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Sylvie

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„Und das ist es?” Sylvie sah sich im ersten Licht der Dämmerung ungläubig um und ließ die Reisetasche, die an einem langen Riemen von ihrer Schulter gehangen war, zu Boden fallen. Rodney, der mit zwei prallvollen Koffern hinter ihr her in den Doppeltrailer gewankt war, nickte müde.

„Gar nicht schlecht, oder?”

„Ein Drecksloch, nicht mehr und nicht weniger!”

Die abgewetzte Auslegware am Boden, das an vielen Stellen zersplitterte Plastikfurnier an den Wänden, die vergilbte und stellenweise vom Schimmel geschwärzte Decke gaben ihr Recht. Rodney erkannte zum ersten Mal, dass sein Zuhause tatsächlich ein wenig heruntergekommen war.

„Na ja, man müsste es vielleicht ein bisschen herrichten.”

„Da hilft höchstens die Schrottpresse. Wenn du geglaubt hast, dass ich dir diesen Saustall in Ordnung bringe, hast du dich gründlich geirrt.”

„Man hat hier seine Ruhe. Und ich habe eine Satellitenschüssel!” Er wies mit dem Kinn auf eine Pyramide aus fünf gefährlich übereinander getürmten Fernsehern verschiedener Größen und Marken.

„Großartig!” Sylvie verdrehte die Augen. „Ich bin jedenfalls total erledigt. Wo ist das Schlafzimmer?”

Rodney wies auf eine angelehnte Tür.

„Und das da ist das Bad?”

Er nickte.

„Heißes Wasser?”

„Selbstverständlich!” Er versuchte, empört zu klingen.

„Handtücher?”

Er zuckte vorsichtig mit den Achseln.

„Schon gut! Ich brauch jetzt jedenfalls ‘ne Dusche. Und dann nichts wie ab in die Heia! Vielleicht ist das Ganze ja doch nur ‘n Alptraum!” Sie öffnete ihre Tasche, entnahm ihr einen bunten Beutel und zwei Handtücher und verschwand im Badezimmer. Rodney schleppte die Koffer ins Schlafzimmer, kehrte in den Wohnbereich zurück und ließ sich vorsichtig auf einem verstaubten Sofa nieder, wo er dem ungewohnten Prusten und Plätschern zuhörte, das durch die dünnen Wände drang.

„Ich bin fertig“, verkündete Sylvie, als sie mit einem roten, ihr deutlich zu kleinen Morgenmantel und einem turbanartig um den Kopf geschlungen Handtuch bekleidet wieder aus dem Bad erschien. „Ich hoffe du hast nichts dagegen?” Sie breitete die Arme aus und sah kokett an sich hinab.

Rodney schüttelte den Kopf.

„Okay, dann sehen wir mal weiter.” Sie ging auf nackten, frisch verdreckten Sohlen ins Schlafzimmer, tauchte noch einmal kurz auf, um eine Decke und ein Kissen auf dem Sofa abzuladen, und warf die Tür hinter sich endgültig und mit Nachdruck zu. Rodney stand auf und richtete sich mit der Decke und dem Kissen einen Schlafplatz auf dem Sofa ein.

„Und du meinst, das funktioniert?” Schmiss warf Rodney über das Bierglas in der Hand hinweg einen besorgten Blick zu.

„Keine Ahnung! Aber ich schätz’ mal, wir müssen mitmachen. Sonst hängt sie uns hin!”

„Und du glaubst wirklich, ihr Vater is’ so bescheuert und zahlt auch nur einen Cent, damit sie ihm wieder auf die Nerven geht und in seinem Keller rumlungert? Eher zahlt er uns was dafür, dass wir sie für immer beiseite schaffen.” Schmiss fuhr sich über die blonden Haarstoppel und sah sich in der Bar um, in der sie sich getroffen hatten. Die Wände waren mit rohen, nicht entrindeten Planken getäfelt, auf denen noch die Spuren der Sägeblätter zu erkennen waren. Alles Mobiliar war fest am Boden verschraubt wie in einem Gefängnis oder einer Irrenanstalt. Sägespäne bedeckten den Boden. Zwei Holzfällertrupps, die für den Samstagabend aus dem Wald an die Küste gekommen waren, unterhielten sich lautstark und schielten immer wieder zum Eingang, als könnte einer der ihnen so verhassten Fischer unversehens dort auftauchen und Anlass zu einer der Schlägereien bieten, für die das Sailor ‘s Grave berühmt war.

„Du weißt, ich mag es nicht, wenn du schlecht von anderen redest. Das ist nur ein Zeichen von Schwäche. So was hast du gar nicht nötig.”

„Schwäche?” Schmiss sah seinen Chef beleidigt an.

Rodney nickte und spielte mit seinem Glas Cola.

„Außerdem bist du nicht ihr Vater! Der hält sie bestimmt für was ganz Besonderes und zahlt, was immer sie verlangt.”

„Sie ist super fett, das ist aber auch schon alles, was an ihr besonders ist. So viel kannst du gar nich’ klauen, wie die futtert.”

„Sie hat vor ‘nem halben Jahr ihre Mutter tot in der Badewanne gefunden. Und sie ist gestresst. Sie muss sich an eine neue Umgebung gewöhnen, neue Leute. Das ist nicht einfach. Und du trägst nicht gerade dazu bei, dass sie sich bei uns willkommen fühlt! Kein Wunder, dass sie sich in Ding Dongs flüchtet!”

„Ich kann sie einfach nicht ausstehen. Wenn sie wieder weg is’, bin ich auch wieder nett zu ihr.” Schmiss kicherte und bemerkte die drei Gestalten in karierten Flanellhemden und schweren Stiefeln nicht, die sich in der Nähe aufgebaut hatten und immer wieder zu ihm hinüber schielten.

„Wusste gar nicht, dass die hier Schlitzaugen rein lassen“, sagte der eine von ihnen laut zu seinen Kumpels.

„Was will der Kuli denn hier? Es gibt keine Hunde zu fressen und keine verfaulten Eier.”

„Sucht vermutlich seine opiumrauchende Mama, die mir nachher für ‘nen Dollar einen blasen wird.”

Schmiss, der in keiner Weise hatte erkennen lassen, dass er die drei Kerle überhaupt bemerkt hatte, sprang plötzlich auf und stürzte sich mit dem Kopf voran auf den mittleren von ihnen, der kaum Zeit gehabt hatte zu reagieren und mit Schmiss zu Boden ging.

„Schmiss!“, rief Rodney entsetzt. „Hör doch gar nicht auf die Idioten!” Er erhob sich und sah, wie sich Schmiss von seinem ersten Opfer los machte und sich dem nächsten zuwandte, der bereits an seinem Kragen zerrte und ihm einen Schlag auf das Ohr versetzt hatte. Der Dritte holte zu einem Tritt aus.

„Hey, das gilt nicht!“, schrie Rodney, flog auf einen der Angreifer und versuchte, ihn von hinten zu würgen. Der Kerl schüttelte Rodney ab wie eine lästige Fliege und wollte seinem Kumpel zur Hilfe kommen, der unter der Einwirkung eines Magenschwingers einknickte, da hatte sich Rodney bereits erhoben und sich erneut auf ihn gestürzt. Die übrigen Gäste des Sailor ‘s Grave hatten bereits eine Art Kreis um die fünf Kämpfer gebildet und feuerten sie dankbar an.

„Los, Rod, der hat doch genau deine Kragenweite!“, rief einer und nippte an seinem Bier.

Rodney und Schmiss kämpften verbissen, aber schließlich machte sich bemerkbar, dass sie den drei Holzfällern zahlen- und kräftemäßig unterlegen waren. Als sie endgültig zu Boden gegangen waren und die drei Holzfäller ihr Werk mit Fußtritten vollenden wollten, griffen die anderen Gäste ein.

