Читать книгу Bis zum Ende der Ewigkeit - Yennifer Woods - Страница 4

Kapitel 2

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Das Klingeln ihres Handys riss Christine aus dem Schlaf. Sie tastete in der Dunkelheit danach und blinzelte noch etwas verschlafen auf das Display. Die Rufnummer war unterdrückt. Genervt meldete sie sich und lauschte gespannt. Es war Charlie. Sie war so aufgeregt, dass Christine kaum verstand, was los war. Das einzige was Christine verstand war, dass sie in einer halben Stunde eine Teambesprechung hatten, bei der sich der neue Captain vorstellen wollte. Noch bevor Christine in irgendeiner Weise antworten konnte ertönte ein Piepen in der Leitung. Charlie hatte schon wieder aufgelegt. Na toll, dachte Chris mürrisch. Genau so etwas hatte ihr gerade noch gefehlt. Es gab nichts Schlimmeres als von einem Telefon geweckt zu werden, fand sie und begab sich verschlafen ins Badezimmer.

Eigentlich fehlte ihr die Zeit um auf diese blöde Teambesprechung zu gehen. Die Spuren, die sie zurzeit verfolgte, waren sehr heiß. Die kleinste Ablenkung würde sie wieder um Tage, wenn nicht sogar um Wochen in ihrer Recherche zurückwerfen. Hastig warf sie einen Blick auf ihre silberne Armbanduhr und strich sich eine honigblonde Haarsträhne aus dem Gesicht, die hartnäckig wie ein Vorhang vor ihren Augen hing. Sie duschte, zog sich in Windeseile an, schnappte sich ihre blaue Regenjacke von der Garderobe und den Autoschlüssel und machte sich mit tropfnassen Haaren auf den Weg zum Hauptquartier.

Charlie stand mit hochrotem Kopf hinter den Sicherheitsschranken im Foyer der Zentrale und winkte ihr aufgeregt zu, während sie wie ein Gummiball von einem Bein auf das andere hüpfte. Sie schien vor lauter Aufregung fast zu platzen. Nachdem Christine ihren Chip sorgfältig in das Lesegerät eingeführt hatte, öffnete sich die Schranke und sie konnte passieren. Charlie eilte sofort an ihre Seite und hakte sich bei ihr ein.

»Die Buschtrommeln erzählen, dass der Neue absolut heiß sein soll. Und das Wichtigste ist, er ist solo!« Charlie fing sofort an zu plappern und ihre Stimme war vor lauter Aufregung und Begeisterung total heiser. Sie bemerkte, wie Christine die Nase rümpfte und ein abweisendes Gesicht aufsetzte.

»Du bist eine absolute Langweilerin Christine Stone, weißt du das? Eigentlich solltest du ins Kloster gehen. Du bist jetzt seit vier Jahren allein. Seit vier Jahren, Chris! Dennis ist tot. Und nicht du. Du solltest langsam wieder anfangen zu leben. Ich glaube, er hätte nicht gewollt, dass du dich so gehen lässt und dich in eine Einsiedlerin verwandelst…«, fuhr sie hastig fort und warf Chris einen verständnislosen Seitenblick zu, während sie sie durch die langen lichtdurchfluteten Gänge zog.

Charlie hatte Recht. Tief in ihrem Inneren war ihr klar, dass Charlie absolut Recht hatte. In den letzten vier Jahren seit Dennis Tod hatte sie sich komplett gehen lassen. Sie sah eher aus wie fünfundvierzig statt wie dreiunddreißig. Ihr äußeres Erscheinungsbild ließ sehr zu wünschen übrig. Aber es war ihr egal. Alles war einfach scheißegal. Früher hatte sie immer sehr viel Wert auf ein gepflegtes Äußeres gelegt. Stunden um Stunden hatte sie im Badezimmer vor dem Spiegel verbracht. Doch mittlerweile spielte nichts mehr eine Rolle. Ob es nun die Haare waren, die ihr strähnig über die Schultern hingen oder ein Pickel, der Mal wieder zum ungünstigsten Zeitpunkt zum Vorschein kam, es war ihr egal. Auch der letzte Friseurbesuch lag furchtbar lange zurück. Von ihren Outfits ganz zu schweigen. Früher war alles immer ganz genau aufeinander abgestimmt. Heute waren Klamotten für sie einfach nur ein notwendiges Übel. Während sie früher meistens in Pumps herumstolziert war, fand man jetzt in ihrem Schuhschrank fast nur noch Turnschuhe. Auch die heißgeliebten Röcke und Kleider waren Jeans und Sporthosen gewichen. Ganz zu schweigen von den fünfzehn Kilo Kummerspeck, die sie sich aus lauter Schmerz und Verzweiflung über den Verlust von Dennis angefressen hatte.

