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Sie waren gerade alle durchs Abitur gefallen, Buchmann, Lepcke, Kerschkamp, Ratte und Appaz. Kollektiv sozusagen. Was zweifellos nicht nur an ihrer nahezu totalen Verweigerung gegenüber Leminhalten lag, die sie sowohl als überflüssig als auch als grundsätzlich reaktionär erkannt zu haben glaubten. Sondern vielmehr an solchen Aktionen wie dem Bestreiken des Unterrichts, solange sie nicht endlich ein festes und angemessenes Schülergehalt bekämen.

Zugegeben, ihre Begründung dafür war zumindest fragwürdig gewesen. Da sie die Vorteile einer staatlichen und daher für sie unentgeldlichen Ausbildung nur genießen würden, um später als qualifizierte Fachkräfte zum allgemeinen und in höchstem Maße verabscheuungswürdigen Profitwachstum beizutragen, sei es ja wohl nur recht und billig, sie auch dementsprechend zu bezahlen, so hatten sie der örtlichen Presse gegenüber lautstark argumentiert.

Im Gegenzug hatte der stellvertretende Schulleiter ihres »mathematisch-naturwissenschaftlichen und neusprachlichen Gymnasiums für Knaben« ihnen nun mitgeteilt, dass sie ganz offensichtlich noch lange nicht die Reife erlangt hätten, die gemeinhin mit dem Reifezeugnis belohnt wird.

»Meine Herren«, hatte er die Entscheidung des Kollegiums zusammengefasst und sich dabei eines süffisanten Grinsens nicht erwehren können, »meine Herren, ich denke, Sie haben jetzt begriffen, dass letztendlich doch immer noch wir am längeren Hebel sitzen.«

Und Frau Doktor A. hatte mit zitternder Stimme hinzugesetzt: »Die Diktatur des Proletariats ist noch lange nicht angebrochen, zum Glück!«

Woraufhin Buchmann nichts Besseres eingefallen war, als aus seinen fast zwei Metern Höhe eine Zeile von Atomic Rooster zu grölen: »Death walks behind you …« Damit war er frohgemut aus der Aula marschiert, auf geradem Wege hinüber zu Tengelmann, um eine Flasche Tequila für sechs fünfundneunzig zu klauen und sich das widerlich-warme Zeug unverzüglich in großen Zügen einzuverleiben.

Trotzdem hielt er sich den Nachmittag über gar nicht so schlecht. Sie lungerten an dem Kiesteich zwischen den Kartoffelfeldern hinter Lepckes Haus herum und halfen Buchmann dabei, zunächst mal den Tequila zu vernichten. Danach rauchten sie so ziemlich alles, was sich nur irgendwie in Zigarettenpapier wickeln und anzünden ließ. Und irgendwann waren sie so weit, dass das vermasselte Abitur für sie ungefähr die Bedeutung hatte wie der sprichwörtliche Sack Reis, der in China angeblich immer wieder mal umfällt. Bis Buchmann plötzlich mit kaltem Schweiß auf der Stirn und glasigem Blick irgendwas von Sonnenstich lallte und Lepckes Zelt vollkotzte.

Irgendwann später kam dann auch noch Hansi dazu. Aber da redete Kerschkamp schon davon, dass der Kiesteich aussehen würde wie die Ostsee, wo er letzten Sommer mit seiner Kreidler zum Camping gewesen war. Und Ratte wollte sich mit dümmlichem Grinsen an Biggi ranmachen, die die Schwester von Lepcke war und schon seit Monaten ziemlich fest mit Hansi liiert. Deshalb stieß Hansi also Ratte rückwärts in den Teich, wo er auch glatt liegen geblieben wäre, das Gesicht halb unter Wasser, kichernd und Blasen blubbernd.

