Читать книгу Die Geschichte eines "deutschen" Beamten - Xuqiang Zheng - Страница 4
ОглавлениеKapitel I
Nach einer Legende existierten in der chinesischen Astrologie 13 Tierkreiszeichen. Um mit ihnen zu feiern, lud Buddha sie eines Tages zu einem Fest ein. Er beauftragte die Maus, die hier zu Lande auch als Ratte genannt wird, den anderen Tieren davon zu erzählen. Wie es ihr aufgetragen wurde, erzählte die Maus den anderen Tieren vom Fest. Weil sie die Katze ärgern wollte, gab sie ihr jedoch gegenüber einen späteren Tag an. So geschah es, dass alle Tiere bis auf die Katze zum Fest erschienen. Als Geschenk bekamen Maus, Ochse (bzw. auch als Büffel bekannt), Tiger, Hase, Drache, Schlange, Pferd, Ziege (bzw. Schaf), Affe, Hahn, Hund und Schwein jeweils ein Jahr zugeteilt. Das erste Jahr bekam die Maus. Auf dem Weg zum Fest ritt sie auf dem Rücken des schnellen Ochsen. Vor dem Ziel sprang sie vom Ochsen und stand als erstes Tier vor Buddha. Die Katze ging aber leer aus, da sie wegen der Maus den Festtag verschlief.
Einer anderen Legende zufolge liefen die Tiere den Weg zu Buddha um die Wette. Als sie zu einer Brücke kamen, gab die Maus der Katze einen Stoß, sodass diese ins Wasser fiel. Während die anderen Tiere weiterliefen, kletterte die Katze aus dem Fluss und trocknete ihr Fell an der Sonne. Deswegen kam zu spät zum Fest, und ihr wurde kein eigenes Jahr zugeteilt. Die Feindschaft zwischen Katze und Maus bestand daher seit dem Tag und das ist der Grund, warum die Maus von der Katze gejagt wird.
Es war der 27. des zwölften Monats des Mondkalenders, als ich geboren wurde. 1967 war das Jahr der Ziege, genauer gesagt das Jahr der Feuerziege. Normalerweise wird zwischen 12 Sternzeichen, die sich alle 12 Jahre wiederholen, unterschieden. Durch die Kombination der 12 Tierkreiszeichen mit den fünf Elementen Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser, die die Kraft einer Entwicklung, d. h. die Kraft für Wandlungen im Bereich des Lebendigen, des Werdens und Vergehens darstellen, sind es 60, die sich naturgemäß alle 60 Jahre wiederholen.
Im Gegensatz zum gregorianischen Kalender besteht der Monat des chinesischen lunisolaren Kalenders abwechselnd aus 29 oder 30 Tagen, da die Zeit zwischen zwei Neumonden 29,53 Tage beträgt. Dementsprechend hat der chinesische Mondkalender nur 354 Tage, sodass nach zwei oder drei Jahren ein 13. Monat, sogenannter Schaltmonat, eingefügt werden muss, damit keine Verschiebung der Jahreszeiten entsteht und das Jahr immer zwischen dem 21. Januar und dem 21. Februar beginnt.
Auch bei der Berechnung des Lebensalters unterscheidet sich die Chinesische von der Europäischen. Bei den Chinesen ist ein Kind bereits ein Jahr alt, sobald es das Licht der Welt erblickt. Zum 1. Neujahrstag ist es dann schon zwei Jahre alt. So wurde ich bereits ein paar Tage nach der Geburt zwei Jahre alt. An diesem Tag wurde ich mit Hilfe einer Hebamme als achtes Kind in meine Familie geboren. Bei der Hebamme bedankte ich mich, nach der Erzählung meiner Mutter, mit einem Strahl frischen Pippis, nachdem sie mich - wie es bei Geburten üblich war - kopfüber an den Beinchen hochzog und mir auf den Hintern klopfte. Vermutlich veranlasste meine Gegenwehr gegen die Schläge der Hebamme meine Eltern, mir den Namen “Weiter Stark“ zu geben.
Bei der Geburt hatte ich ein Muttermal auf der Brust, der im Laufe der Jahre verblasste, jedoch noch erkennbar ist. In Kambodscha ist es üblich eine verstorbene Person an irgendeinem Körperteil mit einem Zeichen zu kennzeichnen, damit die Familie sie wiedererkennt, wenn sie zufällig in der gleichen Familie wieder geboren wird. Also deutete das Muttermal auf meiner Brust daraufhin, dass ich schon einmal gelebt hatte. Doch zu welcher Familie gehörte ich im früheren Leben? Das Zeichen war meinen Eltern unbekannt. Offensichtlich wählte ich für dieses Leben eine andere Familie aus, obwohl meine jetzigen Eltern mich nicht mehr erwarteten.
Als Nachzögling bekam meine Mutter mich erst mit 46 Jahren. Ob gewollt oder ungewollt, auf jeden Fall war ich da. Ob meine Eltern sich des Risikos bewusst waren, in diesem Alter noch ein Kind zu bekommen? In der Schule war meine Mutter nie gewesen. Dafür war ihre Familie zu arm. Außerdem durften Mädchen zur Zeit ihrer Kindheit nicht zur Schule gehen. Damals vertraten die Menschen die Auffassung, dass Schulausbildung für Mädchen Geldverschwendung sei, da sie nach der Heirat nur den Haushalt führen und daher keine Schulbildung benötigen würden. Hierbei wurde meines Erachtens zu kurz gedacht, denn hauptsächlich waren Mütter für die Erziehung der Kinder verantwortlich. Wie konnten sie den Kindern eine gute Erziehung ermöglichen, wenn ihnen selbst die Bildung vorenthalten wurde? Außerdem durften Mädchen nicht die Schule besuchen, weil befürchtet wurde, dass sie Liebesbriefe schreiben könnten, was sich für ein Mädchen nicht schickte. Auch heute bleibt – zumindest in Kambodscha und in den ländlichen Gegenden Chinas - höhere Schulbildung meist nur den Männern vorbehalten. Viele Frauen brechen die Schule vorzeitig ab, um zu Hause zu helfen oder zu heiraten, denn ab einem Alter von 20 bzw. (in China) 25 Jahren gelten Frauen als alt und haben Schwierigkeiten einen Mann zu finden.
Höhere Bildung ist den Frauen in der Regel auch ein Hindernis, denn manche Männer wollen keine Frau mit einem hohen Bildungsniveau. Sie bevorzugen eine Frau ohne oder nur mit geringer Bildung, weil sie die Ansicht vertreten, dass Frauen mit hohem Bildungsniveau sich nicht unterordnen und ihnen widersprechen würden. Frauen mit hoher Bildung werden meistens auch gemieden, weil diese stolz und hochnäsig seien. Ist das wirklich so? Hören ungebildete Frauen wirklich mehr auf ihre Männer? Es gibt auch andere Beispiele. „Einbildung ist auch eine Bildung“. Jedoch kann eine Frau mit einer solchen „Bildung“ sehr anstrengend sein. Insbesondere wenn diese sich einbildet, alles besser zu können und besser zu wissen als der Rest der Familie. Von ihren Taten ist sie stets überzeugt, dass diese richtig seien. Andere Meinungen sind nicht zugelassen. Der Mann sei ein Dummkopf und die Kinder würden nichts wissen, weil sie Kinder seien. Immer wieder wirft sie ihrem Mann vor, er sei an ihrer Erkrankung schuld, weil er eine postnatale Bettruhe, bei der der frisch Entbundenden einen Monat lang verboten ist, das Haus zu verlassen, zu duschen sowie die Haare zu waschen und nur wenn es nötig ist, aufzustehen, für nicht notwendig hielt und sie deswegen nach der Geburt der Kinder auch keine hatte.
