Читать книгу Der Junge, der mit Jimi Hendrix tanzte - Wolfram Hanel - Страница 8
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ОглавлениеAls Appaz in Kerschkamps verbeulten Volvo einsteigt, dröhnen ihm die Kinks entgegen: »Everybody’s a dreamer, everybody’s a star …« Und anstelle irgendeiner Form von Begrüßung legt Kerschkamp sofort mit einem seiner erklärten Lieblingsthemen los - dass die Kinks das beste Beispiel dafür sind, dass die Scorpions nichts taugen. Egal wie fragwürdig Kerschkamps Schlussfolgerung auch sein mag, entbehrt sie doch nicht einer gewissen Logik: »Du brauchst nur ein einziges Mal Zelluloid Heroes< von den Kinks hören, um zu begreifen, dass >Wind of Change< keine Rockballade, sondern bestenfalls billige Autoscooter-Musik ist«, regt er sich auf, während er gleichzeitig den Gang reinwuchtet und Gas gibt.
Appaz nickt nur. Kerschkamps Begeisterung für Ray Davies und die Kinks ist genauso bekannt wie die Tatsache, dass die Scorpions auf seiner persönlichen Worst-of-Music-Liste womöglich sogar noch vor Heinz Rudolf Kunze rangieren. Aber die Geschichte, die Kerschkamp gleich darauf zum Besten gibt, ist auch für Appaz neu.
»Da war ich Ostern mit Susanne und den Kindern zum Skilaufen«, erzählt er, »wieder da in Österreich, du weißt schon, wo wir immer hinfahren. Und dann hocken wir auf irgend so einer Berghütte und lassen uns die Ohren zudröhnen von dem Mist, den sie da immer spielen. Und jetzt halt dich fest, erst kommt >Meiner hat zwanzig Zentimeter oder so was und dann >Wind of Change<. Da hast du es doch, genau das ist es, was ich meine!«, erklärt er, während er einem Radfahrer rücksichtslos die Vorfahrt nimmt, »Bumsmusik, nichts anderes! - Hier, lies dir den Scheiß doch mal durch …«
Kerschkamp zeigt auf die Stapel aus einzelnen Zeitungsseiten, die auf dem Armaturenbrett liegen. Als Appaz ihn verständnislos ansieht, beugt er sich vor und wühlt mit einer Hand zwischen den Ausschnitten, bis er gefunden hat, was er sucht. »Hier, das ist echt der Hammer! Lies mal!«
Er hält Appaz einen Artikel hin und reißt gleichzeitig das Lenkrad herum, um schlingernd auf die Hauptstraße einzubiegen.
Appaz klammert sich am Türgriff fest. Er ist lange nicht mehr mit Kerschkamp im Auto unterwegs gewesen und hat fast vergessen, dass Kerschkamps Fahrstil einiges zu wünschen übrig lässt. Wenn auch der Volvo im Gegensatz zu ihrem alten VW-Bus von damals selbst grobe Fahrfehler gutmütig zu verzeihen scheint. Wäre ich bloß selber gefahren, denkt Appaz dennoch, und: Wenn er so weitermacht, muss ich irgendwas sagen, auch auf die Gefahr hin, dass er dann sauer ist. Aber ich habe keine Lust, am nächsten Laternenpfahl zu landen!
»Lies mal!«, wiederholt Kerschkamp, nachdem er den Volvo von den Straßenbahnschienen zurück auf die Fahrbahn gezwungen hat. »Die wichtigsten Stellen habe ich angestrichen …«
Es geht um irgendeinen Bericht aus der hannoverschen Tageszeitung, der überschrieben ist mit »Der Soundtrack für die Revolution«. Darunter sind ein Bild von den Anfängen der Scorpions in den sechziger Jahren und ein Interview mit Klaus Meine, wie er das Jahr 1968 als Panzerjäger bei der Bundeswehr in Schwanewede bei Bremen erlebt hat.
Kerschkamp hat einzelne Sätze aus Meines Antwort dick mit einem gelben Filzstift markiert.
»Ich war nicht der Typ, der sich mit allen Mitteln um diese Verantwortung drückte«, fängt Appaz an zu lesen. Weiter kommt er nicht.
»Alles klar?«, fragt Kerschkamp. »Der ist auch noch stolz darauf, dass er beim Bund war! Ich habe mich nicht um diese Verantwortung gedrückt! Das ist doch unglaublich. Der sagt doch nichts anderes als dass alle, die den Scheiß nicht mitgemacht haben, Drückeberger waren. Und das sagt er heute noch, das ist das Schlimmste daran! Damit macht er alles platt, was damals an guten Sachen gelaufen ist. Und außerdem ist er ein Frog!«, setzt er hinzu und bringt den Volvo im letzten Moment vor einer Ampel zum Stehen, die schon seit geraumer Zeit Rot zeigt.
»Ein was?«, fragt Appaz irritiert und reibt sich über die Stelle an seiner Schulter, wo sich der Sicherheitsgurt bei Kerschkamps Vollbremsung gestrafft hatte.
»Ein Frog«, wiederholt Kerschkamp. »F-R-O-G, friend of Gerd, alles klar? Schröder, Mann, unser Ex-Kanzler!«
Die Ampel springt auf Grün. Aber Kerschkamp macht keine Anstalten loszufahren. Stattdessen nimmt er beide Hände zu Hilfe, um Schröders Freunde aufzuzählen.
»Erstens, ein Bauunternehmer, der mit verblüffender Regelmäßigkeit immer wieder wegen irgendwelcher Umweltskandale in der Presse auftaucht, zweitens, ein Finanzoptimierer, der mittlerweile rund eine Milliarde Euro Privatvermögen auf der hohen Kante hat, drittens, der Bumsmusik produzierende Meine, viertens, irgend so ein Havanna-Zigarren rauchender Rechtsanwalt …«
Der Wagen hinter ihnen hupt.
»Ja, ist ja gut, reg dich ab«, sagt Kerschkamp und lässt mit einem Ruck die Kupplung kommen, sodass der Volvo aufheulend über die Kreuzung schießt. Nachdem Kerschkamp ruckartig geschaltet hat, nimmt er immerhin die Hände wieder ans Lenkrad. Appaz stößt erleichtert die Luft aus.
»Wo war ich stehengeblieben?«, fragt Kerschkamp. »Ach ja, ich weiß schon wieder, Schröders Freunde. Da unten, habe ich alles gesammelt…«
Er zeigt auf die Matte vor Appaz’ Füßen, auf der sich noch mehr Zeitungsartikel stapeln.
