen kleinen Schritt, anders funktioniert das nicht. Zuerst nur im Zimmer, dann sogar ein bisschen Krankenhausgang, und das Gangfenster ist noch ein Traum in weiter Ferne, verlockend, leuchtend, frage nicht, aber unerreichbar. Du kämpfst dich am ersten Gangbett vorbei, am zweiten Gangbett vorbei, du kämpfst dich am Schwesternzimmer vorbei, du kämpfst dich am dritten Gangbett vorbei, am Besuchertischchen vorbei, du kämpfst und kämpfst, und irgendwann bist du beim Gangfenster hinten, am siebzehnten Tag, wenn du es genau wissen willst.

Das ist natürlich ein Triumph, wie ihn ein Gesunder gar nicht kennt. Dann zwei Stunden ausschnaufen und beim Gangfenster hinausschauen, und zurück muss dich die Krankenschwester halb bewusstlos im Rollstuhl bringen, aber irgendwann schaffst du auch den Rückweg, beim Brenner war das am sechsundzwanzigsten Tag nach dem Aufwachen, weil er hat mitgezählt, und wie ihn die Schwester Vanessa zum ersten Mal am Arm bis zum Schwesternzimmer geschleppt hat, war es genau der zehnte Tag, und sechzehn Tage später ist er ohne die Schwester bis zum Gangfenster und allein wieder zurück, siehst du, sechsundzwanzig Tage, das stimmt genau, kein Wunder, weil Zeit zum Nachzählen hat er genug gehabt.

Du wirst sagen, wenn einer am Neujahrstag aufwacht, kann er notfalls auch auf dem Kalender nachschauen. Aber die Ärzte haben gesagt, in jedem Fall ein gutes Gehirntraining, egal ob er regulär mitzählt oder ein bisschen mit dem Kalender schwindelt. Und das stimmt auch, für das Gehirn war es gut. Aber für den Brenner war es nicht gut. Weil die Ärzte haben ja nicht wissen können, welche Gespenster zusammen mit dem Gehirn und zusammen mit den normalen Erinnerungen wieder aufwachen.

Heute glauben ja die Leute, es gibt keine Gespenster, aber das stimmt nicht, es gibt Gespenster. Das hat man jetzt am Brenner so gut gesehen, wie sie langsam wieder dahergekommen sind.

Zuerst einmal nur die alten Erinnerungen, Name, Geburtsjahr, Kindheit in Puntigam, Polizeischule in Graz. Aber mit der Zeit ist es immer weiter heraufgegangen, erste Polizeijahre, dann Kripo, immer weiter herauf ist die Erinnerung gekommen, dann sogar die Detektivjahre, und bis in den vergangenen Herbst, wo er auf seine alten Tage wieder nach Puntigam zurückgekommen ist. Weil der Pächter ist aus der Schreinerwerkstatt von seinem Großvater hinausgestorben, jetzt war das Haus bis auf das eine Mansardenzimmer leer, da hat er sich kümmern müssen, und dann hat er sich gedacht, warum nicht gleich zurück.

Das ist ihm alles nach und nach wieder eingefallen. Immer am Krankenhausgang, beim Gehen-Üben, nie beim Dr. Bonati in der Psychiaterstunde. Wenn du dich auf die Schritte konzentrierst, da kommen dir die meisten Erinnerungen, das ist sehr interessant. Wenn du dich rein auf das Körperliche konzentrierst, auf das Gehen, auf das Schnaufen, auf das Abstützen am Fensterbrett, dann kommt das Geistige beim Gangfenster lawinenweise herein. Nur die letzten drei Tage vor dem Koma sind am Fensterglas abgeprallt. Dass es sowas gibt, die sind einfach nicht hereingekommen, die waren so sauber weggeputzt, Fensterputzreklame nichts dagegen. Als hätte er sie nie erlebt. Von früher ist ihm alles Mögliche eingefallen, sogar Sachen, die er vor der Hirnverletzung nicht mehr gewusst hat. Aber die letzten drei Tage nichts.