Im Gegensatz zu meiner Mutter konnte mein Vater hingegen in China zwei Jahre zur Schule gehen. Länger konnten die Eltern seine Schulbildung als Bauernfamilie nicht finanzieren. Doch auch wenn sie beide eine richtige Schulausbildung genossen hätten, wäre sexuelle Aufklärung ihnen doch fremd geblieben. Dieses Thema war in der Schule sowohl in China als auch in Kambodscha verpönt. Über so etwas sprach man nicht in der Öffentlichkeit. Über so etwas sprach man besonders nicht vor den Kindern. Wenn die Zeit dafür gekommen war - und das war meistens vor der Heirat -, wurden die Mädchen von der Mutter und die Jungen vom Vater aufgeklärt - sofern man von einer Aufklärung sprechen konnte.
In den asiatischen Kulturen ist das Thema zum größten Teil immer noch ein Tabuthema. So wissen heute z. B. in China die meisten Jugendlichen gar nicht über Verhütung oder gesundheitliche Risiken Bescheid. Sogar im modernen Peking werden Jahr für Jahr tausende Schwangerschaften abgebrochen, weil Frauen ungewollt schwanger werden.
Meine Familie gehört zur Volksgruppe der Han-Chinesen, die etwa 90% der Bevölkerung Chinas ausmacht. Die restlichen 10% teilen sich weitere 55 Volksgruppen. Aufgrund der Vielfalt der Sprachen (9 chinesische Sprachen und über 50 Sprachen der Minderheiten, die nicht zur chinesischen Sprache gehören) dient Mandarin als Hauptsprache, welche in der Vergangenheit in den Schulen nicht als Pflichtsprache unterrichtet wurde.
Die Geschichte meiner Familie begann mit der Übersiedlung meines Vaters von China – mit Zwischenaufenthalt in Vietnam - nach Kambodscha. Die Familie meines Vaters - eine Bauernfamilie - bestand aus den Eltern, vier Söhnen und einer Tochter, die aus Kummer starb, weil ihr Mann während des Krieges zwischen Japan und China getötet wurde. Sie wohnten in einem Dorf im Süden Chinas mit dem Namen Mianyang. Es ist das Dorf der Zheng. Alle Familien besitzen den Nachnamen Zheng. Sie sind Angehörige einer Sippe, die väterlicherseits vom selben Stammvater abstammen. Deswegen sind alle Menschen im Dorf streng genommen miteinander verwandt.
Nach dem Untergang der Qing-Dynastie und des letzten Kaisers Pu Yi herrschten in China zwischen 1911 und 1949 Chaos und bürgerkriegsähnliche Zustände. Noch dazu kam der Krieg zwischen Japan und China. In dieser Zeit herrschte große Armut. Auch die Familie meines Vaters war trotz Reisanbau von Armut geplagt, u. a. weil sie einen Teil der Ernte abgeben mussten, denn das Land, auf dem sie Reis anbauten, war nur gepachtet. In manchen Gebieten kam es zu Hungersnöten. In dieser Zeit wanderten viele Chinesen ins Ausland aus. Sie gingen nach Vietnam, Thailand, Kambodscha und andere Länder. Sie verließen Land und Familie, um in einem fremden Land Geld zu verdienen. Dieses schickten sie nach Hause, um die zurückgebliebene Familie zu ernähren. Auch mein Vater war nun Ernährer der Familie, da sein ältester Bruder, der die Familie als erster verließ, in den Wirren umgekommen war. So verließ mein Vater als zweitältester Sohn 1937 mit 27 Jahren das Dorf Mianyang in der Provinz Guangdong in Südostchina mit der Hoffnung, eines Tages, nachdem er genug Geld verdient hatte, die Heimat und die Familie wiedersehen zu können. Doch dazu kam es nie.
Ohne Hab und Gut und ohne Geld wurde er mit vielen anderen jungen Menschen zunächst zu Fuß durchs Land und dann auf einem Boot von einer Schlepper-Bande nach Vietnam gebracht. Als ich noch klein war, berichtete er einmal darüber, wie beschwerlich die Reise war. Zusammengepfercht im Inneren des stickigen, dunklen Bootes mussten sie sich verstecken und ausharren, damit sie nicht entdeckt wurden. Zu essen gab es nur dünnflüssigen Reisschleim. Als Beilage hatten manche ein Bein vom Krebs von zu Hause mitgebracht, an dem sie wochenlang während der gesamten Reise nuckelten.
In Vietnam angekommen, musste mein Vater schwere Arbeiten verrichten. Er bekam Unterkunft und Essen gestellt. Lohn bekam er für die Arbeit jedoch nicht. Dieser wurde zurückbehalten, um die Kosten für die Überfahrt von China nach Vietnam zu bezahlen. Nach einem Jahr hatte er die Schuld getilgt und konnte nun als freier Arbeiter auf einem Fischerboot Geld verdienen. Dieses schickte er regelmäßig zu seinen Eltern und Geschwistern. Während einer meiner Besuche viele Jahre später in China erfuhr ich von meinem Cousin Cunzhou, dass sein Vater ihm erzählt hätte, mein Vater hätte nicht nur Geld, sondern auch Bekleidung, Schweinefett und andere Lebensmittel geschickt.
Aufgrund seiner Arbeit auf dem Fischerboot kam er oft mit Kambodscha in Berührung. Da die Gewässer Vietnams und Kambodschas zum größten Teil miteinander verflochten sind, fuhr er oft bis nach Kambodscha hinein und fand Gefallen an dem Land, sodass er 1939 von Vietnam nach Kambodscha übersiedelte. Dort lebte mein Vater zunächst in der Provinzhauptstadt Battambang der Provinz Battambang, die wegen des vielen Reisanbaus als Reiskammer des Landes bekannt ist.
Nach einer Legende wurde ein Bauer aufgrund seiner heldenhaften Taten im Kampf gegen die Siamesen, die zum Volk der Thai gehörten, zum König ernannt. Wegen seines schwarzen magischen Stabs bekam er den Namen Preah (König) Bat Dambang Kranhoung. Eines Tages wollte ein junger König ihn stürzen und die Macht an sich reißen. Um seine Regentschaft zu verteidigen, schleuderte Preah Bat Dambang Kranhoung im Kampf seinen schwarzen Stab auf seinen Rivalen. Da es von den Göttern vorherstimmt war, dass er durch den jungen König abgelöst werden sollte, verfehlte der Stab den Rivalen und fiel irgendwo im nordwestlichen Teil des Landes nieder und war nicht wieder zu finden. Preah Bat Dambang Kranhoung wurde besiegt und das Gebiet, wo der Stab verloren ging, wurde seitdem Battambang genannt. Diese Bezeichnung leitet sich aus dem Namen des Königs Bat Dambang Kranhoung ab und bedeutet „verlorener Stab“.