»Alles! Wie Schröder zu seinem Geburtstag mit Gottschalk und Karl Dail und natürlich wieder dem singenden Panzerjäger Tischfußball gespielt hat. Und wie irgendein Sternekoch in einem Luxusschrebergarten Bratwürstchen für die Frogs gegrillt hat. Luxusschrebergarten, achte drauf, Alter! Und wie Schröder auf einer Party für den Finanzoptimierer mit Veronica Ferres und Ex-Spice Girl Mel C. …«
»Was soll das eigentlich?«, unterbricht ihn Appaz, während er nervös beobachtet, wie sich der Volvo schon wieder bedenklich den Straßenbahnschienen nähert. »Warum sammelst du das ganze Zeug?«
»Alles Material für ein neues Buch! Wir machen mal was ganz anderes, habe ich mir überlegt, wollte ich dir eigentlich neulich schon erzählen, aber dann warst du ja plötzlich echt weggetreten. Mann, du hattest vielleicht einen im Kahn! Aber ich auch. Aber ist ja auch egal, der Titel steht jedenfalls schon, für unser Buch, meine ich. Frogs, ist ja klar, in Großbuchstaben, F-R-O-G-S, und wir nehmen uns alle vor, jeden Einzelnen von ihnen, die ganze Bande, auch Heinz Rudolf! Schon gut, sag nichts, ich weiß, dass der nicht zu den Freunden von Schröder gehört, aber andererseits irgendwie doch wieder, verstehst du? Er muss jedenfalls unbedingt mit rein in unser Buch …«
»Warte mal«, sagt Appaz in der durchaus berechtigten Sorge, dass Kerschkamp gleich auch noch auf die angeblich getönten Haare des Ex-Kanzlers oder seine frühere Vorliebe für die Currywürste im Voss kommt. »Wer soll das Ganze hinterher lesen? Wenn wir ein neues Buch machen, sollte es schon irgendwas sein, das wenigstens ein paar Leute interessiert.«
»Wie, wer soll das hinterher lesen? Die ganze Republik natürlich! Das wird für Monate ganz oben auf der Spiegel-Liste stehen, das sage ich dir, du.«
»Aber das interessiert keinen«, wiederholt Appaz. »Außer vielleicht ein paar Leute in Hannover. Sonst gibt es sowieso niemand mehr, der Heinz Rudolf noch kennt.«
»Was?«
Kerschkamp zieht den Volvo mit quietschenden Reifen nach rechts und bringt ihn mit dem Vorderrad auf der Bordsteinkante zum Stehen.
»Du meinst, die Leute kennen Heinz Rudolf Kunze nicht mehr?«, fragt er entgeistert.
»Tausendmal berührt, tausendmal ist nichts passiert«, sagt Appaz.
»Warte mal!«, ruft Kerschkamp. »Das ist doch gar nicht von Heinz Rudolf, das ist doch von …«
»Eben. Aber es interessiert sowieso keinen mehr, das meine ich damit.«
»Aber die Scorpions, Alter!«, setzt Kerschkamp wieder an.
»Auch schon länger her, oder?«
»Mann, du kannst einen aber auch echt fertig machen.« Kerschkamp haut mit der flachen Hand aufs Lenkrad. »Und Schröder, fällt dir dazu auch irgendwas ein?«
»Nur dass ganz bestimmt keiner wissen will, ob er mit irgendwelchen Rechtsanwälten Tischfußball spielt.«
»Vielleicht hast du recht«, gibt Kerschkamp nach kurzem Zögern zu. »Ist nur schade eigentlich. Ist eine Menge gutes Material dabei, du, das kannst du mir glauben …«
Ein bisschen wehmütig blickt er auf die Zeitungsausschnitte zu Appaz’ Füßen und auf dem Armaturenbrett. »Aber die Sache ist noch nicht vom Tisch, Alter, lass uns da trotzdem nochmal drüber nachdenken …«
»Apropos Rechtsanwälte«, hakt Appaz schnell ein, weil er befürchtet, dass Kerschkamp sich sonst unerbittlich an dem einmal gefundenen Thema festbeißt, »apropos Rechtsanwälte«, sagt er also, »was meinst du, wie viel Leute von uns werden wohl Rechtsanwälte geworden sein?«
»Keine Ahnung. Nurminski ist Kinderpsychologe, das hat mir irgendjemand erzählt. Und Buchmann ist Lehrer geworden, glaube ich jedenfalls. Aber Rechtsanwalt? Keine Ahnung«, wiederholt Kerschkamp. »Höchstens Nolle vielleicht, der hatte schon damals irgendwas Perverses …«
»Nölle«, korrigiert Appaz und schüttelt den Kopf. »Nölle ist Pathologe geworden.«
»Ach, echt? Na ja, sag ich doch, passt doch. Aber das werden wir ja gleich hören, was der Rest so macht. Versicherung wahrscheinlich. Oder Bank. Und jede Menge Computer-Fuzzis, aber irgendeiner ist auch garantiert Rechtsanwalt. Trotzdem, Alter«, ruft er dann und haut Appaz begeistert aufs Knie, »ich wette, die Einzigen, die immer noch lange Haare haben, sind wir beide!«
Kerschkamp fädelt sich wieder in den fließenden Verkehr ein, indem er einfach den linken Arm aus dem Fenster hält und Gas gibt.
Als Ray Davies »I’m not like everybody eise« singt, stellt Appaz die Musik noch lauter, als sie ohnehin schon ist. Aber so hört er wenigstens das wütende Gehupe hinter ihnen nicht mehr.
Sie sind tatsächlich auf dem Weg zu diesem Klassentreffen, von dem Kerschkamp im Voss erzählt hat. Gleich am nächsten Tag hat er noch mal bei Appaz angerufen und so lange ein mehr oder weniger haarsträubendes Argument nach dem anderen vorgebracht, bis Appaz schließlich zusagte, wenn auch mit deutlich gemischten Gefühlen. Die Zeit auf dem Gymnasium war nicht gut gewesen, und er sah eigentlich keinen Grund dafür, das alles noch mal aufzuwärmen. Andererseits reizte es ihn plötzlich, ein paar Leute von früher wiederzusehen. Und zusammen mit Kerschkamp könnte das Ganze vielleicht sogar Spaß machen. Hat er neulich am Telefon noch gedacht.
Jetzt ist er sich nicht mehr so sicher. Kerschkamp scheint nicht gerade sonderlich gut drauf zu sein. Appaz kennt solche Phasen bei ihm schon, immer wenn Kerschkamp irgendwelche Probleme hat, neigt er dazu, anderen unbedingt die Welt erklären zu wollen. Und die Idee jetzt mit dem Buch über Schröder und Schröders Freunde aus der Boulevard-Presse läuft genau in diese Richtung. Kerschkamp regt sich über irgendetwas auf, was eigentlich völlig ohne Bedeutung ist, und will gleich blindlings um sich schlagen: Wir nehmen sie uns alle vor, jeden Einzelnen von ihnen! Aber wozu, denkt Appaz, es ist ein Unterschied, ob wir uns abends in der Kneipe darüber einig sind, dass in den letzten zehn oder zwanzig Jahren ein paar Sachen deutlich aus dem Ruder gelaufen sind, ohne dass wir es eigentlich so richtig mitgekriegt haben, oder ob wir deswegen gleich alle von unserer Sicht der Dinge überzeugen wollen. Und wenn, dann bestimmt nicht mit einem Buch über den Ex-Kanzler und den singenden Panzerjäger, von Heinz Rudolf mal ganz zu schweigen. Das ist kleinlich und riecht verdammt nach Frustration, denkt er, und womöglich nach Neid. Das haben sie nicht nötig. Sie haben es ja beide hingekriegt, sie schaffen ganz gut den Spagat, das nötige Geld zum Leben zu verdienen, ohne ihre Haltungen aufzugeben. Und dass sie sich hartnäckig allem verweigern, was nach Karriere riecht, das wollen sie so und können es wahrscheinlich auch gar nicht anders. Also haben sie auch keinen Grund, sich zu beschweren, nicht wirklich jedenfalls. Andererseits ist es wichtig, die Wut zu behalten und immer wieder das Maul aufzumachen, da hat Kerschkamp schon recht. Sonst würden sie über kurz oder lang entweder einfach nur resignieren oder in selbstgefälliger Versunkenheit Whiskey schlürfend vor dem offenen Kaminfeuer sitzen, das sie beide nicht haben …
Drei Romane hat Appaz bisher abgeliefert, zwei Theaterstücke, zwei Hörspiele. Von denen das eine immerhin einen Preis gewonnen hat, der ihm ermöglicht hat, eine Weile lang einfach so vor sich hinzuschreiben, ohne ständig Sorge haben zu müssen, dass die eher mageren Vorschüsse nicht bis zum nächsten Vertrag reichten. Von den Verkaufszahlen allein kann er nicht leben, aber mit Hilfe einer wöchentlichen Glosse in einer überregionalen Frauenzeitschrift und zwei bis drei Jerry-Cotton-Heften pro Jahr kommt er ganz gut über die Runden. Sowohl die Glosse als auch den Jerry Cotton schreibt er unter verschiedenen Pseudonymen, bis auf Kerschkamp und Appaz’ frühere Frau weiß kaum jemand etwas von diesen schriftstellerischen Nebenschauplätzen, und das soll möglichst auch so bleiben.