Jetzt musst du eines wissen. Das mit dem Krankenbesuch. Es gibt in den Spitälern immer einen großen Prestigekampf unter den Sterbenden, wer kriegt den meisten Besuch. Und wer kriegt vielleicht sogar außerhalb der regulären Besuchszeit einen Besuch, sprich wichtige Patienten mit wichtigem Besuch, und wer kriegt gar nie einen Besuch, sprich der Brenner.

Jetzt natürlich umso auffälliger, dass er nach ein paar Wochen auf einmal Besuch kriegt. Während der Besuchszeit hat er sich immer ganz gern zum Gangfenster gestellt und hinausgeschaut, weil da war immer etwas Interessantes zu sehen, Krankenschwestern und, und, und. Da sind ihm viele Kindheitssachen eingefallen, wenn er so hinausgeschaut hat in das Grazer Winterwetter, wo schon seine Großmutter immer gesagt hat, kein richtiges Wetter, sondern immer ein bisschen ding. Ja siehst du, das ist ihm jetzt auch wieder eingefallen. Von früher tausend Sachen eingefallen, erster Schultag, erstes Sparbuch, erste Zigarette, erste Jimi-Hendrix-Platte, erste Liebe, erster Vollrausch, erste Pistole, erste Uniform, erster Vollrausch in Uniform, erster Sex in Uniform, erste Handschellen, erste Leiche, weil erste Eindrücke einfach immer am lebendigsten.

Es hat ihm gefallen, wie da jeden Tag mehr beim Fenster hereingekommen ist. Außerdem ist er so auch den Besuchern von den anderen Patienten ausgekommen, weil die haben immer so mit diesem Blick geschaut: Kriegt der denn gar nie einen Besuch.

Aber das hätten die sich auch nicht träumen lassen. Dass der Brenner eines Tages Besuch durch das Gangfenster im dritten Stock kriegt. Und noch dazu durch das geschlossene Fenster. Und noch dazu eine halbe Stunde nach Ende der Besuchszeit.

Pass auf. Der Besuch ist so wirklich vor dem Brenner gestanden, den hätte er abwatschen können, und es hätte wirklich geklatscht. Das ist ja nicht wie eine normale Erinnerung, wenn sich so ein beschädigtes Gehirn erholt und auf einmal ist der vergessene Tag wieder da, sondern das war eine materielle Anwesenheit von seinem Besuch, da hat der Brenner jetzt aufpassen müssen, dass er sich nicht zur Wiedergutmachung selber auflöst, damit die Realität schön im Gleichgewicht bleibt.

Und nach einer Sekunde war der Besuch wieder weg. Du wirst sagen, das klingt nach Einbildung. Weil Besuch meistens zu lange, sprich länger als eine Sekunde. Und ich muss auch sagen, Besuch, der nur eine Sekunde bleibt, das wäre Besuch aus einer besseren Welt. Nach meinem Geschmack übertreibt der es sogar ein bisschen mit den Manieren, weil wenn es nach mir geht, darf ein Besuch ohne weiteres einmal zwei, drei Sekunden bleiben, bevor ich ungeduldig werde.

Und trotzdem war es keine Einbildung. Du musst wissen, der Besuch ist ja nicht spurlos verschwunden. Der Besuch hat ihm etwas Schönes zurückgelassen. Jetzt was hat er zurückgelassen? Pass auf, seinen Namen. Köck. Am liebsten hätte der Brenner sich den Namen aufgeschrieben, damit er nicht gleich wieder weg ist. Der Köck. Aber natürlich, schreiben ist noch nicht gegangen, weil das Feinmotorische. Da muss ihm der Schusskanal irgendein kleines Fädchen im Hirn irritiert haben, vielleicht nur ein winziges Flinserl, jetzt war das Feinmotorische beim Teufel. Da müssen wir noch viel üben, hat die Schwester Vanessa immer gesagt.