Battambang ist etwa 290 km nordwestlich von der Hauptstadt Phnom Penh entfernt. Obwohl Battambang im 19. Jahrhundert zeitweise zu Thailand gehörte und erst im Jahre 1907 an Kambodscha zurückgegeben wurde, hatte die französische Kolonialherrschaft in der Zeit von 1863-1941 die Stadt geprägt. Überall fand man Kolonialvillen, parkähnliche Anlagen und natürlich Baguettes, die man dort mit Zucker aß. Aufgrund dieses Einflusses sprachen manche Menschen, die sich eine hohe Schulbildung leisten konnten, Französisch als Fremdsprache.
Mitten durch die Stadt fließt der Fluss Sangke, der in den etwa 80 km entfernten Tonle Sap See, den größten Süßwassersee Südostasiens, mündet. Dieser Fluss diente der Stadtbevölkerung u. a als Wasserquelle, allerdings auch als Abwasserkanal und Mülldeponie. Es war nicht selten, dass ich menschliche Exkremente auf dem Fluss vorbeischwimmen sah.
Mitten im Stadtzentrum stand eine große Markthalle. Darin befanden sich allerlei Verkaufsstände. An dieser Markthalle vorbei führten mehrere Straßen in unterschiedliche Richtungen. Hier befand sich auch der Busbahnhof. Neben europäisch aussehenden Gebäuden hatte Battambang auch viele buddhistische Klosteranlagen, deren Eingänge von pompösen Riesen-, Drachen- oder Schlangenfiguren bewacht wurden. Einer von ihnen befand sich im Stadtzentrum gegenüber der Markthalle. Hier in den Klosteranlagen war die Haupteinnahmequelle meines Vaters. Er hatte sich zwei vitrinenartige Schränkchen gekauft, die er mit Artikeln des täglichen Bedarfs befüllte. Sein Lieferant war ein Händler, der ebenfalls aus China kam, mit dem er befreundet war.
Überhaupt wohnten in Kambodscha, insbesondere in Phnom Penh und Battambang, viele Chinesen. Auch sie waren Eingewanderte bzw. waren die Nachkommen der immigrierten Chinesen. Obwohl wir uns in Kambodscha befanden und Kambodschaner die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten, kam es mir vor, als ob Chinesen die größte Bevölkerungsgruppe waren. Überall konnte man weiße oder goldene chinesische Schriftzeichen auf roten Schildern beobachten. Die meisten Chinesen waren Geschäftsleute und Händler. Auffallend war, dass viele Chinesen Supermärkte und Lebensmittelgeschäfte besaßen. Hingegen boten im Verhältnis dazu nur wenige Kambodschaner ihre Ware in Geschäften an. Überwiegend verkauften sie die Waren auf Ständen in Markthallen oder am Straßenrand. Chinesen haben offensichtlich ein Gespür für das Handeln mit Waren. Überall, wo man auch hinsieht, in den USA, Kanada oder England im Vergleich zu anderen ethnischen Gruppen, besitzen auch heute die meisten Chinesen einen Laden. Mein Speech and Debate-Lehrer erzählte mir mal von einem Klischee, welches in den USA existiert. Er meinte, wenn man auf der einen Straßenseite einem Schwarzen ein Geschäft hinstellt und auf der anderen Straßenseite einem Chinesen, würde der Schwarze nach einem Jahr verschwunden sein und der Chinese beide Geschäfte besitzen. Das ist auch vielleicht der Grund, warum einige Kambodschaner Chinesen nicht mögen. Sie sind neidisch, weil Chinesen tüchtig und erfolgreich sind.
Jeweils hängend an den jeweiligen Enden einer flach zu einem Brett geschnittenen Bambusstange trug mein Vater die Schränkchen über den Schultern und zog Tag für Tag durch die Stadt. Die Hauptabnehmer seiner Produkte waren die Mönche in den Klöstern der Stadt. Durch den Kontakt mit den Mönchen lernte er rasch die kambodschanische Sprache sprechen und die Bräuche kennen. Für einen Chinesen sprach er perfekt Kambodschanisch. Lediglich seine Aussprache war mit einem chinesischen Akzent gefärbt. Nach kurzer Zeit war er unter den Mönchen bekannt und sehr beliebt. Von ihnen lernte er auch - was für einen Chinesen ungewöhnlich ist - eine kambodschanische Spezialität zu essen und zu mögen. Die Kambodschaner nennen dieses Gericht Práhok. Es ist eine Fischpaste und ist hier zu Lande unter den Namen "Stinkfisch" bekannt. Dieser Fisch wird so genannt, weil er tatsächlich bestialisch stinkt. Er wird hergestellt, indem man Fische mit Salz einreibt und in einem Gefäß solange einlagert, bis das Fleisch des Fisches bei Berührung zerfällt und die Gräten brüchig werden, entweder durch die Zeit oder durch die nicht selten zu beobachtenden, tausenden von Maden. Roh kann man diesen Fisch nicht essen. Für die Gesundheit wäre er dann sehr schädlich. Aber gar gekocht, ist er eine Spezialität. Im Gegensatz zu meinem Vater lehnen die meisten Chinesen diesen Fisch ab, obwohl den Chinesen nachgesagt wird, dass sie außer Tischen und Stühlen alles essen würden, was Beine hätte. So ähnlich wird auch die hier zu Lande bekannte Fischsoße hergestellt. Der Unterschied liegt lediglich darin, dass der Stinkfisch solange mit Flüssigkeit und Salz gekocht wird, bis nichts mehr vom Fisch übrigbleibt. Am Schluss wird die Soße gesiebt und fertig ist die Fischsoße.
Sowohl Kambodscha als auch China haben auch noch andere Spezialitäten anzubieten. Die am Baum wachsende, hier auch teilweise bekannte Frucht Durian, ist solch eine Spezialität. Die Außenhaut besteht aus harten dicken Stacheln. In den taschenartigen Wölbungen befindet sich das gelblich süß schmeckende Fruchtfleisch, das wiederum einen dicken Kern umhüllt. Als ich noch klein war, hat mein Vater mir die Geschichte dieser Frucht erzählt: "Zwei Götter gingen eines Tages in einem wunderschönen Park spazieren. In diesem Park wuchsen viele hohe Bäume. Nachdem sie eine Weile gegangen waren, sagte der eine Gott zum anderen, er hätte Hunger. Daraufhin antwortete der andere: "Warte hier, ich gehe etwas zu Essen besorgen." Gesagt, getan. Er ging fort, ging in ein Gebüsch und machte ein großes Geschäft. Nachdem er damit fertig war, nahm er das Geschäft, klebte es an einem Ast eines Baumes und rief den anderen zu sich. Als dieser ankam, erklärte er: "Das ist eine Frucht, die man essen kann." Und seit dem Tag gibt es die Durian-Frucht.