Kerschkamp arbeitet als Fotoreporter für eine Bildagentur. Trotz oder vielleicht gerade wegen des Glasauges hatte er damals nach der Schule alles daran gesetzt, eine Ausbildung zu machen, die für ihn eher nicht in Frage zu kommen schien. Und er hat es geschafft. Auch finanziell kann er nicht klagen, zumal Susanne als Übersetzerin regelmäßig etwas dazuverdient. Aber sie haben auch drei halbwüchsige Kinder mit ziemlich teuren Hobbys, vor kurzem erst ist die Rede davon gewesen, dass Kerschkamps Älteste ein Pferd bekommen soll. Appaz ist froh, dass seine Tochter nie auf diesem Trip war. Obwohl sie sich seit Neuestem anscheinend für alles interessiert, was mit Snowboarden oder Surfen zu tun hat - und soweit Appaz weiß, kann auch das eine Menge Geld kosten. Wenn sie am nächsten Wochenende wieder bei ihm ist, wird er mal mit ihr darüber reden, was sie überhaupt so vorhat. Noch drei Wochen, dann würde sie ihr Abi in der Tasche haben. Und sie hat mal irgendwas gesagt, dass sie im Sommer vielleicht gerne eine Zeitlang an dem neuen Projekt mitarbeiten würde, das er mit Kerschkamp geplant hat.
Vor einigen Jahren haben Appaz und Kerschkamp nebenher einen Kleinst-Verlag für schräge Bildbände gegründet, Kerschkamp liefert die Fotos und Appaz schreibt die Texte, das Layout machen sie gemeinsam. Mit einigen Titeln sind sie ziemlich auf die Nase gefallen, sie haben immer noch eine Garage voll mit nicht verkauften Exemplaren, aber ihr Hit ist ein Buch über Badezimmer, »Der Deutsche auf dem Klo«, das mittlerweile in der vierten Auflage erscheint. Als Nächstes will Appaz unbedingt ein Buch über Turnschuhe machen, »Stinkfoot« ist der Arbeitstitel. Dass Kerschkamp jetzt plötzlich mit der völlig hirnrissigen Ex-Kanzler-Idee ankommt, ärgert Appaz. Manchmal ist es schwierig, mit Kerschkamp zu arbeiten.
Anstrengend, denkt Appaz. Genauso anstrengend, wie neben ihm im Auto zu sitzen. Und dunkel zu ahnen, dass Kerschkamp in seiner momentanen Stimmung es wahrscheinlich darauf anlegen wird, auf dem Abitreffen allen endlich mal die Meinung zu sagen. Während er selber gar nicht weiß, ob ihm wirklich daran gelegen ist, die Rechnung, die sie beide mit den anderen noch offen haben, nach so vielen Jahren jetzt zu begleichen.
Vielleicht wäre es sinnvoller, das alles zu vergessen und nach vorne zu blicken, denkt er, und macht gleich darauf die Augen zu, als vor ihnen die Einmündung auf den Schnellweg auftaucht und Kerschkamp den Volvo im dritten Gang bis an die Drehzahlgrenze zwingt.
Appaz tastet nach seinem Handy in der Jackentasche, das leicht vibriert. Das könnte sie sein, denkt er, obwohl sie es wahrscheinlich nicht ist, aber wenn doch, dann brauche ich wenigstens nicht mehr zu überlegen, wie ich sonst an ihre Nummer komme. Oder unter welchem Vorwand ich im Krankenhaus auftauchen kann. Tatsächlich hat er schon erwogen, sich wie zufällig nach dem Alten mit dem Beil im Kopf zu erkundigen. Weil er gerade in der Nähe sei oder so was, aber er hat Bedenken gehabt, dass der Alte vielleicht wirklich noch da ist und er dann nicht umhin kann, sich mit ihm zu unterhalten. Was nun absolut nicht das ist, was er eigentlich will…
Eine SMS. Von ihr!
»Sorry dass ich mich nicht schon eher gemeldet habe. Ich habe erst deine Karte suchen müssen. Du weißt ja, wie es auf meinem Schreibtisch aussieht.«
Quatsch, denkt Appaz, ich habe die Karte doch mittendrauf gelegt! Weiter …
»Hier ist die Hölle los. Lass mal was von dir hören. LG. Darleen«
Appaz fängt sofort an zu tippen.
»Was macht unser gemeinsamer Freund? Hast du noch was von ihm gehört?«
Das ist gut, denkt er. Das macht den Eindruck, als wäre ihm wirklich wichtig, was mit dem Alten mit dem Beil im Kopf passiert ist. Und außerdem knüpft es geschickt an ihr gemeinsames Erlebnis an. Nicht schlecht, denkt er, cool. Aber auch nicht zu cool.
»LG zurück. Kurt«
Und abschicken.
Offensichtlich hat sie erwartet, dass er sich sofort meldet. Ihre Antwort kommt innerhalb der nächsten Minute.
»Unser Freund war heute zur Nachuntersuchung hier. Diesmal nur mit einem blauen Auge und einer blutenden Lippe. Was machst du gerade?«
»Bin auf dem Weg zu einem Abitreffen«, tippt Appaz. »Weiß aber noch nicht, ob ich überhaupt Lust dazu habe. Würde lieber in einem ganz bestimmten Arztzimmer sitzen und mir die Zunge an heißem Kaffee verbrennen.«
Nein, stopp! Das ist zu schnell, denkt er. Gar nicht cool. Weg mit dem letzten Satz. Löschen. So noch mal…
»Sag mal«, unterbricht ihn Kerschkamp. »Ist alles in Ordnung mit dir? An wen schreibst du da die ganze Zeit? Irgendjemand, den ich kenne?«
»Kennst du nicht. Hat was mit neulich nachts zu tun. Mit dem Typen mit dem Beil im Kopf, hab ich dir ja erzählt.«
»Und?«
»Nichts und. Bin gleich so weit.«
Er fängt wieder an zu tippen.
»Melde mich später noch mal. Grüß den zugekifften Zivi von mir. Kurt«
Bescheuert, denkt er, aber egal. Und ab damit.
»Scheint ja sehr wichtig zu sein«, meint Kerschkamp und wechselt auf die linke Spur, um einen BMW zu überholen, der sich überraschenderweise an die vorgeschriebene Geschwindigkeit hält.
Appaz schiebt das Handy zurück in die Jacke und grinst still vor sich hin. Kerschkamp platzt fast vor Neugierde. Aber er wird ihm nicht den Gefallen tun und irgendwas erzählen. Noch nicht. Vielleicht später. Wenn sie von diesem idiotischen Klassentreffen zurückkommen, zu dem er eigentlich immer weniger Lust hat.
Oberstudienrat Löffler unterrichtete sie in Mathe. Da er in der Oberstufe auch als Chemielehrer eingesetzt war, trug er den immer gleichen weißen Kittel, der sich über seinem gewaltigen Bauch spannte und mit jedem Tag bis zum Beginn der nächsten Ferien mehr Säureflecken auf wies. Nach den Ferien erschien Löffler dann in einem neuen Kittel, und Appaz und seine Mitschüler schlossen Wetten ab, wie lange der mittlere Knopf wohl diesmal halten würde. Löffler fuhr einen grauen NSU-Prinz, der stets auf Hochglanz poliert war. Eine Plakette neben dem hinteren Nummerschild wies Löffler als »Kavalier der Straße« aus. Appaz fand es irgendwie ungerecht, dass sein Vater keine solche Plakette an ihrem Käfer hatte.