Jetzt ist dem Brenner nichts anderes übrig geblieben als schauen, dass er sich den Namen auch ohne Aufschreiben merken kann. Merken, hat der Brenner sich selber motiviert, und ihm ist aufgefallen, dass er am ganzen Körper eine Gänsehaut bekommen hat. Gänsehaut hat wieder funktioniert, obwohl das gar keine grobe Sache ist, sondern eine feine, so eine hauchdünne Geisterhand, die dir da über den Rücken fährt, wenn zum Beispiel eine Schwester dich am Arm berührt, oder ein Gespenst aus der Vergangenheit besucht dich. Merken, hat der Brenner sich eingehämmert. Köck. Nicht vergessen.

Jetzt was war ihm da so wichtig? Du musst wissen, es hat damit zu tun gehabt, wo der Brenner am Tag vor dem Mordversuch der Grazer Kripo gewesen ist. Beim Köck. Zuerst einmal nur das Gesicht, dann gleich der Name. Und irgendwo ganz hinten in seinem Hirn sogar die Geschichte. Der Brenner muss in der Dunkelheit ein bisschen versunken sein, weil auf einmal hat ihn die Schwester Vanessa, die er vor einer Sekunde noch unten am Parkplatz gesehen hat, von hinten am Arm berührt.

»Jetzt stehen wir immer noch da!«, hat sie gesagt. Weil vor ihrer Pause ist der Brenner ja auch schon da gestanden und hat hinausgestarrt und sich gewundert, dass in Graz nie ein richtiges Wetter ist. Immer ein bisschen ding.

»Wir dürfen uns nicht überanstrengen«, hat sie besorgt gesagt, als wäre der Brenner weiß Gott was für ein Altersheiminsasse. Aber sie hat natürlich nicht wissen können, warum er einen derartigen Schweißausbruch und eine derartige Gänsehaut hat. Und sie hat auch nicht wissen können, wie ihn ihre ewige Wir-Sagerei genervt hat.

Aber siehst du, man soll die Wir-Sagerei nie zu früh verurteilen. Weil jetzt hat der Brenner das »Wir« auf einmal wieder gut brauchen können, und er hat sich gedacht, ich erzähle es ihr, und falls ich es vergesse, kann ich sie nachher fragen, quasi Leih-Hirn.

»Mir ist gerade eingefallen, wo ich am letzten Tag vor meinem Unfall war.«

Weil als Kompromiss hat er jetzt immer Unfall gesagt, schön in der Mitte zwischen der Krankenhaus-Sicht und seiner Sicht.

»Ja, sehr gut!«, hat die Schwester gesagt, natürlich vollkommen uninteressiert daran, was es genau war, woran der Brenner sich erinnert hat.

Jetzt hat der Brenner sie am Arm gepackt und gesagt: »Beim Köck war ich.«

»Ja, sehr gut! Beim Köck waren wir! Sehr gut!«

»Bei meinem Schulfreund Köck.«

»Ach, beim Schulfreund«, hat die Schwester gesagt. »Sehr gut!«

Dann hat der Brenner sie gehen lassen. Er hat sich bei dem Gedanken ertappt, ob sie zum Professor Hofstätter auch immer »sehr gut« sagt, aber dann Erfolgserlebnis für den Brenner, weil nach diesem Gedanken hat er es immer noch gewusst. Beim Köck war er. Beim Köck.

Jetzt natürlich große Frage, was hat den Brenner dazu getrieben, dass er nach dreißig Jahren auf einmal beim Köck vorbeigeschaut hat? Weil der Brenner hat den Köck nicht nur eine Sekunde lang besucht. Sondern stundenlang, sprich viel zu lange besucht. Wenn er früher heimgegangen wäre, hätte der Kripochef vielleicht nicht schon im Haus auf ihn gewartet und ihm mitten in der alten Küche seiner Großmutter eine Kugel in den Kopf geschossen. Wenn er früher auf sein Moped gestiegen und heimgefahren wäre, hätte er beim Köck gar nicht wieder mit der alten Geschichte angefangen. Du musst wissen, hinter der Werkstatt von seinem Großvater hat er gleich am ersten Tag in Puntigam sein altes Moped wiedergefunden, und nach zwei Tagen hat er es so weit gehabt, dass es wieder angesprungen ist. Und gegangen wie in alten Zeiten.