„Okay, Jungs, ihr habt euren Spaß gehabt, jetzt verduftet von hier oder der Wirt hetzt euch Sheriff Marge auf den Hals.”

Der größte von den Dreien, dessen eine Auge bereits völlig verquollen war, reagierte nicht und musste handgreiflich daran gehindert werden, den ohnmächtigen Rodney weiter zu misshandeln. Seine beiden Kumpels – dem einen liefen wegen einer Platzwunde auf der Stirn zwei rote Rinnsale über die Wange, der andere humpelte – nahmen ihn zwischen sich und schleppten ihn zum Ausgang.

Als Rodney wieder zu sich kam, beugte sich ein rundes, hübsches Frauengesicht über ihn.

„Fay!”

Die junge Frau hatte halblanges, blondes Haar, das in einer dramatischen Welle nach hinten gekämmt war. Sie lächelte und legte einen Finger auf Rodneys Lippen.

„Psst! Du hast ganz schön was abbekommen.”

„Bin ich tot? Bin ich im Himmel?“

Fay schüttelte den Kopf.

„Was ist mit Schmiss?“

„Dem wird in der Notaufnahme eine Platzwunde vernäht.“

„Habt ihr Marge angerufen? Weil, ich hab’ihr nämlich eigentlich versprochen ...”

„Keine Sorge!” Fay strich ihm über die Wange.

„Gut!” Rodney stieß erleichtert die Luft aus.

Fay kämmte das Haar zurück, das ihm teilweise ins Gesicht hing.

„Eine Schlägerei ist hier doch nichts Besonderes. Wir leben schließlich in der Welt des Fressens und Gefressen-Werdens. Der Welt der Schmerzen, sagt Berta.”

„Scheint eine richtig weise Frau zu sein, deine Berta.”

„Sie sagt, die Arbeit hier ist schlecht für mein Karma.” Fay zuckte mit den Schultern.

„Nun, Marge und die Handelskammer werden das bald ändern. Sie sagen, in einem Jahr wird man Wilbourne nicht mehr wiedererkennen.”

„Ich weiß. Ich kann mich nur nicht so richtig darüber freuen, schlechtes Karma hin oder her.”

Rodney, den man auf eine Bank gelegt hatte, rappelte sich langsam auf.

„Du kannst ja zu dieser Berta auf die Insel ziehen, wenn ‘s dir hier nicht mehr passt.”

„Genau daran habe ich ehrlich gesagt auch schon gedacht.” Fay verschränkte die Arme. „Es ist wirklich schön dort drüben. Und so friedlich!”

„Die Toteninsel! Lebendig kriegst du mich dort nicht hin!” Rodney grinste und betastete sein Gesicht. „Wie seh ich aus?”

„Großartig! Und du wusstest genau, dass ich das sagen würde, du Schuft!” Sie gab ihm eine leichte Ohrfeige.

„Hey, eine Schlägerei ist genug für heute, meint ihr nicht?”

„Es war doch nur ...” Fay zuckte zusammen und drehte sich um; und ein Blick sagte ihr, dass sie auf Ausreden besser verzichtete. Fat Fred, seit einem Unfall mit einer Kettensäge Wirt des Sailor ‘s Grave und Träger einer Handprothese, die sich kaum vom Haken Captain Hooks unterschied, hatte sich trotz seines gewaltigen Gewichts lautlos hinter ihr aufgebaut. Sein Gesicht hatte, obwohl es weitgehend dem Kindchenschema entsprach, nichts Gewinnendes an sich. Er ruckte kurz mit dem Kopf; und schon entfernte sich Fay nach einem letzten Blick für Rodney Richtung Theke, wo der Barmann mit dem Füllen der Biergläser nicht mehr nachkam.

Fred wandte sich an Rodney, der seinen Körper nach blauen Flecken abtastete.

„Ich scheine mich vor zwei Wochen nicht klar genug ausgedrückt zu haben“, knurrte er.

„Doch, Fred!”

„Wir haben einen neuen Sheriff, falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte. Eine wichtigtuerische Bibelfanatikerin, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, in Wilbourne aufzuräumen, damit hier Mom und Dad und die Kleinen Urlaub machen und den Typen von der Handelskammer die Taschen füllen können! Und ich hab ‘noch nicht genug Kohle beisammen für ein Häuschen in Key West. Ich kann ‘s mir nicht leisten, wegen dauernder Schlägereien die Lizenz zu verlieren. Und die, die glauben, meinen wohlverdienten Lebensabend gefährden zu dürfen, werden mich so richtig kennen lernen.” Fred rammte Rodney seine Edelstahlklaue zwischen die Beine. „Hast du mich diesmal verstanden?”

Rodney, der vor Schmerz zusammengezuckt war, nickte hastig.

„Völlig, Fred!“, stieß er japsend hervor.

Sylvie hatte sich die Mühe gemacht, jeden Buchstaben des Briefs mit der Lösegeldforderung einzeln auszuschneiden, und genoss diese sich über drei volle Tage erstreckende Beschäftigung, was zum einen an der Vorfreude und dem Gedanken an den zukünftigen trägen Luxus unter der Sonne der Karibik lag und zum anderen daran, dass sie sich in eine der Bastelstunden im Kindergarten versetzt fühlte, wo die Welt noch in Ordnung gewesen war und sie nicht unter anstrengenden Lehrern und einer bösen Stiefmutter zu leiden gehabt hatte.

„Wie in so ‘nem scheiß Märchen, sag’ ich dir.” Sylvie klemmte ihre auffällig helle Zunge zwischen die Lippen und konzentrierte sich ganz auf die Rundungen eines großen S. „Sie quält mich, wo ‘s nur geht. Und ihm ist ‘s egal. Kümmert sich gar nicht mehr um mich! Tut so, als wär’ ich gar nich’ da! Aber das werden die mir büßen! Das hier is’ nur der Anfang.” Sie lachte und ließ die Schere sinken. „Am liebsten ... Ich sollte einfach hingehen und ein Kissen nehmen und es auf ihr hässliches, verschrumpeltes Gesicht pressen und mich drauflegen; und sie zappelt und zuckt, aber es hilft nichts, weil ich sie festhalte und ihr mit dem Ellbogen auf den Hals drücke; und sie will schreien und hat das Maul voll Kissen und wird schwächer und schwächer und kratzt ein wenig, ganz leicht, wie ein Kätzchen nur; und ihr wird kurz schwarz vor den Augen, dann bäumt sie sich noch mal auf, dann wird sie ruhiger und endlich kalt.” Sylvie hatte die Hände auf dem Tisch zu Fäusten geballt und starrte mit leerem Blick vor sich hin. Langsam kam sie wieder zu sich. Sie schnaufte. „Und ich hätte ja sogar ‘n Alibi, oder? Schließlich bin ich ja entführt!” Sie kicherte und sah kurz zu Rodney.

Rodney starrte sie entsetzt an.