Die erste Arbeit, die Appaz bei Löffler schrieb, war auch seine erste Fünf. Klaus-Dieter bekam eine Zwei und bot großzügig an, Appaz beim nächsten Mal abschreiben zu lassen. Was sich aber als schwierig erwies, da Klaus-Dieter Linkshänder war, und Appaz beim besten Willen nichts anderes sehen konnte als seine blutig gebissenen Fingerkuppen. Nach der nächsten Fünf setzte sich Appaz’ Mutter jeden Nachmittag mit ihm an den Schreibtisch, um das große Einmaleins zu pauken. Appaz’ Vater war deutlich irritiert, dass sein Sohn in Mathe versagte, schließlich hatte er selber doch jeden Tag mit endlosen Zahlenkolonnen zu tun und konnte nicht verstehen, wieso Appaz damit irgendwelche Schwierigkeiten haben sollte.
Dennoch hatte Appaz vor Löffler weniger Angst als vor den meisten anderen Lehrern, tatsächlich war Löffler der Einzige, der sie nicht mit verbaler oder körperlicher Gewalt bedrohte.
Der Erdkundelehrer schlich sich gern von hinten heran, während sie bemüht waren, in ihrem Diercke-Weltatlas die Bodenschätze in Mitteldeutschland aufzuspüren, und rammte ihnen dann mit einem kurzen Schlag auf den Hinterkopf das Gesicht auf die Tischplatte.
»Hättest du gerade gesessen, wäre das nicht passiert«, war sein einziger Kommentar, als Kerschkamp sich die blutende Nase hielt. Und natürlich bekam Kerschkamp dann auch noch einen Eintrag ins Klassenbuch, »wegen unachtsamen Umgangs mit Unterrichtsmaterialien«, waren doch die mitteldeutschen Bodenschätze auf Kerschkamps Karte jetzt flächendeckend mit getrocknetem Blut gesprenkelt.
Tietemann, der Englischlehrer, neigte dazu, wahllos und unerwartet Backpfeifen zu verteilen, wenn sie nicht schnell genug die richtige Vokabel ausspuckten. Im Übrigen hatte er einigen von ihnen gleich in der ersten Stunde neue Namen gegeben, an denen er für die nächsten zwei Jahre unbeirrbar festhielt. Appaz war »Rindvieh«, Kerschkamp »Kamel« und Nurminski »Hornochse«.
Außerdem gab es noch »Dumpfbacke«,«Blödmann« und »Maulesel«, der »Menschenaffe« war für einen kleinen Dicken reserviert, der mit Nachnamen Nölle hieß. Klaus-Dieter hatte keinen Namen abbekommen und wurde, ebenso wie die anderen Namenlosen, auch gar nicht erst aufgerufen. Es war also besser, ein »Rindvieh« zu sein und damit wenigstens die Chance auf eine richtige Antwort und ein Pluszeichen im Zensurenbuch zu haben. Appaz und Nurminski konkurrierten dabei schon nach kurzer Zeit um die Führungsrolle, beide konnten noch vor den ersten Herbstferien Sätze wie »This is a hat. Is it Jack’s hat?« korrekt mit »Yes, it is« beantworten. Und wenn Appaz abends stolz auf seine neu erworbenen Kenntnisse zu seinen Eltern sagte: »Good night«, antwortete sein Vater kaum weniger stolz mit »Sleep very well in your Bettgestell.«
Appaz’ Vater nahm Appaz die Fünf in Musik übrigens nicht übel.
»Ich konnte auch nie singen«, sagte er nur, und damit war der Fall für ihn erledigt. Während diesmal Appaz’ Mutter irritiert war, sie selber sang gerne und viel. Vor allem wenn sie im Herbst nach Baltrum fuhren und lange Strandwanderungen machten, griff sie nach Appaz’ Hand und versuchte ihn jedes Mal zum Mitsingen zu animieren: »Wir lieben die Stürme, die brausenden Wogen, der eiskalten Winde raues Gesicht…«
Aber bei Musiklehrer Kunze wurde nicht gesungen, sondern sie mussten der Reihe nach ans Klavier treten und die verschiedenen Handzeichen für die einzelnen Noten vorführen. Oder die Noten zu den Handzeichen benennen. Machte einer von ihnen einen Fehler, zeigte Kunze die Faust mit dem nach unten gestreckten Daumen: »Kennst du dieses Handzeichen? Das heißt, du gehst moralisch zu Boden, mein Junge!« Danach musste der Schüler die Hände ausstrecken und bekam den Taktstock über die offenen Handflächen gezogen.
Vor allem aber sollten sie alle Blockflöte spielen. Appaz weigerte sich. Er wusste selber nicht, warum oder woher er überhaupt den Mut dazu nahm. Selbst seine Mutter konnte flehen und betteln, Appaz blieb bei seiner einmal getroffenen Entscheidung. Auch die Alternative, die Kunze ihm unerwartet anbot, mit einer »Melodica« am gemeinsamen Blockflötenspiel teilzunehmen, lehnte er rundweg ab.
Klaus-Dieter und auch Nölle hatten eine solche Melodica, und das Instrument mit seinen klavierähnlichen Tasten erschien Appaz nicht nur äußerst schwierig zu spielen, sondern auch absolut lächerlich. Was vor allem an dem olivgrünen Plastikkasten lag, den Klaus-Dieter in seinem Schulranzen mit sich herumschleppte und der Appaz noch schlimmer vorkam als die schottenkarierten Stoffhüllen für die Blockflöten.
Damit war allerdings endgültig jede Chance bei Kunze vertan, und für die nächsten zwei Jahre musste Appaz in jeder Musikstunde in der Ecke stehen. »Appaz, du guckst schon wieder frech. In die Ecke!«, war Kunzes regelmäßige Einleitung für diese Strafmaßnahme.
Mehr als nur einmal musste auch Kerschkamp in die Ecke, der trotz der getönten Brille offenbar ebenfalls etwas in seinem Blick hatte, was Kunze nicht gefiel. Dann grinsten sie sich heimlich zu und schnitten Grimassen, während Kunze seine Noten an die Tafel malte. Nur irgendwelche Liedtexte mit frei erfundenen Reimen zu verballhornen, trauten sie sich bei Kunze nicht.
Zu Hause kaufte Appaz’ Mutter dem wohl gänzlich unmusikalischen Sohn in ihrer Not eine teure Hohner-Mundharmonika. »Unsere Lieblinge« war auf derbraunroten Pappschachtel zu lesen, links und rechts des Schriftzuges waren in einem Oval die glücklichen Gesichter zweier Frauen zu sehen, die durchaus Ähnlichkeit mit Appaz’ Mutter hatten. Die Rückseite zeigte das Foto eines Mundharmonika-Orchesters. Eine der Mundharmonikas war gut einen Meter lang und auf einem Stativ angebracht, der Spieler bewegte sich freihändig vor der Riesenharmonika hin und her. Auch Appaz’ Mutter hatte früher beim »Bund Deutscher Mädel« Mundharmonika in einem Orchester gespielt. In einem Kriegslazarett, in dem schwer verwundete Wehrmachts-Soldaten für den nächsten Einsatz an der Front zusammengeflickt wurden und ein wenig Freude in all dem Elend bitter nötig hatten, wie Appaz’ Mutter gerne erzählte.
Seiner Mutter zuliebe versuchte sich Appaz mehrere Nachmittage lang an »Hänschen klein«, bis ihnen beiden klar wurde, dass die Mühe vergeblich war.