Du darfst eines nicht vergessen. Bei so einer Rückkehr in die Heimatstadt, sprich Graz, sprich Puntigam, kommst du leicht in eine blöde Stimmung hinein, quasi Jugendtage, Freunde, Liebe, Moped und, und, und. Das war es ja, wo der Dr. Bonati immer so gute Argumente gehabt hat, sprich, der Brenner ist in die Stimmung hineingekommen, zu viel nachgedacht, und zu viel Nachdenken immer schlecht, dann Erkenntnis, früher jung, jetzt alt, und da erschieß ich mich lieber.

Ich muss ehrlich zugeben, ich als Dr. Bonati hätte es wahrscheinlich auch so gesehen. Und wenn der Brenner nicht selber dabei gewesen wäre, hätte er es wahrscheinlich auch so gesehen.

Dem Dr. Bonati erzähle ich nichts vom Köck, hat der Brenner sich vorgenommen. Der erfährt garantiert nichts davon, dass der Köck mich besucht hat. Und er hat sich gefreut, dass ihm der Name schon wieder eingefallen ist, Köck, Captain Köck haben sie den in der Polizeischule genannt. Ja richtig, nicht Schulfreund aus der Kindheit, Polizeischulfreund war der Köck. Spitzname Captain, weil Familienname Köck, und da hat sich das aus der Fernsehserie ergeben, wo der Captain Kirk immer schön mit dem Raumschiff unterwegs war, und irgendeiner hat einmal rein zum Spaß zum Köck »Captain Köck« gesagt, und der Köck ist das dann nie wieder losgeworden. Das war genauso, wie zum Irrsiegler alle Saarinen gesagt haben, weil der immer so von dem finnischen Motorradweltmeister Saarinen geschwärmt hat. Und Ironie des Schicksals, dass sein Polizeischulfreund dann sogar noch drei Monate vor dem richtigen Saarinen mit dem Motorrad tödlich verunglückt ist.

Ja, die alten Erinnerungen, die waren für den Brenner einfach. Der Abend vor dem Mordversuch immer noch sehr weit weg. Aber er hat es jetzt wissen wollen. Wenn mir der Köck wieder einfällt, wenn mir der Kripochef in meiner Küche wieder einfällt, wenn mir das Moped wieder einfällt, muss das andere auch irgendwo stecken.

Jetzt, wo er sich wieder an seinen Besuch beim Köck erinnert hat, ist es dem Brenner ganz komisch vorgekommen, dass das in seinem Hirn wochenlang vollkommen weg war. Wo ist so eine Erinnerung, während sie weg ist? Der Captain Köck ist in den Komawochen aus dem Hirn vom Brenner hinausgesegelt, weiß der Teufel, wo der da unterwegs war, und wie der Brenner schon tage- und wochenlang wieder wach war, schon bis zum Gangfenster gegangen ist, hat der Captain Köck sich immer noch nicht in seinem Hirn blicken lassen, der ist die ganze Zeit irgendwo in den schönsten Galaxien herumgesegelt, Milchstraße hinauf und hinunter, ja was glaubst du, und auf einmal ist der Captain Köck wieder da, kommt im dritten Stock durch das geschlossene Gangfenster herein und landet vollkommen lautlos mitten im Hirn vom Brenner und tut so, als wäre er die ganze Zeit nicht weit weg gewesen.

Und jetzt die anderen Erinnerungen. Ihm ist der Schweiß in Bächen heruntergelaufen, so hat sein Hirn auf einmal gearbeitet. Wo man schon sagen muss, ganz zufällig kann das nicht sein, dass gleichzeitig auf seiner Station alle Computer zusammengebrochen sind.

Ihm ist wieder eingefallen, wie er sich überlegt hat, die alte Truppe aus der Polizeischule, der Brigadier Aschenbrenner, der Captain Köck, wieso schau ich nicht einmal bei denen vorbei. Gut, der Brigadier Aschenbrenner, da hat er gewusst, der ist Chef von der Grazer Kripo, da ist er nicht wahnsinnig scharf drauf gewesen, dass er den noch einmal sieht in seinem Leben. Aber der Köck, der hat ihm im Grunde nie was in den Weg gelegt, und der Brenner hat gewusst, dass der auch schon lange nicht mehr bei der Polizei war.