»Charlie, bitte! Du weißt ganz genau, ich bin an Männern nicht interessiert. Ich hatte den Richtigen gefunden. Den Einen, mit dem ich mein Leben verbringen wollte. Das zwischen Dennis und mir war Einzigartig. So etwas werde ich bestimmt nicht nochmal erleben. Und ich will es auch nicht. Diesen unerträglichen Schmerz des Verlustes möchte ich nie wieder durchleben. Es hat mich fast umgebracht. Und ich werde niemals ganz darüber hinwegkommen…«. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Ihre Stimme zitterte. Charlie bemerkte es und sah sie mitleidig an.

»Chris, es tut mir Leid. Ich wollte dir nicht weh tun«. Sie vermied es, Chris dabei anzusehen. Es schien ihr sichtlich unangenehm zu sein.

Mittlerweile hatten die beiden den Sitzungsraum erreicht. Natürlich waren sie wie immer die Letzten. Und wie immer mussten sie sich ganz nach hinten setzen, weil die besten Plätze vorne längst vergeben waren. Na prima! Ausgerechnet heute hätten sie doch lieber etwas weiter vorne gesessen, um den neuen Captain etwas genauer zu begutachten.

»Von hier hinten sieht man doch kaum etwas«, maulte Charlie und verzog das Gesicht, während sie sich ihre Haare glatt strich und einen prüfenden Blick in den kleinen Spiegel ihrer Make-Up Dose warf. Gekonnt zog sie sich mit ihrem beerenfarbenden Lippenstift die Lippen nach und sah sich zufrieden das Ergebnis an.

»Wie findest du meinen neuen Lippenstift, Chris?« Sie ahmte einen Kussmund nach.

»Ja, sehr schön, wirklich. Aber findest du das alles nicht ein wenig übertrieben«. Chris sah sie tadelnd an. Charlie sah wirklich aus, so als wäre sie einem brandaktuellen Modekatalog entsprungen. Man hatte eher den Eindruck, sie wolle auf die Piste, statt zu einer Besprechung. Sie trug einen schwarzen Minirock und ein brombeerfarbendes hautenges Top, das tiefe Einblicke in ihr Dekolleté gewährte. Die Krönung waren ihre schwarzen Pumps mit zwölf Zentimeter hohen Absätzen. Ihre wallende, glänzend schwarze Lockenmähne umrahmte ihr hübsches herzförmiges Gesicht. So war Charlie. Stets top gestylt, denn ihr Motto lautete: man weiß ja nie so genau, wem man begegnen könnte.

Das gesamte Team schien neugierig auf den neuen Captain zu sein. Tony, der vor ihnen saß, drehte sich zu den beiden um.

»Hey, wisst ihr beide irgend etwas über den Neuen«, fragte er neugierig und musterte sie gespannt.

Chris zuckte nur mit den Schultern und auch Charlie schüttelte den Kopf.

»Ich habe nur gehört, dass er unheimlich gut aussehen soll«, machte sie sich trotzdem wichtig und lachte ein wenig hysterisch. Chris verdrehte genervt die Augen. Diese Charlie dachte aber auch wirklich nur an das EINE. Tony starrte sie grinsend an.