Kaum besser erging es Appaz im Sportunterricht. Zu Beginn war Appaz noch stolz gewesen auf sein neues Turnzeug, blau und mit dem silbern glänzenden Emblem des Gottfried-Wilhelm-Gymnasiums, das seine Mutter ihm sorgfältig aufs Hemd genäht hatte. Aber schon in der ersten Stunde stellte sich heraus, dass die Hosenbeine zu weit geschnitten waren und kaum Halt für die Pennäler-Pimmel boten, so dass bei jeder unachtsamen Bewegung alles zu sehen war. Entgegen der eindeutigen Anweisung von Sportlehrer Zint trugen die meisten von ihnen ihr Turnzeug fortan mit einer Unterhose darunter, nur Klaus-Dieter schien das völlig egal zu sein, er zog seine blaue Turnhose sogar nachmittags zum Spielen an, ohne sich darum zu kümmern, dass sein kleiner Sack deutlich sichtbar aus dem Hosenbein baumelte.
Die Sportstunden liefen alle nach dem gleichen Schema ab. Zunächst mussten sie zehn Minuten im Kreis hintereinander her durch die Halle rennen, danach wurde Sitzfußball gespielt. Appaz fand Sitzfußball von Anfang an einfach nur albern. Er versuchte, möglichst unauffällig auf der einmal eingenommenen Position zu bleiben und darauf zu warten, dass der Ball zufällig in seine Richtung rollte. Aber Zint erkannte solche »Drückeberger« sofort und benutzte sein Schlüsselbund, um mit einem gezielten Wurf Appaz und andere »Weicheier« zu mehr sportlicher Leistung anzustacheln.
Der eindeutige Held des Sportlehrers war Buchmann, der begeistert mit seinem Hintern den Hallenboden polierte und mit Abstand die meisten Tore schoss. Weshalb Buchmann dann auch als Auszeichnung in der großen Pause, während die anderen sich in dem stickigen Umkleideraum aus ihren verschwitzten Klamotten quälten, zum nächsten Kiosk sprinten durfte, um Zint sein tägliches Päckchen Roth-Händle zu besorgen.
Zint unterrichtete die älteren Schüler auch in Latein, die Unterstufenschüler kamen zunächst nur in den Genuss des zur Eröffnung jeder Sportstunde zitierten Satzes des römischen Dichters Juvenal, mens sana in corpore sano. »Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper, schreibt euch das hinter die ungewaschenen Ohren, ihr kleinen Schwachmaten!« Zint wohnte ein Stück von Hannover entfernt, in Wunstorf. Nurminski erzählte den anderen, dass in Wunstorf die größte Irrenanstalt Deutschlands sei, was sie alle sehr beeindruckte. Hinter vorgehaltener Hand machten sie bösartige Kommentare, die sich auf den aus dem Wohnort abzuleitenden Geisteszustand des Sportlehrers bezogen.
Im Kunstunterricht malten sie das erste Schuljahr über nur bunte Bilder, bei denen sie die Abgrenzungen zwischen den verschiedenen Farben mit Wasser verlaufen lassen sollten, was Appaz recht gut gelang. In der sechsten Klasse klebten sie dann Herbstblätter, die sie nachmittags im nahen Stadtwald sammelten, zu braungelb-roten Collagen. Zum Schutz sollten sie die Collagen mit durchsichtiger Folie abdecken und diese Folie dann auf der Rückseite mit Tesafilm befestigen. Schon nach kurzer Zeit fingen die Blätter unter der Folie an zu schwitzen und bildeten bald interessante Schimmelformationen, woraufhin Appaz’ Mutter die gesammelten Kunstwerke ihres Sohnes kurzerhand in den Müll entsorgte.
Der Kunstlehrer hieß Schleicher und war auffallend klein, zumindest Buchmann überragte ihn schon um gut einen halben Kopf. Schleicher war deutlich jünger als die anderen Lehrer, vielleicht gerade mal dreißig. Er hatte einen sauber ausrasierten Kinnbart und trug, dem Image des Künstlers entsprechend, mit Vorliebe großkarierte Hemden und manchmal sogar eine Jeans, wenn auch mit Bügelfalte. Wenn Schleicher den Zeichensaal betrat, brachte er grundsätzlich eine Wolke von Zigarettenqualm und stechendem Schweißgeruch mit herein.
Trotz seiner Jugendlichkeit und der legeren Kleidung beherrschte er jedoch den am Gottfried-Wilhelm-Gymnasium üblichen Katalog an Strafmaßnahmen. Seine ganz persönliche Ergänzung bestand darin, unaufmerksame Schüler an die Tafel zu holen, sie mit dem Kopf parallel zu der Ablageschiene für die Kreide auszurichten und sie dann mit einem Stoß gegen die Kante zu rammen. Ihrer Größe entsprechend knallten die meisten von ihnen genau mit dem Ohr auf die Kante.
Appaz war froh, als Schleicher ihn in die »freiwillige Arbeitsgemeinschaft für Flugmodellbau« wählte, bei der sie einmal in der Woche am Nachmittag zuvor mit Hilfe einer Schablone aufgezeichnete Flugzeugteile aus Balsaholz ausschnitten und zu sogenannten »Gleitern« zusammenklebten, die meist spätestens beim »Luftkampf« im Werkraum wieder zu Bruch gingen. Aber wer in Schleichers freiwilliger AG war, gehörte zu seinen Lieblingsschülern und lief damit deutlich weniger Risiko, sein Ohr gegen die Tafelkante geknallt zu bekommen. Auch Kerschkamp war in der AG, genauso wie Klaus-Dieter, der von nun an nicht mehr nur die Haut von seinen Fingerkuppen kaute, sondern auch dicke Lagen von Uhu-Hart.
Appaz’ Mutter war stolz auf Appaz’ neues Hobby, sie selber war nach dem Krieg mehrmals auf der Wasserkuppe mit einem Segelflugzeug mitgeflogen und beschrieb Appaz begeistert das unglaubliche Gefühl, über den Wolken dahin zu gleiten. Unverzüglich versuchten sich Appaz und Kerschkamp denn auch zu Hause an einem Segelflugmodell, bei dem die Balsaholzgerippe der Tragflächen mit dünnem Papier bezogen und mit einem Speziallack behandelt wurden, wodurch sich eine zum Zerreißen straff gespannte Fläche bildete. Das Modell hieß laut Aufschrift auf dem Bausatz »Sonny« und stürzte bei einem ersten Testflug trudelnd in ein Dornengestrüpp, das die Bespannung unwiderruflich zerfetzte.
Aber zum ersten Mal schien auch Kerschkamps Vater irgendeinen Sinn in dem zu sehen, was sein Sohn in der Schule trieb. Das nächste Modell bauten Appaz und Kerschkamp dann unter seiner Anleitung - und tatsächlich war es deutlich flugtauglicher und ließ die Zuschauer auf der Wiese spontan Beifall klatschen, als es sich in eleganten Kurven mit dem Wind immer höher schraubte.
Noch stolzer aber war Appaz’ Mutter, als er aus dem Deutschunterricht eine Eins mit nach Hause brachte, für eine Kurzgeschichte, die sie bei Dr. Strotzeck geschrieben hatten. Auch Dr. Strotzeck war Oberstudienrat, für Deutsch und Religion. Er war so alt, dass er schon im Ersten Weltkrieg Soldat gewesen war, im Religionsunterricht aber erzählte er vor allem aus dem Zweiten Weltkrieg, den er ebenfalls mitgemacht hatte. Er ließ sie gerne teilhaben an der einen oder anderen Erfahrung »mit dem Russen«, der nach der Besetzung von Berlin zum ersten Mal ein Wasserklosett sah und keine Ahnung hatte, wofür es gedacht war. Weshalb er dann seine Kartoffeln in der Kloschüssel wusch und schließlich entgeistert feststellte, dass nach Betätigen der Spülung die Kartoffeln auf Nimmerwiedersehen verschwunden waren.