Weil der war Hausmeister im Arnold-Schwarzenegger-Stadion. Das wissen die wenigsten Leute, aber so ein Fußballstadion braucht natürlich auch seinen Hausmeister, und das war eben der Köck, seit sie vor ein paar Jahren das neue Stadion eröffnet haben. Benannt nach dem berühmtesten Grazer, Hollywood und alles, und damit die Welt nicht vergisst, dass der aus der Nähe von Graz kommt, haben sie das Stadion nach ihm getauft. Der Brenner hat den Köck ein bisschen um seine Hausmeisterwohnung in dem silbern glänzenden Stadion beneidet, weil er hat ja seine BUWOG-Wohnung verloren, wie er vor fast zehn Jahren bei der Polizei aufgehört hat. Seither hat er es zu keiner rechten Wohnung mehr gebracht, aber jetzt, wie die alte Werkstatt von seinem Großvater frei geworden ist, weil der Pächter gestorben ist, hat er sich gedacht, zweite Chance, Heimat und alles. Und da hat der Dr. Bonati eben gesagt: Heimat hast du nicht ausgehalten.

Köck, hat der Brenner sich jetzt gemahnt, wie er bemerkt hat, dass er schon wieder über sich nachdenkt statt über den Köck. Weil der Brenner war mit seinen Erinnerungen schon wieder weiß Gott wo, und er hat sich gefragt, ob der Schwarzenegger so eine schöne Karriere als Mr. Universum gemacht hätte, wenn nicht er ihm damals vor der Disco eine derartige aufgelegt hätte. Der Brenner drei Jahre jünger, aber mit dreizehn schon gut entwickelt, und das war bestimmt kein Zufall, dass der schmächtige Bursche auf einmal so fanatisch mit dem Muskeltraining angefangen hat, weil der wollte damals eben auch ein kleiner Brenner sein. Köck! An den Köck denken! Der Brenner war so streng mit sich, weil er gewusst hat, vom Köck hängt sein Leben ab. Und er hat immer noch Angst gehabt, dass ihm der Captain Köck wieder davonfliegt mitsamt seinem silbern glänzenden Arnold-Schwarzenegger-Raumschiff.

Er war dann froh, wie der Putzmann vorbeigekommen ist, weil dem hat er wieder ein paar Sachen erzählen können. Tomas hat der Putzmann geheißen, der Brenner hat sich gefreut, dass er den richtigen Namen noch gewusst hat, obwohl er ihn innerlich Jimi genannt hat, weil eine gewaltige Ähnlichkeit mit dem Jimi Hendrix, und der Brenner hat sich gut vorstellen können, dass er bei einem anderen gar nicht aufgewacht wäre.

»Was hab ich beim Aufwachen gesagt?«, hat er den Putzmann gefragt, obwohl der es ihm schon zehnmal erzählt hat, weil das war schon fast wie bei den Kindern, die immer wieder dieselbe Einschlafgeschichte hören wollen, und der Brenner eben immer wieder dieselbe Aufwachgeschichte von seinem Putzmann.

»Lustig samma, Puntigamer«, hat der Tomas gegrinst.

»Ich weiß jetzt, warum«, hat der Brenner gesagt.

»Weil du so einen pelzigen Geschmack auf der Zunge gehabt hast.«

Du siehst schon, eine gewisse gegenseitige Sympathie durch das gemeinsame Erlebnis. Und der Brenner hat ihm jetzt erzählt, dass er am Abend vor dem Unfall beim Köck im Stadion vorbeigeschaut hat. »Unfall« hat der Brenner wieder gesagt, schön zwischen Mord und dings. Er hat dem Tomas erzählt, dass sie miteinander im Arnold-Schwarzenegger ein paar Flaschen Puntigamer geleert haben, und sogar, dass der Köck beim Anstoßen mit der fünften oder sechsten Flasche nicht »Prost« gesagt, sondern den idiotischen Werbespruch nachgeplappert hat.