„Das einzige Problem is’, dass er immer neben ihr schläft. Immer, immer, immer! Es ist zum Verrücktwerden. Dabei ist sie hässlich und alt und hat Mundgeruch.” Sylvie schüttelte sich. „Wirklich wahr! Wie ‘n alter Hund kurz vorm Einschläfern! Und sie verliert auch das Haar und ist kurzsichtig. Es wäre ‘ne Erlösung für alle Beteiligten!” Ihre Erregung hatte sich gelegt; und sie war zu einem gemütlichen Plauderton und ihrer Handwerksarbeit zurückgekehrt. „Wir hatten doch wirklich alles. Uns ging ‘s richtig gut nach dem ... dem Unfall von meiner Mutter. Waren voll zufrieden! Schon traurig natürlich, war ja echt tragisch, glaubt ja keiner, was so alles passieren kann im Haushalt, aber wir sind damit fertig geworden. Ich hab’ ihn getröstet, obwohl eigentlich eher ich ... ich mein’, ich war es schließlich, die sie gefunden hat, aber ich hab’ alles für ihn gemacht. Ich hab’ sogar angefangen, für ihn zu kochen. Nein wirklich!” Sie sah Rodney an, als hätte der in irgendeiner Form seinen Zweifel geäußert und widersprochen. „Ich hab’ gekocht; und das gar nicht schlecht; und bin nur noch halbtags ins Nagelstudio gegangen, weil ich mehr Zeit für ihn haben wollte und für sein Essen und so.” Ihr Blick verfinsterte sich kurz. „Nicht, dass das nötig gewesen wäre! Er ist ja lieber von zu Hause weggeblieben. Jeden Tag zehn Stunden im Elektrizitätswerk! Als hätten sie ihn da wie so ‘nen Hamster in ‘nem riesigen Rad laufen lassen, wo man Strom mit macht! Und kaum heiratet er wieder, geht er in den Ruhestand! Meint, genug ist genug und er will sein Leben ja auch noch genießen. Als wenn er das mit mir nicht hätte tun können! Und noch dazu mit dieser Hexe! Irgendwas hat sie ihm ins Essen gemischt, da bin ich mir sicher. Eine ehemalige Nachbarin! Ist schon zur Totenwache mit ‘ner Kasserolle angerückt und ist ab da bei jeder Gelegenheit mit was zum Essen vorbeigekommen und hat sich das von mir auch nicht ausreden lassen. Sie hat es sofort auf ihn abgesehen gehabt und kein bisschen Rücksicht genommen auf unsere Trauer. Und in dem Essen war was drin, da möcht’ ich wetten. Sie hatte ja vorher schon den eigenen Mann vergiftet. Wussten alle in der Straße. Alle außer Dad natürlich! Der hat ihren Fraß gierig in sich rein geschaufelt, als müsste er bei mir Hunger leiden. Aber ich nicht! Ich hab’ ihr Essen nicht angerührt. Hab’ sie sofort durchschaut! Vom ersten Augenblick an! Ich hab’ mich geweigert. Auch später, als sie bei uns eingezogen ist! Ich hatte solche Angst.” Tränen kullerten über ihre Wangen und wurden vom Rouge blutrot gefärbt. „Und er hat nix gemacht dagegen. Hat gar nich’ gemerkt, dass sie mich aus ‘m Haus drängen will. Aus meinem eigenen Elternhaus!”

„Arme Sylvie!” Rodney kaute ratlos auf der Unterlippe. „Willst du einen Pfefferminztee?”

„Das wäre schön.” Sylvie blickte ihn dankbar an und legte die Schere weg. „Weißt du, du bist ‘n echter Freund. Der einzige Freund, den ich noch hab’! Komisch, was?”

Rodney nickte beklommen und ging zum Herd. Die Küche war nur durch eine Art Theke, unter der sich die Geschirrschränke befanden, und ein Holzgitter, das mit Plastikpflanzen berankt war, vom Wohnbereich mit seiner zerschlissenen Sitzgarnitur getrennt.

„Das war voll fies“, fuhr Sylvie fort, als sie die Garfield-Tasse in den Händen hielt, in der ein Teebeutel schwamm. „Und hinterher hätt’ sie sich nich’ zu beschweren brauchen, denn sie hätt’ echt gewarnt sein müssen von wegen meiner Mutter, weil die meinte ja auch, entweder ich reiß’ mich zusammen und tanz’ nach ihrer Pfeife oder sie schmeißt mich raus, obwohl ‘s ja eigentlich Daddys Haus is’ und ich ‘s mal erben werd’ und so, und man sieht ja, das ihr das überhaupt nich’ bekommen is’, dieser Hochmut, und ich sag’ dir, wenn ihr nicht dazwischengefunkt hättet, mir wär’ da schon noch was eingefallen, weil so ‘n Unfall, der passiert schnell mal; und ich hab’ da diesen Film gesehen, was zeigt, dass Fernsehen überhaupt nich’ so schädlich is’ für die Birne, wie meine Mutter immer gesagt hat. In dem Film fahren die zwei im Auto; und sie öffnet heimlich seinen Gurt, und dann fährt sie gegen ‘nen Baum; und er ist tot, was aber vielleicht mit Airbags nicht mehr funktioniert.”

„Na ja, jetzt ist ja alles gut“, behauptete Rodney lahm. „Du bist sie los und kannst dich hier erholen, und wenn ‘s dir wieder besser geht ...”

„Nichts ist gut!“, fauchte Sylvie. „Ich hock’ hier in diesem Drecksloch; und sie lässt sich von meinem Dad in meinem Haus verwöhnen; und ich hab’ niemanden, überhaupt niemanden mehr ...”

„Aber Sylvie, das ist doch gar nicht wahr! Du hast Schmiss und mich zum Beispiel. Wir sind deine neuen Freunde. Hast du doch selbst gesagt.”

„Hör mir nur mit diesem mongoloiden Nazi auf! Und ich wette, du überlegst dir auch schon, wie du mich loswerden kannst.”

„Stimmt nicht!”, widersprach Rodney voll schlechtem Gewissen. „Wirklich! Ich find’ es total super, nicht mehr so allein zu wohnen. Es ist immer jemand da, mit dem man sich unterhalten kann.”

Sylvie warf ihm einen misstrauischen Blick zu.

„Na gut! Wollen wir mal hoffen, dass das so ist.” Sie lächelte verschmitzt. „Zuzutrauen wär ‘s dir glatt.” Es klang nicht wie ein Kompliment.

„Ich hab’das Alleinsein echt satt“, murmelte Rodney, überzeugender diesmal.

„Ist schon gut.“ Sylvie winkte ab und widmete sich wieder den Zeitungsblättern und der Schere.

Willkommen zu Hause, Waldo! stand auf dem Pappschild, das sie in den wolkenverhangenen Himmel hielten. Sie waren zu dritt: Rodney, Schmiss und Finch, ein vom Leben und seinen Stürmen gezeichneter Seemann, der seine Karriere als Steuermann eines Kühlschiffs beendet hatte, seither im Hafen von Wilbourne auf einem umgebauten Kutter lebte und davon erzählte, wie er mit diesem noch einmal um die Welt fahren würde, aber nie auch nur die leisesten Anstalten traf, tatsächlich den Anker zu lichten. Es regnete; und die Pappe begann, sich zu wellen; und die mit wasserlöslicher Farbe gemalten Buchstaben zerliefen und standen bald auf bunten, dürren Stelzen. Endlich erschien Waldo in der Glastür des Krankenhauses. Er öffnete sie vorsichtig und blieb stehen.

„Wär’ wirklich nicht nötig gewesen. Das reinste Empfangskomitee!” Er lächelte verlegen.

„Mein Gott, Waldo, du hast doch nicht etwa abgenommen?”, brummte Finch mit seiner tiefen Stimme. Er war mittelgroß und hager. Er nahm seine schmutzige Kapitänsmütze ab und wischte sich mit dem Ärmel seines Blazers über die nasse Stirn. Seine knollige Nase und überhaupt die ganze Gesichtshaut waren von kleinen, blauen und roten Äderchen überzogen. Er trug Ledersandalen, deren Sohlen aus alten Autoreifen geschnitzt waren. Seine weiße Hose reichte nur knapp bis zu den Knöcheln.

Waldo, an dem die hellbraune Windjacke und die Cordhose lose herab hingen, die aus dem Fundus des Krankenhauses stammten, hob die Arme und ließ sie wie gebrochene Flügel wieder fallen. Er trug eine grüne Kappe, auf deren Vorderseite Zoloft stand.

