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Die Diagnose Spurensicherung Gottes

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Fingerabdrücke Gottes sind überall und immer, in der Natur, im Tod, in der Liebe und im Leben, überall, wo Menschen sind. Wir haben ihm Tempel gebaut, Pyramiden, Kathedralen. Wir haben ihm die größten Kunstwerke gewidmet, ihn verehrt, angebetet und gefleht, politisiert, missbraucht, verflucht und verraten, ignoriert. Und selbst wenn wir ihn verloren zu haben glauben, also nichts mehr glauben, so irritieren uns seine Spuren, so spüren wir in uns einen Zweifel über den Zweifel, eine leise, aber doch unsterbliche Sehnsucht nach dem Unsterblichen, eine Sehnsucht nach der Antwort auf die letzten Fragen. Und je weiter man sich persönlich oder als Gesellschaft von Gott entfernt, desto größer wächst dieses eigentümliche Heimweh.

Es ist eigenartig, dass die Spuren Gottes, egal wie nihilistisch oder areligiös die Menschen gerade denken, nie verschwinden. Angesichts der überwältigenden Nachhaltigkeit dieser Spuren zu allen Zeiten in allen Kulturen, angesichts also der erdrückenden Beweislast massenhafter Indizien über Jahrtausende hinweg, wirkt die Vorstellung, Gott könne womöglich gar nicht existieren, ziemlich forsch. Ist nicht der Glaube an das Nichts ein viel gewagterer Glaube als der an Gott? Ist nicht der Mensch, der Gott konkret gefunden hat, ein glaubwürdigerer Zeuge als der, der abstrakt behauptet, es gebe ihn nicht? Denn Ersterer bezeugt etwas Manifestes, Letzterer behauptet etwas über jemanden, dessen Existenz er abstreitet. Das Sehen der Zeugen wiegt doch eigentlich schwerer als das Nicht-Sehen der Gegen-Zeugen.

Und trotzdem spielen wir in Europa seit ein, zwei Jahrhunderten ein Versteckspiel mit Gott. Obwohl seine Spuren überall sind, halten wir Gott für tot. Im 20. Jahrhundert religiös verstorben. Und kulturell vergessen. Wir haben ihn systematisch umgebracht, unsere Philosophen, die Psychologen, die Ideologen der abendländischen Neuzeit. Friedrich Nietzsche und Charles Darwin, Arthur Schopenhauer und Karl Marx und all ihre Epigonen. Sigmund Freud diagnostizierte den Gottesmord zutreffend als die große „Kränkung“ der Moderne. Das 20. Jahrhundert und seine gottvergessenen Ideologien dokumentierten dies schließlich mit pathologischer Brutalität. Am Ende besorgten der Alltags-Atheismus und die Vergesslichkeit eines materialistischen Zeitalters den Rest. Die postmodernen Wohlstandsgesellschaften spülten sogar die kulturellen Restbestände des Christentums aus dem Bewusstsein einer geistig zerstreuten Zeit.

Mit der gelassenen Arroganz unserer Aufklärung haben wir Gott in den vergangenen Jahren immer öfter wie einen verstorbenen Großvater betrachtet. Schließlich trägt jeder gebildete Europäer die Kritik des Metaphysischen mit sich herum wie ein Erbstück vom Großvater. Kopernikus rückt die Welt aus ihrer Mitte, Kant macht uns die Grenzen der Erkenntnis klar, Darwin biologisiert unsere Herkunft, Feuerbach („Das Wesen des Christentums“) erinnert uns an den Projektionscharakter der Religion, Marx enttarnt ihr politisches Wesen („Opium des Volkes“), und mit Freud („Die Zukunft einer Illusion“) betrachten wir Gott immer auch als Vexierspiel unserer eigenen Psyche. Kurzum: Wir tragen Nietzsches Gott-ist-tot-Postulat wie Wechselgeld unserer Sinngebung durchs Leben.

Obendrein hält es das alte Europa nach den bitteren Erfahrungen der Religionskriege schlichtweg für vernünftig, die Sphären des Religiösen und des Politischen tunlichst zu trennen. So sehr, dass man sich in der EU-Verfassung den Gottesbezug nicht einmal mehr zu erwähnen getraut hat.

Inzwischen aber wirkt dieses alte Europa wie eine agnostische Insel in einem Meer neo-religiöser Bewegungen. Die Neo-Religiosität erobert sich den öffentlichen Raum der großen Weltpolitik. Die neue und zum Teil aggressive Vitalität des Islam ist dabei nur die sichtbarste Entwicklung. Auch der christlich-orthodoxe Kulturkreis, ganz Osteuropa lädt sich religiös neu auf. Asien befindet sich in theologischer Restauration. Vor allem aber in den USA – der wichtigsten Nation des Erdkreises – ist der Prozess allenthalben manifest. Immer deutlicher wird sichtbar, dass die neue Religiosität große Folgen haben könnte. Selbst so säkular geprägte Staatengebilde wie die moderne Türkei werden zutiefst erschüttert durch die Religionsbewegung. Und sogar Indien und China erleben ein politisch brisantes Comeback der Massenspiritualität.