Ja, so ist nach der Erzählung die Frucht entstanden. Für manche ist der Geruch dieser Frucht tatsächlich gewöhnungsbedürftig. Der eine wird meinen, die Frucht stinke. Für den anderen ist es eine wohlriechende Frucht, die besonders lecker schmeckt. Geschmäcker sind halt verschieden, auch der Geruchsinn. Eine Bekannte von uns aus Hongkong, die mit einem britischen Soldaten verheiratet war und jetzt in England wohnt, erzählte, dass sie einmal in London eine Durian gekauft hätte. Im Bus nach Hause hätten sich die Menschen suchend nach dem für die meisten Europäer stinkenden Geruch umgeschaut. Sie, die wusste, wo der Geruch herkam, hätte eine Unschuldsmiene aufgesetzt und so getan als ob sie von nichts wüsste.
Mehrere Jahre lebte mein Vater allein in Battambang. Sein Freund und Lieferant wollte ihm eine Frau, die aus einer reichen Familie stammte, vermitteln. Doch er lehnte zunächst ab, weil er der Ansicht war, er wäre zu arm, um eine zusätzliche Person zu ernähren. Er hätte noch nicht genug Geld gespart, um die Hochzeit zu finanzieren. Außerdem würde er nicht zu ihr passen, weil er einer Frau aus einer reichen Familie nichts anbieten könnte. Als der Freund aber nicht lockerließ und ihm das fehlende Geld für die Hochzeit leihen wollte, stimmte er schließlich zu. Doch zur Hochzeit kam es nicht, denn kurz vor der Verlobung lief die Braut mit einem anderen Mann von zu Hause weg. Offensichtlich hatten die Eltern gegen den Willen der Tochter entschieden. Wie es damals üblich war, bestimmten die Eltern, wen die Tochter zu heiraten hat. Bei den Wohlhabenden wurden die Kinder bereits bei der Geburt irgendjemanden versprochen. Die Zustimmung des Kindes wurde nicht eingeholt. Eine Heirat aus Liebe gab es kaum. Wenn es mal so etwas gab, dann war es purer Zufall. Nur was ist Liebe? In den westlichen Ländern werden Liebe und Treue sehr hoch gehalten. Doch in der Wirklichkeit werden sehr viele Ehen, die ja auf Liebe basieren, geschieden. Hingegen können vermittelte Ehen ein Leben halten. Was ist nun wirklich eine Liebe? Ist Liebe nicht nur das Gefühl, sich im Laufe der Zeit an jemanden gewöhnt zu haben?
So blieb mein Vater noch eine Weile allein. Er ging seinen Geschäften nach. Seine Wege wurden immer länger. Er beschränkte sich nicht mehr nur auf die Stadt selbst, sondern ging mit seinen Waren auch zu den ländlichen Nachbarsdörfern von Battambang, wo die Menschen hauptsächlich vom Reisanbau lebten. So kam er eines Tages nach Svay Jiet. Dort lebte meine Mutter mit den Eltern und ihrer älteren Schwester Yi Lang, der jüngeren Schwester Yi Nget und dem Bruder. In Svay Jiet besaßen sie Grund und Boden und betrieben dort Landwirtschaft. Meine Oma, die seit ihrer Geburt in Svay Jiet wohnte, war eine vollblütige Kambodschanerin. Viel kann ich nicht über sie erzählen. Zum einen war ich zu der Zeit, als sie mit meinen Eltern wohnte, noch nicht auf der Welt und zum anderen wohnte sie später nicht bei uns, sondern bei meiner Tante Yi Nget. Solange ich mich erinnern kann, trug sie immer ein dunkelfarbiges Kben, ein Stück Stoff, das sie um die Hüfte wickelte. Das Besondere an diesem Bekleidungsstück ist, dass ein Teil des Stoffes zusammengerollt, durch die Beine nach hinten gelegt und festgebunden wird. Als Kind könnte man auf die Idee kommen, diese Rolle mit einem Schwanz zu vergleichen. Wie meine Mutter kaute auch meine Oma Tabak oder Blätter einer Rankpflanze, die irrtümlicherweise als Kokablätter bezeichnet werden, mit farbigem - meist rotem oder weißem - Kalkaufstrich.
Hingegen war mein Opa ein reiner Chinese, der - wie mein Vater - im jungen Alter nach Kambodscha kam und eine Familie gründete. Im Gegensatz zu Kambodschanern trugen Chinesen nur Hosen und rauchten, anstatt auf Tabak oder Blättern zu kauen. Auch die Bekleidung unterschied sich voneinander. Während Mädchen Röcke und Bluse und Jungs meistens nur eine kurze Hose und kein Oberteil tragen, tragen sowohl kambodschanische Frauen als auch Männer traditionell einen Sarong, ein Stück bunt bemusterten Stoff, der um die Hüfte geschwungen wird. Ein Kben wird meistens nur von älteren Menschen getragen. Schuhe werden selten getragen, wenn dann nur in Form von Flip-Flops. Bei den Chinesen ist es ein bisschen anders. Hier tragen nicht nur Männer Hosen, sondern auch Mädchen und Frauen. Unterschiedlich ist auch das Aussehen von Kambodschanern und Chinesen. Während Chinesen eine helle Haut besitzen, ist die Haut von Kambodschanern eher dunkel.
Durch den Verkauf lernte mein Vater die Familie und auch meine Mutter kennen. Nach der Heirat, die zu jener Zeit natürlich von einer Bekannten vermittelt werden musste, zog meine Mutter mit meinem Vater nach Battambang. Mein Opa aber musste kurz danach Kambodscha und die Familie verlassen und wieder nach China zurückkehren, weil er das Geld für seine Aufenthaltserlaubnis nicht aufbringen konnte. Meine Oma musste das Land mit den Kindern nicht verlassen, weil sie eine Kambodschanerin war.
In Battambang bezogen meine Eltern zunächst ein Haus, welches am Sangke-Fluss lag. Später mietete mein Vater ein anderes Haus aus Stroh. Erst als fast alle Kinder geboren wurden, baute mein Vater nicht weit vom Stadtzentrum entfernt ein eigenes Haus. Es lag an einer Straße, die vom Stadtzentrum aus nordwestlich in Richtung Thailand führte. Nach dem Wegzug meiner Eltern nach Pailin, wo ich geboren wurde, kam ich öfter mit meiner Mutter hierher. Jedes Mal, wenn wir aus der Edelsteinstadt Pailin kamen und Battambang besuchten, fuhren wir vom Busbahnhof aus mit einem Cyclo zu unserem Haus. Streng genommen war es eine Rikscha (人力车= Menschenkraftwagen), eine Erfindung aus Japan. Beeinflusst durch die Kolonialherrschaft Frankreichs wurden sie in Kambodscha Cyclo genannt, weil die Franzosen sie als Cyclo pousse (Rad getrieben) bezeichnen. In Asien existieren sie in verschiedenen Ausführungen. Früher wurden sie von Menschen gezogen, heutzutage werden sie entweder durch ein Fahrrad oder ein Motorrad bewegt.