»So, so. Ich habe nur gehört, dass er über ein Jahr in koreanischer Gefangenschaft war. Er soll ein ziemlich harter Kerl sein«, erzählte er und große Achtung schwankte in seiner Stimme. Gerade als Chris ihn fragen wollte, woher er diese Informationen hatte, öffnete sich die Tür des Besprechungsraumes. Ein leises Raunen ging durch die Menge und alle Köpfe drehten sich augenblicklich in Richtung Tür. Neugierig sah Chris den Mann an, der den Raum betrat. Leider konnte sie von hier hinten jedoch nicht besonders viel erkennen. Innerhalb von wenigen Sekunden legte sich das Raunen und es wurde totenstill im Saal. Der neue Captain ging langsam zu dem Schreibtisch am Ende des Raumes und legte einige Akten darauf ab. Chris starrte auf den schlanken, schwarzhaarigen Mann, von dem sie bis jetzt nicht viel mehr als seine Rückseite und seinen Hinterkopf sehen konnte. Wie alt mochte er wohl sein, ging es ihr überflüssigerweise durch den Kopf. Ihrer Meinung nach schien er ein wenig zu jung für diesen Job zu sein. Plötzlich stutzte sie. Ein ganz und gar merkwürdiges, seltsames Gefühl überkam sie. Es war wie eine Art böse Vorahnung, die ihr kalt den Rücken hinunterlief. Irgendetwas an der Art und Weise wie er sich bewegte, kam ihr unheimlich vertraut vor. Wie ein schwarzer Panther, der zum Sprung ansetzte. Leider hatte er ihnen immer noch den Rücken zugekehrt. Er öffnete in aller Seelenruhe seinen Laptop und sortierte noch einige Unterlagen. Die Stille, die im Raum herrschte, war beinahe unheimlich. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so still war es. Chris stutzte immer noch, während sie diesen Mann weiter mit gerunzelter Stirn beobachtete. Da war etwas. Irgendetwas, was ihr wirklich sehr bekannt vorkam. Sie wusste nur noch nicht, was genau es war. Während sie weiter grübelte, drehte er sich endlich um. Und es geschah… Wie vom Donner gerührt erstarrte Chris augenblicklich zu einer weißen Marmorstatue, die den Göttinnen der Antike alle Ehre gemacht hätte. Ihr Gesicht war kreidebleich und unbeweglich, wie aus Stein gemeißelt. Ihr Herz hörte für einen Moment auf zu schlagen. Ihr Magen krampfte sich zusammen und sie dachte, sie würde jeden Moment in Ohnmacht fallen oder sich übergeben. Großer Gott, das konnte einfach nicht wahr sein, fuhr es ihr durch den Kopf, während sie auf dem Stuhl zusammensank und versuchte, sich so klein wie möglich zu machen um unerkannt zu bleiben. Am allerliebsten hätte sie sich auf der Stelle in Luft aufgelöst. Er stellte sich vor und ließ seinen Blick prüfend durch den Saal gleiten.

»Guten Tag meine Damen und Herren. Mein Name ist Captain Alexander Ryan und ich bin ihr neuer Teamleiter. Einige von ihnen kennen mich bereits und die anderen werden in Kürze die Gelegenheit bekommen, mich kennen zu lernen«. Er hielt einen kleinen Moment inne, bevor er fortfuhr.

»Ich setze von ihnen Hingabe für ihren Job, Mut, Leidenschaft, Einsatzbereitschaft, Belastbarkeit, Teamgeist, Tapferkeit und Ehrlichkeit voraus. Und nun bin ich gerne bereit, ihnen ihre Fragen zu beantworten«.

Lässig lehnte er sich an den Schreibtisch und ließ seinen Blick neugierig und wartend durch die Menge schweifen.

>Wenn ich doch nur im Erdboden versinken könnte<, fuhr es Chris durch den Kopf. Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her und überlegte fieberhaft, wie sie, ohne seine Aufmerksamkeit zu erregen, diesen Raum am schnellsten verlassen könnte. Mit zitternden Händen zog sie sich die Haare so gut es ging ins Gesicht. Sie sandte Stoßgebete zum Himmel und hoffte inständig, er würde sie nicht entdecken. Aber natürlich hatte sie die Rechnung wie immer ohne Charlie gemacht. Die stand nämlich auf und winkte Captain Ryan zu, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

»Entschuldigen sie bitte Captain Ryan«, rief sie zuckersüß.

»Ja, Miss…?« Erwartungsvoll und neugierig sah er sie an.

»Guten Tag, Sir. Mein Name ist Agent Charlene Thompson und ich bin hier im Team die Waffenexpertin. Ich wollte sie fragen, ob sie schon einmal Teamleiter waren? Bitte entschuldigen sie meine Neugier, aber sie sehen noch so unheimlich jung aus…«. Charlie sah ihn dabei mit ihrem Schmollmund und einem koketten Augenaufschlag neugierig an. Alex beobachtete sie mit hochgezogenen Brauen und einem amüsierten Lächeln, was zwei Reihen strahlend weißer Zähne und ein unwiderstehliches Grübchen an seinem Kinn entblößte. Langsam kam er auf Charlie zu. Sehr zu ihrer Freude. Ihre dunkelbraunen Augen blitzen begierig auf und sie ließ ihn nicht mehr aus dem Blick. Er kam immer näher. Geschmeidig wie ein Raubtier, ein schwarzer Panther, der gleich zum Sprung ansetzten würde. Noch ein paar Schritte…

»Miss Thompson, ich war zwar noch nie Teamleiter, doch ich denke, dass ich dieser Aufgabe…«, er hielt mitten im Satz inne und stutzte. Er hatte Chris entdeckt. Sie spürte, wie sein Blick auf ihr ruhte, noch bevor sie aufsah. Verdutzt und irritiert starrte er sie an. Für einen Moment war es wieder mucksmäuschenstill im Saal. Die anderen Anwesenden schienen die Spannungen, die sich zwischen Alex und Chris aufbauten, wie ein plötzlich aufbrausender, tosender Sturm, förmlich zu spüren.