Denn es geschieht das völlig Unerwartete: Gott kehrt plötzlich zurück. Die Religion erlebt rund um den Erdball eine Renaissance, die kaum einer für möglich gehalten hätte. Nur in Westeuropa ist die „Wiederkehr der Götter“ (Friedrich Wilhelm Graf), die „Rückkehr der Religionen“ (Martin Riesebrodt), die „Desecularization of the World“ (Peter Berger) erst langsam in Fahrt gekommen. Nicht mehr lange …

Das 21.Jahrhundert wird wohl auch uns Europäer lehren, dass das Agnostische nicht das Ende der Geschichte ist. Vielleicht wird Europa aufgrund seiner enormen intellektuellen Kraft sogar vom neo-religiösen Nachzügler zu einem kulturellen Gestalter dieses Prozesses. Was man nur wünschen kann, um den gefährlichen Teil dieses gewaltigen Trends gewissermaßen zu zivilisieren. Denn die Wiederkehr von „Glaubenskonflikten in der Weltpolitik“ (Wilfried Röhrich), der blutige „Clash of Civilizations“ (Samuel Huntington) ist längst kein Gespenst von Scharfmachern mehr. Ob man sie nun als „Rache Gottes“ (Gilles Kepel) oder als „Kampf für Gott“ (Karen Armstrong) deutet, der „Terror im Namen Gottes“ (Mark Huergensmeyer) und die „Sacred Fury“ (Charles Selengut) sind bereits Wirklichkeit. Da könnte Europa, das schon aus historischer und geistesgeschichtlicher Erfahrung genau um die gefährliche „Ambivalenz des Heiligen“ (Scott Appleby) weiß, das wilde Pferd des Neo-Religiösen zähmen, domestizieren und zum kultivierten Ausritt bewegen.

Zurzeit wirkt Europa noch wie der kühle Pol der globalen religionspolitischen Erhitzung. Bei genauem Hinsehen aber zeigt sich, dass wahrscheinlich gerade aus der europäischen Tragödie im 20. Jahrhundert für die Welt ein Signal ausging, dass die globale Rückbesinnung auf Religionen befördert hat. Denn das Europa des 20. Jahrhunderts hat die Welt gelehrt, dass ohne Gott die politischen Katastrophen noch teuflischer geworden sind.

Das 20. Jahrhundert war – religiös gesehen – eines der gottlosesten der Menschheitsgeschichte. Politisch gesehen wurde es auch deswegen zur humanitären Katastrophe. Die großen politischen Ersatzreligionen – der Faschismus und der Kommunismus – haben nicht nur Abermillionen Menschenleben gekostet und das Elend in die Seelen ganzer Generationen eingraviert. Sie haben auch aus der Heimat aller modernen Kulturen, aus dem guten, alten Europa, die grausame neue Hölle gemacht – und sie damit verraten.

Europa hatte nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) eine politische wie intellektuelle Grundüberzeugung, dass es im Sinne der praktischen Vernunft wohl besser sei, den lieben Gott aus der Politik und dem öffentlichen Leben zu verbannen. Nur: Infolge seiner philosophischen und habituellen Vernichtung zum Ende des 19. Jahrhunderts geriet Europa ins andere Extrem. Die beiden Weltkriege sind aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts der zweite Dreißigjährige Krieg Europas (1914–1945) gewesen. Der erste war von radikalen Theismen getrieben. Den zweiten schürten radikale Atheisten.

So wie die führenden Gesellschaften nach dem ersten Dreißigjährigen Krieg die Religion instinktiv marginalisierten, so werden sie nach dem zweiten Dreißigjährigen Krieg das Gegenteil tun. Womöglich könnten die Todesmaschinerien von Faschismus und Kommunismus, die Europa und die Welt bis 1989 geprägt haben, einen ähnlichen psychologischen Langzeiteffekt haben wie der Dreißigjährige Krieg innerhalb Europas. Nur umgekehrt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts mobilisiert sich eine gewaltige Antithese, die nun das Religiöse wie einen Reflex zurückbringt ins Bewusstsein der Weltbevölkerung.

Das 21. Jahrhundert wird ein Zeitalter der Religion. Gott kehrt zurück, und zwar mit Macht – im doppelten Sinne des Wortes. Nicht nur als philosophische Kategorie, revitalisierte Tradition, theologische Überzeugung oder spirituelle Kraft. Er kommt mitten hinein ins wahre Leben. Die Pandemie verstärkt diesen Prozess. Wie das Erdbeben von Lissabon 1755 den kollektiven Gottesglauben erschütterte, so frisst ein winziger Virus 2021 einen existenziellen Zweifel in die säkularisierte Welt. Die Moderne, ihre Globalisierung, eine offene Welt zwischen Flughafenlounges und Ischgl-Partys, entpuppt sich als riskantes Gebilde. Schlagartig ist unsere, die ganz offene, selbst-genügsame, diesseitige Welt eine gefährliche. Damit bricht das Gefühl des Die-Welt-im-Griff-Habens in sich zusammen. Etwas ganz Winziges bringt eine ganz große Überzeugung zu Fall – die der Machbarkeit und Autonomie des Menschen. Und plötzlich wird der Blick frei für die Realität einer anderen Welt, für den Tod und die Endlichkeit, für Kategorien wie Schicksal und Glaube. Die vorliegende Streitschrift vertritt die These, dass sich der Säkularisierungsprozess umkehren wird. Die Pandemie ist dabei ein Meilenstein des neuen Weges: Wir gehen vom post-modernen ins neo-religiöse Zeitalter.

Sehnsucht nach Gott

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