Wenn ich zurückdenke, stand das Haus trotz seiner Nähe zur Straße an einem ruhigen, friedvollen Platz. Es lag etwa 100 m von der Straße entfernt. Von der Straße aus führte ein mit Erde zu einem Damm aufgeschütteter Weg, der die meiste Zeit mit Gras bewachsen war, direkt zu einer Rampe aus Holz. Das war unsere Treppe zum Haus. Rechts und links vom Weg waren zwei rechteckig angelegte Teiche mit Seerosen, Wasseralgen, Schilfe und anderen Wasserpflanzen. An einigen Stellen am Ufer wuchs roter Wasserspinat. Andere Stellen wiederum wurden vom grünen Wasserspinat, der vermutlich von meinem Vater angepflanzt wurde, besiedelt. Über die Wasseroberfläche schwirrten Libellen und Schmetterlinge friedlich dahin. Auf den Seerosenblättern, die flach auf dem Wasser schwammen, sonnten sich nicht selten Frösche und sprangen ins Wasser, wenn wir an ihnen vorbeigingen. Darunter, wenn ich die Seerosenblätter hochhob, konnte ich Schnecken entdecken, die sich an den Blättern festsaugten. Das Wasser war klar und an der Oberfläche lauwarm von der tropischen Sonne. Wenn ich genau hinschaute, sah ich kleine Goldfische zwischen den Seerosenblättern und Schilfhalmen hin- und her huschen.
Überhaupt war Kambodscha bekannt für seinen Fischreichtum. Man konnte sagen, dort wo sich Wasser befand, da gab es auch Fische. So auch in diesen Teichen. Dort spielte ich gern, jedes Mal, wenn ich mit meiner Mutter aus unserem späteren Wohnort, manchmal begleitet von meiner jüngsten Tante Yi Nget und ihren Kindern, hierherkam, um Verwandte und Freunde meiner Mutter zu besuchen. Aus dem lehmigen Boden des Teichs formte ich Kügelchen, die ich als Murmel benutzte, nachdem sie in der Sonne getrocknet und hart wurden. Mit einer aus einer Astgabel, Gummi und einem Stück Stoff selbst gebauten Steinschleuder versuchte ich mit den Kügelchen Früchte, die an den Bäumen hingen, herunterzuschießen oder auf herumfliegende Vögel zu zielen. Darin war mein Cousin, der jüngste Sohn meiner Tante Yi Nget, besonders gut. Nicht selten kam er mit Vögeln nach Hause, die mariniert und am Feuer knusprig gegrillt wurden.
Ich sammelte Schnecken, deren Fleisch ich als Köder an einem Angelhaken aufspießte. Offensichtlich mochten die Fische das Schneckenfleisch, denn nicht selten hatte ich einen Fisch am Angelhaken. Ich versuchte Libellen zu fangen. Ich fand, dass sie einem Hubschrauber ähnelten, weil ihre Flügel so schnell vibrierten. Ich fing Kaulquappen und Goldfische, die ich in ein Glas tat, um ihnen beim Kämpfen zuzusehen. Im Vergleich zu den Kindern hier im Westen sind die Kinder dort unwissend. Es gibt keine Kindergärtner*innen, die ihnen die Natur oder das Leben erklären können. Auch die Mehrzahl der Mütter ist dazu nicht in der Lage, den Kindern solche Dinge zu erklären, da sie selbst kaum Bildung genossen haben. Manche Väter sind zwar zur Schule gegangen, jedoch waren sie mit dem Geldverdienen beschäftigt, sodass sie für die Bildung der Kinder keine Zeit hatten. So kam es, dass ich nicht wusste, was Kaulquappen sind. Ich hielt sie für Fische und wunderte mich, dass manche von ihnen hinten am Schwanz zwei Beine hatten.
Die Unternehmungen waren nicht ungefährlich gewesen. Neben Fischen, Fröschen und Schnecken lebten im Wasser auch Wasserschlangen, die sich oft über das Wasser schlängelten. Doch Gott sei Dank passierte bis auf manche schmerzvollen Erfahrungen, weil ich mit irgendwelchen Tieren oder Pflanzen in Berührung gekommen war, nichts.
Gegenüber unserem Haus war auf der anderen Straßenseite eine Ziegelei. Daneben war ein See mit einem großen Baum, der sich leicht über den See neigte, so als ob er etwas im Wasser betrachten würde. In dem See schwammen viele Enten. Vom Haus aus beobachtete ich manchmal, wie sie da schwammen und ab und an die Köpfe ins Wasser tauchten und ihre Hinterteile in die Höhe streckten. Damals wusste ich nicht, warum die Enten so etwas taten. Niemand konnte es mir erklären. Auch meine Mutter gab mir dafür keine Erklärung. Ich fand es nur lustig und versuchte es ihnen nachzumachen, jedes Mal, wenn wir in einem See badeten. Leider nur mit mäßigem Erfolg. Die Folgen waren Hustenattacken und das Schnappen nach Luft, weil ich dabei Wasser verschluckte.
Unser Haus stand unmittelbar am Teich in einer kleinen Absenkung. Zum Schutz vor Hochwasser und vor Schlangen oder Skorpionen, die besonders in der Regenzeit vor der Nässe ins Trockene flüchteten, stand es auf Stelzen. Dies war eine gängige Bauweise auf dem Land. Vermutlich waren die Stelzen etwa zwei Meter lang, denn man konnte im Sommer ganz bequem unter dem Haus stehen, ohne sich den Kopf zu stoßen. Es wurde fast komplett aus Holz gebaut, das sich nach all den Jahren schwarz verfärbte. Die Treppe, die Wände und auch der Boden waren aus Holz. Nur das Dach wurde mit Wellblech abgedeckt, was sehr laut war, wenn der Regen darauf prasselte und sehr heiß wurde, wenn die Sonne darauf schien. Fenster besaß das Haus keine, Tageslicht kam lediglich durch die Türöffnungen. Von der Treppe aus gelangte man auf die breite Veranda. In den heißen Sommernächten war das der Treffpunkt der Familie, da es nicht selten vorkam, dass meine Tante Yi Nget mit ihren Kindern herüberkam. Im Schneidersitz saßen wir dort stundenlang im Dunkeln, um eine kühle Brise zu erhaschen. Das einzige Licht war der Schein des Mondes und das Funkeln der Sterne. Licht aus einer Petroleumlampe gab es nur im Haus, da meine Mutter meinte, dass das Licht draußen viel zu viele Mücken anziehen würde. Die Erwachsenen redeten und diskutierten. Die Kinder saßen dabei und schliefen irgendwann auf dem Schoß der Mütter ein. In solchen Nächten konnte man besonders die Ruhe spüren. Die Luft roch frisch. Der Mond schien, die Sterne funkelten am sternenklaren Himmel. In den Teichen waren die Konzerte der Frösche zu hören und überall zirpten die Grillen um die Wette. In der Stille hörte man das Plätschern der Fische im Wasser. Ab und an summte eine Mücke oder man bekam einen Stich. Nur das störte nicht.