»Da hab ich dann die ganze Nacht die Melodie im Kopf gehabt«, hat der Brenner dem Putzmann erklärt.

»Das ist schädlicher als die Kugel«, hat der Tomas gegrinst.

Ganz Unrecht hat er damit bestimmt nicht gehabt. Weil die Melodie hat sich durch das wochenlange Koma hindurch im Hirn vom Brenner festgekrallt, quasi Ohrwurm, den der Chirurg nicht entfernt hat. Das war so ein Tick von seinem Unbewussten, das hat ihm öfter einmal über einen Ohrwurm einen guten Tipp gegeben. Meistens hat es nichts genützt, weil so einen Tipp musst du erst einmal verstehen. Aber dieses Mal hat die Melodie ihn schnurstracks zum Köck geführt.

»Kannst du mir telefonieren helfen?«, hat der Brenner den Tomas gefragt.

Er hat gewusst, er muss so schnell wie möglich den Köck im Arnold-Schwarzenegger-Stadion erreichen. Aber mit dem Telefonieren hat er sich noch schwerer getan als der angesoffene Köck, der sich eine Stunde nach Mitternacht dreimal verwählt hat, bevor er den Kripochef Aschenbrenner erreicht hat, aber der war nicht sehr begeistert von der Einladung auf eine Flasche Puntigamer. Selber zum Ohr hinhalten hat der Brenner jetzt schon gekonnt, aber selber wählen noch nicht. Das hat er erst üben müssen. Jetzt hat der Tomas für ihn die Nummer herausgesucht und gewählt.

»Bitte, heb ab!«, hat der Brenner das Telefon angeschrien.

Ich muss ehrlich sagen, so ungeduldig habe ich den Brenner gar nicht gekannt. Aber ein Koma verändert eben einen Menschen. Da geht der eine als herrischer Chef-Wichtigtuer in das Koma hinein, und heraus kommt er als die Geduld in Person. Und beim Brenner eben wieder umgekehrt. Der war sein Leben lang eher auf der geduldigen Seite, aber jetzt hat er es wissen wollen.

Geholfen hat ihm seine Ungeduld natürlich auch nichts, weil der Köck ist nicht ans Telefon gegangen. Der Tomas hat ihm in den nächsten Tagen immer wieder geholfen und für ihn gewählt. Aber keine Chance.

Inzwischen sind im Kopf vom Brenner die Erinnerungen erwacht, Explosion Hilfsausdruck. Weil ich sage immer, jeder Mensch ist ein kleines Universum, und besonders der Kopf, da ist pro Kopf immer ein kleines Universum drinnen, schon allein wenn du bedenkst, der Kopf ist bei den meisten Leuten rundlich, und das Universum auch rundlich, jetzt explodiert das Universum da ununterbrochen in die weite Welt hinaus, und wenn ein Kopf wieder anspringt, ebenfalls das Explodieren, ja was glaubst du.

Darum hat ihn ja auch die Broschüre so fasziniert, die er in seinem Spitalsnachtkästchen gefunden hat. Unser Universum. Über die Planeten. Weil da dürfte ein früherer Patient aus dem Bett hinausgestorben sein, und der hat sein Planeten-Büchlein nicht mitgenommen, also mehr so eine Broschüre ist das nur gewesen. Aber alles drinnen, das ganze Universum, hochinteressant, und der Brenner hat es immer wieder studiert. Aufbau der Erde, schön die Schichten eingezeichnet, Erdmantel, Erdkern, dann Abstand zur Sonne, dann die Sternbilder, alles. Vielleicht hat ihn die Broschüre auch deshalb so fasziniert, weil man darin so schön gesehen hat, dass die Erde keine richtige Kugel ist, sondern abgeflacht. Und die Kugel, die ihm der Professor Hofstätter herausoperiert hat, hat ja einen ganz ähnlichen Fehler gehabt.