»Agent Stone, gehören sie zu diesem Team?« Seine Stimme klang sehr überrascht, während er Chris ungläubig musterte und gleichzeitig versuchte, seine Fassung zu bewahren, was ihm jedoch nicht besonders gut gelang. Er ballte seine Hände zu Fäusten. Fast körperlich konnte Chris die Aura der Wut spüren, die ihn umgab und ihn zu verbrennen schien. Beinahe unmerklich nickte Chris, während sie weiterhin wie unter Schock auf den Boden starrte.

»Stehen sie gefälligst auf, wenn ich mit ihnen rede, Agent Stone«, fuhr er sie ärgerlich an. Sie zuckte fast unmerklich zusammen. Alle beobachteten die beiden neugierig. Langsam, mit butterweichen Knien stand Chris auf. Bis jetzt hatte sie es noch nicht gewagt, ihn anzusehen. Sie konnte es einfach nicht ertragen, in seine himmelblauen, anklagenden Augen schauen zu müssen.

»Sehen sie mich bitte an, wenn ich mit ihnen rede, Agent Stone«. Er konnte das Beben in seiner Stimme nicht länger verbergen. Es war, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Wie betäubt drehte Chris sich zu ihm, hob langsam den Kopf, versuchte die Tränen, die sich in ihre Augen drängten mit aller Macht zu unterdrücken. Mit zitternden Lidern hob sie den Blick und sah ihn an. Und da waren sie. Diese durchdringenden himmelblauen Augen, die sie komplett in ihren Bann zogen. Die sie Tag für Tag, Nacht für Nacht, Woche für Woche, Monat für Monat und Jahr für Jahr in ihren Träumen verfolgten. Die sie vorwurfsvoll und gleichzeitig schmerzerfüllt und fassungslos anstarrten, sie beobachteten. Die sich in ihre Seele gebrannt hatten. Die sie fast um den Verstand brachten… Nun schaute Chris nach so unendlich langer Zeit in genau diese Augen. Doch was sie dort sah, war ihr vollkommen fremd und ließ ihr kalte Schauder über den Rücken laufen. Es war nicht das, was sie erwartet hatte zu sehen. Diese wundervollen blauen Augen sahen sie jetzt voller Schmerz und Wut an. Nicht das geringste Anzeichen von Freude oder gar Liebe. Nichts. Rein gar nichts. Es spiegelte sich einfach nur unendliche Wut, Leid und Qual in diesen wunderschönen blauen Augen. Und Leere. Eine tiefe, grenzenlose Leere. Früher hatte sie sich in seinen Augen sehen können. Doch jetzt war alles unwiederbringlich gelöscht. Nicht einmal die kleinste Spur von Wiedersehensfreude. Nichts, nichts außer blankem, rohem Hass.

»Ja Sir, ich gehöre zum Team«. Chris antwortete leise und mit brüchiger Stimme. Ihr Mund war staubtrocken, so als wäre sie tagelang durch die Wüste gewandert. Die Blicke der anderen lagen immer noch neugierig auf ihnen.

»Oh, Chris, ihr kennt euch? Das ist ja wunderbar. Wir müssen heute Abend unbedingt alle zusammen essen gehen, um uns besser kennen zu lernen«. Charlie setzte ihr nettestes Lächeln auf und sah Alex erwartungsvoll an. Sie schien nicht wirklich bemerkt zu haben, dass die Stimmung zwischen Alex und Chris ziemlich angespannt war. Das war eigentlich noch untertrieben; es herrschte eine sibirische Eiseskälte zwischen ihnen. Alex warf Charlie einen irritierten Seitenblick zu und runzelte kurz die Stirn. Dann schien er sich endlich wieder gefangen zu haben.

»Agent Thompson, sie werden feststellen, dass ich ein sehr fähiger Teamleiter bin, trotz meines Alters«. Er bemühte sich, freundlich zu klingen und zwinkerte Charlie zu.

»Aber natürlich, da bin ich fest von überzeugt«, entgegnete sie ihm mit einem entwaffnenden Lächeln. Sie schien mit ihm zu flirten. Er schien jedoch nicht weiter auf ihre Flirtversuche einzugehen. Nachdem er Chris noch einmal einen bitterbösen Blick zugeworfen hatte, drehte er sich um und ging langsam zurück an seinen Schreibtisch.

»Sonst noch irgendwelche Fragen, meine Damen und Herren?« wandte er sich noch mal entschlossen an das gesamte Team. »Sir, waren sie wirklich in koreanischer Gefangenschaft? Wie konnten sie fliehen?« fragte Mike Lewis.

Alex schienen die Fragen zu seiner Gefangenschaft unangenehm zu sein. Einen Moment lang schien er zu überlegen, ob er auf diese Frage antworten sollte. Ein Schatten huschte über sein Gesicht.