Der Zugang zum Inneren des Hauses führte über die Veranda. Es bestand nur aus zwei Räumen, einem großen und, in der rechten hinteren Ecke gelegen, einen um eine Stufe abgesenkten kleinen Raum. Hier war die Küche untergebracht. Der große Raum diente gleichzeitig als Aufenthalts- und Schlafraum. Wie das Haus zu der Zeit, als nur meine Eltern dort wohnten, ausgestattet war, kann ich nicht sagen. Aber für die Zeit danach war der große Raum weder mit Betten noch mit Stühlen ausgestattet. Sitzen taten wir auf dem Boden, schlafen taten wir unter einem Moskitonetz auf dem mit Strohmatten ausgelegten Boden. Die Härte der Bretter spürten wir nicht. An der linken Wand standen zwei dickbäuchige große Tongefäße, die mich damals von der Höhe her überragten. Auf dem Boden des Gefäßes, in dem das Trinkwasser aufbewahrt wurde, war eine weißgelb schimmernde Koralle, die nach Aussage meiner Mutter das Wasser kühl und klar halten sollte. Wie das Wasser hinkam, hatte ich nie mitbekommen. Es war immer voll. Vermutlich wurde es von einem Wasserverkäufer direkt mit Behältern ins Haus gebracht. In dem anderen Gefäß befand sich der Reisvorrat, der in Kambodscha, und wie in fast jedem südostasiatischen Land, als Hauptnahrungsmittel diente.
An der linken hinteren Wand befand sich eine Tür. Durch diese gelangten wir – nachdem wir ein paar Stufen hinabstiegen – in einen separaten Teil des Hauses. Hier befand sich das Badezimmer. Auch dieser Teil war aus Holz und auf Stelzen gebaut. Ein Dach besaß das Badezimmer nicht. Darin befand sich wieder ein dickbäuchiger großer Tonkrug, mit dem wir Regenwasser auffingen. Gebadet wurde nie zu Hause, sondern im Fluss oder im See. Zu Hause wurde nur geduscht, wenn man das duschen nennen konnte. Gewickelt in einem Badetuch oder im Sarong – nur ganz kleine Kinder duschen nackt – schöpft man das Wasser aus dem Tongefäß und gießt es sich über den Kopf. Dann seift man sich von Kopf bis Fuß ein und wiederholt den Vorgang mit dem Wasser, bis man wieder sauber ist. Danach trocknet man sich mit einem trockenen Tuch ab, Sachen anziehen und fertig.
Hinten, im hinteren Teil des Badezimmers, befand sich ein kleiner Schuppen. Das war die Toilette. Darin befand sich ein Plumpsklo. Um sein Geschäft zu machen, musste man auf zwei Balken hockend balancieren. Für Kinder – wahrscheinlich nicht nur für Kinder - war das überhaupt nicht angenehm. Es stank höllisch und ich hatte immer Angst, dass ich in den mit tausenden, abertausenden Maden besetzten Brei hineinfallen würde. Jedes Mal, wenn ich auf die Toilette musste, war meine Befürchtung immer, dass das Brett unter mir brechen oder ich es mit den Füßen verfehlen könnte und hinein plumpsen würde. Vielleicht ist das ja auch der Grund, warum diese Art von Toiletten so genannt werden. Es macht immer „plumps“, wenn etwas hineinfällt.
Unter dem Haus neben dem Badezimmer befand sich eine Stallung. Hier hatten meine Eltern vor dem Wegzug nach Pailin Schweine und Hühner gehalten. In der Sommerzeit liefen die Hühner unter dem Haus herum und suchten nach Futter. In der Regenzeit blieben sie im Stall, denn in dieser Zeit war das Grundstück unter dem Haus überflutet. Zu der Zeit verbanden sich die beiden Teiche und das Grundstück zu einem großen See. Auch der Weg von der Straße zum Haus war meistens überflutet, sodass wir durch das Wasser laufen mussten, um zur Treppe zu gelangen. In dieser Zeit sah ich öfters Wasserschlangen durch das Wasser schwimmen, und auch Fische und Frösche, die unter dem Haus herumschwammen. Während dieser Zeit legte ich mich manchmal auf dem Bauch auf die Bodenbretter und schaute durch die Spalten der Bretter, die nicht fugenlos verlegt wurden, den Tieren beim Schwimmen zu. Es war nicht schwer. Das Wasser war klar und vielleicht nur 30 cm tief. Die Tiere waren deutlich zu erkennen. Wie Kinder so sind, nur Unsinn im Kopf, versuchte auch ich, die Fische zu ärgern, sie zu erschrecken. Durch die Bretterspalten versuchte ich sie mit Spucke zu treffen, was selten gelang, denn es waren hauptsächlich kleine Fische, die aus etwa zwei Meter Entfernung schwer zu treffen waren. Außerdem waren sie ja im Wasser. Da die Spucke an der Wasseroberfläche abprallte, konnte ich sie daher nicht treffen. Manchmal ließ ich eine Angelschnur durch die Spalten gleiten und versuchte die Fische damit zu angeln. Manchmal biss auch ein Fisch an. Doch obwohl der Fisch klein war, waren dummerweise die Bretterspalten noch kleiner als der Fisch, sodass ich es nicht schaffte, den Fisch heraufzuholen. Also blieb mir nichts Anderes übrig, als durch das Wasser zu watscheln und den Fisch vom Haken zu befreien.
Meine Schwester war die Einzige, die in diesem Haus geboren wurde. Wie seine Eltern ihn erzogen, erzog auch mein Vater uns nach dem konfuzianischen Wertesystem, welches fünf Grundbeziehungen (hoch und niedrig, Eltern und Kind, Mann und Frau, jüngerer und älterer Bruder, jüngerer und älterer Freund) enthält. Prägend ist hier die Achtung vor anderen Menschen, insbesondere vor Älteren. Hierzu gehört, dass Menschen, die älter sind als man selbst, niemals mit dem Namen angeredet werden. Ist man sich nicht sicher, ob er oder sie älter ist als man selbst, dann macht man diese zur älteren Person. Im Gegensatz zu Europa geringschätzt man sein Gegenüber, wenn man ihn jünger macht. Deswegen ist die Anrede „alter Opa“ keine Beleidigung in Asien, sondern ein Ausdruck von Respekt, da das Erreichen eines hohen Alters etwas Besonderes darstellt. Das Ansprechen eines Älteren mit dem Namen gilt als respektlos und unhöflich, daher haben auch jüngere Geschwister ältere Geschwister mit "älterer Bruder" oder "ältere Schwester" anzureden. Doch im modernen Asien kommt es schon mal vor, dass die Geschwister sich beim Namen ansprechen. Für einen Asiaten ist jedoch undenkbar die Mutter oder den Vater - wie es in Deutschland unter der antiautoritären Erziehung manchmal vorkommt - mit dem Namen anzureden.