Über diese Geschichte konnten sie alle herzlich lachen, es war tatsächlich unglaublich, wie dumm der Russe war. Und nicht nur das, er war auch ein kleines Dreckschwein, »um seine Notdurft zu verrichten, benutzte er einfach den Keller«, wie Dr. Strotzeck zu berichten wusste.
Eigentlich war der Unterricht bei Dr. Strotzeck gar nicht so schlimm. Wenn sie ihn dazu kriegten, die immer gleichen Geschichten vom Krieg zu erzählen, hatten sie für die folgenden fünfundvierzig Minuten meist nichts zu befürchten. Sie hatten auch gehört, dass die älteren Schüler den Oberstudienrat fast liebevoll als »Opa Strotzeck« bezeichneten, trauten sich aber nur hinter vorgehaltener Hand, diesen Spitznamen selber zu benutzen. Denn als Andenken an den Krieg hatte Dr. Strotzeck nach einem Kopfschuss eine »Silberplatte im Gehirn« mitgebracht und neigte in größeren Abständen unvermittelt zu cholerischen Ausfällen, bei denen er wahllos einen vermeintlichen Störenfried aus der Reihe holte, mit sich überschlagender Stimme brüllte: »Du hast wohl Kopfschmerzen, du Schlingel!« und den wimmernden Schüler mit verdrehtem Ohr hinter sich her zum Schulleiter zerrte.
Vor dem Schulleiter zitterten sie alle, allein schon das Schild an seiner Tür, Oberstudiendirektor Dr. Siegfried, machte ohne jeden Zweifel klar, dass er weit über allen Lehrern stand. Und so wagte niemand, auch nur den Mund aufzumachen, wenn Dr. Siegfried sie barsch zum Säubern des Schulhofs verdonnerte oder, schlimmer noch, sie nach Schulschluss für eine zusätzliche Stunde zur Arbeit im Schulgarten abkommandierte, wo sie dann Unkraut jäten, die Wege harken und den modrigen Teich von Schlingpflanzen befreien mussten, während die anderen längst in die nachmittägliche Freiheit entlassen waren.
Aber von Opa Strotzecks gelegentlichen Wutanfällen abgesehen, mochte Appaz die Deutschstunden. Es waren vor allem die Geschichten, die sie bei ihm lasen und die Appaz ausnahmslos gut fand. Wolf-Dietrich Schnurres »Veitel und seine Gäste« oder Georg Brittings »Brudermord im Altwasser« eröffneten ihm eine neue Welt, die weit über seine bisherigen Lieblingslektüren »Fury« und »RinTinTin« hinausging. Dr. Strotzeck ermutigte sie auch zu eigenen Schreibversuchen, bei denen sie neue stilistische Mittel ausprobieren sollten. Und so entstand Appaz’ Kurzgeschichte »Der Sprung vom Zehner«, in der er seine Erfahrungen an einem von vielen im Freibad am Mittellandkanal verbrachten Sommernachmittagen verarbeitete, als er mit Kerschkamp und Klaus-Dieter voll ehrfürchtiger Bewunderung beobachtet hatte, wie Buchmann tatsächlich vom Zehner gesprungen war und gleich nach ihm Nurminski und sogar Nölle die Heldentat wiederholt hatten. Appaz traute sich kaum aufs Dreimeterbrett, Klaus-Dieter hielt sich schon beim Sprung vom Beckenrand, mit den Füßen voran, die Nase zu, Kerschkamp kletterte grundsätzlich nur über die Leiter ins Wasser. Und setzte auch seine getönte Brille nicht ab.
»Versucht, mit wenigen und einfachen Worten eine Geschichte aus eurem Alltag zu erzählen«, hatte Dr. Strotzeck sie aufgefordert, und nachdem Appaz erst mal einen Anfang gefunden hatte, reihte er in kurzer Zeit Satz an Satz und hatte Spaß daran zu sehen, wie seine Geschichte sich fast von selbst entwickelte. Aber dann war er doch unsicher, ob man das wirklich so schreiben konnte, wie er es getan hatte. Er las den Text seiner Mutter vor, während sie in der Küche das Abendessen vorbereitete.
»Gut«, sagte seine Mutter nur, und am folgenden Tag lieferte Appaz seine Geschichte bei Dr. Strotzeck ab, obwohl Klaus-Dieter ihm nach einem flüchtigen Blick auf die ersten Zeilen geraten hatte, sie bloß niemand zu zeigen, und schon gar nicht dem Deutschlehrer!
»Bist du doof?«, hatte Klaus-Dieter gesagt. »Das ist doch keine Geschichte! Was soll das überhaupt?«
Klaus-Dieter hatte eine Geschichte über einen Besuch bei seinen Verwandten in der Ostzone geschrieben, die Appaz nicht schlecht fand, nur vielleicht ein bisschen an den Haaren herbeigezogen, vor allem die Stelle, an der Klaus-Dieter den Verwandten seine neue Timex-Uhr zeigte, und Onkel und Tante nicht nur angeblich noch nie zuvor eine Uhr mit Leuchtziffern gesehen hatten, sondern auch noch erzählten, dass ihnen die eigenen Uhren von den Russen weggenommen worden waren.
»Hab ich extra so gemacht«, hatte Klaus-Dieter dazu erklärt, »du weißt doch, dass Opa Strotzeck was gegen die Russen hat, also muss er meine Geschichte gut finden, ist doch klar!«
Ganz abgesehen davon, dass Klaus-Dieter in Wirklichkeit gar keine Timex-Uhr hatte, war sich Appaz auch nicht sicher, ob sein Plan wirklich funktionieren würde. Aber vor der nächsten Deutschstunde wünschte er sich, dass auch er etwas geschrieben hätte, was gegen die Russen ging.
Und dann kam Dr. Strotzeck mit den korrigierten Aufsätzen in den Klassenraum und erklärte mit offenbar echter Enttäuschung: »Was ihr da verbrochen habt, ist durch die Bank Mist. Nur eine einzige Geschichte hat es verdient, dass sie überhaupt vorgelesen wird …«
Er zog die ersten Seiten von dem Stapel auf seinem Tisch.
Klaus-Dieter nahm die Fingerkuppen aus dem Mund und flüsterte Appaz zu: »Habe ich dir doch gesagt. Das fand der gut, dass ich die Russen schlecht gemacht habe!«
Dr. Strotzeck fing an zu lesen.
Appaz brauchte einen Moment, bis er begriff, dass es die Sätze waren, die er selber geschrieben hatte.
»Der Turm ist hoch. Die Leiter ist rot. Ich habe Angst. Der Bademeister beobachtet mich. Ich höre meine Freunde lachen. Ich gucke nicht nach unten. Ich bin alleine. Ich klettere weiter. Ich hasse die rote Leiter …«
Erst kicherten noch ein paar seiner Mitschüler. Aber als der Ich-Erzähler in Appaz’ Geschichte dann auf dem Zehn-Meter-Brett stand, herrschte atemlose Stille. Und auch als er nicht sprang, sondern über die Leiter wieder nach unten kletterte, lachte niemand.
»Der Turm ist immer noch hoch«, las Dr. Strotzeck die letzten Sätze. »Die Leiter ist immer noch rot. - Sehr gut, Kurt. Schreib weiter!«
Dr. Strotzeck gab ihm seinen Aufsatz zurück. Appaz’ Kopf glühte. Nicht nur, dass seine Geschichte wider Erwarten für »sehr gut« befunden worden war, es war auch das erste Mal, dass ein Lehrer am Gottfried-Wilhelm-Gymnasium ihn mit Vornamen angeredet hatte! Und es machte ihm auch kaum etwas aus, dass Nölle in der Pause zischte: »Streber!« Oder dass Klaus-Dieter sich mit seiner Kakaotüte beleidigt in die hinterste Ecke des Pausenhofs verzog und nicht mehr mit ihm reden wollte.