„Wenn du wüsstest, was die einem hier zu essen geben, wärst du nicht so überrascht. Und dann noch die widerlichen Tischmanieren mancher Mitinsassen!” Er winkte traurig ab.

„Das klingt, als bräuchtest du ein anständiges Frühstück“, rief Rodney betont fröhlich. Waldo nickte müde.

Sie kletterten in Rodneys Lieferwagen: Rodney, Waldo und Finch saßen vorne; und Schmiss ließ sich auf dem mit einer alten Wolldecke gepolsterten Reserverad nieder, das hinten auf der Ladefläche lag.

„Was haben die denn mit dir so lang da drin gemacht?”, fragte er von hinten.

„Das Gleiche wie sonst: Sie haben mich justiert.” Waldo machte sich nicht die Mühe, sich umzudrehen.

„Dich justiert? Wie ‘nen Vergaser oder so was?”

„Genau! Welche Pillen, welche Dosierung und so!”

„Damit du die armen Touristen nicht mehr erschreckst?” Finch, der kein Auto hatte und auch nur selten in einem mitfuhr, blickte mit kindlicher Freude aus dem Seitenfenster.

„Der Arzt da drinnen meinte, ich erinner’ ihn an einen dieser Japsen, die sich dreißig Jahre lang auf irgendwelchen Pazifikinseln im Dschungel versteckt gehalten haben, ohne mitzukriegen, dass der Krieg längst vorbei ist.”

„Hat Humor, der Mann!”

„Eins steht fest: Ich lass’ mich von den Typen nicht noch einmal vollspritzen. Eher blas’ ich mir selbst was ins Hirn.” Waldo betrachtete seine blassen Hände, als wären sie ihm fremd. „Ich erkenn’ mich gar nicht wieder.“

„Wir dich auch nicht!“, verriet Rodney grinsend. „Du hast noch nicht ein einziges Mal geflucht.”

„Wenn diese Spritzen die einzige Möglichkeit sind, diesen scheiß Krieg loszuwerden, behalt’ ich ihn lieber. Es ist alles so gedämpft. Kennt ihr das: Du gibst das Kommando Arm nach oben!, und dann vergehen erst einmal fünf Sekunden, bevor was passiert? Genauso ist es im Moment. Und es ist alles weit, weit weg.”

„Nichts, wogegen unser House of Pancakes nicht ein geeignetes Mittel hätte!“, rief Rodney und stellte den Dodge auf dem Parkplatz von Wilbournes einzigem Restaurant ab.

„Als wenn dein Kopf mit Watte vollgestopft wäre! Als wenn ich Handschuhe anhätte!“, murmelte Waldo. „So kann man nicht Schachspielen!”

„Das ist jetzt auch gar nicht nötig. Für ‘s Erste reicht es, wenn du eine belgische Waffel vertilgst.” Finch, den die Arthritis plagte, ließ sich vorsichtig von der Sitzbank auf den Asphalt des Parkplatzes gleiten. Das dünne weiße Haar, das unter der Kapitänsmütze hervorschaute, flatterte im Wind.

„Ich könnte ‘ne 16jährige Muschi essen und würde nichts dabei spüren.”

„Hey, habt ihr das gehört?”, rief Rodney. „Ein schweinischer Gedanke! Es scheint so, als würden die Pfannkuchen bereits ihre Wirkung tun. Muss der Geruch sein oder die Aura oder so was!”

„Ich seh’ schon, hinterher müssen wir ihn noch zum Macmanimous karren, damit er sich dort eine von den Damen krallt.” Finch streckte sich andeutungsweise.

„Ich hab’ euch doch schon oft gesagt, von denen kann keine mit meinen Schwedinnen mithalten. Die stecken dich nicht mit irgendwelchen Krankheiten an, und die rauben dir nicht mit ihrem zynischen Mundwerk deine Illusionen.”

„Ich hab’ bisher weder die einen noch die anderen ausprobiert, aber mir scheint, dass deine Video-Bekanntschaften aus etwas zu viel Illusion und die Damen des Macmanimous aus etwas zu viel Realität bestehen.”

„Du hast sie noch nicht probiert?!“, höhnte Waldo. „Für was warst du denn Seemann?”

„Ich bin immer noch Seemann, und als solcher weiß ich, dass die aufgegebenen Wracks des Macmanimous einen niemals die süßen Mädels der Karibik vergessen lassen würden. Eher im Gegenteil!“ Finch schüttelte sich, damit die Knochen seines Skeletts die eine weitgehend schmerzfreie Position einnahmen, die ihnen noch blieb.

„Du warst in Karibien?” Schmiss, der aus dem Laderaum klettern wollte, hielt erstaunt inne. „Stimmt es, dass es dort Affen gibt und Löwen und diese ganzen seltsamen Früchte?”

„Seltsame Früchte trifft es ganz gut“, brummte Finch und warf Rodney und Waldo einen kurzen Blick zu. Sie warteten, bis Schmiss die Tür des Lieferwagens geschlossen hatte, und machten sich auf den Weg zu dem Klinkergebäude, über das tiefe, graue Wolken geblasen wurden.

„Hast du viele von ihnen gegessen?”

„So viele wie möglich!” Finch erreichte als erster den Eingang und hielt den anderen die Glastür auf.

„Mann, da würd’ ich auch gern mal hinfahren.” Schmiss rammte Rodney einen Ellbogen in die Seite. „Muss gar keine Kreuzfahrt sein.”

„Spar dir das Geld!” Finch war vor einer Tafel stehen geblieben, die im Windfang stand. „Das Angebot der Woche sind Belgische Waffeln mit Mangos. Exotischer wird ‘s auch in der Karibik nicht.”

„Ja, aber trotzdem ...” Schmiss wirkte nicht überzeugt und kratzte sich am Kopf, während sie zu viert die Tafel und das darauf mit einem kleinen Magneten befestigte Foto einer mit Sahne und Früchten überladenen Waffel studierten. „Die Affen und Löwen! Die würd’ ich trotzdem gern sehen. Und die Papageien! Ich hab’ gehört, die fliegen da einfach so rum. Und die Mädels ...”

„… die kommen dort ohne Regenzeug aus, das schon“, bestätigte Finch. „Aber ich hab’ die sieben Weltmeere befahren, und ich kann dir sagen, nichts ist so schön wie die Heimat!“

„Mag sein!“ Rodney verzog das Gesicht. „Allerdings wird es unsere Heimat in ungefähr einem Jahr nicht mehr geben!“

„Vielleicht wird es dann doch Zeit, endlich den Anker zu lichten.“ Finch kräuselte grimmig die Stirn und hielt den anderen auch noch die innere Tür des Windfangs auf.

Es hatte Sylvie große Überwindung gekostet, aber schließlich hatte sie sich doch von einer Locke getrennt und diese dem Brief der angeblichen Entführer beigelegt. Ihr Haar hatte zwar nicht mehr die Farbe, die es bei der Abreise ihres Vaters gehabt hatte – diese änderte sich ungefähr alle vier Wochen -, aber Sylvie war zuversichtlich, dass er es trotzdem als das ihre erkennen würde. Sie wühlte zwischen ihren Kleidungsstücken herum; und es dauerte eine Dreiviertelstunde, bis sie entschieden hatte, an welchem Pullover ihr am wenigsten lag. Mit diesem wischte sie über den Boden des Trailers, damit er dreckig und verwahrlost wirkte. Sie zerschnitt ihn ein wenig mit einer Schere, streifte ihn über, befahl Rodney, sie auf ein altes Bettgestell im Schuppen zu fesseln, sog die Backen ein, damit sie möglichst leidend und hungrig wirkte, und ließ sich mit einer Sofortbildkamera fotografieren. Rodney präsentierte ihr das Ergebnis. Der melodramatische Effekt der Inszenierung rührte sie beinahe zu Tränen.