Respekt zeigt man auch, in dem man Ältere zuerst grüßt. Kinder grüßen zumeist in der Form, in dem sie sagen: Tante, Onkel, Oma, Opa, Mama usw. Wenn sie nach Hause kommen, sagen sie z. B. "Mama, ich bin zurück." Begegnet wird diese Begrüßung mit "Schon zurück?" Die Begrüßung der Erwachsenen untereinander unterscheidet sich von der der Kinder. Oftmals hört man die Erwachsenen fragen: "Wohin gehst du?" Oder "Hast du schon gegessen?" Auf diese Fragen wird keine Auskunft erwartet. Es ist nicht so, dass der Fragende tatsächlich wissen will, wohin du gehst oder ob du schon gegessen hast, vielmehr handelt es sich hierbei um rhetorische Fragen, die als Gruß dienen.
Der Respekt Eltern gegenüber spielt in der asiatischen Gesellschaft eine wichtige Rolle. Um den Respekt nicht zu verlieren, spielten Eltern früher grundsätzlich nicht mit ihren Kindern. Würden sie dies tun, so würden sie sich auf die gleiche Ebene wie ihre Kinder begeben. Hingegen spielten ältere Geschwister mit ihren jüngeren Geschwistern. Der ältere Bruder hat ferner die Jüngeren vor anderen Kindern und Gefahren zu beschützen. Die ältere Schwester ersetzt teilweise die Mutter, indem sie die jüngeren Geschwister füttert oder badet. Die älteren Geschwister haben somit viel Verantwortung zu tragen. Aus diesem Grunde bekommen sie von den Eltern viel Macht übertragen, damit sie ihre Pflichten erfüllen können.
In diesem konfuzianischen Wertesystem mussten Kinder lernen gehorsam zu sein. Weil sie klein und daher unwissend sind, mussten sie lernen, sich nicht einzumischen, wenn Erwachsene sich unterhielten. Wenn Gäste im Haus waren, zogen sich die Kinder zurück.
Bei den westlichen Erziehungsgrundprinzipien wird Lob eingesetzt, um das Kind zu ermutigen, Leistung zu erbringen. Lob bekommen die Kinder in Asien, zumindest bei den noch etwas traditionell behafteten Eltern, nicht zu hören, denn das würde, ihrer Ansicht nach, den Charakter verderben und die Kinder ungehorsam machen. Stattdessen wird das Kind kritisiert und mit anderen verglichen, damit es sich seiner Situation bewusst wird. Dadurch soll sich das Kind ermutigt fühlen, den anderen „besseren“ Kindern nachzueifern. Liebe durften Eltern auch nicht zeigen. Wenn ein Kind sich geliebt fühlte, würde es die Zuneigung der Eltern ausnutzen und sich dementsprechend ungehorsam und unartig benehmen. Auch entschuldigten sich Eltern oder Erwachsene nie bei Kindern, auch wenn der Fehler auf deren Seite lag. Ob diese Erziehungsmethode etwas mit Konfuzius zu tun hat, mag ich zu bezweifeln. Doch in meiner Kindheit ärgerte ich mich maßlos darüber, dass ich ausgeschimpft wurde, obwohl mich keine Schuld traf. Um die andere Familie, deren Kind die Schuld trug, indirekt zu treffen, wurde ich ausgeschimpft. Das konnte ich nicht verstehen und empfand es als sehr ungerecht, deswegen protestierte ich, obwohl es nichts nützte.
Zusammen waren wir zu acht. Meine älteste Schwester und drei ältere Brüder starben bereits im Baby- oder Kleinkindalter. In einem Entwicklungsland wie Kambodscha war dies keine Überraschung. Es gab kaum eine Familie, die kein Kind im Kindesalter verlor. Obwohl es zu damaliger Zeit eine medizinische Versorgung gab, war die gute Schulmedizin, die in Kambodscha westliche Medizin genannt wurde, nur für die Reichen zugänglich. Arme Menschen konnten sich eine solche Medizin nicht leisten. Zur Behandlung von Krankheiten beschränkte man sich daher auf das Kratzen mit einer Münze auf dem Rücken und auf der Brust sowie auf die Kräutermedizin, die so bitter schmeckte, dass meine Eltern sie, zumindest mir, zwangseinflößen mussten, indem sie mich festhielten, mir die Nase zudrückten und mir die stundenlang gebraute Medizin in den nun geöffneten Mund gossen. Ähnlich wie das Kratzen mit einer Münze ist das Schröpfen. Dabei wurden rundliche kleine Gläser mit Feuer von innen erhitzt und rechts sowie links neben der Wirbelsäule angeordnet. Durch das Erhitzen wurde ein Unterdruck im Glas erzeugt, sodass sich diese am Rücken festsaugen konnten.
Neben dem medizinischen Aspekt waren auch die hygienischen Verhältnisse für die hohe Kindersterblichkeitsrate verantwortlich. Doch viele sahen die hohe Kindersterblichkeit nicht in den unzureichenden hygienischen Verhältnissen begründet. Vielmehr wurden Geister oder Götter für die Erkrankung und den Tod verantwortlich gemacht. Wenn eine Familie ein Kind verlor, glaubte diese, sie hätten die Geister bzw. Götter erzürnt, weil sie nicht genügend an sie gedacht hätten. Als Strafe für die Vernachlässigung würde die Familie mit Krankheit oder Tod eines Familienmitgliedes bestraft. Diese Strafe ließe sich - wenn überhaupt – nur umgehen, wenn man mit Hilfe eines Wahrsagers rechtzeitig herausfand, welchen Gott man erzürnt hatte und ihn mit Opfergaben um Entschuldigung bat.
Ein anderer Weg, um eine Bestrafung durch die Götter zu umgehen, war die Götter zu hintergehen. Dies geschah wie folgt: Vor den Augen der Götter werden die Kinder nach der Geburt an eine andere Familie weggegeben. Diese wiederum gab das Kind der eigenen Familie, die das Kind geboren hatte, zurück und bat diese das Kind für sich aufzuziehen. Das Kind, das jetzt von dessen leiblicher Familie aufgezogen wird, ist vor den Augen der Götter kein eigenes Kind, sondern nur ein Pflegekind. Es nennt daher die eigentlichen leiblichen Eltern nicht mehr Mama und Papa, sondern Tante und Onkel. Dadurch wird eine Distanz zwischen dem Kind und der leiblichen Familie erzeugt. Wenn die Götter eine Strafe gegen die Familie richten würden, dann könne diese das Kind nicht treffen. Offiziell ist es ja kein Familienmitglied. Auch meine Eltern wandten diesen Trick an, nachdem sie vier Kinder im Baby- bzw. Kindesalter verloren hatten. Das ist auch der Grund, warum meine Mutter für mich die „Tante“ und mein Vater der „Onkel“ war.