Zum Glück waren auch Sabine und Anette mit dabei. Anette war Appaz’ Freundin, mehr oder weniger jedenfalls. Ohne dass sie darüber geredet hätten, war für beide klar, dass es so lange gehen würde, wie es eben ging. Aber weil Anette so gut wie keine Brüste hatte und ziemlich kurze Haare, behauptete Ratte bei jeder Gelegenheit, mit Appaz würde irgendwas nicht ganz stimmen. Dass Anette unter ihren bunten Wickelröcken grundsätzlich keinen Slip trug, hatte Appaz Ratte nie erzählt, sonst hätte er wahrscheinlich anders darüber gedacht.

Jedenfalls holten die Mädchen Ratte aus dem Wasser. Kerschkamp und Appaz machten Feuer, und die Mädchen zogen Ratte nackt aus und wendeten ihn vor dem Feuer hin und her, bis seine Haut von allen Seiten krebsrot war und er plötzlich einen steifen Schwanz bekam. Woraufhin Sabine kichernd ihre Parkajacke über seinen Steifen hängte, als wäre Rattes Schwanz der Garderobenhaken in irgendeiner Kneipe.

Hansi hatte inzwischen die Kaffeemühle aus seinem Rucksack geholt, und die Tüte mit den Getreidekörnern. Er lernte Gärtner in einem Dorf irgendwo hinter Laatzen und schleppte immer diesen Rucksack mit sich herum, mit der Kaffeemühle von seiner Oma und einer hoffnungslos verrosteten Bratpfanne. Er hatte auch immer irgendwelche Getreidekörner dabei und natürlich sein selbst gezogenes Gras. Die Fladen, die er jetzt mit einem Becher Teichwasser zusammenmatschte, schmeckten genauso mies, wie Hansis Fladen immer schmeckten, und waren auch wieder mal halb verbrannt, aber sie machten schön breit. Noch breiter, als sie alle ohnehin schon waren. Und um nichts anderes ging es.

Eigentlich hatten sie zusammen mit Hansi gleich zu Beginn der Sommerferien nach Frankreich fahren wollen. Hansi hatte auch den Bus besorgt, einen rot-weißen VW-Bus, Baujahr 1964, mit 34 PS und geteilter Windschutzscheibe und Klapptüren an der Seite. Der Bus hatte dem Dorfschlachter gehört, und Hansi hatte ihm die Karre mit viel Hin und Her für 750 Mark abgeschwatzt, was sie zu fünft ganz gut bezahlen konnten. Aber kaum war er umgemeldet, setzte Hansi sich mit Biggi zu einem Ausflug an die Ostsee ab, ohne ihnen auch nur ein Wort zu sagen. Und sie hatten den Bus bis dahin noch nicht mal gesehen! Hatten Hansi nur das Geld gegeben und dann diesen bescheuerten Anruf von ihm gekriegt, aus Eckernförde, wo er mit Biggi mal eben für ein paar Tage hingefahren war - angeblich um zu sehen, ob der Bus auch wirklich fit war.

Woraufhin sie alle reichlich sauer gewesen waren. Kerschkamp hatte so lange herumgestänkert, bis sie Hansi erklärten, dass sie ohne ihn nach Frankreich fahren würden. Er sei so was wie ein Kameradenschwein, und sie könnten gut auf ihn verzichten. Hansi schien das völlig egal zu sein, oder zumindest tat er so, als wäre es ihm völlig egal, er drückte Appaz nur schulterzuckend und mit schiefem Grinsen die Schlüssel in die Hand.

Jetzt matschte er also wie üblich seine Fladen zusammen und benahm sich, als wäre nie etwas gewesen. Und natürlich verschwand er dann irgendwann wieder mit Biggi in dem Geräteschuppen gleich neben dem Steg, auf dem sie hockten. Aber das kannten sie schon. Sie hatten auch schon hundertmal Hansis Stöhnen gehört, das immer klang, als würde er gleich einen Herzkollaps kriegen, während Biggi ganz still blieb. Deshalb war Ratte fest davon überzeugt, dass Hansi etwas falsch machen musste.

Irgendwann wurde es so kalt, dass sie keine Lust mehr hatten. Buchmanns Hemd war angekokelt, weil er halb im Feuer gelegen hatte.