„Oh Gott, ich seh’ ja schrecklich aus! Wie ein armes, ausgesetztes Kätzchen! Er wird sofort zahlen. Das erträgt er keine Minute. Er wird alles machen, was ich will.” Sie zerrte an den Paketschnüren, als wolle sie die Abgebildete in die Arme schließen und trösten.

Rodney betrachtete das Foto noch einmal und wiegte skeptisch den Kopf, hielt es aber für besser, nichts zu sagen.

„Dann werd’ ich dich mal wieder los machen.“ Er legte das Foto beiseite und begann, erfolglos an einem der Knoten zu nesteln.

„Ich spür’ im rechten Fuß schon gar nichts mehr. Du warst wirklich ziemlich grob.” Sie sah zu, wie er auf seiner Werkbank nach dem Messer suchte, das er sonst zum Abisolieren von Kabeln benutzte. „Kriegst du nicht schlimme Gedanken, wenn du mich so wehrlos daliegen siehst?” Sie klimperte mit den Wimpern.

„Wie meinst du das?”

Sie verdrehte die Augen.

„Na wie wohl!“, knurrte sie verärgert. „Denk’ mal nach! Und wenn dir nichts einfällt, frag’ deinen Kumpel Schmiss! Ich bin mir sicher, der kann dir weiterhelfen, verdorben wie der is’.”

Rodney biss sich auf die Lippe und machte sich daran, die Schnüre an ihren Fußgelenken durchzuschneiden.

Es gab noch ein wenig Licht am grauen Himmel, auch wenn dessen Ursprung ein Rätsel war. Riesige Sattelschlepper donnerten über die vierspurige Hauptstraße, als würden die immer gleichen Baumstämme von rechts nach links und von links nach rechts transportiert zur reinen Machtdemonstration. Die Häuser auf der gegenüberliegenden Seite verschwammen im Dunst, der nasse Asphalt davor wölbte sich wie eine Welle. In den wenigen Schaufenstern, die nicht mit Brettern vernagelt waren, blinkten ein paar grüne und rote Sterne. Hoch über der Straße hing ein Rentier aus Glühbirnen, von denen bereits mehr als die Hälfte Steinwürfen und Gewehrschüssen zum Opfer gefallen war, denn seit ewigen Zeiten hatte ein bedeutender Teil der Bevölkerung Wilbournes den Ehrgeiz, sie bis zum Weihnachtstag alle auszulöschen, und dass so spät im Jahr noch so viele von ihnen brannten, war daher kein Zeichen der Hoffnung, sondern paradoxerweise ein weiteres Indiz für den Verfall der Stadt und den Niedergang ihres speziellen Brauchtums. Ein blauer Camarro, ein hochbeiniger Bronco, der eine oder andere verrostete Pritschenwagen rollten langsam vorüber, eine gelangweilte, hohläugige Besatzung an Bord, blieben stehen, beschleunigten kurz mit quietschenden Reifen, verschwanden in einer Nebenstraße, tauchten aus einer anderen wieder auf. Zwei Fußgänger konnten sich gerade noch auf den Beinen halten, ein anderer war bereits zu Boden gesunken und lag neben einer Mülltonne im Nieselregen.

Rodney stellte seinen Lieferwagen am Straßenrand ab, was einfach ging, weil fast alle Parkbuchten leer waren. Er stieg aus, schlug den Kragen hoch und lief an der ehemaligen Eisenwarenhandlung und der früheren Redaktion des Wilbourne Sentinel vorbei zum Sea Mist Cafe, an dessen Vordach ein ursprünglich weißes, inzwischen graues Banner hing, auf dem Ja zum neuen Stadtzentrum! stand. Rodney schlüpfte durch die Tür, blieb stehen, blies sich fröstelnd in die Hände und sah sich um. Ein paar Resopaltische standen verloren auf Chrombeinen herum. Weiter hinten durch zwei Gummibäume vom eigentlichen Café abgetrennt, liefen eine Waschmaschine und ein Trockner. Waldo saß an seinem gewohnten Platz ganz vorne in einer Ecke, deren Fenster Ausblick in zwei verschiedene Richtungen auf dasselbe triste, verregnete Elend boten, bearbeitete mit den Kiefern unermüdlich einen Nikotinkaugummi und brütete über einem Schachproblem.

„Matt in vier Zügen“, brummte er, ohne aufzublicken, als Rodney seine nasse Jacke über einen Stuhl hängte und sich zu ihm setzte. Sie waren zusammen mit einem Indianer, der sich bis auf die Boxershorts und das T-Shirt ausgezogen hatte und im Schutz einer zerschlissenen Zeitschrift voller Berühmtheiten aus Hollywood darauf wartete, dass seine Wäsche fertig wurde, die einzigen Gäste des Cafés. „Und sie sagen dir nicht, wer wen matt setzt. Der Kerl, der sich das ausgedacht hat, ist ein verfluchtes Genie. Ich hock’ jetzt schon den ganzen Tag daran. Ich wette, er ist Russe.” Die Augen hinter der Brille wirkten riesig wie die eines nachtaktiven Tiers. Er hat eine der mit vielen Taschen versehenen Westen an, wie sie von Fotografen und Reportern in Krisengebieten getragen wurden.

„Matt in vier Zügen also!“, wiederholte Rodney, als wolle er sich sofort an die Arbeit machen.

„Genau wie diese scheiß Stadt!“, ergänzte Waldo. „Wenn sie nur endlich ein Einsehen hätten und sie ganz abreißen würden! Aber nein, sie meinen ja, es reicht, ein paar Wände zu bemalen und alles wird prima. Erst verschwinden die Fische, dann die Bäume und zuletzt der gesunde Menschenverstand.”

„Na ja, schlimmer kann ‘s ja nicht mehr werden.”

„Da sei dir mal nicht zu sicher! Falls es ‘ne Möglichkeit gibt, finden die Knallköpfe von der Handelskammer sie bestimmt.”

Rodney nickte und betrachtete die weißen und schwarzen Figuren von allen Seiten.

„Was passiert, wenn du mit dem Bauern zur Grundlinie marschierst?”

„Kompliziert! Und dieser scheiß Läufer ist immer im Weg.”

„Was willst du, Süßer?”, fragte Gladys, die Haut und Haar mit dem gleichen Mittel zu färben schien, denn beides war in fahlem Gelb gehalten. „Deine Ruhe und ein bisschen lauwarme Koffein-Brühe?” Sie machte sich keinerlei Illusionen hinsichtlich dessen, was das Sea Mist Cafe zu bieten hatte. Wäre der Besitzer nicht auf die Idee mit dem integrierten Waschsalon verfallen, hätte das Café längst schließen müssen. Es verfügte über keine Alkohol-Lizenz; und die Alten, die sich hier früher getroffen hatten, dämmerten jetzt in einem Seniorenheim außerhalb der Stadt vor sich hin, von dem aus sie es zu Fuß nicht in die Stadt schafften.

„Gladys, du kennst meine geheimsten Wünsche.” Rodney schaute mit treuherzigem Augenaufschlag zu ihr hoch.

„Den einen halbwegs zivilisierten Mann in dieser Stadt wird man ja wohl noch ein bisschen verwöhnen dürfen.”

„Gehst du da nicht ein bisschen zu weit?”, fragte Waldo, der immer noch nicht aufgeblickt hatte.

„Du bist ein Fanatiker wie die anderen: nur darauf aus, zu zerstören.” Sie wartete kurz, um zu sehen, ob er sie einer Reaktion würdigen würde, wurde enttäuscht und ging auf ihren Pantoffeln zu einem Beistelltisch, auf dem eine große Kaffeemaschine und mehrere Thermoskannen standen.