»Wie ist ihr Name, Agent?« Alex sah Mike fragend an. »Agent Mike Lewis, Sir«.

»Also gut, Agent Lewis. Ja, ich war in koreanischer Gefangenschaft. Jedoch konnte ich nicht fliehen, sondern wurde von einem Rettungsteam befreit, nachdem es mir gelungen war, ein verschlüsseltes Notsignal zu senden«, erzählte Alex, während er gespannt die Reaktionen des gesamten Teams beobachtete. Chris traute sich nicht, ihn noch einmal anzusehen. Von seiner Gefangenschaft wusste sie nichts. Seit diesem schicksalhaften Abend, an dem sie ihre Entscheidung getroffen und sich gegen ihn entschieden hatte, waren sie sich nicht mehr begegnet und sie hatte auch nie wieder etwas von ihm gehört. Es war, als wäre er die ganze Zeit vom Erdboden verschwunden. Er war ja nicht einmal auf Dennis Beerdigung erschienen, obwohl Dennis sein bester und ältester Freund gewesen war. Christines Gedanken schweiften in die Ferne, zurück zu jenem schicksalhaften Abend und durchlebten noch einmal den unvergessenen Schmerz, den ihre Entscheidung hervorgerufen hatte. Sie war so in Gedanken, dass sie die übrigen Fragen, die Alex gestellt wurden, überhaupt nicht mehr mitbekam. Erst als sie ihren Namen hörte, zuckte sie erschrocken zusammen.

»Agent Stone, sie melden sich bitte in einer halben Stunde bei mir im Büro, haben sie verstanden«. Alex Stimme war laut und durchdringend. Sein Tonfall verhieß nichts Gutes. Er schien immer noch sehr aufgebracht zu sein, wenn er mit ihr sprach. Abwesend nickte sie. Schließlich erklärte er die Besprechung für beendet, schnappte sich seinen Laptop und rauschte ohne ein weiteres Wort aus dem Sitzungsraum.

Charlie kramte ihre Zigaretten hervor und zündete sich eine an.

»Ich hätte es keine fünf Minuten mehr ohne Kippe ausgehalten«, sagte sie und zog nervös an ihrer Zigarette. Christines Blick fiel auf die große Wanduhr. Auf keinen Fall wollte sie zu spät bei Alex im Büro auftauchen. Das würde ihr bestimmt den nächsten Rüffel einbringen. Aufgeregt trat sie von einem Fuß auf den anderen. Charlie schien ihre Nervosität nicht zu bemerken.

»Du Chris, dieser Alex ist ja wirklich ein süßer Typ. Ein richtiges Sahneschnittchen. Hast du diese strahlend blauen Augen gesehen? Einfach nur hammermäßig…« schwärmte sie und zog mit einem Seufzer wieder schmachtend an ihrer Zigarette. Chris achtete überhaupt nicht auf das, was Charlie ihr erzählte. Ihr war vor lauter Aufregung ganz schlecht. Wieso sollte sie zu Alex ins Büro? Was hatte er vor? Hatte sie irgendwas verbrochen? Die Zeiger der Uhr schienen sich im Zeitlupentempo zu bewegen.

»Ach, Chris, warum sollst du überhaupt in sein Büro kommen? Habe ich irgendetwas verpasst?« Charlie riss Chris aus ihren Gedanken. Charlie hatte ausgesprochen, über was Chris schon die ganze Zeit grübelte. Konnte es etwas mit ihrer Entscheidung zu tun haben?

»Hm, ich habe keine Ahnung was los ist«. Chris gab sich Mühe überzeugend zu erscheinen. Den Umstand, dass Alex und sie sich von früher kannten, verschwieg sie Charlie lieber. Charlie zündete sich gierig die nächste Zigarette an.

»Nun sag doch schon, Chris, dieser Alex ist doch wirklich ein Geschenk des Himmels, oder?« fing sie schon wieder an und blies Chris den Qualm direkt ins Gesicht. Verärgert verdrehte Chris die Augen und hustete.

»Charlie, wie oft soll ich es denn noch sagen? Er ist überhaupt nicht mein Typ und ich bin nicht auch nicht an ihm interessiert«. Mit einem Seufzer zeigte Chris auf ihre Uhr.

»Entschuldige, aber ich muss jetzt gehen. Bin ja mal gespannt, was er von mir will«, fügte sie noch hinzu und wandte sich dann ab, um sein Büro aufzusuchen.

»Sei nett zu ihm, ich würde liebend gern mit ihm essen gehen«, rief Charlie ihr noch nach.