»Mach dir nichts draus«, sagte Kerschkamp, der wie üblich neben ihm stand. »Die sind nur neidisch. Ich fand deine Geschichte gut. Ich finde nur, du hättest ruhig auch schreiben können, dass da im Nichtschwimmer vom Lister Bad echt fiese Kackwürste rumschwimmen. Das hätte gut gepasst, wenn du das noch geschrieben hättest.«
Appaz’ Hochstimmung hielt nicht an. Schon am nächsten Tag kassierte er eine Ohrfeige von Biologielehrer Gnuschke, weil er die Rampe zum Fahrradkeller hinuntergefahren war und sein Rad nicht, wie es die Schulordnung verlangte, geschoben hatte. Und damit war alles wieder beim Alten. Jeder Schultag war geprägt von der Angst, irgendetwas falsch zu machen, unbeabsichtigt gegen eines der zahllosen Ordnungsgebote zu verstoßen oder auch nur durch »unpassendes Verhalten« wie zu lautes Lachen, zu schnelles Rennen oder zu freches Gucken die Aufmerksamkeit eines Lehrers auf sich zu ziehen: »Ihr seid nicht hier, um Spaß zu haben, sondern um etwas für euer zukünftiges Leben zu lernen«, stellte Dr. Siegfried anlässlich der Weihnachtsfeier in der Aula noch einmal unmissverständlich klar. Wobei sie nicht so recht wussten, was genau das nun war, was sie da für ihre Zukunft lernen sollten. Vielleicht hatte Kerschkamp recht, als er morgens in der Straßenbahn zu Appaz sagte: »Die wollen nur, dass wir keine Scheiß-Hippies werden. Davor haben die echt Angst!«
Zu Hause erzählte Appaz nichts von den diversen Strafmaßnahmen, denen er und die anderen ausgesetzt waren. Unbewusst ging er davon aus, dass seine Eltern, und insbesondere seine Mutter, die Ohrfeigen und Schläge zwar zweifellos empörend finden, es aber gleichzeitig doch niemals wagen würden, sich einzumischen und eine Konfrontation mit den Lehrern zu riskieren. Und irgendwie war sich Appaz auch nicht sicher, ob er nicht manchmal tatsächlich etwas machte, was man nun halt mal nicht tat. Womöglich waren die Lehrer tatsächlich im Recht, wenn sie solches Fehlverhalten mit Strafen belegten - wenn auch die Strafen häufig in keinem Verhältnis zu den Vergehen standen und Appaz sie oft ungerecht fand.
Aber seine Mutter würde wahrscheinlich nur sagen: »Du musst da durch« und einmal mehr darauf hinweisen, dass es nie gut sei, aufzufallen und »aus der Reihe zu tanzen«. Dieses Grundprinzip hatte sie sich zu eigen gemacht, nachdem sie als ehemalige BDM-Führerin mit aller Konsequenz hatte lernen müssen, dass das, was sie über Jahre für gut und erstrebenswert gehalten hatte, mit einem Male nichtig und falsch gewesen sein sollte.
Bei Appaz’ Vater war es anders, ihm ging es vor allem darum, gegenüber den Nachbarn und Arbeitskollegen nicht aufzufallen, um bloß beim freitäglichen Kegeln keine hämischen Kommentare zu ernten. Die er im Übrigen selber gelegentlich von sich gab. Appaz sollte sich noch lange daran erinnern, wie seine Eltern ihn eines Nachmittags aufgeregt auf den Balkon riefen, um dann in einträchtigem Entsetzen den ältesten Sohn eines Nachbarn zu beobachten, wie er am Straßenrand mit einem Freund seine BMW Isetta reparierte.
»Furchtbar«, stellte Appaz’ Vater fest und zündete sich eine neue Lord Extra an, »so läuft man doch nicht rum!«
»Was muss das vor allem für seine Eltern bedeuten?«, fügte Appaz’ Mutter kopfschüttelnd hinzu und legte schützend den Arm um Appaz. »Guck dir das an, Kurt! Das wird aus jemand, der die Schule nicht zu Ende macht!«
Der Nachbarssohn hatte tatsächlich die Schule abgebrochen. Und seine Eltern wurden jetzt »nicht mehr fertig« mit ihm, wie Appaz’ Vater erzählte. Nicht nur, dass der Junge eine ausgefranste Jeans und ein bunt bedrucktes Batikhemd trug, sondern er lief auch barfuß und hatte Haare, die ihm weit über den Rücken fielen.
»Wie ein Mädchen«, sagte Appaz’ Vater. »Schlimm!«
Später erfuhr Appaz, dass dieser erste Hippie ihrer Siedlung mit dem Freund und der Isetta über Nacht verschwunden war und nie wieder auf tauchte. Von dem Freund - ebenfalls ein Nachbarssohn, aber zumindest mit adrettem Haarschnitt und vernünftigem Schuhwerk - erhielten die Eltern Wochen danach eine Postkarte aus Südfrankreich. Ihr Sohn hatte in Hannover ein Mädchen geschwängert und sich deshalb freiwillig zur Fremdenlegion gemeldet. Er bat seine Eltern, ihn nicht zu suchen. Von dem Hippie hörte nie wieder jemand ein Wort. Sein kleiner Bruder, der in die Oberstufe des Gottfried-Wilhelm-Gymnasiums ging, brachte sich kurz vor dem Abitur um.
»Das musste ja so kommen«, war der einzige Kommentar von Appaz’ Vater, der zunehmend Schwierigkeiten hatte mit einer Welt, die offensichtlich alle bislang gültigen Werte und Normen auf den Kopf stellte.
»Das musste ja so kommen«, war dann auch sein Kommentar, als kurz hintereinander Martin Luther King ermordet und Rudi Dutschke angeschossen wurden. Und auch die Studentenunruhen in Berlin und Paris, die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den »Krawallmachern« und die daraus resultierende Verabschiedung der Notstandsgesetze durch Bundeskanzler Kiesinger folgten nach Meinung von Appaz’ Vater nur zwangsläufig einer vorhersehbaren Entwicklung. Worum es eigentlich ging, wurde nicht besprochen, weder zu Hause noch in der Schule, und blieb für Appaz nahezu vollständig im Dunkeln.
Da sie, wie die meisten von Appaz’ Mitschülern, noch keinen Fernsehapparat hatten, waren die einzigen Informationen, die er aufschnappen konnte, die Fotos und Schlagzeilen aus der Tageszeitung. Und da erschien es ihm allemal interessanter, die Meldungen über die erste Herzverpflanzung des südafrikanischen Arztes Barnard zu verfolgen, und jeden Tag zu zählen, den der Patient überlebte. Diese medizinische Pioniertat begeisterte auch Appaz’ Mutter, sie war vor allem weit weg von jeder Politik, aus der man sich besser raushielt.
Die Kuba-Krise war ebenso wenig vergessen wie der Einsatz der Rosinenbomber in Berlin, und die Angst vor dem, was die Sowjetunion der freien Welt noch alles antun könnte, reichte vollkommen, um jetzt auch die Warnungen vor allen umstürzlerischen Ideen ernst zu nehmen - der Einmarsch russischer Panzer in Prag bestätigte das erneut, und auch die Fotos der nackten Mitglieder der Kommune 1 passten in dieses Bild. Das verbindende Glied war die »rote Gefahr«, die hinter allem lauerte, auch Langhans und Teufel waren natürlich »von drüben« bezahlt.