„Was meint sie damit?”, fragte Rodney, kaum war sie außer Hörweite.

„Vermutlich die Warze, die Marges Auto entstellt hat! Sie ist sauer wegen meines korrigierenden Eingriffs.”

„Sie ist wirklich sehr nachtragend. Ich meine, sie weiß doch, dass du Veteran bist und so.”

„Das ist ihr egal. Und warum auch nicht? Sie sieht sie ja nicht vor sich, die Toten.” Waldo hob endlich den Kopf, wandte ihn einem der Fenster zu und schaute kurz auf den grauen, nebelverhangenen Hafen. Das Tuckern eines Schiffsdiesels war zu hören und das Japsen eines der Seehunde, die sich manchmal, wenn das Wetter sie unsichtbar machte, auf die Mole setzten. Dann blickte er Rodney an. „Hill 232! Keine Ahnung, warum wir da unbedingt hoch mussten! Irgendwas Strategisches vermutlich! Aber wir haben ‘s geschafft! Wir waren oben. Für ungefähr zwanzig Minuten! Dann waren sie plötzlich überall. Wir mussten auf dem gleichen Weg zurück, den wir uns hoch gekämpft hatten; und die einzige Deckung, die ‘s gab, waren die verdammten Granattrichter und die Leichen der Jungs, die es auf ‘m Hinweg erwischt hatte. Wir sind von Loch zu Loch gesprungen, von Leiche zu Leiche, und wenn du Glück hattest, lagen zwei übereinander. Teile von ihnen! Von 150 Mann sind 17 davongekommen.” Er zuckte mit den Schultern.

„Du meine Güte! Ich wusste bis vor Kurzem nicht einmal, dass wir dort waren. In Korea, meine ich.”

„War ein richtiger Krieg; und ich hab’ nicht das Gefühl, als hätten wir ihn gewonnen. Oder als würde sich überhaupt noch irgendwer außer mir daran erinnern; und ich sag dir, auch mir wäre es lieber, ich täte es nicht.” Waldo zuckte mit den Schultern und kehrte zu seinem Schachproblem zurück.

Rodney nahm mit einem dankbaren Lächeln den Kaffeebecher entgegen, den ihm Gladys gebracht hatte, holte einen Block und einen Kugelschreiber aus der Jacke, die über dem Stuhl neben ihm hing, und begann eine schematische Darstellung der Figurenkonstellation auf Waldos Brett.

„Scheint mir, als wär’ der Wal gestrandet. Geschieht ihr recht, wenn du mich fragst. So was kann man mit seinem Dad einfach nicht machen.” Schmiss bezog sich auf die Tatsache, dass auch nach zehn Tagen noch niemand auf Sylvies Lösegeldforderung reagiert hatte. Jeden Tag durchforstete sie mit zitternden Händen den Kleinanzeigenteil des West Coast Herald, aber nirgends war ein Kästchen zu finden, in dem mit Großbuchstaben ICH LIEBE DICH, DAD geschrieben stand.

„Vermutlich will er erst das Geld zusammenkratzen.” Rodney, der gerade zwei Fernseher an Stammkunden des Sailor ‘s Grave verkauft hatte, hielt in dem bereits gut besuchten Lokal nach Fay Ausschau, um den Abschluss des Geschäfts mit einem weiteren Bier für seinen Partner und einer weiteren Cola für sich selbst zu feiern.

„Für die paar Mäuse braucht er doch bloß seine Kreditkarte auszureizen. Eher hat ihm seine Alte angeboten, ihm jeden Abend ‘nen Steak zu braten und irgendwie ‘nen Nachtisch mit Mangos oder so und davor vielleicht noch ‘nen Salat mit 1000-Island-Dressing wegen der Vitamine, und für das alles muss er das fette Ungeheuer nur lassen, wo es is’. Wäre doch glatter Wahnsinn, sich die wieder ins Haus zu holen!”

„Kein Vater wäre so herzlos! Sie ist schließlich seine Tochter.”

„Und sie ist fett, und sie hat definitiv ‘nen Hau.”

„Hat sie nicht!”

„Hat sie doch!”

„Sie ist traumatisiert, das ist alles. Ich möchte dich mal sehen, wenn du deine Mutter tot in der Badewanne findest und dein Vater, kaum ist die Leiche trocken, ‘ne Nachbarin heiratet, weil sie so ‘nen leckeren Auflauf zur Totenwache mitgebracht hat.”

„Das ist ihre Version, vergiss das nicht! Und wie gesagt, vielleicht war das gar kein Auflauf, sondern ‘nen Steak-Dinner oder so was, weil, ich mein, warum nicht? Und ich glaub’ diesen Scheiß eh nich’, dass Dicke besonders sensibel sind und irgendwie misshandelt wurden. Dicke haben ein einziges Problem, und das schreibt sich F-E-T. Schau dir doch an, was sie alles in sich reinstopft! Nix als Junk Food! Und kein bisschen Training! Kein Wunder, dass sie plemplem is’! Dieses Fett, das setzt sich auch im Hirn fest. Is ‘ne wissenschaftliche Tatsache! Du solltest ihr mal ‘n paar Hanteln besorgen. Hab ‘n paar übrig, die kannste billig haben, die malen wir rosa an, machen ein paar Schleifchen drum, fertig! Oder du bindest sie an den Dodge und lässt sie mal ‘nen paar Meilen hinterherlaufen.” Schmiss kicherte bei der Vorstellung.

„Das ist so krank!” Rodney verzog angewidert die Nase.

„Dann mach, was du für richtig hältst! Aber beschwer dich hinterher nich’! Und ich sag dir eins: Du wirst noch mal drum betteln, dass ‘n Einbrecher kommt und sie dir vom Hals schafft.”

Rodney fuhr sich über das glänzende Haar.

„Das mit der Entführung ist nichts anderes als ein Hilfeschrei, verstehst du das denn nicht? Sie meint es damit doch gar nicht ernst. Sie will nur den Beweis, dass ihr Vater sie noch liebt. Sie sagt es nicht, aber ich hab’ irgendwie das Gefühl, er macht ihr sogar den Vorwurf, am Tod ihrer Mutter schuld zu sein.”

„Scheiße!” Schmiss lachte kurz auf und leerte sein Bier. „Zuzutrauen wär ‘s ihr.” Er entdeckte Fay und winkte sie zu sich. „Süße, wir brauchen dringend noch was zu trinken. Rodney hat Probleme mit seiner neuen Freundin.”

„Seiner Freundin?”

„Is’ weniger was für ‘ne schnelle Nummer, sondern eher was, woran man den ganzen langen Winter über zu knabbern hat.” Schmiss kicherte.

Fay runzelte verwirrt die Stirn und sah Rodney an.

„Von was redet er?”

Rodney zuckte mit den Achseln.

„Eine gemeinsame Freundin ist vorübergehend bei mir eingezogen. Bis sie was Eigenes gefunden hat! Und sie ist ein bisschen ...”

„Fett!“, rief Schmiss hämisch, als Rodney zögerte. Rodney warf ihm einen bösen Blick zu, aber Schmiss ließ sich davon nicht stören. „Und sie wird immer noch fetter und passt bald nicht mehr durch die Tür von seinem Trailer, und dann hat er den Salat.”

„Wow.” Fay lehnte sich mit erhobenem Arm an einer der Holzstützen der Box und entblößte dabei eine unrasierte Achselhöhle. „Das würde aber manche Mädels hier im Ort ganz schön traurig machen, wenn das heißt, dass der süße Rod jetzt vergeben ist.” Sie sagte es ganz ernst und ließ Rodney nicht aus dem Blick.