»Scheiße«, sagte er, »Scheißescheißescheiße.«

Fluchend kletterte er hinter Kerschkamp auf die Kreidler, und ohne Licht kurvten sie den Feldweg hoch. Lepcke schwankte quer über den Acker.

Anette fuhr den Bus, weil sie nie etwas trank und auch nicht viel kiffte. Weniger als die anderen jedenfalls. Sie kriegte den Rückwärtsgang nicht gleich rein, und Hansi grinste blöde. Als das Getriebe kreischte, hielt er sich demonstrativ die Ohren zu. Anette versuchte hochzuschalten, ohne zu kuppeln. Appaz sah an ihrem Gesicht, dass sie es mit voller Absicht tat. Er sagte nichts, sondern hielt nur den Kopf ans offene Fenster und zählte die Straßenlaternen. Kam aber immer nur bis fünf.

Sabine musste mit Ratte losgezogen sein. Jedenfalls rief Ratte am nächsten Mittag bei Appaz an und faselte irgendwas davon, dass er die ganze Nacht nicht geschlafen habe und dass es zum Schluss nicht mehr witzig gewesen sei. Weil Sabine immer wieder angefangen habe, auch als er schon längst nicht mehr konnte. Zum Glück habe sich sein großer Bruder irgendwann beschwert, sonst würde Sabine jetzt immer noch auf Ratte nach Laramie reiten. Ratte klang wirklich fertig, als er das erzählte.

Rattes großer Bruder hieß Udo, und sie wohnten zusammen in einem Zimmer. Udo hatte sich für vier Jahre zum Bund verpflichtet, aber weil die Kaserne gleich um die Ecke war, durfte er zu Hause schlafen. Wenn er nicht gerade im Bau saß, was allerdings häufiger vorkam. Beim letzten Mal hatten sie ihn alle Mann besucht und erst ein paar Runden Mau-Mau mit ihm gespielt und dann Käpt’n Nuss, bis die Flasche billiger Whiskey, die Kerschkamp an der Wache vorbeigeschmuggelt hatte, unwiderruflich leer war. Was nicht allzu lange gedauert hatte.

Soweit Appaz sich erinnerte, war Udo da eingebuchtet, weil er ein paar Nächte zuvor schwer betrunken die Schaufensterscheibe von irgendeinem Fernsehladen eingeschlagen hatte und dann in aller Ruhe mit einem originalverpackten Fernseher unter jedem Arm die Fußgängerzone hochgetorkelt war. In Ausgehuniform!

Aber jedenfalls hielt Udo Appaz und die anderen jetzt für seine besten Freunde, seit sie ihn im Bau besucht hatten, und wollte sie unbedingt managen. Sie hatten nämlich eine Band, Pain in the Ass, mit Lepcke als Sologitarristen, Buchmann am Bass und dem Dicken am Schlagzeug.

Eigentlich hatte Kerschkamp Schlagzeug spielen sollen. Aber dann war der Dicke gekommen und hatte von einem Kumpel eine Gesangsanlage besorgt, womit die Sache klar war. Kerschkamp spielte jetzt noch bei zwei Songs Bongos, aber man hörte ihn kaum, weil sie nur ein Mikro hatten, und das brauchte Appaz zum Singen.

Sie waren nicht gut, aber verdammt laut.

Ratte spielte Rhythmusgitarre und konnte sich keinen Griff länger merken als für die nächsten zwei Stunden, von irgendwelchen Riffs ganz zu schweigen. Und der Dicke zerhackte regelmäßig ein paar Sticks pro Song. Trotzdem hatten sie immerhin schon drei Auftritte gehabt, den ersten auf einer Solidaritätsveranstaltung im Unabhängigen Jugendzentrum Kornstraße »gegen Entlassungen und Unterdrückungen«, und die beiden anderen bei irgendwelchen Dorffesten im »Gasthaus zur Eiche« in Ehlershausen, wo der Dicke einen Onkel hatte, der im Gemeinderat saß. Fast hätten sie auch noch auf einer Zigeunerhochzeit gespielt, hatten aber in letzter Minute wieder abgesagt, weil sie Schiss bekamen, dass Ratte sich an die Braut ranmachte und sie dann alle zusammen einen auf die Fresse kriegen würden.