Appaz’ Eltern schickten also weiterhin regelmäßig Kukident und Kaffeepulver in die Ostzone, stellten Weihnachten zum Gedenken an die Brüder und Schwestern im Osten eine Kerze ins Wohnzimmerfenster und hofften im Übrigen, dass der Sohn noch möglichst lange damit beschäftigt wäre, Fotos von Autorennfahrern in seinem Zimmer aufzuhängen. Was Appaz auch begeistert tat. Und als Jim Clark, Bruce McLaren, Gerhard Mitter und Jochen Rindt kurz nacheinander tödlich verunglückten, malte er schweren Herzens hinter jeden Namen ein Kreuz und das Todesdatum.
Abends saß er manchmal mit seinem Vater auf dem Sofa neben dem großen Philips-Radio, über den eingebauten Plattenspieler hörten sie einträchtig die Werbe-Single von Esso, die der Tankwart dem Vater als treuem Kunden überreicht hatte: Ralf Bendix sang »Pack den Tiger in den Tank«. Appaz konnte den Text von der ersten bis zur letzten Zeile auswendig hersagen: »Pack den Tiger in den Tank, und dein Auto weiß dir Dank, gleich wird seine Leistung steigen! Hei, wie läuft der Wagen zügig, wie geschmeidig ist die Kraft, die das gute Esso-Extra schon vom Start weg ihm verschafft …« Appaz’ Eltern waren glücklich, dass bei ihnen zu Hause alles so gut lief.
Und dann kam der Tag, an dem Appaz’ Vater unerwartet - und, hätte er darüber nachgedacht, wahrscheinlich auch zu seiner eigenen Verblüffung - selber zum revolutionären Kämpfer wurde. Die ÜSTRA, die städtischen Verkehrsbetriebe in Hannover, hatten zum wiederholten Mal die Fahrpreise erhöht, und jetzt sollte der Einzelfahrschein 80 Pfennig kosten. Umgehend blockierten Hunderte von Demonstranten in der Innenstadt die Straßenbahnschienen und skandierten ein vielstimmiges »Üstra, Üstra, Ungeheuer, erstens Scheiße, zweitens teuer!«
Appaz und Kerschkamp warteten an diesem Morgen vergeblich auf ihre Bahn und fuhren schließlich mit dem Fahrrad zur Schule, Appaz’ Mutter schrieb ihm eine Entschuldigung für die Verspätung. Nach Schulschluss wagten sie sich dann bis zum Klagesmarkt in der Innenstadt, und beobachteten aus sicherer Entfernung, wie die Polizei vergeblich versuchte, die Schienen zu räumen, bis ein Polizist auf seinem BMW-Motorrad sie noch nicht mal unfreundlich mit den Worten »Macht, dass ihr hier wegkommt, Jungs! Ihr habt hier nichts zu suchen«, wieder nach Hause schickte.
Zwei Tage später stellte die ÜSTRA endgültig ihren Betrieb ein, und der Oberstadtdirektor forderte Hannovers Bürger in einer Zeitungsanzeige vorsorglich auf: »Folgen Sie den Anordnungen der Polizei!« Gleichzeitig tauchten überall im Stadtgebiet handtellergroße rote Punkte auf, zunächst noch selbst gemalt, kurz darauf von den Tageszeitungen in hoher Auflage gedruckt und verteilt - Autofahrer klebten sich diese roten Punkte an die Windschutzscheiben und zeigten damit an, dass sie unentgeltlich Fahrgäste mitnehmen würden. Freiwillige Helfer organisierten den improvisierten Nahverkehr, wiesen Autos zu den Haltepunkten und riefen Fahrziele aus. Selbst Oberstudienrat Löffler hatte einen roten Punkt an seinem NSU, und Appaz war nicht wenig stolz darauf, dass auch sein eigener Vater sich offen zu dieser Selbsthilfeaktion von Bürgern bekannte, die nicht länger alles mit sich machen ließen. Wobei ihm durchaus auffiel, dass sein Vater ohnehin schon länger eine Fahrgemeinschaft mit vier seiner Kollegen gegründet hatte, und der Käfer somit trotz rotem Punkt im Fenster gar keine solidarischen Sitzplätze für autolose Mitfahrer mehr frei hatte.
Natürlich befestigten auch Appaz und Kerschkamp an ihren Fahrrädern rote Punkte, und Klaus-Dieter nahm tatsächlich einmal einen Schüler der benachbarten Mittelschule auf dem Gepäckträger mit. Der Fahrgast wackelte allerdings so hin und her, dass Klaus-Dieter im Stadtwald dann vom Radweg abkam und sie beide mitten in den Brennnesseln landeten.
Nach zwei Wochen beschloss der Rat der Stadt die Kommunalisierung der ÜSTRA und die Einführung eines Einheitstarifes von 50 Pfennig. Busse und Bahnen fuhren wieder - wer beim »roten Punkt« mitgemacht hatte, gehörte zu den Gewinnern, gemeinsam hatten sie ihr Ziel erreicht und die hannoverschen Verkehrsbetriebe in die Knie gezwungen! Und Appaz hatte zum ersten Mal eine Idee davon bekommen, dass gemeinsames Handeln tatsächlich Macht bedeutete …
Noch im gleichen Sommer landete der erste Mensch auf dem Mond, auch dies schien nur möglich geworden zu sein durch eine gemeinsame Kraftanstrengung, und Appaz’ Mutter wusste stolz zu berichten, dass aller Anfang des Raketenflugs Wernher von Braun zu verdanken war, einem Deutschen, der noch dazu in der Lüneburger Heide und damit gar nicht weit weg von Hannover seine ersten Triebwerke gezündet hatte.
Zur Mondlandung kaufte Appaz’ Vater dann auch den ersten Fernseher, Appaz durfte aufbleiben, bis Neil Armstrong seinen Fuß in den grauen Mondstaub setzte und von Knistern und Knattern bis zur nahezu vollkommenen Unverständlichkeit verzerrt verkündete: »Das ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer Sprung für die Menschheit.«
In der Folge durfte Appaz dann gemeinsam mit seinen Eltern erst Kulenkampffs »Einer wird gewinnen« angucken, später auch »Aktenzeichen XY ungelöst«, noch später »Bonanza« und »Der Kommissar«. Und »Percy Stuart« schließlich avancierte zur absoluten Lieblingssendung der ganzen Familie, Appaz’ Eltern konnten herzlich über den typisch britischen Butler lachen, Appaz träumte davon, irgendwann selber mal eine weiße Schafspelz] acke wie die von Claus Wilcke zu besitzen. Kerschkamp war es, der Appaz den Tipp gab, unbedingt mal »Wünsch dir was« anzusehen: »Die Frau da ist toll«, schwärmte er Appaz vor, »die sieht total gut aus und ist echt witzig!« Bei Appaz’ Eltern allerdings stieß Vivi Bach auf wenig Gegenliebe, was zweifellos nicht nur mit ihrem gelispelten »sch« zu tun hatte.
Noch eine andere Frau sollte Appaz kurz nach der Mondlandung für eine ganze Weile beschäftigen. In Amerika war Sharon Täte ermordet worden. Nach den Zeitungsberichten war Täte in ihren Filmen immer äußerst »freizügig« gewesen, und der Mörder war, zumindest nach den abgebildeten Fotos, ein unrasierter, langhaariger »Hippie« - für Appaz’ Eltern passte beides nur zu gut zusammen. Aber Appaz empfand eine unklare Wut auf Charles Manson, der seiner Meinung nach die ganze Hippie-Bewegung, die Appaz - genauso wie Kerschkamp und die meisten anderen - gerade erst anfing, gut zu finden, in Verruf gebracht hatte.