Eigentlich haben Götter und Geister, die nach dem verbreiteten Glauben meist Wälder und große hohe Bäume bewohnen, die Funktion, die Menschen zu beschützen. Doch auch Götter sind nur Menschen. Sie sind egoistisch und denken zuerst nur an sich selbst. Mit ihnen ist daher leider nicht zu scherzen. Jeder Schritt im Wald ist mit Bedacht zu setzen. Jedes Wort, das ausgesprochen wird, ist genau zu wählen. Ein falscher Tritt oder ein falsches Wort könnte einem das Leben kosten. Jede Handlung ist genau zu bedenken. So kommt es nicht selten vor, dass beim Straßenbau ein großer Baum im Weg steht. Da die Menschen aber glauben, dass solche Bäume von Göttern oder Geistern bewohnt sind, würde das Fällen des Baumes Selbstmord bedeuten. Deshalb werden die Bäume in solchen Situationen nicht gefällt, sondern die Straße wird um den Baum herum gebaut.
Auch im alltäglichen Leben ist man immer bedacht, die richtigen Worte zu wählen, um nicht die Götter zu erzürnen, um kein Unglück über die Familie zu bringen. Auch in meiner Familie gab es eine kambodschanische Gottheit, die uns beschützen sollte. Diese liebte Bananen. Deswegen durfte in meiner Familie das Wort "Banane" nicht erwähnt werden. Würden wir das Wort "Banane" aussprechen, ohne ihr die Banane anzubieten, würde sie uns bestrafen. Daher vermieden wir das Wort "Banane" auf Kambodschanisch auszusprechen. Sollten wir Kinder doch mal Banane essen, so sagte meine Mutter dieses Wort immer auf Chinesisch, damit die Göttin es nicht verstand.
Neben der Vermeidung von Wörtern, um sich vor dem Zorn der Götter zu schützen, ist sowohl im chinesischen als auch im kambodschanischen Denken der Glaube verankert, dass manche Wörter nicht ausgesprochen werden dürfen, weil sie Unglück bringen würden. Ein solches Wort ist das Wort "Tod". Man glaubt, dass wenn jemand aus einer Familie vom Tod spricht, dieser auch bei einem Familienmitglied dieser Familie eintritt. Deshalb ist dieses Wort ein Tabuwort. Unglück soll auch die Berührung des Kopfes bringen. Der Kopf, der den Geist eines Menschen in sich birgt, ist heilig und darf nicht berührt werden. Nur ältere Menschen dürfen den Kopf von Kindern berühren. Füße, Schuhe, Röcke und Hosen dürfen weder den Kopf noch das Kopfkissen, die Kopfbedeckung oder den Kopfteil eines Bettes berühren. Beim Schlafen oder Sitzen muss immer darauf geachtet werden, dass die Füße nicht in Richtung des Kopfes eines Anderen zeigen. Auch das Gehen unter einer Wäscheleine bringe Unglück, was ich in meiner Kindheit öfter zu spüren bekam. Denn jedes Mal, wenn meine Mutter sah, wie ich beim Spielen unter einer Wäscheleine hindurchging, bekam ich Schimpfe und einen schmerzenden Hintern.
Mit seinem mobilen Geschäft verdiente mein Vater nicht viel Geld. Doch trotz der Versorgung der eigenen Familie in Kambodscha und der Familie in China, konnte er wegen seiner Sparsamkeit ein bisschen Geld zurücklegen und Schmuck kaufen. Dafür hatte er sehr hart gearbeitet. So war es auch nicht verwunderlich, dass es einmal zu einer der schlimmsten Ehekrisen zwischen meinen Eltern kam, als mein Vater merkte, dass die ganzen Ersparnisse verschwunden waren. Denn nach der Rückkehr meines Opas mütterlicherseits nach China heiratete meine Oma erneut. In der zweiten Ehe wurde mein jüngster Onkel Gu Chiang, der bereits in jungen Jahren verstarb und seine damals 28-jährige Frau sowie zwei kleine Kinder hinterließ, geboren. Im Vergleich zu meinem Opa war der zweite Mann meiner Oma kein guter Mensch. Er war Alkoholiker und spielte gern. Aufgrund seiner Spielsucht trieb er die Familie weiter in die Armut. Reisfelder und Grundbesitz, die einzigen noch verbliebenen Besitztümer, wurden verkauft, um seine Spielsucht zu finanzieren. Durch sein Verhalten geriet die Familie tief in Schulden. Immer wieder verlangte er Geld und wenn er es nicht bekam, schlug er meine Oma. Um die Schulden zu begleichen und um seine Trinksucht zu finanzieren, wandte sich meine Oma immer wieder an meine Mutter. Als gute Tochter gab sie ihr immer wieder Geld. Als das ersparte Geld meiner Familie nicht mehr ausreichte, gab sie ihrer Mutter den Familienschmuck. Nachdem nichts mehr zu holen war, verschwand er spurlos. Mittellos und ohne Grund und Boden wusste meine Oma nicht weiter oder wohin sie gehen sollte. Svay Jiet war ihre Heimat. Dort war sie geboren und aufgewachsen. Nur ihre Cousine Yeay Yan lebte dort. Den Grund, warum sie nicht zu ihrer ältesten Tochter zog, wie es die kambodschanische Tradition verlangte, werde ich nie erfahren. So kam es, dass mein Vater seine Schwiegermutter bei sich aufnahm. Auch der noch nicht verheiratete Schwager und Halbbruder lebte fortan bei meinen Eltern. Mehrere Jahre lebte meine Oma bei ihnen, zunächst im von meinem Vater gemieteten Strohhaus, dann in dem von ihm gebauten Haus. Das Zusammenleben war nicht harmonisch, denn meine Oma konnte sich nicht damit abfinden, dass sie nicht mehr in ihrem Haus wohnte und deshalb nicht mehr die Macht einer Hausherrin besaß. Anstatt sich auf ihre beratende Funktion zu beschränken, wollte sie bestimmen. Doch mein Vater ertrug die Situation ohne Murren. Vom Verbrauch der Ersparnisse und der Schmuckstücke wusste er zunächst nichts. Als Ernährer der Familie kümmerte er sich Tag für Tag um das Geldverdienen. Das verdiente Geld lieferte er bei meiner Mutter ab. Ein Teil des Geldes legte sie - wie in Kambodscha üblich – in Schmuck an. Dieser diente nicht nur als Wertanlage, sondern auch als Erb- und Hochzeitsgeschenksubstanz der Kinder. Sie verwaltete das Geld und kümmerte sich um den Haushalt sowie die Kinderversorgung. Erst ein Jahr, nachdem das von meinem Vater gebaute Haus mit den Teichen bezogen wurde, traute sich meine Mutter ihm davon zu erzählen. Doch es war zu spät. Alles war verbraucht, das ersparte Geld, der Schmuck. Dies war noch nicht genug, denn der Schwager ließ sich bedienen und bemühte sich nicht um eine Arbeit und meine Oma nahm ihn auch noch in Schutz. So kam es, dass mein Vater sich mit meiner Mutter und ihrer Mutter zerstritt. Mit der Oma sprach er deswegen lange Zeit kein Wort. Erst Jahre später, kurz vor der Heirat meines Bruders Limzang, vertrugen sie sich wieder. Über meine Mutter war er so verärgert, dass er alle Heiratspapiere verbrannte und sich zunächst scheiden lassen wollte. Das war auch der Anlass, warum mein Vater nach Pailin ging und meine Mutter mit uns Kindern in Battambang zurückließ.