Ihren Übungsraum hatten sie im Keller unter dem Lebensmittelgeschäft von Buchmanns Eltern. Und wenn Udo Ausgang hatte und nicht gerade wieder irgendwo einen Bruch machte, hing er mit einer seiner ohne Ausnahme wasserstoffblond gefärbten Freundinnen bei ihnen im Keller rum und träumte von deutlich besseren Zeiten, in denen er ihnen als ausgebuffter Rockmanager richtige Konzerte mit gigantischen Gagen besorgen würde. Aber immerhin hatte er ihnen zunächst schon mal den Typen besorgt, der für hundert Mark bar auf die Kralle ihren Bus hintenrum durch den TÜV brachte. Mit Stempel und Plakette und allem, was dazugehört, ganz seriös.

Das mit dem TÜV hatte Hansi nämlich irgendwie verpennt gehabt. Und auch Kerschkamp hatte nur durch Zufall gesehen, dass der Bus bereits seit drei Monaten überfällig war. Ihr daraufhin gestarteter Versuch, höchstpersönlich bei den Herren von der technischen Überwachung vorzufahren, war eigentlich schon nach dem ersten Blickkontakt zwischen Appaz und dem Prüfer gescheitert. Da hätte der Graukittel nicht erst noch seinen Schraubenzieher in den hoffnungslos durchgerosteten Seitenschweller bohren müssen.

Für ihre Frankreichfahrt hatte Udo ihnen noch einen Suchscheinwerfer vom Bund mitgebracht, ein Riesending, das sie vorne genau in die Mitte des Daches schrauben wollten. Weshalb Appaz jetzt am Mittag nach ihrer kleinen Abiturfeier am Kiesteich Kerschkamp abholte und mit ihm zu dem Dicken nach Hause fuhr. Bei Ratte versuchten sie es gar nicht erst, »der soll lieber seine Eier kühlen«, sagte Kerschkamp nur, nachdem Appaz ihm von Rattes Anruf erzählt hatte.

Der Dicke wohnte zwei Häuser neben Lepcke. Solange sein Vater zur Arbeit war, konnten sie den Bus vor die Garage stellen, sich Strom aus dem Keller holen und schrauben und basteln, ohne dass sich irgendjemand aufregte. Im Gegenteil, die Oma vom Dicken fand das sogar gut, weil sie ein bisschen Abwechslung in ihren Alltag brachten. Sie hockte immer hinter dem Fenster im ersten Stock und beobachtete jeden ihrer Schritte. Und immer, wenn einer von ihnen zufällig zu ihr hochguckte, hob sie die Hand und winkte. Sie winkten natürlich zurück. Die Oma vom Dicken war nett, da waren sich alle einig.

Der Dicke war bei Telefunken und lernte Elektriker. Er hatte ihnen schon einen Spannungswandler für den Bus gebaut, von 220 auf 6 Volt, damit sie Kerschkamps Kassettenrecorder anschließen konnten. Eigentlich wäre der Dicke auch gern mit nach Frankreich gefahren, aber seit dem zweiten Auftritt in Ehlershausen hatte er eine Freundin, und nun wollte er doch lieber zusammen mit ihr irgendwo anders hin, erst Verwandte im Schwarzwald besuchen oder so was, und dann weiter nach Italien. Komischerweise hatten die beiden ausgerechnet Buchmann eingeladen mitzukommen. Und Buchmann hatte zugesagt.

Aber im Moment musste der Dicke ihnen erst noch helfen, den Suchscheinwerfer zu montieren. Während Kerschkamp und Appaz also die letzten Fettplocken hinten aus dem Laderaum kratzten und Lepcke sein in der Nacht zuvor von Buchmann vollgekotztes Zelt mit einem Schlauch abspritzte, holte der Dicke eine Leiter und die Bohrmaschine von seinem Alten und legte los.