Nach zehn Minuten hatte Chris sein Büro gefunden. Es stand noch kein Namenschild an der Tür, was die Sache etwas schwierig gemacht hatte. Nachdem sie einige Mitarbeiter gefragt hatte, konnte man ihr schließlich weiterhelfen. Glückerweise, sonst wäre sie auf jeden Fall zu spät gekommen. Zaghaft klopfte sie an die Tür, nachdem sie vorher noch mal einen prüfenden Blick auf die silberne Armbanduhr geworfen hatte. Pünktlich war sie, daran gab es nichts auszusetzten.

»Ja bitte?« Seine Stimme ließ das Blut in ihren Adern augenblicklich gefrieren. Mit zitternden Fingern tastete sie nach der Klinke und öffnete langsam die Tür. An einem rustikalen Schreibtisch in der Mitte des Raumes saßen Alex und Commander Meyer und starrten Chris an. Ihre Knie schienen aus Gummi zu sein und wollten ihr einfach nicht gehorchen.

»Kommen sie bitte herein und setzten sie sich, Agent Stone«, meldete sich nun Commander Meyer zu Wort und deutete auf einen Stuhl in der Mitte des Raumes, direkt gegenüber von dem Schreibtisch, an dem beide saßen. Langsam steuerte Chris den Stuhl an und nahm Platz. Alex sah sie nicht an, sondern hämmerte auf der Tastatur seines Laptops herum. Unruhig rutschte sie auf dem Stuhl hin und her.

»Agent Stone, ich will sie nicht länger auf die Folter spannen. Captain Ryan hat mich gebeten, sie in den Innendienst zu versetzten. Er befürchtet, dass ihre frühere Beziehung die Außeneinsätze gefährden könnte. Trotz allem muss ich ihnen die Möglichkeit der Stellungnahme einräumen«, fing Commander Meyer sachlich an.

Fassungslos starrte sie ihn an. Es war plötzlich so still im Büro, dass das Ticken der Wanduhr zu hören war. Das war es also. Alex wollte sie aus dem Team schmeißen. Mit so etwas hatte sie nicht gerechnet. Verwirrt versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen. Was wollte er nur damit bezwecken? Statt eines ganzen Satzes brachte sie nur ein Wort heraus.

»Warum?« Ihre Stimme zitterte. Krampfhaft versuchte sie die Tränen zurückzuhalten, die sich unweigerlich den Weg in ihre Augen bahnten.

»Agent Stone, ich muss sicherstellen können, dass meine Teams objektiv, zuverlässig und fehlerlos Einsätze durchführen können. Sobald auch nur die geringste Möglichkeit besteht, dass dies nicht sichergestellt werden kann, muss ich reagieren«. Commander Meyer musterte Christine mit unbeweglicher Mine. Alex zeigte noch immer keine Reaktion. Er vermied es, sie anzusehen.

»Commander Meyer, ich kann ihnen versichern, dass das bei mir nicht der Fall sein wird. Zwischen Captain Ryan und mir ist alles geklärt. Und zwar schon vor Jahren. Ich bin mir vollkommen sicher, dass ich meine Aufgaben zur ihrer vollsten Zufriedenheit ausführen kann«, stotterte sie und versuchte ruhig und sachlich zu bleiben. Doch innerlich bebte sie vor Verzweiflung und Wut.

»Agent Stone, um die Ausübung ihrer Pflichten mache ich mir auch eigentlich keine Sorgen«, fuhr der Commander fort. Perplex sah sie ihn an. Was zum Teufel war denn los? Noch ehe sie etwas erwidern konnte, meldete sich Alex endlich zu Wort.

»Es zweifelt niemand an ihrer Arbeit, Agent Stone. Ich bin derjenige, der es nicht sicherstellen kann, meine Aufgaben hundertprozentig zu erledigen, wenn sie bei mir im Team sind«, seine Stimme klang kalt und berechnet. Er vermied es jedoch weiterhin, sie anzuschauen. Verständnislos starrte Chris ihn an.

»Agent Stone, sie müssen verstehen, dass wir alles in unserer Macht stehende tun müssen, um Fehlerquellen, die Außeneinsätze gefährden könnten, zu eliminieren. Und wenn ein Teamleiter mit einem anderen Teammitglied aus persönlichen Gründen nicht zusammenarbeiten kann, muss ich entsprechende Maßnahmen ergreifen und die Entscheidung meines Teamleiters akzeptieren. Deshalb werde ich sie bis auf weiteres in den Innendienst versetzten«, sagte Commander Meyer.

Ihr wurde für den Bruchteil einer Sekunde schwarz vor Augen. Alles, was ihr geblieben war, war ihre Arbeit. Es war das Einzige, was ihrem Leben noch einen Sinn gab. Worin sie Erfüllung fand. Und auch das wollte man ihr nun wegnehmen. Es war, als brach eine Welt für Chris zusammen.