„Vielleicht bringen wir sie das nächste Mal mit. Was meinst du, Rod? Würde ihr das gefallen?” Schmiss zupfte an dem kleinen Ziegenbärtchen, das an seinem Kinn hing. Flammen züngelten von seinem Handgelenk aufwärts über den Arm. Ein Weißkopfseeadler, der den Schriftzug Live to Ride in den Klauen hielt, prangte auf dem Bizeps; und als Schmiss den Arm hob, um seinem Kumpel auf die Schulter zu hauen, schwoll die Brust des Vogels.

„Sicher!” Rodney nickte, um Schmiss endlich zum Schweigen zu bringen. „Sobald es ihr besser geht!”

„Ist sie krank?”, erkundigte sich Fay.

„Nur fett!“, schob Schmiss ein, bevor Rodney den Mund öffnen konnte, und schüttelte grinsend den Kopf.

„Sie steckt in einer sehr schwierigen Situation, Fay“, erläuterte Rodney betont gelassen, als sich sein Partner endlich beruhigt hatte.

„Hat ihr Mann sie rausgeschmissen?”

„So ungefähr!”

Schmiss sah ihn verwirrt an, wollte etwas einwenden und verstummte wieder.

„Kerle sind doch wirklich das letzte. Emotional zurückgeblieben, sagt Berta immer. Kalt wie Fische!“ Fay war empört und merkte im gleichen Augenblick, wie unangemessen dieser Ausbruch wirken musste. Sie löste sich von der Holzstütze und verschränkte die Arme. „Na ja, ist doch wahr!“, fügte sie nach einer kurzen Pause an, errötete leicht und biss sich auf die Lippe, während sie beobachtete, wie Rodney ins Grübeln geriet.

„Ich verstehe nicht viel von Liebe“, verkündete dieser plötzlich. „Aber ich weiß, dass es so was wie Verantwortungssinn gibt!” Er warf Fay einen kurzen Blick zu und musterte dann eingehend Schmiss, der das Gesicht verzog.

„Das ist gut, wenn man den hat“, brummte Fay mürrisch. „Aber auch eine Last! Meiner sagt mir nämlich, dass es Zeit wird, sich mal wieder um die übrigen Gäste zu kümmern.” Sie zwang sich zu einem Lachen und wandte sich zum Gehen.

„Aber vergiss mein Bier nicht!“, rief Schmiss ihr hinterher.

Sie drehte sich noch einmal kurz um. Ihr Oberteil spannte und fuhr die Konturen ihrer linken Brust nach.

„Hab’ ich nicht gesagt, dass ich verantwortungsbewusst bin?”

„Ich wollt’ nur sicher gehen.“ Schmiss grinste und zwinkerte Rodney zu. „Tolles Mädchen, was?“, fuhr er fort, als Fay außer Hörweite war. „Aber irgendwie hab’ ich das Gefühl, dass sie mehr auf dich steht als auf mich.” Er spielte mit seinem Ziegenbärtchen und lächelte traurig. „Na ja, ich bin ihr halt zu doof, weil Fay, die hat voll was auf’m Kasten, und die is’ auch nich’ so ‘ne Schlampe wie die anderen. Wirklich, ich glaub’, sie mag dich. Das is’ eine, die würd’ ich sofort heiraten. Gleich morgen, ehrlich! Wenn sie wollen täte!”

Rodney verdrehte die Augen.

„Da ist nichts zwischen mir und Fay; und ich bin mir sicher, sie hat dich genauso gerne wie mich. Außerdem hab’ ich dir schon tausendmal gesagt, dass du nicht doof bist und dich nicht immer selbst so runtermachen sollst. Und ich sag’ dir noch eins: Mein Leben ist im Moment kompliziert genug, auch ohne dass du mich mit einem Mädchen zu verkuppeln versuchst, das dir imponiert, weil es dir zweimal die Woche dein Bier bringt.”

„Fertig?” Schmiss hielt den Kopf geduckt wie ein geschlagener Hund.

Rodney nickte und fügte an:

„Ich hoffe, es reicht für ‘s Erste.”

Schmiss schniefte, aber sein betrübtes Gesicht hellte sich schnell wieder auf.

„Da kommt sie schon wieder zurück! Mit ‘nem Tablett voll Bier!”

„Ich wette, sie verbietet ‘s ihm. Er hat das Geld längst abgehoben, will bei der Zeitung anrufen und die Anzeige aufgeben, aber sie lässt ihn nicht“, behauptete Sylvie mit feuchter, undeutlicher Aussprache. Ein grüner Turban wand sich um ihren Kopf; die Lippen waren violett wie die einer Erfrorenen. Sie saß am Küchentisch in Rodneys Trailer und hatte ein Glas und eine Flasche Pfefferminz-Schnaps vor sich. „Sie is’ doch eh nur auf sein Geld aus! Mein Geld! Besser hätt’ sie selbst es gar nich’ planen können, wird sie sich denken!”

„Vielleicht ist irgendwas passiert. Vielleicht ist der Brief in der Post verloren gegangen.” Rodney war gerade mit einem großen Pappkarton zur Tür hereingekommen, in dem er kaputte Elektrogeräte aufbewahrte, die er aus dem Müll fischte oder auf Flohmärkten für ein paar Cent kaufte und dann um des Vergnügens Willen reparierte. Draußen blies ein Sturm die letzten Blätter aus den Buchen und Espen. Durch jede Ritze drang frostige Luft. Im Schuppen war es mittlerweile trotz des dortigen Franklin-Ofens zu kalt zum Arbeiten. Außerdem meinte Rodney, Sylvie in dieser schwierigen Situation Gesellschaft leisten zu müssen. Er stellte den Karton auf den Boden und setzte sich zu ihr an den Tisch.

„Ich hab’ zwei Briefe geschickt, oder?! Unmöglich, dass beide verloren gehen! Einer, vielleicht! Aber zwei? Nein nein, da steckt was dahinter. Von Anfang an hatte sie ‘s auf ihn abgesehen. Wollte ihn mir wegnehmen! Wir hatten grad mal fünf Monate. Fünf lausige Monate!” Sylvie hielt ihm die runden, mit allerlei aus dem Haus ihres Vaters gestohlenen Ringen geschmückten Finger der rechten Hand hin.

„Vielleicht hat er die ganze Sache durchschaut und wartet, bis du dich wieder meldest? Warum sagst du ihm nicht einfach, dass das alles ein Scherz war, und dann bringen wir dich zurück.”

„Zurück?”, schrie sie gellend. „Bist du verrückt? Verstehst du nicht, dass das für mich die Hölle war? Wie eine Gefangene hab’ ich da im Keller gehaust und immer ihre Schritte über mir gehört, dieses triumphierende Trippeln von ihren Absätzen mal hierhin, mal dorthin, und nie war ich mit ihm allein; immer musste sie sich dazwischendrängen, und kaum war er weg, ist sie auch verschwunden, als hätte sie Angst vor mir, als wüsste sie genau, dass ich sie durchschaut hab’, dass ich Bescheid weiß und mich und alles, was mir gehört, schützen werde. Nein, sie ist nie ohne ihn im Haus geblieben, ist mit ihm weggefahren am Morgen, zum Arbeiten, hat sie behauptet, zum Herumhuren sag’ ich, und ist erst abends wieder mit ihm zurückgekommen. Benzin sparen hat er das genannt, aber ich weiß ganz genau, sie haben das nur gemacht, um ohne mich zum Essen zu gehen oder ins Kino oder zum Bingo; und sie haben gerade so getan, als gäb ‘s mich gar nich’, als wär’ ich ‘ne Irre, die man im Dachstuhl einsperrt oder halt im Keller, und das bloß, weil ich wusste, ganz genau wusste, was sie mit ihm vorhat. Ich hab’ ja nur auf meine Chance gewartet, eine klitzekleine Chance, und wenn ihr nich’ gekommen wärt und dazwischen gepfuscht hättet, vielleicht hätte ich inzwischen schon was erreichen können, aber so ...” Ihre geballten Fäuste zitterten. Sie sah an ihm vorbei in den dunklen Wohnbereich mit seinem Turm aus Fernsehern.