Normalerweise ist eine Pistolenkugel natürlich rund. Aber die vier Walther-Pistolen, die der Köck damals in der Polizeischule organisiert hat, waren so fürchterlich verbaut, dass sie die Kugeln beschädigt haben. Darum haben sie die vier Exemplare ja damals bei der Grazer Polizei ausgemustert, und unter der Hand hat der Köck sie günstig gekauft, für einen Polizeischüler erste eigene Waffe natürlich etwas Besonderes, Verbau hin oder her.

Eine hat er dem Brenner weiterverkauft, eine dem Brigadier Aschenbrenner, also heute Brigadier, damals natürlich noch nicht, damals Polizeischüler. Eine dem Saarinen, der hat damals noch gelebt. Und eine hat der Köck sich selber behalten. Und die Idee hat er ihnen auch verkauft, weil der Köck immer viele Ideen, und mit den vier Walther-Pistolen sind sie dann eben in die Puntigamer Filiale der Raiffeisenkasse hineinspaziert, das war mehr so ein Bubenstreich unter Polizeischülern, und auf der Flucht haben sie die 67000 Schilling gleich wieder verloren, und der Saarinen sogar sein Leben, weil die Ampel. In der Rudersdorfer Straße. Direkt an die Ampel.

Darüber hat er natürlich mit dem Köck geredet. Aber wie der Brenner dann um vier Uhr früh vom Stadion heimgekommen ist, hat es ihm schon wieder Leid getan, dass er überhaupt ein Wort über die alte Geschichte verloren hat. Natürlich nagt so etwas an einem, der Saarinen mit dem Motorrad tödlich verunglückt, der Aschenbrenner heute Kripochef von Graz, da hat er nicht gewusst, was ihm mehr weh tut. Trotzdem hätte er es sich sparen sollen. Das blöde Gerede, dass sie zwei den Kripochef fertig machen könnten. Aber lange hat es ihm nicht Leid getan, weil der Kripochef hat ja dann noch in derselben Nacht ihn fertig gemacht.

Das musst du dir einmal vorstellen. Der Brenner kommt um vier Uhr früh mit dem Moped heim, weil seit es wieder angemeldet war, hat man ihn nicht mehr ohne sein altes Moped gesehen. Ich kann es verstehen, von so einem Moped kriegst du Liebe und Zuneigung, wie es eine Frau nicht einmal geben kann, wenn sie möchte. Und genügsam. Für fünf Liter Gemisch fährt es dich um die halbe Welt. Der Brenner hat es damals auffrisiert, dass es 90 gegangen ist. Damals der Brenner überhaupt ein guter Mopedbastler, er hat ja damals dem Saarinen auch viel bei seiner Suzuki geholfen.

Jetzt wie er um vier Uhr früh vom Stadion heimgekommen ist, hat er sich noch gedacht, den Auspuff muss ich mir morgen noch einmal anschauen. Weil ehrlich gesagt, da dürften zwischen dem Arnold-Schwarzenegger-Stadion und dem alten Haus in Puntigam schon ein paar hundert Leute um vier Uhr früh aufgewacht sein oder zumindest von einem Abfangjäger geträumt haben.

Zum Auspuff-Reparieren ist er dann aber nicht mehr gekommen, weil in der Küche hat schon der Kripochef auf ihn gewartet. Vielleicht ist ihm das mit dem Auspuff auch nur im Nachhinein so wichtig vorgekommen, weil wenn du in einen Pistolenlauf hineinschaust, hat das ja eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Auspuff.

Auch wenn die Walther nicht so einen gewaltigen Lauf hat, aber wenn du direkt hineinschaust, Pistolenlauf immer gewaltig. Und für den Brenner natürlich besonders, weil erster Gedanke: Wenn der Kripochef nicht seine Dienst-Glock verwendet, sondern den alten Walther-Verbau aus der Polizeischule, dann will er auch abdrücken.

Das war sein erster Gedanke, wie er in die Walther hineingeschaut hat. Und wenn nicht im selben Moment draußen jemand so laut gehupt hätte, dass er unwillkürlich seinen Kopf ein bisschen zum Fenster hin-, also von der Walther weggedreht hat, wäre es auch sein letzter Gedanke gewesen.

Das ewige Leben

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