»Es tut mir Leid, Agent Stone, doch ich muss bei meiner Entscheidung an das ganze Team denken«, versuchte Alex sich zu rechtfertigen. Ausdruckslos sah sie in seine Richtung, nahm ihn jedoch überhaupt nicht mehr wahr. Alles um sie herum schien plötzlich zu verschwimmen. Es lag sicherlich daran, dass sie ihre Tränen nun nicht länger zurückhalten konnte.

»War das alles?« brachte sie noch gequält hervor und durchsuchte verzweifelt die Jackentaschen ihrer blauen Regenjacke nach einem Taschentuch. Natürlich hatte sie nie eins dabei, wenn sie es brauchte.

»Ja, danke Agent Stone. Sie bekommen weitere Arbeitsanweisungen. Sie dürfen jetzt gehen«, beendete der Commander das Gespräch. Hastig stand Chris auf und schmiss beinahe noch den Stuhl um, auf dem sie gesessen hatte. Die Mühe zu grüßen machte sie sich auch nicht mehr. Verstört und mit tränenverschleierten Augen lief sie zur Tür und stürzte hinaus auf den Flur. Das Einzige was sie jetzt wollte, war, so weit wie möglich zu verschwinden. Am liebsten hätte sie sich in Luft aufgelöst. Diese Lügen konnte sie nicht mehr ertragen. Eines war für sie klar; Alex wollte sie nur aus persönlicher Rache nicht mehr im Team haben. Damit wollte er sie nachträglich dafür bestrafen, dass sie sich gegen ihn entschieden hatte.

Mittlerweile hatte Chris das Gebäude verlassen und stand völlig verstört an der Straße. Hier ließ sie meinen Tränen freien Lauf. Es war ihr egal, ob die Leute sie anstarrten oder nicht. Eigentlich war ihr alles egal. Nachdem sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, winkte sie ein Taxi herbei. Der Fahrer hielt an, sie öffnete die Tür und stieg zitternd hinein.

»Bringen sie mich bitte zum Südfriedhof«, bat sie ihn und sank dann auf dem Rücksitz wie ein Häufchen Elend in sich zusammen. Der Taxifahrer hatte bemerkt, dass sie in Ruhe gelassen werden wollte und tat es glücklicherweise auch. Als sie den Friedhof erreicht hatten, zahlte Chris und gab ihm noch vier Euro Trinkgeld. Freudestrahlend wünschte er ihr noch einen schönen Tag und fuhr weiter. Schön ist anders, dachte Chris bitter und lief langsam zum Eingang des Friedhofs.

Das große schmiedeeiserne Tor stand um diese Uhrzeit weit offen. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, lief sie die ihr nur zu vertrauten Pfade entlang. Der Friedhof war in den letzten vier Jahren ihr zweites zu Hause geworden. Hier kannte sie jeden Baum, jeden Strauch und jeden Stein. Wenn sie keinen Einsatz hatte, der sie in andere Städte oder Länder führte, war sie täglich hier.