Das Problem war nur, dass der Bus vorne in der Mitte so eine Art Lüftungstunnel hatte. Das Dach ragte ein wenig über die geteilte Windschutzscheibe hinaus und in dem Überhang befanden sich auf jeder Seite zwei Lüftungsschlitze, die den Fahrtwind in eben diesen Tunnel leiteten. In der Fahrerkabine gab es dann unter der Decke einen Hebel, mit dem man den Luftstrom wahlweise gleichmäßig zu den beiden Seiten oder insgesamt nach hinten lenken konnte.

Aber nachdem der Dicke den Scheinwerfer fertig montiert hatte, war der Hebel blockiert und blies die Luft nur noch nach hinten. Trotzdem, der Scheinwerfer verpasste dem Bus ein ziemlich abenteuerliches Aussehen, und um das Ganze perfekt zu machen, malten ihm Kerschkamp und Appaz mit einem Rest schwarzer Farbe, den sie in der Garage gefunden hatten, »Heavy Tour 75« in Spiegelschrift auf die weiße Blechnase.

Während sie noch am Pinseln waren, klärte Kerschkamp Appaz darüber auf, dass sie letzte Nacht am Kiesteich offenbar besprochen hatten, anstelle von Hansi einfach den Ami mitzunehmen. Appaz konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, aber Lepcke wusste auch Bescheid. Der Ami wohnte eine Straße weiter, und Lepcke meinte, dass er schon länger mitgewollt und sich nur nicht zu fragen getraut habe. Und was jetzt sei?

»Keine Ahnung«, sagte Appaz. Er war sich wirklich nicht sicher. Einerseits war der Ami eigentlich ganz nett, aber andererseits irgendwie auch verdammt komisch. Da war nicht nur die Tatsache, dass er seine Haare als bleistiftkurzen Mecki trug, weshalb er ja eben »der Ami« hieß, sondern auch, dass Appaz im letzten Jahr vielleicht gerade mal ein oder zwei Sätze mit ihm gewechselt hatte. Den anderen ging es ähnlich. Was vor allem damit zu tun hatte, dass der Ami Tag und Nacht nur auf seiner Bude hockte und Platten hörte. Hauptsächlich Chick Corea und Herbie Hancock und solche Sachen, für die Appaz sich noch nie so richtig hatte begeistern können.

»Denk dran, der Ami hat einen Führerschein«, sagte Lepcke und guckte Appaz so komisch von der Seite an, wie es seine Art war. Als wollte er noch irgendwas sagen. Aber es kam nichts mehr. Klar, nachdem Hansi und der Dicke ausgefallen waren, war Appaz jetzt der Einzige, der offiziell fahren durfte. Weil Kerschkamp und Lepcke noch keinen Führerschein hatten und Ratte schon zweimal durch die Prüfung gerasselt war.

»Okay«, sagte Appaz, »wer fragt ihn?«

»Hab ich schon gemacht«, sagte Lepcke, und Appaz dachte wieder mal, dass Lepcke ein ziemlich falscher Hund war. Der Dicke dachte offenbar das Gleiche.

»Na, ist ja toll«, sagte er von seiner Leiter herab, und knurrte noch irgendwas vor sich hin, was sinngemäß darauf hinauslief, dass er jedenfalls nicht mit dem Ami Urlaub machen würde.

»Brauchst du ja auch nicht«, sagte Lepcke, »und außerdem würde ich mir an deiner Stelle lieber Sorgen machen, dass dir Buchmann nicht auf die Rückbank kotzt.«

»Ach ja?«, fragte der Dicke und stieg ganz langsam die Leiter herunter.

Genau in dem Moment klopfte aber seine Oma oben ans Fenster, wahrscheinlich weil schon länger keiner mehr zu ihr hochgeguckt hatte und ihr langsam langweilig wurde. Sie winkten ihr also alle zu, bis sie wieder zufrieden war. Und dann hielt vorne an der Straße der Samba-Bus. Mit Fenstern an der Dachkante entlang und einem Stoffschiebedach über die gesamte Länge. Quer über die Seite waren indische Kühe gemalt, die zufrieden und glotzäugig am Ufer des Ganges lagerten. Ein Typ mit Vollbart und Nickelbrille stieg aus und kam zu ihnen herübergelatscht. Ob sie Interesse an zwei Reifen hätten, mit Felge, fragte er und zeigte mit dem Kopf auf ihren Bus, einen Dachgepäckträger habe er übrigens auch noch.