Rodney nickte verständnisvoll und holte ein altertümliches Mixgerät aus dem Karton. Er öffnete ein Werkzeugset, nahm einen Kreuzschlitzschraubenzieher und begann, die Schrauben des Gehäuses zu lösen.

„Sie sind ein frisch verheiratetes Paar, das darfst du nicht vergessen. Die brauchen viel Zeit für einander.”

„Frisch verheiratet!“, höhnte Sylvie. „Die dritte Ehe ist es für diese ... diese Hure, jawohl, so würde man sie überall sonst nennen, dieses dreckige Miststück. Hure und Erbschleicherin! Und ich bin ihr im Weg. Sie dachte wohl, außer meinem Dad hab’ ich niemanden, aber da hat sie sich getäuscht: Ich hab’ jetzt ‘nen Freund, und ich werd’ es ihr heimzahlen. Alles werd’ ich ihr heimzahlen, alles; und dann fahren wir weit weg, machen ‘ne Kreuzfahrt, nur wir beide, und ...”

„Aber Sylvie, ich will gar nicht weg! Ich bin neu hier und fang’ gerade erst an, alles kennenzulernen. Wilbourne! Schmiss! Waldo! Die Murphys!”

„Schmiss!“, zischte sie. „Dieser Trottel! Der ist doch zu blöd, sich die Schuhe zuzubinden.”

„Das ist ‘ne Mode, Sylvie! Im Fernsehen machen es die jungen Leute alle so. Lass ihn halt, wenn ‘s ihm Spaß macht!”

„Der Kerl war für irgend ‘ne philippinischen Nutte das Ticket ins amerikanische Paradies, wenn du mich fragst. Hat sich von ‘nem GI schwängern lassen; und das Ergebnis ist dieser mongoloide Mischling. Sind alle gleich, diese Asiatinnen. Heiß wie läufige Hündinnen! Und da macht deine Chinesin keine Ausnahme.”

„Melinda ist Amerikanerin japanischer Abstammung. Und ich ...”

„Von mir aus! Dann is’ sie eben Japse. Aber was willst du von der? Die braucht dich nur, damit du ihr die Einkaufstüten schleppst und diesen scheiß Köter spazieren führst.”

„Melinda darf wegen ihrem Rücken nichts Schweres heben. Und ich geh’ gerne mit Dog spazieren.”

„Mir tut auch der Rücken weh! Kümmert dich das etwa?”

„Das wusste ich nicht“, gestand er kleinlaut. „Aber ...”

„Natürlich wusstest du das nicht! Weil es dir scheiß egal ist, wie ‘s mir geht! Ihr plündert das Haus von meinem Vater und schleppt mich hierher; und jetzt soll ich schauen, wie ich zurecht komm’.”

„Es war nicht unsere Idee. Wir ...”

„Oh, es war nicht eure Idee, ja?! Du meinst, ich hab’ euch ins Haus gerufen, damit ihr euch die Fernseher und den Kühlschrank und so weiter krallt?”

„Nein, aber ...”

„Aber ich bin halt keine gelbe Streberin, die sich für was Besseres hält! Ich bin nur Kosmetikerin und verschönere so die Welt. Dass man dafür Talent und Geschmack und Psychologie braucht und dass da kleine Kunstwerke entstehen, die die Menschen glücklich machen, interessiert dich nich’ die Bohne. Dafür dieses schreckliche Geklimper, wo man nich’ weiß, wo vorne is’ und wo hinten und wo man solche Kopfschmerzen von kriegt, dass man froh is’, wenn ‘s endlich aufhört! Das is’ doch nich’ echt, sondern genauso Angeberei wie dieses Schachspielen! In Wirklichkeit biste nämlich nur ‘n vagabundierender Schulabbrecher, der ‘nem reichen Schlitzauge mit College-Abschluss imponieren will.”

„Sylvie, wirklich, du machst es einem nicht leicht, dich zu mögen. Ich weiß, es ist der Alkohol, der aus dir spricht, und du befindest dich in einer schwierigen Situation, aber bitte versuch’, dich unter Kontrolle zu bringen!” Rodney nahm die kleinen Schrauben, legte sie in eine Streichholzschachtel, hob das Gehäuse von der Bodenplatte mit dem Motor und roch vorsichtig an diesem. „Irgendwas ist da durchgeschmort“, stellte er leise wie für sich fest.

Sylvies Rücken zuckte. Sie schluchzte ohne Tränen.

„Es kommt alles daher, weil ich niemanden mehr hab’. Du darfst mich nich’ zurückschicken. Bitte, bitte, versprich mir das! Es war die Hölle. Du kannst dir das nich’ vorstellen: Monate lang allein in diesem Keller und sie jeden Abend lachen hören und hin und her gehen und reden und telefonieren und baden und ... und ... als wär’ ich nich’ da. Als würde ich gar nich’ existieren! Als wär’ ich ein Nichts, ein dickes, ekliges Nichts in seinem Bau!” Diese letzten Worte sprach sie mit veränderter, höherer Stimme.

„Das bist du nicht, Sylvie. Wirklich nicht! Und ich werde es nicht zulassen, dass jemand so von dir spricht. Und ich werde dich natürlich nicht zurückschicken. Du kannst machen, was du willst. Du kannst zurückgehen, oder du kannst bleiben. Der Trailer ist ja groß genug.”

„Und was soll ich meinem Vater wegen dem Einbruch sagen?”

„Irgendwas! Sag, dass du selber Urlaub gemacht und ein paar Leute kennengelernt hast und ihr dachtet, es wäre ein Spaß, und jetzt siehst du ein, dass es keiner war; und er soll dir verzeihen. Ich meine, er ist schließlich dein Vater.” Rodney packte die Welle, auf der normalerweise das Messer saß, mit einer Zange und versuchte, sie zu drehen. „Fest gefressen!“, murmelte er. „Scheiße! Ich hatte gehofft, es wär’ der Schalter. Meistens ist es nur der Schalter.”

„Für dich ist das alles so einfach, aber ich kann doch nicht ... Was verstehst du schon davon?!” Ihr Gesicht war das eines greinenden Babys, nur doppelt so groß. Sie nahm die Flasche und goss sich mit einem trotzigen Blick noch einmal zwei Finger hoch ein und kippte sich den Pfefferminzschnaps in den Mund. „Ich wette, du hast nich’ mal ‘nen Vater, so wie du redest.”

„Sylvie, ich hatte sogar zwei, aber ich glaube nicht, dass das jetzt der richtige Zeitpunkt ist, das zu diskutieren, und ich glaube auch nicht, dass du noch mehr trinken solltest. Das löst keines deiner Probleme!” Rodney seufzte, schob den nackten Mixer mitsamt dem Gehäuse von sich weg und bückte sich, um erneut in dem Karton voll Elektrogeräten zu kramen. Als er wieder oberhalb des Tischs auftauchte, hielt er einen revolverähnlichen Föhn in der Hand.

„Wo hast du den her?”, rief Sylvie erschrocken. „Tu den sofort weg! Ich will ihn nich’ sehen.” Sie war aufgesprungen, entfernte sich rückwärts von dem Tisch, stieß einen gellenden Schrei aus und schlug gleichzeitig die Hände über die Ohren, als ertrage sie die eigene Stimme nicht. Rodney, der sie sprachlos angestarrt hatte, folgte ihrem Blick bis zu dem orangen Gerät in seiner Hand, studierte es nachdenklich und packte es wieder in den Karton. Sylvie beruhigte sich allmählich, blieb aber noch lange heftig schnaufend stehen.

Karibien

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