Der Frühling hatte mit aller Macht Einzug gehalten. Die Sonne schien warm auf sie herab und tauchte alles in ein gleißendes, helles Licht. In dem hellgrünen Laub der Bäume zwitscherten die Vögel. Auf einer kleinen Lichtung zwischen den vielen Bäumen saß ein kleiner, brauner Feldhase und knabberte an frischen Grashalmen. Alles war so unwahrscheinlich friedlich. Ihre Lungen sogen die frische Luft tief ein, während sie schweren Herzens weiter lief. Nachdem sie die kleine weiße Kapelle hinter sich gelassen hatte, konnte sie ihr Ziel erblicken. Dort war es: Dennis Grab. Auf dem weißen Marmorstein, der auf dem Grab stand, waren in glänzenden schwarzen Buchstaben sein Name, sein Geburtsdatum und sein Todesdatum eingraviert. Und ein Wort: WARUM? Mehr nicht. Man hätte nicht in Worte fassen können, was Christine verloren hatte. Der Platz auf dem Stein hätte nicht ausgereicht um zu beschreiben was für ein Mensch er gewesen war. Mit weichen Knien näherte sie sich dem Grab. Durch ihr überstürztes Kommen hatte sie noch nicht einmal Blumen mitgebracht. Mit zitternden Händen strich sie sanft über den kalten Marmorstein. Unweigerlich wurde sie von einer überwältigenden Trauer erfasst. Sie ging ihr durch Mark und Bein und ließ das Blut in ihren Adern gefrieren. Unaufhaltsam stiegen ihr die heißen Tränen in die Augen. Einen Moment lang versuchte sie verzweifelt, die Tränen zurückzuhalten, doch es ging nicht. Mit übermächtiger Gewalt brachen sie aus ihr heraus. Stöhnend sank sie auf die Knie und lehnte sich trostsuchend an seinen Grabstein. Auch wenn mittlerweile vier Jahre seit seinem Tod vergangen waren, konnte sie es nicht begreifen. Der Schmerz brachte sie immer noch fast um den Verstand. Immer noch hatte sie das Gefühl, er würde jeden Moment vor ihr stehen; sie mit seinen dunkelbraunen, sanften Augen liebevoll ansehen und ihr dann lachend zuzwinkern. Sie in den Arm nehmen um sie zu trösten, wenn sie traurig war. Einfach nur da zu sein, um ihr Kraft zu geben. Sie vermisste ihn so sehr, dass es ihr körperliche und seelische Qualen bereitete. >Dennis, Alex ist wieder da. Er ist mein neuer Vorgesetzter und seine erste Amtshandlung war, mich in den Innendienst zu versetzten. Er hat es damit begründet, dass er die Sicherheit seines Teams nicht gewährleisten könnte, wenn ich auch anwesend bin. Dennis, was soll ich nur tun? Wenn du mir doch nur helfen könntest. Ich ertrage seine Nähe nicht…< ihre Stimme versagte fast vor Verzweiflung und Schmerz. Irgendwie half es ihr, wenn sie mit Dennis sprach. Immer, wenn sie an seinem Grab stand, erzählte sie ihm was sie durchlebt hatte, von ihren Ängsten und Sorgen. Wie sehr er ihr fehlte und wie sehr sie ihn liebte. So, als wäre er noch bei ihr. Es tat ihr gut, dies zu tun. Es linderte ihren brennenden Schmerz ein wenig. Den ganzen Nachmittag verbrachte sie an Dennis Grab. Erst als die Sonne langsam begann unterzugehen und es anfing zu Dämmern stand sie auf, küsste den Grabstein und machte sich mit steifen Knien langsam auf den Weg nach Hause. Fröstelnd wickelte sie ihre Jacke fest um sich herum und blickte kurz in den dunkelroten Himmel, bevor sie ihren Weg einsam fortsetzte.

Zu Hause angekommen fiel ihr Blick als erstes auf ihren Anrufbeantworter. Das rote Lämpchen blinkte rhythmisch. Mit einer schnellen Bewegung schaltete sie das Gerät an. Die Nachrichten waren von Charlie. Sie machte sich Sorgen, weil Chris ihr Handy ausgeschaltet hatte. Chris hatte es völlig vergessen. Bevor sie zu Alex ins Büro gegangen war, hatte sie es ausgeschaltet, um nicht gestört zu werden. Nachdem sie dann aber Hals über Kopf aus der Zentrale gestürmt war, hatte sie überhaupt nicht mehr daran gedacht, es wieder einzuschalten. Auch jetzt verspürte sie keine Lust das Handy einzuschalten. Das Einzige was sie wollte, war Ruhe. Mit gezielten Schritten lief sie zu der Telefondose im Flur und zog mit einem Ruck das Kabel aus der Wand. Erschöpft und ausgelaugt ließ sie sich auf ihr weißes Ledersofa fallen, streifte sich die Turnschuhe von den Füssen und starrte eine Weile an die Zimmerdecke. Ihr psychisches Wohlbefinden befand sich mittlerweile auf dem Nullpunkt. Erschöpft schloss sie die Augen, schreckte jedoch innerhalb von Sekundenbruchteilen wieder auf. Jedesmal wenn sie die Augen schloss erschien Alex Gesicht hämisch grinsend vor ihr. Irgendwann muss sie dann doch eingeschlafen sein, denn sie durchlebte einen regelrechten Albtraum. Um sich herum konnte sie nichts erkennen. Der Raum, in dem sie sich befand schien aus purem, gleißend hellen Licht zu bestehen. Es war eiskalt. Plötzlich hörte sie ein knarzendes Geräusch, so als ob jemand eine Tür öffnete. Dann erschien inmitten des hellen Lichtes Alex. Er stand direkt vor ihr und sah sie mit seinen wunderschönen himmelblauen Augen erstaunt an. Das Erstaunen verwandelte sich aber sehr schnell in kochende Wut und blanken Hass. Seine Augen wurden schmal und er warf ihr bitterböse, anklagende Blicke zu. Gleichzeitig hob er die Hand und deutete auf etwas, dass sie nicht erkennen konnte. Angestrengt versuchte sie auszumachen, auf was er zeigte. Aber sie konnte nichts sehen.

Bis zum Ende der Ewigkeit

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