Er langte in seine Tasche und holte einen Lederbeutel hervor. Drehte erst mal eine gewaltige Tüte und ließ das Ding dann im Kreis rumgehen. Lepcke wollte nicht, aber die anderen ließen sich nicht zweimal bitten. Wobei der Dicke immer mit einem Auge zu seiner Oma hoch schielte und den Joint beim Ziehen in der hohlen Hand versteckte.

Sie nuckelten eine Weile vor sich hin. Doch, klar, zwei zusätzliche Reifen waren vielleicht gar nicht schlecht. Was er dafür haben wolle?

»Vierzig Mark?«

»Nichts da«, sagte Kerschkamp und schüttelte den Kopf.

»Vierzig Mark mit dem Dachgepäckträger«, schlug Appaz vor.

Appaz fuhr also mit dem Typen los, um die Reifen und den Gepäckträger zu holen. Der Typ erzählte, dass er Medizinstudent sei und gerade irgendeine Prüfung bestanden habe. Und jetzt erst mal nur noch weg wolle. Nach Indien. Mit seiner Freundin, für mindestens ein Jahr! Und wenn Appaz und die anderen unterwegs wären, sollten sie sich bloß nicht anschnallen.

»Im Bulli hast du keine Chance, wenn du angeschnallt bist«, sagte er, »wenn du irgendwo gegenschrubbst, bist du platt.«

Er war nämlich Krankenwagen gefahren, und da hatte er VW-Busse gesehen, bei denen war das Führerhaus vielleicht gerade noch zwanzig oder dreißig Zentimeter lang. Und bei dem einen Typen, den sie rausgezogen hatten, hatte sich das Lenkrad durch den Brustkorb gebohrt.

»Keine Chance«, sagte er. »Aber wenn du nicht angeschnallt bist, fliegst du vielleicht gerade noch rechtzeitig raus.«

Appaz nickte und sagte, dass das ja eigentlich sowieso klar sei. Wüsste ja jeder, der VW-Bus fährt.

Der Medizinstudent grinste Appaz an und lenkte ein Stück mit den Knien, während er einen neuen Joint rollte.

Er wohnte irgendwo am Kanal, und seine Freundin schien nicht gerade begeistert zu sein, dass er Besuch mitbrachte. Weshalb Appaz lieber gleich sagte, dass er keine Zeit habe und nur schnell wegen der Reifen und dem Gepäckträger mitgekommen sei. Woraufhin sie allerdings auch nicht freundlicher wurde. Aber als Appaz die vierzig Mark aus der Tasche holte, griff sie zu, bevor der Typ überhaupt nur den Arm hochkriegte.

Der Dachgepäckträger war riesig, und sie mussten ihn auf dem Samba montieren, um ihn überhaupt transportieren zu können.

»Wäre vielleicht schlauer gewesen, wenn ich gleich mit unserem Bus hergekommen wäre …«, sagte Appaz.

Aber anstelle irgendeiner Antwort kriegte er nur ein Kichern zu hören und den nächsten Joint hingehalten.

Als sie wieder beim Dicken waren, war Lepcke inzwischen nach Hause gegangen, um seine Klamotten zu packen. Sie wuchteten den Gepäckträger auf ihren eigenen Bus und der Dicke holte ein Seil, um die Reifen festzubinden.

»Sieht stark aus«, sagte Kerschkamp.

»Denk dran«, erinnerte der Medizinstudent Appaz, »nicht anschnallen. Ihr müsst rausfliegen können, sonst habt ihr keine Chance.«

»Komischer Typ«, stellte Kerschkamp fest, nachdem der Samba in einer blauen Qualmwolke die Straße runtergeknattert war.

»Du hättest erst mal seine Freundin sehen sollen«, sagte Appaz.

Kerschkamp grinste.

Appaz grinste zurück.

In nicht mal zwölf Stunden waren sie unterwegs! Sie erklärten dem Dicken nochmal, wann sie wahrscheinlich in Lacanau sein würden. Falls er doch noch Lust kriegte, nachzukommen.

»Aber Buchmann kannst du ruhig vorher irgendwo absetzen«, sagte Kerschkamp und grinste schon wieder.

»Viel Spaß mit dem Ami«, meinte der Dicke.

Sie winkten seiner Oma zu und fuhren los. Auf dem Weg zu Kerschkamp hatte Appaz eine Idee. Sie zählten ihr Geld. Kerschkamp nickte. Sie hielten am Geha-Platz und stiefelten in den Optikladen, wo Appaz seine erste Brille bekommen hatte. Kurz vor der Fahrprüfung, als er den Sehtest nicht bestanden hatte, und der Fahrlehrer sich fast nicht mehr einkriegte, dass Appaz die ganze Zeit blind wie ein Maulwurf gewesen war.

Appaz kaufte sich Sonnenbrillengläser, die man auf die normale Brille aufstecken konnte. Kerschkamp suchte sich die dunkelste Sonnenbrille aus, die sie hatten. Sie guckten sich im Spiegel an. Sie sahen ein bisschen aus wie zwei Typen, die aus Versehen von »Easy Rider« übrig geblieben waren.

»Scharf«, sagt Kerschkamp.

Sie verabredeten sich für fünf Uhr am nächsten Morgen. Kerschkamp würde die anderen nochmal anrufen. Vor allem den Ami.

»Hau rein, Alter«, sagte Kerschkamp und hielt die Faust hoch.

Appaz’ Mutter hatte ihm zum Abschied Hackbraten gemacht. Mit Schwarzwurzeln. Und als er sein Zeug zusammenpackte, drückte ihm sein Vater noch eine Dose Scho-Ka-Kola in die Hand. Autofahrerschokolade. Und hundert Mark für Sprit.

»Fahr vorsichtig, Junge«, sagte er.

Über das versiebte Abitur redeten sie kein Wort mehr. Aber Appaz hatte das Gefühl, dass sie ohnehin dachten, es sei zwecklos, überhaupt noch was zu sagen. Er versprach ihnen aber, dass er sich von unterwegs mal melden würde.

Dann fuhr er nochmal los, um sich von Anette zu verabschieden. Eigentlich hatte er auf eine kleine Abschiedsnummer gehofft, aber als sie an den Kiesteich kamen, waren Hansi und Biggi schon wieder im Geräteschuppen zugange. Und Anette wollte nicht mehr, sondern sagte nur, dass Hansis Gestöhne sie total abturnen würde. Und dass sie froh wäre, für die nächsten sechs Wochen keinen steifen Schwanz mehr sehen zu müssen. Dann fing sie plötzlich an zu heulen. Appaz holte die Tüte mit dem Gras aus Hansis Rucksack, den dieser freundlicherweise auf dem Steg liegen gelassen hatte.

Sie rauchten. Anette erzählte, dass sie Schiss habe vor der Guardia Civil. Sie wollte nur mit ihrer Cousine in die Pyrenäen, auf die spanische Seite. In irgendein Bergdorf, wo sie Spangenburger besuchen wollten, den Appaz auch kannte, weil er früher mal auf seiner Schule gewesen war. Dann war er aber wegen irgendwas geflogen und hütete jetzt als Hippie in den Pyrenäen Schafe. Oder Ziegen. Und Spangenburger hatte schlimme Sachen von der Guardia Civil erzählt, insbesondere was sie so mit Mädchen machen würden. In dem gleichen Brief, in dem er Anette und ihre Cousine zu sich eingeladen hatte.

»Wenn es dir zu doof wird, kommst du nach Lacanau«, flüsterte Appaz dicht an Anettes Ohr, »oder wir holen dich …«

Er versuchte, seine Hand unter ihren Wickelrock zu schieben. Aber Anette wollte immer noch nicht.

1975

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